Fünfzehn

 

Die Verhandlung lief glänzend. Die Tatsache, dass Stefan Eickboom sich aus Liebeskummer betrunken hatte, spielte eine große Rolle. Seine Ex-Freundin bezeugte, dass sie an dem bewussten Abend mit ihm Schluss gemacht hatte. Eickboom selbst versicherte ernsthaft, ansonsten nie Alkohol zu trinken und die Wirkung deshalb unterschätzt zu haben.

Ob das so stimmte, wagte Chris zu bezweifeln. Und ob die Ex-Freundin wirklich die Ex-Freundin war, oder für ein Handgeld vor Gericht aussagte, wusste er ebenso wenig. Er hatte ausschließlich den Job übernommen, ein mildes Urteil herauszuschinden. Und dafür hatte er die, vielleicht von Eickboom Senior, gesponnenen Fäden dankbar aufgegriffen.

Der Alte wollte die Tatsache, dass sein Söhnchen mit einer Bewährungsstrafe und einem Jahr Führerscheinentzug davongekommen war, nochmals mit einem Essen feiern, was Chris jedoch mit vielen Ausreden abbog. Nicht schon wieder!

„Sie könnten mir bei einer anderen Sache behilflich sein“, meinte Eickboom auf dem Weg durch das Gerichtsgebäude. „Ich habe eine Eigentumswohnung gekauft, die nun erhebliche versteckte Mängel aufweist. Ein Sachverständiger ist schon beauftragt.“

Er rieb sich müde übers Gesicht. Überhaupt sah er schlecht aus, fand Chris. Er hatte tiefe Ränder unter den Augen und wirkte so nervös, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Wahrscheinlich war ihm der Prozess doch ziemlich auf den Magen geschlagen.

„Streitwert?“, fragte Chris lauernd und löste damit augenblicklich das übliche Geplänkel aus.

„Dreißigtausend. — Ich würde sagen: Viertausend für Sie und bei Erfolg vierhundert für ein Projekt Ihrer Wahl.“

„Fünf und achthundert für das Frauenhaus“, konterte Chris.

„Viereinhalb und fünfhundert.“

„Siebenhundert!“

„Sechs!“

„Sieben!“, beharrte Chris und wich einem hektischen Menschen aus, der mit wehender Robe durch die Eingangshalle stürmte.

„Gewonnen, Doktor Sprenger!“, rief Eickboom und sein Lachen dröhnte durch das hohe Gewölbe. Er blieb stehen und strahlte Chris breit an. „Wissen Sie, es gibt mit Sicherheit eine Menge fähige Anwälte in dieser Stadt. Aber keinen, der mir so viel Spaß bereitet. — Wohin sollte die Spende für die Sache heute gehen? Zum SkF?“

Chris bejahte und war absolut sicher, dass noch diese Woche der Scheck beim Sozialdienst katholischer Frauen eingehen würde.

 

Das einzig Positive heute, dachte Chris. Es war früher Mittag. Seine Beine lagen auf der gläsernen Schreibtischplatte. Das in blauen Dunst gehüllte Zimmer, sowie die Anweisung an Petra Nix, auf keinen Fall irgendeine Störung zuzulassen, zeugten von seiner Stimmung.

Die „Nixe“, wie er seine Mitarbeiterin nannte, war lange genug bei ihm, um angemessen darauf zu reagieren. Sie hatte ihrem Chef Kaffee gebracht, aber auf ihr sonst so munteres Geplauder verzichtet. Sie kannte dieses Brüten, das oftmals gerade nach erfolgreichen Prozessen einsetzte.

Chris hatte halbwegs mitbekommen, dass die Nixe Kaffee brachte und dabei einen kleinen Stich verspürt. Als er Referendar bei Heimann & Heimann gewesen war, wo gut ausgebildete Anwaltsgehilfinnen dazu degradiert wurden, ihren Vorgesetzten ständig Kaffee zu bringen, hatte er sich geschworen, es niemals so weit kommen zu lassen. — Es war schon seit Jahren so weit. Die Nixe brachte ihm Kaffee, und es schien ihr nicht mal was auszumachen!

