Achtzehn
Susanne fraß schon seit zwei Tagen einen Frust nach dem anderen in sich hinein, und dementsprechend war ihre Laune. Zwei Tage, die sie mit Gesprächen rund um die Hünefeldstraße zubrachten. Die immer und immer wieder mit einem bedauernden Kopfschütteln der befragten Personen endeten. Sie redeten nochmals mit Verwandten von Inge Lautmann, mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der Zeit, als sie noch beim Kaufhof arbeitete. Hellwein nahm mehr als zwei Stunden Brigitte Tönnessen, die dieses Mal nüchtern war, in die Mangel. Er konfrontierte sie mit der Theorie, die Chris am Dienstag früh Susanne erklärt hatte. Hellwein tat so, als wüsste er genau, dass Inge das Geschäft ohne Tönnessen hatte machen wollen, und dass sie deshalb bestraft werden sollte. Das im Milieu Übliche halt: Die Frauen, die nicht spurten, wurden so verprügelt und gequält, dass sie nie wieder auf dumme Gedanken kamen.
„Peinlich nur, dass Inge gestorben ist, nicht?“, schloss Hellwein.
Aber Tönnessen durchschaute sein Spiel sofort und machte auf überheblich-empört. Die zu Unrecht Verdächtigte, die reine, unschuldige Seele, der nichts nachzuweisen war.
Natürlich war ihr nichts nachzuweisen, dachte Susanne ärgerlich. Dabei war sie beinahe sicher, dass Chris mit seinen Vermutungen richtig lag. Die Frage war nur, wie sie Tönnessen so festnageln konnten, dass sie gestand. Aber wie sollte das gehen, wenn sie nichts als eine Theorie hatten? Es gab keinen einzigen Beweis, keine Indizien.
Es lief immer auf das Gleiche hinaus: Sie brauchten den Mann mit dem vollen Haar. Ohne ihn kamen sie keinen Schritt weiter.
Susanne brachte einen ganzen Abend damit zu, ihre Wohnung zu putzen — wie immer, wenn sie total frustriert war. Dabei durchdachte sie alles wieder und wieder, und kam zu der Überzeugung, dass Chris höchstwahrscheinlich Recht hatte. Als alles glänzte, zwei Körbe Wäsche gebügelt waren und es nichts mehr zu tun gab, legte sie sich endgültig darauf fest.
Zufrieden war sie allerdings nicht. Weder mit ihren Überlegungen, noch mit ihrer Wohnung. Mit ihren Überlegungen nicht, weil zwar alles Hand und Fuß hatte, aber ohne den Mann mit vollem Haar gar nichts ging. Mit ihrer Wohnung nicht, weil jetzt, wo alles sauber war, die vielen Unzulänglichkeiten doppelt sichtbar wurden. Das antike Küchenbuffet, das dringend neu gewachst werden müsste, der Schuhschrank in der Diele, der aus dem Leim ging, die Dusche, die eine neue Versieglung brauchte, die Raufaser im Wohnzimmer, die überstrichen werden musste. All das war ihr schon lange klar, und alle paar Wochen fiel es ihr wieder ein. Für eine Stunde, einen Tag. Und dann versanken ihre guten Vorsätze im Stress und dem Bewusstsein, nicht zu wissen, wofür sie sich solche Mühe geben sollte. Es war niemand mehr da, für den es sich gelohnt hätte. Auf die Idee, es für sich selbst zu tun, kam sie nicht.
Am nächsten Abend nahm Susanne sich dann das neue Puzzle vor, einfach um ein wenig Abstand von dem Fall zu bekommen. Sie holte sich die kleinen Dessertschalen aus der Küche und versuchte, die verschiedenen Blautöne von Himmel und Wasser zu sortieren. Normalerweise konnte sie wunderbar abschalten, wenn sie in Peters ehemaligem Arbeitszimmer saß und die ineinander passenden Teile suchte.
An diesem Abend jedoch kam sie nicht recht vorwärts, verwechselte dauernd die Schalen und legte die Randplättchen falsch an. Immer wieder wälzte sie in Gedanken die dürftigen Ermittlungsergebnisse hin und her.
