Neun
Chris grinste noch, als er schon fast in der Altstadt war. Susanne wusste genau, dass ihr seine Quellen verschlossen blieben. Dafür strahlte sie zu sehr die Polizistin aus, für die fünf immer fünf war und niemals einen geraden Wert annehmen konnte. Ein Dealer blieb immer ein Dealer, egal, mit welchen Informationen er aufwartete. Und sie hätte nie das Geschäft gemacht: „Ich sage dir, was du wissen willst, und du drückst dafür ein bis zwei Polizistenaugen zu“. Sie würde auch niemals die Sprache der Zuhälter, Prostituierten, Drogenabhängigen und kleinen Ganoven sprechen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Susanne war in Ostwestfalen geboren und aufgewachsen, Kölsch für sie eine Fremdsprache, und der Ausdruck „Klüngel“ existierte in ihrem Wortschatz nicht. Dabei übte dieses „Eine Hand wäscht die andere“ in Köln eine höchst wichtige Funktion aus.
Chris dagegen hatte während seiner Arbeit die Sprache und Mechanismen des Milieus gelernt. Er wusste, welche Hand die andere wusch, kannte Ausdrücke, die nur jemand aus der Szene verstehen konnte, und wenn es darauf ankam, sprach er auch Kölsch. Irgendwie schaffte das Vertrauen, verband miteinander. Und er respektierte einige ungeschriebene Gesetze. So vermied er zum Beispiel jeglichen Kontakt mit den einschlägigen Lokalen auf den Ringstraßen. Die Geschäfte dort waren fest in der Hand der Türsteher und großen Dealer — mehr als eine Nummer zu groß für einen kleinen Anwalt. Er kannte sich dafür umso besser aus auf dem Drogenstrich, dem „normalen“ Strich, bei den „Freien“. Und dort gab es einen Ehrenkodex, den er von Anfang an verinnerlicht hatte: Entgegengebrachtes Vertrauen wurde um nichts in der Welt missbraucht. Kein Informant namentlich genannt, weder bei der Polizei, noch sonst wo. Und man verwendete nur die Informationen, die man wirklich brauchte. Irgendwelche „Abfallprodukte“ vergaß man einfach.
Susanne würde zwar niemals in diese Welt eintauchen können, nahm aber regelmäßig dankbar alle Informationen entgegen, die Chris ihr servierte. Wahrscheinlich wusste sie, dass er ihr nie alles erzählte — eben wegen der Spielregeln — aber das schluckte sie stillschweigend.
Die Parkhäuser rund um die Altstadt waren nahezu belegt, und er fand nur noch einen Platz in der ältesten und dunkelsten Tiefgarage, die es in Köln gab. Die Decken waren so niedrig, dass man unwillkürlich den Kopf einzog, und in den vielen Nischen drückten sich gerne Junkies und Obdachlose herum.
In der Ecke, in der Chris schließlich den Wagen abstellte, stank es penetrant nach Pisse. Er hielt die Luft an und nahm die erstbeste Treppe nach oben, die ausgerechnet am Stapelhaus endete. Touristen drängten sich in der engen Gasse, umlagerten Andenkenläden oder studierten ihre Reiseführer. Die Tische der Straßencafés waren dicht besetzt. Kellner in weißen Hemden und schwarzen Hosen liefen geschäftig hin und her und servierten Getränke zu überhöhten Preisen. Die Luft war erfüllt von Stimmengewirr, Rufen und Lachen. Ein Stück weiter die Gasse hinunter mischte sich der Duft frisch gebackener Waffeln mit dem Geruch der öffentlichen Toiletten auf der anderen Straßenseite.
Chris machte sich schnell davon. Touristenmassen waren ihm genauso zuwider wie Karneval. In der „fünften Jahreszeit“ verordnete er sich immer Urlaub und blieb zu Hause. Er mochte weder das Schunkeln, noch wildfremde Menschen, die betrunken an seinem Hals hingen.
Er stieg die ausgewaschenen Stufen neben Groß St. Martin hoch und erhaschte zwischen den Häuserzeilen einen Blick auf die Spitzen der beiden Domtürme. Die Kreuzblumen leuchteten rot in der tiefstehenden Sonne. Ein paar Tauben trippelten vor ihm her und pickten in den Ritzen zwischen dem Kopfsteinpflaster. Ihr leises Gurren erinnerte ihn an ein Schlaflied, das seine Mutter früher gesungen hatte.
