Zweiundzwanzig

 

Trotz der vorhersehbaren Schwierigkeiten hatte Susanne etwas Ähnliches wie Euphorie überfallen — wenn sie zu so einer Empfindung überhaupt fähig war. Sie hatte plötzlich keinerlei Zweifel mehr, den Täter zu fassen. Wie auch immer Chris an die Liste gekommen war, sie war genau das, worauf die Kommissarin gehofft hatte. Und es standen genau die Leute darauf, die zu erwarten waren. Bisher hatten sie nur von den kleinen Fischen gehört. Stinknormale Männer, die sich zwar das Besondere leisteten, aber ansonsten nicht viel verlieren konnten. Von denen hatte sicher keiner ein Interesse daran gehabt, Lautmann und Tönnessen mundtot zu machen.

Doch auf der Liste von Chris standen Namen, hinter denen sich mehr verbarg als die Furcht vor der zornigen Ehefrau. Da waren Politiker, die auf edelmütigen Biedermann machten; Staatsanwälte und Richter, die bei jeder Gelegenheit von Recht und Ordnung faselten; sowie nach außen hin seriöse und aufrechte Industrielle. Ihre Angst, plötzlich mit dem Rotlichtmilieu und vielleicht schlimmer noch mit Drogen, Kungelei und dergleichen in Verbindung gebracht zu werden, saß mit Sicherheit tief. Skandale, Rücktritte oder Disziplinarverfahren mussten sie alle befürchten. Und genau das suchte Susanne: Einen Menschen, der so viel Angst hatte, dass er den Tod der einen Frau billigend in Kauf nahm und den der anderen sogar angeordnet hatte.

Anders als Chris, der plötzlich auf Hintermänner und organisiertes Verbrechen hinaus wollte, sah Susanne immer noch ihren Hauptansatzpunkt im persönlichen Umfeld von Lautmann und Tönnessen. Langjährige Erfahrung und die damit verbundene Intuition sagten ihr, dass der Auftraggeber beider Verbrechen auf dieser Liste stand.

Ihr Interesse an Karin Berndorf war vollends erloschen. Sie konnte zwar die Gefühle von Chris für diese große, spröde Frau nicht nachvollziehen, aber das gehörte nicht mehr zu ihren Ermittlungen. Hatte höchstens etwas mit Verwunderung über den Geschmack ihres Freundes zu tun.

Was sie jedoch nicht vergaß, war der Einbruch in Karins Wohnung. Und Susanne glaubte tief im Inneren genauso wenig an Zufälle wie Chris. Irgendwann würden sie sicher auch dieses Rätsel lösen, aber zunächst einmal mussten sie sich um die Kundenliste kümmern, die in ihren Augen ein wahres Geschenk des Himmels war.

Sie beorderte Hellwein zurück, der sich gerade ein weiteres Mal in zweifelhafte Sexualpraktiken einweisen ließ. Dann stöberte sie den Leiter des Dezernats, Kriminalrat Steffens auf, der bei Kaffee und Kuchen zu Hause saß. Ebenso verfuhr sie mit dem Staatsanwalt, diesem blutjungen Bürschchen, dessen Adamsapfel vor lauter Nervosität ständig auf und nieder hüpfte.

Wie immer, wenn sie im Büro von Robert Steffens war, durchzuckte Susanne der Neid. Es war mindestens doppelt so groß wie Hellweins und ihres. Der dicke Teppichboden schluckte jeden Schritt, die bequemen Polstersessel hatten Armlehnen, und der Ausblick auf den Rhein mit der mächtigen Kathedrale dahinter war einfach grandios. Als sie sich jetzt auf einem der Besucherstühle niederließ, wurde ihr Blick fast magisch angezogen von den Spitzen der beiden Domtürme.

Der Kriminalrat in seinem Pragmatismus schien von der Aussicht allerdings völlig unbeeindruckt. Dafür war ihm die Brisanz der beiden Blätter, die Susanne ihm überreicht hatte, viel zu bewusst.

„Wenn das in die falschen Finger gerät …“ Steffens nahm die Lesebrille ab und ließ den Rest des Satzes im Raum hängen. Hellwein und Susanne nickten beifällig. Mit einer Verzögerung von etwa zwei Sekunden nickte auch der Staatsanwalt. Sein schmales Gesicht war hochrot und stand in seltsamem Kontrast zu den weißblonden Haaren.