Alles in allem war bei den ganzen Befragungen nichts weiter herausgekommen, als das Bild einer ausgekochten, mit allen Wassern gewaschenen Frau, deren Masche des Naivchens bei den Männern zog. Ob die Art Hörigkeit gegenüber Tönnessen echt oder auch nur Schauspielerei gewesen war, darüber gingen die Meinungen auseinander. Das war aber auch so gut wie alles. Eine ehemalige Kollegin von Inge wie auch einer ihrer Brüder erinnerten sich, von einer Gertrud gehört zu haben, die mit ihr befreundet gewesen sein sollte. Gertrud — wer? Auch Tönnessen hatte diesen Namen mal aufgeschnappt, wusste aber nichts weiter. Wie sie überhaupt wenig zum Umfeld von Inge sagen konnte. Sie hatte sich ihr bestes Pferd im Stall gleichzeitig als Betthäschen gehalten und sich ansonsten einen Dreck für sie interessiert.
Susanne warf ein Puzzlestückchen achtlos auf den Tisch. Wenn sie wenigstens wüssten, wo Inge sich diese drei Wochen aufgehalten hatte. Aber auch da produzierten sie nur heiße Luft. Nicht mal die von der Sitte, die herauszufinden versuchten, wer für Tönnessen arbeitete, kamen einen Schritt weiter.
Nach einem letzten Blick auf das Puzzle verzog sie sich ins Bett.
Jetzt saß sie im Büro, stierte auf den Stadtplan und war mehr als nur mürrisch. Sie hatte sich gerade durch den abschließenden Obduktionsbefund und den Laborbericht gekämpft.
Beide waren zwar seitenlang, aber ohne jeden konkreten Anhaltspunkt. Einzig und allein die Haare könnten was bringen. Aber bis die DNA-Spezialisten vom LKA in Düsseldorf da zu einem Ergebnis kamen, würden noch Tage, wenn nicht Wochen ins Land gehen. Na, war im Prinzip auch schon egal. Wenn es jemals so etwas wie eine Spur gegeben hatte, war sie mittlerweile so kalt wie ihr Drei-Sterne-Tiefkühlfach.
Bei Tiefkühlfach fiel ihr ein, dass sie dringend einkaufen musste. Zur Bank, den Hosenanzug aus der Reinigung holen. Wenn auch ihre Wohnung glänzte wie ein frisch eingeölter Kinderarsch, die tausend Kleinigkeiten drum herum fielen wieder mal den Überstunden zum Opfer.
Hellwein hatte es da irgendwie einfacher. Als ewiger Junggeselle hatte er sich sein Leben eingerichtet, bezahlte eine Putzfrau, die ihm auch die Wäsche machte und einen Großteil der Einkäufe erledigte. Wieso hatte sie eigentlich keine Putzfrau? Weil sie sich im Grunde der Schäbigkeit ihrer Wohnung schämte? Weil sie fürchtete, ihre Nachbarn könnten erfahren, dass die mürrische Polizistin aus dem zweiten Stock in ihrer Freizeit Puzzle legte, statt ihren Haushalt zu machen?
Wütend warf Susanne den Obduktionsbefund zu den anderen Unterlagen und ließ die Lesebrille auf den Tisch fallen. Nichts stimmte! Weder in ihrem Leben, noch in diesem verdammten Fall.
Die Sonne hatte sich um den turmartigen Rohbau neben dem Präsidium herumgearbeitet und schien jetzt in das kleine Büro. Millionen kleiner Staubpartikelchen flirrten in der Luft. Aber sie hatte keinen Blick für diesen immerwährenden, faszinierenden Tanz. Sie war nur sauer, weil die Sonne sie blendete. Mit einem Ruck ließ sie das Rollo herunter und erschlug damit fast die Grünlilie.
Normalerweise sah Susanne ihre Aufgabe immer klar und deutlich: Die unendlich vielen Ansatzpunkte, die es am Anfang einer Ermittlung gab, sichten und die unmöglichen von den möglichen trennen. Dann ging es „nur“ noch darum, von den möglichen den einen richtigen übrig zu behalten. Doch beim Tod von Inge Lautmann konnten sie nichts ausschließen, weil sie nichts in der Hand hatten. Wann hatte es jemals einen Fall gegeben, der so völlig unklar war? In dem sie so viel heiße Luft produziert hatten? Ein Mann mit vollem Haar, wahrscheinlich Ausländer, und das war´s.
Der einzige Lichtblick war die Akte Berndorf, die Klippstein aus dem Archiv gegraben hatte. Aber das war ziemlich weit hergeholt und passte überhaupt nicht zu dem Verdacht der Tönnessen gegenüber, sodass sie die Akte zunächst an den Polizeipsychologen weitergeleitet hatte. Bevor sie hier etwas unternahm, wollte sie seine Meinung hören.