Chris schlenderte jetzt durch enge Gassen, in die sich kaum noch Touristen verirrten. In den schmalen Fachwerkhäusern mit den krummen Spitzgiebeln hatten sich viele Kunsthandwerker angesiedelt, und neben edlen Restaurants fand man Absteigen der übelsten Sorte. Als er einen kleinen Brunnen erreichte, auf dessen Rand einige händchenhaltende Pärchen saßen, bog er links ab. Nur eine Häuserzeile trennte ihn noch von Rhein, und in der Luft hing plötzlich der leicht modrige Geruch des Flusses.
Die sonst so grelle Leuchtreklame des „Caribbean Club“ war noch dunkel. Chris schlüpfte durch die schmale Toreinfahrt, hinter der sich das Bordell von Tinni befand. Trotz der frühen Stunde stand Michi, der Türsteher, schon im Innenhof. Deutlich zeichneten sich seine Muskeln unter dem weißen T-Shirt ab, und Chris dachte wieder einmal, dass er niemandem wünschte, mit ihm aneinander zu geraten. Michi grinste ihn breit an und ließ ihn nach einer herzlichen Begrüßung hinein.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er sich an das schummrige Licht gewöhnt hatte. Der Raum war beinahe überfüllt mit künstlichen Palmen. Im vorderen Teil herrschte die plüschige Atmosphäre einer Bar. Aber Chris wusste, dass sich im hinteren Teil des Gebäudes und in den beiden Stockwerken darüber Séparées verbargen, Whirlpools, eine Sauna, einfache Zimmer und Räume, die an Folterkammern erinnerten — was man eben so brauchte, um die mehr oder weniger ausgefallenen Wünsche der Kundschaft zu erfüllen.
Wirklich legal war das alles nicht. Wer zur „Prostitution aufforderte“ oder entsprechenden Wohnraum vermietete, bekam normalerweise keine Konzession für einen Barbetrieb. Aber es gab eine Toleranzgrenze bei den Behörden, die Tinni voll ausschöpfte. Im Gegenzug gab es bei ihr keine Schlägereien, keine Drogen, und sie zahlte pünktlich ihre Steuern.
An der kreisrunden, großzügig angelegten Bar lümmelte sich ein halbes Dutzend leicht bekleideter und offensichtlich gelangweilter Frauen.
„Tach, Herr Doktor“, grüßte die, die der Tür am nächsten saß, lässig.
„Hallo, Helma!“, rief Chris und überquerte mit langen Schritten die Tanzfläche. „Alles in Butter?“
„Klar doch! — He, Mädels, der Herr Doktor ist da!“
Das allgemeine freundliche „Hallo“ erwiderte er mit einem Winken. Er kannte die meisten von Tinnis Mädchen schon lange.
Viele von ihnen waren bereits eine halbe Ewigkeit hier und blieben, bis sie zu alt wurden für den Job. Sie wurden gut bezahlt, hatten geregelte Arbeitszeiten und Tinni entrichtete für alle die Beiträge zur Sozialversicherung. Leider war das eher die Ausnahme als die Regel. Er wusste nur zu gut, dass Zwangsprostitution, Zuhälterei und Gewalt das Milieu prägten.
Mit einem Mal übertönte die gewaltige Stimme von Tinni das Geplauder der Frauen an der Theke. „Dass es dich noch gibt!? Dachte schon, du wärst in Pension gegangen!“
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit bewegte sie ihre drei Zentner auf Chris zu und breitete die Arme aus. In der Szene hieß sie nur die „Venus von Kilo“, eine durchaus liebevoll gemeinte Umschreibung ihrer Leibesfülle. Tinni trug diesen Spitznamen denn auch genauso stolz wie ihre Pfunde.
„Komm an meinen Busen, du alter Gauner!“
Augenblicke später versank Chris in Seide, Fleisch und unglaublich großen Brüsten. Der Duft frisch gewaschener Haut und der aufdringlich-süße Geruch von Chanel No. 5 hüllten ihn ein.
Kurz bevor er blau anlief, entließ Tinni ihn aus ihrer Umklammerung, fasste ihn an den Oberarmen und hielt ihn ein Stück von sich weg. Auf ihrem feisten, freundlichen Gesicht lag ein strahlendes Lachen. Wenn sie jemanden in ihr Herz geschlossen hatte, dann für alle Zeit und ohne Wenn und Aber.
„Du isst natürlich mit uns“, würde sie jetzt sagen. Chris kannte die Spielregeln. Erst das Vergnügen, dann das Geschäft.