„Wie sollen wir vorgehen?“, fragte Susanne. „Wenn wir davon Kopien ziehen und fünfzig Leute losschicken …“

„… steht es morgen in der Zeitung“, vollendete Steffens. „Ich weiß, dass in diesem Haus geplaudert wird. Das ist wie in jedem anderen Präsidium der Welt auch.“

„Wir sollten den Kollegenkreis möglichst klein halten“, schlug Hellwein vor. „Unsere SOKO besteht jetzt aus acht Leuten. Lassen wir es dabei. Dann dauert alles zwar länger, aber zumindest ist die Gefahr eines Skandals ziemlich gering.“

„Hm“, machte Steffens und setzte die Brille wieder auf. Sein linkes Augenlid zuckte, wie immer, wenn er nervös war. „Ist das hier die einzige konkrete Spur?“

„Es gibt meiner Meinung nach zwei Linien, auf die sich die Ermittlungen konzentrieren sollten“, erklärte Susanne. „Einerseits die Suche nach einem perversen Freier, respektive Liebhaber der Lautmann. Andererseits könnten wir es hier auch mit organisiertem Verbrechen zu tun haben.“

Sie erläuterte kurz die Theorie von Chris, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass ihre Prioritäten woanders lagen. „Da wir immer noch kein eindeutiges Motiv haben“, schloss sie, „sollten wir auch die Frauen, die für Tönnessen gearbeitet haben, weiter befragen. Das bringt uns vielleicht wichtiges Hintergrundmaterial.“ Sie ließ den Einbruch bei Karin ganz bewusst außen vor. Das hätte alles nur noch komplizierter gemacht.

Hellwein grinste verstohlen, was Steffens offenbar entging. Er nickte eifrig und fällte dann eine klare Entscheidung. So wie es seine Mitarbeiter von ihm gewohnt waren. Dass der junge Staatsanwalt dabei völlig übergangen wurde, schien niemandem aufzufallen. „Also gut! Zwei Leute halten sich weiter an die Frauen. Geben Sie eventuelle Hinweise auf Hintermänner an die Kollegen vom organisierten Verbrechen weiter. Die kennen sich da besser aus. Die anderen kümmern sich um diese Leute hier.“

Er tippte mit seinen dicken Fingern eindringlich auf die beiden Blätter, die vor ihm lagen. „Sehen Sie zu, dass keiner anfängt zu tratschen — auch nicht mit Kollegen. Ich werde versuchen, Ihnen solange es geht, von weiter oben den Rücken freizuhalten. Ich denke, der Herr Staatsanwalt wird in seiner Dienststelle genauso verfahren.“ Zum ersten Mal würdigte er Kremer eines Blickes. „Aber Sie sollten schnell zu einem Ergebnis kommen. So was lässt sich nicht lange unter dem Deckel halten. Wenn das an die richtige …“ Er setzte ein schiefes Grinsen auf, „… besser gesagt, an die falsche Stelle kommt, wird man uns so viele Steine in den Weg legen, dass wir einpacken können.“

Über den Rand seiner Brille sah er erst Hellwein an, dann Susanne. „Klar?“

Als die beiden nickten, fuhr er fort: „Gut! Und — ziehen Sie die Samthandschuhe an.“

Diese letzte Bemerkung hätte er sich wirklich sparen können. Sie wussten selbst, dass sie in dieser Sache gar nicht vorsichtig genug sein konnten.

Da der Staatsanwalt zwar immer noch rote Ohren hatte, aber kein Wort sagte, gingen die Polizisten davon aus, dass er einverstanden war.

Susanne und Hellwein waren schon an der Tür, als Steffens sie noch einmal zurückhielt. „Wie sind Sie eigentlich an diese Liste gekommen? Gute Arbeit! Verdammt gute Arbeit!“

Ziemlich betreten verließen sie das Büro. Die gute Arbeit war einzig und allein Chris zu verdanken. Was blieb, war ein tiefer Griff in die Trickkiste. Natürlich hatte Chris seine Quelle nicht preisgegeben. Er hatte nur versichert, alles aus seiner Informantin herausgequetscht zu haben und berief sich für weiteres auf seine Schweigepflicht. Das so zu verpacken, dass die Staatsanwaltschaft damit auch vor Gericht bestehen konnte, blieb an den beiden Polizisten hängen.

Susanne beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen. „Was meinst du?“, fragte sie Hellwein, nachdem sie wieder in ihrem Büro waren und die Tür fest verschlossen hatten.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterbank und verschränkte die Arme vor der Brust. Das alles behagte ihr ganz und gar nicht. Praktisch jeder von der Liste, der sich fragte, warum er ein Alibi beibringen sollte, konnte die Ermittlungen so behindern, dass sie unmöglich wurden. Und auch wenn Steffens ihnen den Rücken stärkte, letztendlich hielten sie und ihre Leute die Köpfe hin.