Nicht der Kaffee, sondern Eickboom ließ ihn — wieder einmal — die Zwiespältigkeit seines Jobs betrachten. Wieder einmal hatte Chris sein Spiel gespielt, und es war so ausgegangen, wie der Alte es von vornherein berechnet hatte. Chris hatte sich nie der Illusion hingegeben, wirklich mit ihm zu verhandeln. Dafür war der Spaß, den er dabei empfand, zu offensichtlich. Aber mit jedem Mal wurde die Macht von Eickboom deutlicher. Er manipulierte seinen Anwalt genauso, wie er wahrscheinlich Hunderte seiner Angestellten manipulierte. Sicher, es gehörten immer zwei dazu: Einer, der am Fädchen zog und einer, der entsprechend hampelte. Chris könnte natürlich sein Hampeln einstellen und den Faden durchschneiden. Aber so einfach war das leider nicht. Jedenfalls so lange nicht, wie er Eickbooms Geld brauchte. Und das ärgerte ihn maßlos.

Der zweite Grund für seine Brummigkeit war Stefan Eickboom. Tief in seinem Inneren war Chris nämlich der Auffassung, er hätte für sein unverantwortliches Handeln höher bestraft werden müssen. Aber ausgerechnet er hatte mit aller Kraft darauf hingearbeitet, das Gegenteil zu erwirken! Weil es sein Job war, weil er das Geld brauchte. — Womit er wieder bei Punkt eins war.

Manchmal erschien ihm die ganze Juristerei widersinnig. Einem Schuldigen wie Eickboom ersparte er eine Gefängnisstrafe, und für die Unschuldigen konnte er oft nichts tun. Wie für die beiden bosnischen Frauen letztes Jahr. Wenn er daran dachte, wurde er immer noch wütend. Den Frauen war es ergangen wie so vielen anderen aus Osteuropa: ins Land gelockt, drogensüchtig gemacht, auf den Strich gezwungen und nach ein paar Jahren verbraucht und ohne Pässe auf die Straße gesetzt. Er hatte alles versucht, um eine Abschiebung zu verhindern. Hatte die wenigen rechtlichen Möglichkeiten voll ausgeschöpft, versucht, Therapieplätze zu bekommen, was eine Abschiebung zumindest hinausgezögert hätte, war dem zuständigen Richter täglich auf die Nerven gefallen. Trotzdem schickte man die Frauen in die „Heimat“ zurück, zu Familien, die die drogensüchtigen Huren mit Sicherheit längst verstoßen hatten.

Chris seufzte auf. Da war Karins Job einfacher … Karin …

Sie hatte sich noch nicht gemeldet, also konnte sie wohl immer noch nicht feststellen, ob sie in ihrer Wohnung etwas vermisste. Susanne schien auch auf der Stelle zu treten, sonst hätte sie von sich hören lassen. Ebenso Theo und seine unerschöpflichen Quellen. Wobei diesmal die Quellen wohl eher nur tröpfelten. Blieb diese Larissa. Falls er sie heute noch ausfindig machen wollte, musste er bald los — wenn er die Kraft dazu hatte.

Im Moment reichte die Kraft nur, um die Beine auf dem Schreibtisch liegen zu lassen und sich eine Zigarette nach der anderen anzustecken. Darüber nachzugrübeln, wie Wunschdenken und Realität in seinem Beruf zu vereinbaren waren. Er hatte nicht mal Lust auf die Tageszeitung, malte stattdessen Spiralen auf ein Blatt Papier. Dann Rechtecke, Würfel, Pyramiden, viereckig, sechseckig. Dann versuchte er, ein regelmäßiges Fünfeck zu zeichnen und brauchte schließlich drei Anläufe, ehe ihm wenigstens „Das ist das Haus vom Nikolaus“ gelang.

„Studier was Vernünftiges“, hatten seine Eltern nach dem Abitur gesagt. — Gab es etwas Vernünftigeres als Medizin oder Jura? Da Chris sich nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, einen Großteil seines Lebens mit kranken Menschen zu verbringen, war also nur Jura übrig geblieben.

