Acht

 

Susanne starrte geistesabwesend auf die Tür, die Chris gerade hinter sich geschlossen hatte. So lange, bis Hellwein besorgt fragte: „Is´ was?“

„Ich frage mich nur, ob er nicht wieder sein eigenes Süppchen kocht.“

„Bisher waren seine Süppchen ausgezeichnet“, gab Hellwein trocken zu bedenken. Endlich hob er den ersten Ordner vom Boden und klappte ihn zu.

„Hmhm, und manchmal ein bisschen explosiv.“

„Die Sache mit dem Holländer war nun wirklich die große Ausnahme!“ Der Ordner verschwand in der Regalwand hinter ihm.

„Das reicht eigentlich für ein ganzes Polizistenleben, findest du nicht? Heinz — er macht immer etwas, was unseren klassischen Ermittlungstechniken diametral entgegensteht!“

Hellwein zuckte die Achseln. „Solange es uns hilft …“ Ordner zwei.

„Natürlich!“ Susanne spuckte das Wort förmlich aus. Wut und auch Neid waren unüberhörbar. „Aber kannst du mir erklären, wieso wir uns wochenlang die Hacken ablaufen, wegen des `Schrottplatzmörders´, und er präsentiert ihn auf dem Silbertablett? Und denk an die Alte im Agnesviertel!“

Hellwein erinnerte sich noch sehr gut an die alte Dame, die mehrere tausend Euro in bar mit sich herumschleppte, und von zwei Unbekannten vor ihrer Haustür erstochen worden war. Tagelang hatten sie Anwohnerbefragungen vorgenommen, jede einzelne Klinke geputzt — ohne die geringste Spur. Christian Sprenger sah sich ein einziges Mal in der betreffenden Straße um, plauderte mit zwei Jugendlichen, die am Tattag auf der anderen Straßenseite ein Mofa repariert hatten und landete gleich einen Volltreffer. Die Jungs berichteten von zwei südländisch aussehenden Männern, die vor der Tür rumgelungert, Bier getrunken und die Dosen schließlich in den Abfallcontainer am Ende der Siedlung geworfen hatten. Als die Polizei die Dosen fand und die darauf befindlichen Fingerabdrücke mit ihrer einschlägigen Kartei verglich, war der Rest einfach.

Manchmal fragte sich auch Hellwein, wie Sprenger das machte. War es einfach nur Glück? Intuition? Können?

„Irgendwann fällt er mal fürchterlich auf die Schnauze“, sagte Susanne dumpf.

„Du magst ihn sehr, stimmt´s?“ Mit einem Seufzer sammelte Hellwein die Tatortfotos vom Boden. Seine schrille Krawatte baumelte dabei nach vorn.

„Allerdings!“ Susanne atmete hörbar aus. „Und ich könnte es nicht ertragen …“ Sie brach ab und ließ den Rest des Satzes im Raum hängen.

„… wenn noch jemand, den du gern hast, mit einem Loch im Kopf endet, ich weiß“, vollendete Hellwein im Stillen.

Er war erst nach dem Tod von Peter Braun zur Kripo gekommen. Aber nach allem, was ihm Kollegen erzählt hatten, was er sich aus Andeutungen und Halbsätzen zusammengereimt hatte, war Susanne einmal eine ganz andere Frau gewesen. Attraktiv, warmherzig, immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Eine gute Polizistin, ja, aber nicht die Harte spielend, ohne diesen beißenden Sarkasmus, mit dem sie heute ihren Job machte. Und manchmal fragte er sich, was er wohl für sie empfinden würde, wenn sie noch so wäre wie früher. Ob die enge Zusammenarbeit zu mehr geführt hätte, als zu Sympathie und Loyalität.

Endlich löste Susanne ihren Blick von der Tür und sah ihn erwartungsvoll an. „Und?“ Sie nahm die Lesebrille ab und ließ sie  in der Hand kreisen.

Während ihrer Unterhaltung mit Chris war Hellwein bei der Staatsanwaltschaft gewesen und hatte die nötigen Formalitäten erledigt.

„Es wird ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge eingeleitet“, sagte er leise. „Vielleicht erweiterbar auf Totschlag — je nachdem, was wir ermitteln.“

„Scheiße!“

„Hast du was anderes erwartet?“

Hatte sie nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Dass der Fall nach dem Gesetz im Moment nicht als Mord eingestuft werden konnte, war auch ihr klar. Sie hatte sich jedoch der unsinnigen Hoffnung hingegeben, dass wenigstens von vornherein auf Totschlag erkannt würde. Das hätte mehr Leute bedeutet, effizientere Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft von ihnen einforderte, eine Sonderkommission. „Körperverletzung mit Todesfolge“ dagegen hieß ein Minimum an Aufwand. Das rangierte auf der untersten Stufe der Wichtigkeitsskala.

„Wir müssen Prioritäten setzen, Frau Braun, Prioritäten“, hörte sie im Geiste die Stimme von Kriminalrat Steffens, ihrem direkten Vorgesetzten. Die Prioritäten lagen schon lange nicht mehr in der Art und Weise eines Verbrechens, sondern einzig und allein darin, wie der Staatsanwalt entschied.