Hellwein schien das gleiche zu denken, denn er zuckte die Achseln und meinte lapidar: „Wir sitzen auf dem Schleudersitz, Chef. Punkt.“

„Wird wohl so sein! — Also los: Du machst eine einzige Kopie von diesem verdammten Ding. Und die lässt du keine Sekunde aus den Augen. Leg sie dir nachts unters Kopfkissen, wenn´s sein muss. Ich tu´s mit dem Original auch. Dann nimm dir Klippstein morgen früh. Ich will wissen, ob es zwischen der Liste und den Firmen rund um die Hünefeldstraße Berührungspunkte gibt.“

„Und du?“

„Ich? — Ich sehe mal, was das Notizbuch von Lautmann hergibt.“

 

Der halbe Sonntag ging bei diesem Abgleich drauf. Aber dann hatten sie ein einigermaßen klares Bild. So gut wie alle Kürzel aus dem Kalender konnte Susanne plötzlich zuordnen. Da war „NK“, der sich als Nikolaus Kaiser entpuppte, früherer Staatssekretär und jetzt Aufsichtsratsvorsitzender einer Schnellimbisskette; oder „Flosse“, was nur Günter Flossmann heißen konnte, Staatsanwalt am Oberlandesgericht.

Und auch das Kürzel „K/B, HW 17,30 Nizza“, eingetragen unter dem 15. Januar, hatte Susanne zuordnen können. Halbwegs zumindest. „HW“ war Hermann Witte, Inhaber der Hermann Witte KG, Lebensmittel Im- und Export, mit Sitz in der Richard-Byrd-Straße, einem Parallelweg zur Hünefeldstraße — was ihr nach einem kurzen Blick auf den Stadtplan einen Pfiff entlockte. Der Kreis schien sich also langsam zu schließen. Auch, wenn „K/B, 17,30 Nizza“ zunächst ein Rätsel blieb — sie hatten zum ersten Mal einen direkten Zusammenhang zwischen Inge Lautmann und dem Industriegebiet Ossendorf hergestellt.

Hellwein kam schließlich auf die Idee, dass „K/B“ Köln- Bonner Flughafen heißen könnte. Ein kurzes Telefonat mit dem Flughafen bestätigte, dass am 15. Januar um 17:30 Uhr eine „City-Linie“ nach Nizza gestartet war. Auf die Schnelle bekamen sie keine Genehmigung, die Passagierlisten einzusehen. Aber Susanne war davon überzeugt, dass Lautmann am 15. Januar mit Herrmann Witte nach Nizza geflogen war. Ihr Kalender bestätigte sogar die Rückkehr am 19. des Monats.

Hellwein und Klippstein gruben schließlich noch Martin Geseke aus, der auf der Liste stand und einen Großhandel für kosmetische Produkte am Ende der Mathias-Brüggen-Straße unterhielt. Im Notizbuch war kein „MG“ zu finden, aber das dämpfte Susannes Jagdfieber keineswegs. Plötzlich gleich zwei Verbindungen zum Industriegebiet zu haben, war der Durchbruch, auf den sie so gewartet hatte. Sie würden vielleicht ein Motiv erkennen können, und der Weg vom Motiv zu einem Tatverdächtigen war in den meisten Fällen denkbar kurz.

 

Montag früh um neun standen sie bei Witte im Büro. Er war der typische Unternehmer vom alten Schlag. Anfang siebzig, graumeliertes Haar, tadelloser dreiteiliger Anzug, perfekt gebundene Krawatte. Und er leugnete zunächst, eine Ingeborg Lautmann überhaupt gekannt zu haben.

Susanne brauchte Hellwein nicht einmal anzusehen, damit er seine kleine Show abzog. Er nestelte sein Notizbuch aus der Innentasche seines Sakkos und sagte bedeutungsschwer: „Herr Witte!“

Dann begann er zu blättern, als ob er nach der entsprechenden Eintragung suchte. Bei einer willkürlich gewählten Seite, die eng mit seiner krakeligen Schrift bedeckt war, stoppte er und seufzte kurz auf.

„Herr Witte!“, sagte er noch einmal und warf dem alten Mann einen nachsichtigen Blick zu, wie einem Kind, das man bei einer kleinen Schwindelei ertappt hatte. „Sie sind am 15. Januar mit Ingeborg Lautmann um 17:30 Uhr von Köln-Bonn aus nach Nizza geflogen. Rückkehr am 19.“ Mit einem Knall schlug er das Heft zu. „Muss ich Ihnen noch das Hotel nennen, in dem Sie mit ihr abgestiegen sind, oder reicht das, um Ihr Gedächtnis aufzufrischen?“

Hellwein hatte natürlich keine Ahnung von dem Hotel, aber das spielte keine Rolle. Seine Vorstellung verfehlte ihre Wirkung nicht.