Seine Mutter platzte heute noch vor Stolz auf ihr einziges Kind. Der Sohn mit dem Doktortitel. Er hatte ihr diesen Stolz gelassen, nie von seinen Zweifeln gesprochen, nie davon, dass ihm „Jus est ars boni et aequi“ immer öfter bitter aufstieß. „Die Juristerei ist eine gute und gerechte Kunst“, so stand es jedenfalls über dem Portal des Oberlandesgerichts in Hamburg. Mit Kunst hatte sein Beruf schon lange nichts mehr zu tun. Und gerecht? Der blanke Hohn war …

Das Summen des Telefons erschreckte ihn beinahe zu Tode.

„Bitte!“, bellte er wütend in den Apparat. „Ich wollte doch nicht gestört werden!“

„Das habe ich dieser Frau Berndorf ja auch gesagt“, nuschelte die Nixe unsicher. „Aber sie meinte, es sei äußerst dringend!“

Chris hielt einen Moment die Luft an. Er hatte nur „Berndorf“ und „dringend“ verstanden.

„Stellen Sie durch!“ Plötzlich spürte er den Puls an seiner linken Schläfe. Dringend! Karin hatte also etwas gefunden, besser gesagt, eben nicht mehr gefunden.

„Hallo!“ Ihre dunkle Stimme klang gelöst.

„Was ist los?“, sprudelte er heraus. „Haben Sie was entdeckt?“

„Oh — mir ist in der Tat gerade etwas sehr Sonderbares aufgefallen.“ Das klang jetzt ziemlich vergnügt.

Trotzdem hielt Chris vor Spannung den Atem an. Endlich!

„Und?“

„Na ja — ich verspüre das dringende Bedürfnis, mit Ihnen Essen zu gehen!“

„Sie … Oh Gott!“

„Sagen Sie ruhig weiter Karin zu mir, das reicht völlig!“, kam es trocken zurück. Sie war amüsiert, ausgesprochen amüsiert. „Holen Sie mich doch um sechs ab, dann können wir noch einen kleinen Spaziergang machen.“

Keine Frage nach Lust oder Zeit. Er hatte um sechs da zu sein und Schluss. — Aber Chris hatte Zeit … und verdammt große Lust!

Und er sprühte plötzlich wieder vor Energie. Mit einem strahlenden Lächeln schwebte er an einer verwirrten Nixe vorbei und verließ mit einem „Bis morgen!“ das Büro.

 

Der Verteilerkreis war einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte im Süden der Stadt, den vor allem eines auszeichnete: mindestens zwölf Stunden Stau täglich. Trotz des unablässigen Motorenlärms und der Abgase, die einem den Atem nahmen, hatte man vor einiger Zeit hinter der Tankstelle auf der Westseite ein Hotel gebaut. Einen grauen Betonbau mit roten Fensterrahmen.

Chris drückte sich eine Weile zwischen Tankstelle und Hotel herum und hielt Ausschau nach einem Wohnmobil. Außer einem guten Dutzend Motoradfahrer neben der Tankstelle, die ihre schweren Maschinen aufheulen ließen, gab es nichts Auffälliges. Chris trug sich einen Augenblick mit dem Gedanken, sie nach Larissa zu fragen. Meistens wussten die Jungs was, und meistens waren sie auch friedlich. Dann aber bemerkte er, wie einer der Typen — ein Kleiderschrank mit offener Lederjacke, behaarter Brust und nietenbeschlagenen Stiefeln — ihn unverfroren taxierte. Entweder er hielt Chris für einen Bullen, oder aber er überlegte, ob der Hänfling im dunklen Anzug seine Brieftasche links oder rechts trug.

„Lassen wir das“, murmelte Chris zu sich selbst und drehte ab. Er ging zum Hintereingang des Hotels, wo zwei Stricher auf Kundschaft warteten. Sie waren misstrauisch, als er nach Larissa fragte und enttäuscht, dass er keine Nummer schieben wollte.

Es gelang ihm nicht, ihnen auch nur ein Wort zu entlocken, also fuhr er weiter zum Autohof Eifeltor. Die wenigen Frauen, die hier hinter einer langen Reihe parkender LKWs in der Sonne standen und auf Kundschaft warteten, waren zunächst ebenso misstrauisch wie die beiden Stricher.