Prioritäten setzen! Oh ja! Die lagen erst mal darin, Hotels abzuklappern, Pensionen, Absteigen. Das Foto von Inge Lautmann auf den Tresen legen, sich die Eintragungen der Gästebücher ansehen, immer und immer wieder. In Köln wurden jährlich mehr als drei Millionen Hotelübernachtungen verbucht, verteilt auf über zweihundert Häuser. Hinzu kamen all die kleinen Herbergen und Unterkünfte. Wenn man jetzt noch das Kölner Umland mit einbezog — Susanne wagte nicht, in Zahlen zu denken.
Auf jeden Fall kostete auch das wieder Zeit, erforderte Geduld. Und Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Sie starrte erneut den Stadtplan an. Freitag war es passiert. Freitag! Heute war Mittwoch! Der Typ mit dem vollen Haar konnte längst am anderen Ende der Welt sein, während sie hier von Hotel zu Hotel zogen.
Andererseits: Die Aufklärungsquote von Tötungsdelikten lag bei mehr als fünfundneunzig Prozent, und das allein deshalb, weil in den meisten Fällen eine enge Beziehung zwischen Täter und Opfer bestanden hatte. Warum also in die Ferne schweifen? Warum annehmen, er wäre irgendwo untergetaucht? Zumal sie im kleinen Finger spürte, dass er hier in der Nähe war.
Die Tür flog krachend auf und Hellwein stürzte herein. Seine Chefin, die so versunken gebrütet hatte, traf beinahe der Schlag.
„Mann, Heinz!“, schrie sie und sprang auf, als hätte sie auf einem Nagelbrett gesessen. „Bist du bekloppt?“
Er war völlig außer Atem. Die Krawatte war gelockert und der oberste Hemdknopf stand offen. Eigentlich so gar nicht seine Art.
„´Tschuldigung!“, japste er, während er fast triumphierend mit einem Zettel wedelte. „Aber gerade hat ein Kollege aus Euskirchen angerufen. Die haben ´ne Kundin im Wald!“
„Herrgott, Heinz! Was gehen mich deren Leichen an? Findest du nicht, wir haben hier genug?“ Sie war sauer, stinksauer! Das fehlte jetzt wirklich noch. Euskirchen!
Hellwein grinste nur und gab ihr wortlos den Zettel. Noch während des Lesens sank sie auf den Stuhl zurück. Sie spürte, wie sich alles Blut in ihren Füßen sammelte und dann mit einem einzigen Herzschlag in ihren Kopf katapultiert wurde.
„Das gibt´s nicht!“, flüsterte sie, starrte Hellwein an und dann wieder den Zettel. „Das gibt´s einfach nicht!“
„Ich fürchte doch!“
„Verdammter Mist! Okay, Heinz. Ruf von unterwegs aus an. Die sollen mit dem Abtransport noch waren. Ich will sie sehen.“
Sie sprang auf, schnappte ihre leichte Baumwolljacke, die sie vorhin achtlos auf den Besucherstuhl geworfen hatte und rannte hinaus. Erst dabei ging ihr auf, dass ihre ganze schöne Theorie jetzt im Eimer war.
Hellwein hatte Mühe, sie einzuholen. Während er hinter ihr die Treppen hinuntereilte, versuchte er, den Hemdknopf zu schließen und die Krawatte an Ort und Stelle zu rücken.
Erst als sie auf der Autobahn waren, fiel Susanne das Naheliegendste ein. „Sag mal“, fragte sie ihren Kommissar, der am Steuer saß, „wieso sind die Kollegen denn gleich auf uns gekommen?“
Er grinste verschmitzt. „Vorgestern hatte ich Kegeln. In dem Verein ist auch der Kollege aus Euskirchen. Na ja, ich hab ihm von der Lautmann-Sache erzählt, und dabei ist wohl auch ihr Name gefallen. Jedenfalls hat er sofort geschaltet, nachdem er ihre Papiere gesehen hatte.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Du siehst also, Chef: Ein bisschen Privatleben kann manchmal ganz hilfreich sein.“
Diese letzte Bemerkung wurde nur mit einem Schnauben quittiert.
Sie mussten nach dem abgelegenen Parkplatz nicht lange suchen. Das Polizeiaufgebot war unübersehbar. Ein halbes Dutzend Streifenwagen säumten den Straßenrand. Auf dem kleinen Parkplatz standen mehrere Mannschaftswagen und ein grün-weißer Polizeibus. Ganze Hundertschaften schienen schon dabei zu sein, den Wald zu durchkämmen.