„Wer ist der zuständige Staatsanwalt?“ Sie stand auf und stippte ihren Zeigefinger in die Erde der Grünlilie auf dem Fensterbrett.

„Kremer!“

Susanne verdrehte die Augen. Auch das noch! Dieses blutjunge Bürschchen, das von nichts eine Ahnung hatte. Aber natürlich! Solange Kremer so nervös-bubihaft seinen Job machte, würde man ihm immer die unwichtigeren Dinge aufs Auge drücken.

„Ich war auch schon bei Steffens“, setzte Hellwein hinzu. „Wir haben Klippstein und Müller im Team. Mehr nicht.“

„Verstehe!“ Susanne atmete hörbar ein und ging mit einer kleinen Plastikgießkanne zum Waschbecken neben der Tür. „Dann lass uns anfangen! Wenn Klippstein zurückkommt, wird er hoffentlich ein Foto von Lautmann dabeihaben. Er und Müller sollen sich den Wohnblock vornehmen. Jede einzelne verdammte Tür.“

Hellwein nickte zustimmend. „Müller ist schon dabei, das Register des Einwohnermeldeamtes mit unseren Daten abzugleichen. — Vielleicht haben wir ja Glück.“

„Gut! Du nimmst dir die Betriebe vor. Zeig ihr Bild, frag herum. Irgendjemand muss doch was gesehen oder gehört haben.“

„Es ist Samstag“, warf Hellwein ein und erntete einen bitterbösen Blick. Als ob er persönlich an gesetzlich geregelten Arbeitszeiten, Öffnungszeiten oder sonst was die Schuld trüge, was jetzt die polizeilichen Ermittlungen behinderte, bis Montag früh praktisch auf Eis legte.

„Fang trotzdem an“, verlangte die Kommissarin. Sie hatte die Pflanze gegossen und ließ sich wieder in ihren Stuhl fallen. „Es gibt Hausmeister, Pförtner, private Wachgesellschaften.“

Es folgte ein tiefer Seufzer Richtung Stadtplan. „Mein freies Wochenende“, murmelte sie dann.

„Wie hast du´s deinem Bruder beigebracht?“ Hellwein schien ehrlich interessiert.

„Beigebracht? — Wie immer! Ich frage mich nur, wie er seinen Kindern beibringt, dass ihre Tante wiedermal nicht kommt! Es ist zum …“

Die Tür flog auf und Hans-Gerd Müller stürzte herein. Der ewig aufgeregte, eifrige Müller. Eine dunkle drahtige Haarlocke war ihm in die Stirn gefallen.

Er wedelte mit einem Zettel in den nikotingelben Fingern seiner rechten Hand. „He, Leute, ich hab was!“

Als er sicher sein konnte, die ganze Aufmerksamkeit der beiden zu haben, faltete er mit einer beinahe theatralisch wirkenden Geste seinen Zettel auseinander. „Arne Steinkühler“, las er ab, „wohnt Mathias-Brüggen-Straße 12. Hat zwei Mal gesessen wegen gefährlicher Körperverletzung.“

Das beeindruckte weder Hellwein noch Susanne. Aber Müller hatte noch ein As im Ärmel. „Und er hat einen Hund!“, setzte er triumphierend hinzu.

Das elektrisierte nun beide. Fast gleichzeitig sprangen sie aus ihren Stühlen.

„Hund?“, echote Susanne.

„Hund“, bestätigte Müller nickend. Die Haarlocke wippte rhythmisch mit.

„Worauf warten wir dann noch?“

 

Zwei Stunden später machte sich bei dem kleinen Ermittlungsteam Ernüchterung breit. Wie hätte es auch so einfach sein sollen? Arne Steinkühler befand sich seit vier Tagen mit einer Busreisegruppe an der Costa Brava. Sein Hund, den die Nachbarin in Pflege hatte, war ein reinrassiger Golden Retriever. Und der war so blond, wie ein Hund nur blond sein konnte.

Susanne fixierte wieder einmal ihren geliebten Stadtplan und kaute auf der Unterlippe herum. Manchmal wartete Hellwein förmlich darauf, dass das Straßenverzeichnis ein Eigenleben entwickelte und laut auf ihre stummen Fragen antwortete.

„Warum kann es nicht ein einziges Mal klar und eindeutig sein, Heinz?“, sagte sie endlich. „Kannst du mir sagen, wann wir den letzten Totschlag hatten, bei dem der Täter sich zwei Stunden später freiwillig gestellt hat?“

Damit war selbst „Statistik-Heinz“ überfordert und hob nur die Schultern.

Susanne fasste sich schnell wieder. „Also gut! Dann ab mit dir in die Hünefeldstraße. Ich könnte wetten, dass sie da irgendwo war.“

Hellwein seufzte gottergeben, schlüpfte aber in sein Sakko. „Und du?“, fragte er dabei.

„Ich?“ Die Kommissarin brachte ein aufmunterndes Lächeln zustande und wedelte mit dem immer noch feucht aussehenden Taschenkalender. „Ich kümmere mich mal um das hier!“