Nach langem Hin und Her, unter tausend Beteuerungen, nicht von der Polizei zu sein und nach Übergabe eines Zwanzigers, wurde eine Frau schließlich gesprächig.

„Larissa ist heute nicht hier. Versuch´s mal auf dem Parkplatz am Kalscheurer Weiher, oder da, wo die Kleingärten sind, oder am alten Fort. Und wenn sie da nicht ist, dann beim Wäldchen. Weißt du, wo?“

Chris wusste und setzte sich in Marsch. Kurvte auf allen genannten Parkplätzen herum, verfuhr sich zwei Mal in dem Gewirr von Kleingartenanlagen, die hier in den letzten Jahren entstanden waren. — Kein einziges Wohnmobil.

Es war fast zwei, als er beim Wäldchen einbog. Die schmale, mit Bäumen gesäumte Straße wirkte beinahe idyllisch. Ursprünglich war sie als Rad- und Fußweg durch eine Grünanlage gedacht gewesen. Seit etwa zwanzig Jahren aber standen hier Tag für Tag Strichjungen, Nutten und Transvestiten jeden Alters, jeder Hautfarbe. Was immer „Mann“ suchte, hier wurde er mit Sicherheit fündig. Die meisten Freier fuhren im Schritttempo die Straße rauf und runter, bis sie das Passende gefunden hatten. Eine kurze Verhandlung, und man fuhr zu zweit davon. Es gab auch einige Wohnmobile, in denen man sich gleich vor Ort vergnügen konnte.

Diesmal hatte Chris Glück. Ein hübscher, blondgelockter Knabe, den man besser nicht fragte, ob er schon volljährig war, deutete die Straße runter. Ein Stück weiter fragte Chris noch einmal nach.

„Der auf der linken Seite, aber im Moment ist rot.“

Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Aber als er gegenüber dem Wohnmobil hielt, begriff er. Im Seitenfenster hing ein rotes Pappherz.

Er hatte seine Zigarette noch nicht aufgeraucht, als sich die Tür öffnete. Ein gutaussehender Mitvierziger stieg aus dem Wagen, rückte seine Krawatte zurecht und schlenderte Richtung Militärring davon. Einer von knapp acht Millionen Männern, die sich regelmäßig Sex im Vorübergehen kauften wie andere Leute ein belegtes Brötchen.

Zwei Minuten später wurde das Herz herumgedreht und zeigte nun eine grüne Seite. Chris wartete noch mal zwei Minuten, bevor er ausstieg und betont lässig die Straße überquerte. Energisch klopfte er an die Tür.

Sekunden später öffnete eine schlanke Frau Ende zwanzig, die mit einer Hand eine Art Kimono, bedruckt mit blauen Blumen, vorn zusammenhielt. Ihr Haar war so schrill rot, dass er sich unwillkürlich fragte, ob Larissa dafür vielleicht ihren Friseur verklagt hatte.

Sie taxierte ihn einen Moment lang, bevor ihr Blick eiskalt wurde.

„Bulle?“

„Anwalt!“

„Weiß nich´, was schlimmer ist!“

„Es geht um Inge.“

Das wirkte. Larissa zögerte noch eine Sekunde und bedeutete ihm dann mit einer Kopfbewegung, reinzukommen.

Drinnen gab es auf engstem Raum eine gemütliche Polsterecke mit klappbarem Tisch und auf der anderen Seite ein nicht mal unbequem aussehendes Bett. Alles war aufgeräumt und sauber. Ein feiner Geruch von Räucherstäbchen lag in der Luft.

„Wenn ´n Freier kommt, musste raus.“

Chris kannte die Spielregeln und hatte sich vorher schon dreißig Euro lose in die Jackentasche gesteckt. Jetzt nestelte er die vierfach gefalteten Scheine heraus und hielt sie Larissa zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt hin.