Der Gesichtsausdruck von Witte hatte während Hellweins Sätzen mindestens drei Mal gewechselt. Erst Wut, dann Empörung und schließlich Angst. Nun sank er hinter seinem Nussbaumschreibtisch in sich zusammen.

„Hören Sie, meine Frau …“ Mit einer müden Handbewegung fuhr er sich über die Augen. „Können wir meine Frau da raushalten?“

„Soweit wir von ihr keine Bestätigung für Ihr Alibi brauchen!“, versprach Susanne. „Wo waren Sie von Dienstag auf Mittwochnacht letzte Woche, Herr Witte?“

 

Eine Stunde später fuhren sie weiter zu Martin Geseke. Witte war bis einschließlich Donnerstag auf einer Messe in Basel gewesen. Wenn das stimmte, schied er also für den Mord an Tönnessen aus. Seinen Worten und seinem Terminkalender zufolge, den er sie bereitwillig einsehen ließ, hatte er den Freitag, an dem Lautmann starb, mit Konferenzen verbracht. Abends war er im Bonner Maritim-Hotel zu einem Geschäftsessen eingeladen gewesen.

All das würden sie überprüfen, natürlich. Aber Susanne hatte keinen Zweifel, dass seine Aussage stimmte. Was jedoch alles oder nichts heißen konnte. Das perfekte Alibi für die Zeit, die ein Komplize für die Taten nutzte — oder aber völlige Unschuld.

Eine seiner Behauptungen entlastete ihn allerdings. Er beteuerte, Lautmann am 19. Januar, als sie am Flughafen in das von ihm bezahlte Taxi stieg, das letzte Mal gesehen zu haben. Auch das schien glaubwürdig. Jedenfalls wies der Kalender danach kein „HW“ mehr aus. Und somit kam er als Vater des Kindes, das Inge erwartet hatte, nicht in Frage — sie war erst im dritten Monat gewesen. Eine unerwünschte Vaterschaft Wittes schied also als Tatmotiv aus — sofern er die Wahrheit sagte.

Witte zeigte sich offen und hilfsbereit, nachdem er erkannt hatte, dass jede andere Reaktion nur Schwierigkeiten nach sich ziehen würde. Bereitwillig erzählte er, dass er vor fünf Jahren auf Empfehlung eines Geschäftspartners zum ersten Mal die Dienste von Tönnessens Agentur in Anspruch genommen hatte. Vor gut einem Jahr hatte sie ihm Inge empfohlen, die er danach mehrmals zu Geschäftsreisen mitnahm. Da konnte er sich von ihr verwöhnen lassen, ohne sich ständig Ausreden für seine Frau überlegen zu müssen.

Ebenso bereitwillig wie er Auskunft gab, stimmte er zu, die beiden Polizisten durch das Firmengebäude und das dazu gehörende Gelände zu führen, obwohl sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten.

Nur die Frage, ob er einen schwarzen Hund besitze, verwirrte ihn erheblich. „Einen Hund? Ich hab mein Lebtag noch keinen Hund besessen!“, sagte er mit gerunzelter Stirn, als er sie durch das Haus führte.

Die Hermann Witte KG war im Wesentlichen eine riesige zweistöckige Halle. Beinahe die gesamte Vorderseite ließ sich mit großen Toren öffnen, direkt zu einer Rampe hin, wo LKWs be- und entladen wurden. Die untere Halle war gespickt mit Hochregalen voller Lebensmittel und Gebrauchsgegenständen aller Art. Von 25-kg-Säcken Reis bis zu Wunderkerzen und Streichhölzern konnte man offenbar alles haben.

„Wunderkerzen laufen das ganze Jahr über fantastisch“, erklärte Witte beinahe ergriffen. „Auf irgendwelchen Betriebsfeiern, Jubiläen und Geburtstagen brauchen sie diesen Kitsch immer.“

Und dann setzte er zu einem Hohelied auf seine Firma an. Man habe sich in den letzten Jahren mehr und mehr dem Import zugewandt und sich auf die Belieferung asiatischer Lebensmittelgeschäfte spezialisiert, führte er mit leuchtenden Augen aus. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Kundenkreis waren so genannte Großverbraucher. Kantinen, Krankenhausküchen, Catering-Unternehmen der Filmbranche, und so weiter. Als Direktimporteur lieferte die Hermann Witte KG ohne zwischengeschaltete Großhändler, also preiswert und schnell. Ein Novum in der Branche, wie er betonte. Die meisten seiner Konkurrenten hatten durch Preiskämpfe und logistische Schwierigkeiten so viele Federn gelassen, dass sie kaum noch existieren konnten.