Bernd Krämer, Hellweins Kegelbruder aus Euskirchen, erwartete sie neben dem neutralen grauen Kastenwagen der Spurensicherung. Sein kahler Schädel glänzte wie eine Billardkugel.
„Genickschuss“, begann er ohne Umschweife. „Aus nächster Nähe.“
Er stapfte an der östlichen Seite des Parkplatzes ins Unterholz. Es war empfindlich kühl, weil die dicht belaubten Kronen der Eichen und Buchen kaum einen Sonnenstrahl durchließen. Leichter Dunst hing zwischen den Baumstämmen. Susanne roch feuchtes Laub und modrige Erde.
„Eine Art Hinrichtung würde ich sagen“, vermutete Krämer jetzt. „Obwohl …“ Er blieb stehen, drehte sich herum und fixierte seine Kölner Kollegen kurz. „Es ist kein schöner Anblick. Da hat sich jemand ziemlich ausgetobt.“
Susanne straffte die Schultern und bemühte sich, seinem Blick standzuhalten. Jeden Polizisten traf der Anblick einer Leiche auf ähnliche Weise. Ekel, Abscheu und Wut waren immer dabei. Manchmal überwog der Ekel, manchmal die Wut. Ekel, wenn die Liegezeit erheblich war und die Leiche entsprechende Verwesungsspuren trug, oder auch, wenn das Opfer besonders scheußliche Verletzungen davongetragen hatte. Dann kam die Wut, es nicht verhindert zu haben, nichts dagegen tun zu können.
Zorn auf den Täter und Mitleid mit dem Opfer kamen erst später. Wenn man sich in die Ermittlungen kniete, das Opfer kennenlernte, dem Motiv nachspürte. Und dann musste man Acht geben, dass man sich nicht in Wut und Mitleid verstrickte, durfte diese Gefühle nicht zu nahe an sich heranlassen. Sie verstellten den Blick, machten befangen.
Krämer hatte sie jetzt auf den Ekel vorbereitet. Und da Susanne absolut sicher war, dass die Liegezeit nicht allzu lange gedauert haben dürfte, war sie auf das Schlimmste gefasst.
Trotzdem konnte sie den Drang, einfach davonzurennen, kaum unterdrücken, als sie unter dem weißen Plastikband, das den unmittelbaren Tatort umgab, hindurchgekrochen waren.
Sie war nackt. Der Kopf und das mit blonden Locken umrahmte Gesicht waren unversehrt. Der übrige Körper aber schien einem Fleischwolf zu nahe gekommen sein. Es gab kein Körperteil, das nicht durch tiefe Fleischwunden zerfetzt gewesen wäre. Keins. Der Unterleib war von Schnittwunden durchzogen, die trotz der Unmengen geronnenen Blutes unschwer zu erkennen waren. Direkt unterhalb des Haaransatzes im Nacken war statt eines ehemals zarten Genicks eine blutig-breiige Masse. Vorn, in Höhe der Luftröhre sah es noch schlimmer aus. Dort war die Kugel ausgetreten. Hautlappen, steif vor Blut, waren trichterförmig um das Loch aufgeworfen.
„Wie gesagt, Genickschuss aus nächster Nähe“, erklärte Krämer sachlich. „Kugel vorn wieder ausgetreten. Winkel und Schusskanal lassen darauf schließen, dass sie gekniet hat, als sie erschossen wurde. Vorläufige Todeszeit etwa drei Uhr diese Nacht, meint unser allwissender Doktor. Ansonsten einerseits flache, andererseits sehr tiefe Schnittwunden. Wahrscheinlich hat er sich vorgearbeitet. Langsam angefangen und sich dann immer weiter gesteigert.“
Susanne wandte sich ab und ging zum Auto zurück. Ihr Kopf war absolut leer, bis auf das Bild, das sie ein paar Sekunden zuvor gesehen hatte. Nein, kein Bild. Realität, blutige, sadistische Realität.
Sie legte die Hände auf das Wagendach und wartete auf eine Reaktion. Irgendeine. Kotzen vielleicht, dem Magen einfach nachgeben, ihm seinen Willen lassen. Schreien wäre auch gegangen. Schreien, bis die Kehle so wund war, dass kein Ton mehr herauskam.
Hellweins Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter. Er sagte nichts.