Sie zupfte die Scheine heraus und ließ sie unter dem Kimono verschwinden. Dann drehte sie das Herz mit der roten Seite nach außen. „Viertelstunde“, sagte sie dabei, „mit Gummi, ohne blasen.“ Grinsend drehte sie sich zu ihm herum. „Aber schätze mal, du willst bloß quatschen.“

„Korrekt.“

Sie musterte ihn noch einmal eingehend, ehe sie fragte: „Du bist nicht zufällig der, der den Loddel von Simone wegen Körperverletzung drangekriegt hat?“ Langsam ließ sie sich an der Schmalseite des Tisches nieder.

Chris nickte. „Der bin ich, ja!“ Er setzte sich ebenfalls und steckte unbeholfen seine langen Beine zwischen Tisch und Polsterecke.

„Wat machste, wenn der wieder rauskommt? — Ich mein, der poliert dir doch die Fresse.“

Obwohl ihre Befürchtung nicht von der Hand zu weisen war, lachte er und fragte: „Was schlägst du vor? — Auswandern?“

„Du gefällst mir“, grinste Larissa. „Also, Inge!“

„Du weißt, was mit ihr passiert ist?“

Völlig unvermittelt brach sie in Tränen aus, schien gar nicht mehr aufhören zu können. Schluchzte und heulte, dass Chris schon fürchtete, die viertel Stunde, die sie ihm zugestanden hatte, wäre bald abgelaufen. Erst als er ihr ein Taschentuch über den Tisch reichte, schien sie wieder zur Besinnung zu kommen. Putzte sich geräuschvoll die Nase und schniefte: „Oh, diese Dreckschweine! Diese elenden Dreckschweine! Ich hab´s in der Zeitung gelesen. Gott, diese Schweine!“

„Wen meinst du damit?“, fragte er behutsam.

„Alle hier, verstehst du? Alle!“, schrie sie, und wieder rollten Tränen aus ihren Augen. „Jeder einzelne, der hierher kommt! Jeder gottverdammte Freier! Oder glaubst du, es war kein Freier?“

Chris nickte. „Doch. Wahrscheinlich hast du Recht. Und genau den suche ich, Larissa!“

Wieder ein geräuschvolles Naseputzen.

„´Tschuldige“, murmelte sie dann, „hab sie nur so lieb gehabt.“

„Was war sie für ein Mensch?“

„Inge? — Die war viel zu gut, wenn du mich fragst.“

 

Es war nach drei, als Chris endlich wieder aus dem Wohnmobil stieg. Larissa war zu der Erkenntnis gekommen, dass sie mit so verheulten Augen sowieso keine Geschäfte mehr machen konnte und erzählte stattdessen von Inge. Auch sie beschrieb sie zunächst als ein großes Kind mit Schmollmund, das mit der Masche Hilflosigkeit und Naivität bei den Männern gut ankam. Wobei Chris gar nicht mehr sicher war, ob es sich dabei wirklich nur um eine Masche handelte. Larissa sprach nämlich ziemlich ungehalten darüber, dass Inge sich auf Gedeih und Verderb Brigitte Tönnessen ausgeliefert hatte. In völliger Abhängigkeit von ihr sah sie nur ein Taschengeld von dem, was sie anschaffte. Dabei hatte gerade Inge die exklusivsten Kunden, denen das Geld locker saß. Ansonsten hielt Tönnessen sie aus, zeigte sich auch mehr oder weniger spendabel, wenn es um größere Summen ging. Offenbar gefiel es Inge zunächst, die Verantwortung für ihr Leben so völlig aus der Hand zu geben. Nach und nach aber wurde ihr wohl bewusst, welchen Preis sie dafür bezahlte. Jedenfalls beklagte sie sich oft bitter darüber, der Fußabtreter von Brigitte zu sein. Vor drei oder vier Wochen spitzte sich die Situation dann zu. Es gab einen Riesenkrach zwischen Inge und Tönnessen, und Inge weinte sich bei Larissa aus, leider ohne konkret zu definieren, worum es sich bei dem Streit handelte. Auch über ihre weiteren Pläne schwieg sie sich aus.

Schließlich aber stellte Larissa einen Charakterzug von Inge dar, den Chris, nach allem, was er bisher gehört hatte, kaum glauben konnte — nämlich Hilfsbereitschaft.