Als er ihnen die Büros im Obergeschoss zeigte und von der Auftragsannahme bis zur Lohnbuchhaltung für jede Abteilung ein paar warme Worte fand, verdrehte Susanne nur noch die Augen. Und es machte sich Enttäuschung in ihr breit. Aber was hatte sie auch erwartet? Die Folterkammer mit dem Blut von Inge Lautmann an den Wänden? Du lieber Himmel!

Gedanklich strich sie ihn aus der Liste. Witte mochte einer der letzten Dinosaurier in seinem Geschäft sein, der um sein Überleben kämpfte. Er war korrekt bis in die Haarspitzen, und die einzige Unsicherheit in seinem Leben war Inge Lautmann gewesen, die ihm ab und an das Leben ein wenig versüßte, ihn aus dem Alltagstrott befreite und für ein paar Stunden wieder jung sein ließ. Er hätte sie noch jahrelang auf Händen getragen, aber mit Sicherheit nicht umgebracht.

Witte hatte sich also als Niete entpuppt. Hoffentlich lief das gleich bei Geseke anders. Sonst standen sie beinahe wieder da, wo sie begonnen hatten.

„Hast du schon mal an eine eifersüchtige Ehefrau gedacht?“, schreckte Hellwein sie aus ihren Überlegungen auf und bremste den Wagen ab. Die Straße war blockiert von einem LKW mit Anhänger, der rückwärts auf das Gelände eines Getränkeabfüllers fahren wollte. Parkende Autos behinderten ihn, und der Fahrer musste mehrmals vor- und zurücksetzen. Der Auflieger schaukelte dabei, und die Bremsen zischten immer wieder.

„Der Gedanke ist mir eben auch gekommen, als Witte von seiner Frau angefangen hat“, antwortete Susanne und bewunderte im Stillen, wie der Brummifahrer sein Fahrzeug beherrschte. „Mensch, Heinz! Das wird uferlos, wenn wir uns jetzt auch noch mit den Ehefrauen beschäftigen sollen! Und wir haben keine Zeit, verdammt!“

Hellwein zuckte die Schultern. „War ja nur eine Idee. Eine blöde wahrscheinlich. Frauen morden nicht so.“

„Und wenn die reiche gelangweilte Gemahlin sich einen Auftragskiller holt?“, warf sie ein.

„Auch wieder wahr. Lass uns erst mal sehen, was bei Geseke rauskommt.“

Das Gebäude, in dem sich der Drogeriegroßhandel befand, war weitaus kleiner als das von Witte. Dafür ging es aber an der Laderampe hektisch zu. Mehrere LKWs und Lieferwagen standen davor. Gabelstapler fuhren surrend hin und her, und Männer in blauen Latzhosen und Arbeitshandschuhen beluden die Kleintransporter.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich zu Geseke durchgefragt hatten. Als sie ihn endlich gefunden hatten, standen sie einem Hünen mit strohblondem Dreitagebart und kalten Augen gegenüber. Wie seine Mitarbeiter trug er einen Blaumann und kontrollierte gerade eine Lieferung Haarspray.

Er war von vorn herein unbefangener als Witte, und bezeichnete sich selbst als einen „auf SM abfahrenden Single“, dem Inge es immer prima besorgt hatte. Das letzte Treffen hatte Mitte oder Ende Dezember des letzten Jahres stattgefunden, behauptete er. Das zumindest würde erklären, warum er im diesjährigen Kalender von Lautmann nicht mehr aufgetaucht war.

Geseke bestätigte auch Wittes Angaben, dass immer an die Frauen in bar bezahlt wurde, inklusive der Vermittlungsprovision für Tönnessen. Wie und wann die Frauen abrechneten, hatte ihn nie interessiert.

Als sie nach seinem Alibi fragten, schlug seine Offenheit mehr und mehr in Nervosität um. Schließlich gab er eine Kneipe an, in der er angeblich jeden Abend hockte.

Die Laune von Susanne hob sich augenblicklich. Wenn seine Angaben stimmten, gab es eigentlich keinen Grund für ihn, unruhig zu werden. Irgendetwas schien also faul zu sein, und sie würden sein Leben auseinander nehmen, bis nur noch Staubkörnchen davon übrig waren. So viel stand fest. Aber war er auch der Volltreffer, den sie seit zehn Tagen suchten?