„Du isst natürlich mit uns“, sagte Tinni und schob ihn vor sich her in einen großen Raum, dessen Einrichtung die verschiedensten Epochen wiederspiegelte. Ein Sofa, das dem von Chris nicht unähnlich war, wurde eingerahmt von zierlichen Jugendstiltischchen, auf denen fragile Tiffany-Lampen standen. Die beiden wuchtigen Schränke, die mit Ornamenten bedeckt waren, beeindruckten ihn immer wieder aufs Neue. Am auffallendsten war allerdings der plüschige Ohrensessel, in dem er sich mühelos Gertrude Stein vorstellen konnte. Dahinter lehnte Alice B. Toklas und zu ihren Füßen saß Ernest Hemingway … „Eine Rose ist eine Rose … ist eine Rose … ist eine Rose …“
Theo, ein begnadeter Koch und sozusagen der gute Geist des Hauses, stürzte aus der Küche und strahlte Chris an. „Hab ich doch richtig gehört“, krähte er. „Mein kleiner Anwalt!“
Dass sein kleiner Anwalt einen Kopf größer war als er und sich nun hinunterbeugen musste, um ihn einigermaßen unbeholfen zu umarmen, störte ihn nicht weiter. Schon zu Beginn ihrer Freundschaft hatte er Chris so genannt.
Wie immer trug Theo ein schrill-buntes Hawaii-Hemd und Jeans. Und da er seine Hemden grundsätzlich über der Hose trug, wirkte er noch kleiner, als er sowieso schon war. Er war nicht nur eine Art Mädchen für alles, sondern wahrscheinlich auch der Liebhaber von Tinni. Obwohl Chris sich ernsthaft fragte, wie dieses kurze, dünne Männlein und Tinni … Aber na, das war wieder eine ganz andere Geschichte. Wie dem auch sei — Theo war zumindest der Mann in Tinnis Leben, der ihr grenzenloses Vertrauen genoss.
Es dauerte nicht lange, und er servierte den ersten Gang eines raffinierten Menüs.
„Wie läuft´s in der Kanzlei?“, fragte Tinni, während sie mit püriertem Lachs gefüllte Avocados in sich hineinschaufelte.
„Oh, ganz gut“, antwortete Chris und kaute genüsslich. Die Avocados waren ein Gedicht. „Ich bin jedenfalls zufrieden.“
„Zufrieden, zufrieden! Du machst dich kaputt! Reibst dich auf! Nimm dir endlich mal Zeit für dich selbst!“ Tinnis Löffel schwebte einen Moment lang über den Avocado-Hälften. „Mal im Ernst, Chris — du warst schon mal frischer, nicht?“
„Ich hatte eine schlimme Woche“, verteidigte er sich schwach und erntete nur ein unwilliges Grunzen.
Bei Seeteufelfilet mit neuen Kartoffeln und Blattspinat versorgte Tinni ihn mit Klatsch aus der Szene. Wer mit wem, oder auch nicht; der neue Wirt im „Casablanca“ hatte im Eifer des Gefechts seinem eigenen Türsteher ein Veilchen verpasst; der neue Sado-Maso-Club um die Ecke lief offenbar gut, und im „St. Pauli“ hatte es mal wieder eine Razzia gegeben.
Chris war kurz vorm Platzen, als Theo auch noch Kiwis auf Vanilleeis servierte. Tinnis Gewicht hatte seinen Grund — ohne Zweifel!
Aus der Bar klang schrilles Lachen herüber, und Marianne Rosenberg stellte ein für alle Mal klar: „Er gehört zu mir“. Das Lied war ein verabredetes Zeichen zwischen dem Barkeeper und Tinni: Der Laden füllte sich und bald würden sich Helma und die anderen Frauen nicht mehr langweilen. Über das Gesicht der „Venus von Kilo“ zog ein zufriedenes Lächeln.
Während Theo abräumte, sagte sie wie beiläufig: „Bei der Sitte ist übrigens ein Neuer“, und nestelte an den Rüschen ihrer Seidenbluse herum. Das Vergnügen war beendet. „Du weißt ja — neue Besen kehren gut. Aber irgendjemand sollte ihm mal sagen, dass hier alles sauber ist. Sie machen dauernd Kontrollen. Das ist schlecht fürs Geschäft.“
Sie lehnte sich gemütlich zurück, paffte Zigarettenrauch über den Tisch und sah Chris erwartungsvoll an. Woran sie erkannte, wann er einen Freundschaftsbesuch machte und wann er „geschäftlich“ kam, war ihm ein Rätsel. Aber sie hatte noch nie danebengelegen.
Beinahe geräuschlos servierte Theo zwei Tassen dampfenden Espresso und verdrückte sich nach nebenan, um sich dem Abwasch zu widmen.