„Vor gut einem Jahr“, erzählte Larissa, „da hat mir irgend son´ mieser Typ trotz Gummi ´n Tripper angehängt. Drei Monate haben die beim Gesundheitsamt mich aus dem Verkehr gezogen. Das hieß für mich: Drei Monate keine Kohle. Und was tut dieses Herzchen? Kratzt alles zusammen, was sie hat, bescheißt ihre Tussi von vorn bis hinten und gibt den ganzen Zaster mir. Kannst du dir das vorstellen?“

Bei der Erinnerung daran kullerten wieder ein paar Tränen aus ihren Augen.

„Oder nimm mal den Heinz, das is´ ´n alter Schulkamerad von ihr. Der is´ seit Jahren auf Platte. Obdachlos. Und jeden Monat geht die hin und steckt ihm was zu. Von ihrem Taschengeld!“

Heinz. Ein neuer Name, vielleicht noch ein Steinchen in diesem verworrenen Mosaik. Und Chris konnte sich nicht erinnern, dass ein Heinz in dem Notizbuch gestanden hätte. Mit was auch? Adresse und Telefonnummer würde es kaum geben.

„Weißt du, wo ich diesen Heinz finde?“

„Nee, du, keinen blassen Schimmer, wo der sein Revier hat. Wart mal: Stockmann heißt der — Heinz Stockmann. Quatsch, Scheiße. Stockberger, jetzt weiß ich´s wieder. Heinz Stockberger!“

Mit diesem Namen im Kopf war Chris schließlich aus dem Wohnmobil gestiegen und fragte sich, ob dieser Stockberger wirklich noch ein Steinchen im Mosaik sein konnte. Larissa jedenfalls war ein kleines gewesen. Er hatte zwar immer noch nichts Konkretes in der Hand, aber immerhin wusste er jetzt einiges über den Charakter von Inge.

Allerdings konnte auch Larissa zu Inges Untertauchen nur die Achseln zucken. Sie hatte sie das letzte Mal um den 20. April herum gesehen.

 

Er nahm sich mehr als eine Stunde Zeit für die Badewanne, Haare waschen und die gründlichste Rasur aller Zeiten. Dabei schaffte er es ausnahmsweise sogar, sich nicht zu schneiden.

Schließlich stand er vor dem Kleiderschrank und überlegte fieberhaft. Anzug? Krawatte? Bloß nicht! Und reichte sein Aftershave? Oder sollte er noch Eau de Toilette nachlegen?

Endlich entschied er sich gegen zusätzliches Duftwasser und für Jeans und das legere Seidenhemd, das seine Mutter ihm zu Weihnachten verehrt hatte.

Jeder Zweifel, den der hässliche Gnom am Montag hinterlassen hatte, war weggeblasen, geschmolzen wie eine Schneeflocke auf der Handfläche. Er war mit der faszinierendsten Frau aller Zeiten verabredet. Punkt!

 

Auf der Fahrt zu Karin wurde er immer nervöser. War seine Kleidung angemessen? Hätte er vielleicht auch das Aftershave weglassen sollen? Hoffentlich erzählte er vor lauter Aufregung nicht irgendwelchen hanebüchenen Unsinn oder stotterte herum wie ein Zweijähriger. Über was sollte er überhaupt mit ihr reden? Welche Themen könnten sie interessieren? Sein Gehirn war wieder einmal wie vernagelt.

Eine Minute nach sechs bog er mit schweißnassen Händen in die kleine Straße am Klettenbergpark ein. Es fehlte nicht viel, und er hätte durch die Zähne gepfiffen. Karin lehnte lässig an der Motorhaube ihres Golfs und sah verteufelt gut aus! Über hellen Jeans trug sie eine nachtblaue lockere Bluse mit Stehkragen, die ihre breiten Schultern etwas kaschierte. Die goldenen Saphirohrstecker harmonierten perfekt mit den graublauen Augen und dem Hauch von Lidschatten, den sie aufgelegt hatte. Offensichtlich hatte sie sogar versucht, ihre Locken zu bändigen. Jedenfalls waren sie beinahe brav nach hinten gekämmt.