„Ich hab hier ein paar Namen“, begann Chris ohne Umschweife und legte den Zettel mit den Adressen aus Inges Notizbuch auf den Tisch. „Ich würde gern wissen, was es über diese Leute zu sagen gibt. Zum zweiten brauche ich alles, was du über eine Ingeborg Lautmann in Erfahrung bringen kannst.“
Tinni rührte lange in ihrem Espresso — viel zu lange für sein Gefühl. Ihre kleinen Schweinsäuglein hatten sich zu winzigen Ritzen zusammengezogen.
„Damit wir uns richtig verstehen“, sagte sie nach einer Weile. „Du sagtest Ingeborg Lautmann, ja?“
„Ja! … Ich meine … was …?“
„Du hast also keine Ahnung!“, schloss sie aus seinem Gestammel und setzte bedächtig hinzu: „Ich weiß ja nicht, wozu du das brauchst, aber dir sollte klar sein, dass du damit ziemlich auf die Nase fallen kannst.“
„Oh — ich bitte dich!“
„Chris! Seit drei oder vier Wochen macht Brigitte Tönnessen einen Riesenaufstand, weil ihre Tussi verschwunden ist. Und diese Tussi heißt Inge Lautmann!“
Drei oder vier Wochen. Das passte. Sein Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Aber wer zum Teufel war Brigitte Tönnessen?
„Wer zum Teufel ist Brigitte Tönnessen?“, fragte er laut.
Tinni verdrehte die Augen. „Oh Mann! Also gut, um es kurz zu machen. Die Tönnessen ist hier in der Szene ein bisschen außen vor. Aus gutem Grund. Sie ist eine — na, sagen wir mal Vermittlerin. Sie terminiert Treffen der etwas delikaten Art. Wenn du weißt, was ich meine.“
Chris wusste. „Männer, die nicht ins Eros-Center oder die einschlägigen Lokale gehen können, weil ihre Gesichter zu bekannt sind“, kombinierte er. „Und Tönnessen vermittelt Frauen, die gegen einen entsprechenden Aufpreis absolut verschwiegen sind.“
„Kluger Junge! Sie sind nicht nur verschwiegen, sie erfüllen auch jeden noch so abartigen Wunsch. Sie begleiten dich auf Geschäftsreisen und erwarten dich jeden Abend mit der neunschwänzigen Katze im Hotelzimmer, wenn du darauf stehst. Sie holen dir zwischen zwei Sitzungen einen runter und spielen die perfekte Begleitung beim Diner mit Herrn Botschafter Sowieso. Inge Lautmann gehört dazu. Gleichzeitig hat sie aber auch ein Verhältnis mit Tönnessen. Jedenfalls: Seit ein paar Wochen ist sie weg und Brigitte macht Gott und die Welt verrückt.“
„Sie ist nirgendwo registriert“, warf Chris ein.
Tinni zuckte die Achseln. „Inge Lautmann soll in erster Linie die Geliebte von Brigitte sein und nur für ganz spezielle und heikle Sachen eingesetzt werden, sagt man. Ich denke, das lief so nebenbei.“ Plötzlich stutzte sie. „Woher weißt du das denn?“
„Sie ist tot!“
Tinni riss den Mund auf, klappte ihn wieder zu und sagte eine Weile nichts. Ihrem Gesicht war anzusehen, wie sehr es in ihr arbeitete.
„Gewaltsam?“, fragte sie dann.
„Gewaltsam!“
„Chris! Was auch immer du vorhast — wenn du in diesem Topf rührst, könntest du irgendwann froh sein, noch einen Job bei der Müllabfuhr zu kriegen.“
„Meinst du nicht, ein orangefarbener Overall würde mir gut stehen?“, konterte er.
„Mann!“ Tinni donnerte ihre fette kleine Faust auf die Tischplatte. Sie sah wirklich besorgt aus. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Wenn der Kundenkreis dieser Tönnessen auch nur halbwegs so erlesen war, wie es sich anhörte, konnten diese Herren unter Umständen ziemlich unangenehm werden.
Trotzdem hatte Chris in den letzten Minuten immer bessere Laune bekommen. Eine Art euphorische Begeisterung erfasste ihn. Es gab einen Anfang!
Er beschloss, Tinni bei ihrer schwachen Seite zu packen. „Du warst schon mal geschäftstüchtiger“, stellte er trocken fest.
Ihre gewaltigen Brüste hoben und senkten sich unter einem tiefen Seufzer. Wie viel davon Schauspielerei war und wie viel echte Besorgnis, vermochte Chris nicht zu beurteilen.
„Also gut“, sagte sie nach einer Weile. „Wie viel hängt drin?“ Ihre Bewegung mit Daumen und Zeigefinger war unmissverständlich.