Sie lotste ihn geradewegs aus der Stadt nach Süden. Am Ortsrand von Liblar dirigierte sie ihn in eine winzige Sackgasse, wo er den Wagen abstellte.

Gleich hinter den Häusern begann ein Waldstück, in dessen Mitte ein kleiner See lag. Eines der vielen Gewässer, die der Braunkohletagebau hinterlassen hatte und die heute zum Naturschutzgebiet Kottenforst-Ville gehörten.

Im Wasser spiegelte sich das noch frische Grün der Bäume. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die durch die Blätter drangen, brachen sich auf der Wasseroberfläche und wurden als glitzernde Punkte zurückgeworfen.

Schon längst waren sie ins Plaudern geraten, immer wieder unterbrochen von Karin, die auf dieses oder jenes Gewächs aufmerksam machte. Auf einen mächtigen Ahornbaum zum Beispiel, der wie ein Schirm über einer Sandbank thronte, oder auf die vielen gelben Blüten am Wegesrand. Chris hatte sie natürlich für Löwenzahn gehalten und lernte jetzt, dass es sich um Habichtskraut handelte, das häufig in etwas steinigen Böden wuchs. Und ohne Karins Hinweis hätte er die unscheinbaren Blüten des Nickenden Leimkrauts völlig übersehen.

Dann wieder deutete sie mit dem blauen Gehstock auf ein Eichhörnchen, das vor ihnen einen Birkenstamm hochschoss und zu einem Tannenhäher, der laut keckernd aufflog.

Als sie eine Stelle erreichten, wo der Waldboden mit einem Meer von weißen Anemonen bedeckt war, blieb er stehen. Anemonen erkannte er zumindest, hatte sie aber seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen.

„Seit ein paar Jahren wachsen sie hier wieder“, erklärte Karin, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Wir sollten am Wochenende in die Eifel fahren. Ganze Wälder sind da voll mit ihnen.“

„Gern!“ Chris ging in die Hocke und berührte eine der zarten Blüten mit dem Finger. Plötzlich wurde ihm klar, wie sehr diese Frau da neben ihm alles liebte, was wuchs und gedieh. Wie sehr sie an Lebensformen hing, die ohne Korsetts und menschlichen Einfluss entstanden — und wenn es nur weiße Anemonen waren.

„Sie sind gern in der Natur, nicht?“, stellte er fest und erhob sich.

„Entschuldigung. Ich mache Sie verrückt mit meinen Leidenschaften!“

Chris blieb stehen und kratzte all seinen Mut zusammen. „Ganz und gar nicht. Ich mag leidenschaftliche Frauen.“ Und mit Genugtuung sah er, dass auch eine Karin Berndorf rot werden konnte bis in die Haarwurzeln.

Sie wandte sich schnell ab und zeigte ihm ein Schwanennest, das zwischen niedrigem Buschwerk am Ufer klebte. Graue Flaumfedern rundherum deuteten auf Nachwuchs hin. Und wie auf Kommando kam Mama Schwan lautlos über den See auf sie zu geschwommen. Im Schlepptau fünf eisgraue Federbündel. Papa Schwan kreuzte hinter seiner Familie, die Schwingen ein wenig abgespreizt, jederzeit bereit zum Angriff. Karin und Chris traten den Rückzug an.

Als sie den See gut zur Hälfte umrundet hatten, bemerkte er die feinen Schweißperlen auf ihrer Stirn. Wie beiläufig steuerte er eine Bank nahe dem Ufer an.

Sie saßen eine ganze Weile schweigend nebeneinander, beobachteten, mit welcher Verzögerung die leichten Wellen, die Papa Schwan verursachte, ans Ufer trafen.

Nicht der kleinste Wimpernschlag deutete an, ob Karin seine Geste wahrgenommen hatte, bis sie plötzlich sagte: „Was man am schlechtesten kann, tut man immer am liebsten, oder?“

„In die Eifel fahren wir ohne das alte Mädchen, hm?“

Karin grinste. „Wenn Sie es aushalten, dass man uns anstarrt wie ein Weltwunder — mir soll´s recht sein.“

 

Die kleine griechische Taverne, die Karin ausgesucht hatte, lag zwischen der Sackgasse und dem See. Die wenigen Tische waren diskret durch Blumenbänke und orientalische Wandbehänge getrennt. Alte Zupfinstrumente hingen an den Wänden, und im Hintergrund sang Maria Farantouri leise von Revolution und Liebe. Am spektakulärsten war allerdings der Blick auf den See, der in der untergehenden Sonne golden schimmerte. Chris schien es, als habe er noch nie irgendwo malerischer gesessen.

Sie beschlossen, mit frittierten Auberginen und Zaziki anzufangen und landeten über Lammspießen in Knoblauch schließlich bei einer himmlischen Aprikosencreme.

„Und? Alles wieder an seinem Platz?“, fragte Chris über den Rand seines Rotweinglases hinweg.

„So ziemlich!“, antwortete Karin. Die blonden Locken hatten sich längst wieder selbstständig gemacht und hingen ihr in der Stirn. „Aber ich fürchte, es gibt nichts, was ich vermisse.“

Sie drehte nachdenklich ihr Glas zwischen den Fingern, bevor sie weitersprach. „Es … es hatte mich ziemlich aus der Bahn geworfen.“

„Und jetzt?“

„Ich bin in Ordnung!“ Sie klang so, als funktionierten die Regeln wieder, nach denen sie sich ihre Welt gebaut hatte.

„Wo waren Sie eigentlich nach der Trauung?“, fragte sie dann unvermittelt. „Ich hätte Ihnen bestimmt ein Stück vom Hochzeitskuchen besorgen können!“

Der Schluck Wein blieb Chris irgendwo zwischen Gaumen und Magen stecken. Großer Gott, jetzt im Boden versinken und nie wieder auftauchen müssen!

Aber Karin grinste nur vergnügt. „Jetzt schauen Sie nicht so, als würden Sie auf den Gnadenschuss warten. Glauben Sie, ich weiß nicht, dass Sie mich verdächtigt haben?“

„Darum ging es doch gar nicht!“, brachte er schwach hervor. Wie sollte er etwas erklären, was er selbst nicht so recht verstehen konnte? Wie sollte er erklären, dass er einfach nur diesen Kieselaugen hinterhergefahren war?

„Oh, worum ging es dann? Das müssen Sie mir näher erläutern.“ Sie stützte den Kopf in beide Hände und strahlte ihn an. Sie schien das Ganze zu genießen, aber in ihrem Blick lagen weder Zorn noch Sarkasmus, allenfalls ein amüsiertes Funkeln.

„Also gut!“, sagte er, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Ich bin Ihnen hinterhergefahren, und dafür habe ich eine kalte Dusche verdient. Aber bitte ziehen Sie mich nicht den ganzen Abend damit auf!"

„Okay, okay.“ Sein Gegenüber wurde wieder ganz ernst und legte freundschaftlich ihre Hand auf seine.

„Wie haben Sie es eigentlich gemerkt?“, überwand er sich nach einer Weile zu fragen.

„Oh, Zufall! Als Sie gegangen waren, hab ich die Blumen gegossen und gesehen, in welchen Wagen Sie gestiegen sind.“

Sie machte keine Anstalten, ihre Hand wieder wegzunehmen. Und Chris hoffte, dass das noch eine ganze Weile so bleiben würde. Nein — eigentlich sollte es nie wieder aufhören!

„Ihr Wagen stand immer noch da, als ich aus dem Haus kam. Der Rest war Intuition und Sache meines Rückspiegels.“ Sie legte den Kopf schief und fragte dann lächelnd: „Was kann ich tun, um Ihr angeknackstes Ego wieder in die Waage zu bringen?“

„Ist mein Ego angeknackst?“

„Na, Ihrem Gesichtsausdruck nach überlegen Sie gerade, ob Sie den falschen Beruf haben!“ Beinahe liebevoller Spott klang da mit.

„Ich sollte vielleicht meine Arbeitstechniken überprüfen. Lassen wir das Thema endgültig fallen, und ich bin wieder ganz der Alte.“

„Gut! Reden wir über Ihre Ärztin!“

„Es gibt lustigere Geschichten“, wehrte er ab.

„Trotzdem!“