Einundzwanzig

 

Es war nur ein kleiner Umweg, der durch Karins Straße führte. Klingeln, sie in die Arme nehmen … sich wütend niedermachen lassen … sich entschuldigen … rausgeschmissen werden … Alles schien besser als  dieses Schweigen.

Er traute sich nicht einmal, aus dem Wagen zu steigen.

Um acht ertappte er sich dabei, dass er wie ein Tiger in seiner Wohnung herumlief. Von einem Ende zum anderen. Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer. Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche. In seinem Kopf vermischte sich dabei diese ganze vergangene Woche zu einem unentwirrbaren Knäuel. Je mehr er versuchte, Klarheit zu bekommen, desto mehr verwickelte sich alles. Nach einer Weile fand er nicht mal mehr den Anfang des Fadens, vom Ende ganz zu schweigen. Nichts passte mehr zusammen. Nicht in diesem vertrackten Fall und nicht in seinem Herzen.

Lea — das war seine einzige Rettung! Mit ihrer scharfen Zunge konnte sie — je nach Laune — Wutanfälle oder Lachkrämpfe bei Totgesagten auslösen. Nach außen gab sie sich gern oberflächlich und leichtfertig. Die Frau, die Thekenrunden gab, derbe Witze riss und mit ihrem Mundwerk und dem feuerroten Stoppelhaar überall auffiel. Dass sich dahinter ein hochsensibler Mensch verbarg, dessen feinen Antennen selten etwas verborgen blieb, wussten nur wenige.

Chris floh regelrecht aus seiner Wohnung und fuhr zurück in die Stadt.

Wie immer plärrte die Musikbox im „Mainzer Hof“ zu laut. Schon auf der Straße hörte er „I am what I am“. Einen Moment lang blieb er neben der Tür stehen, um sich im schummrigen Licht des Lokals zu orientieren. Sein linker Fuß wippte im Rhythmus der Musik unwillkürlich mit.

Er hatte den Laden noch nie leer erlebt. Aber heute war es besonders voll. Jeder Platz war besetzt, die Kellner wuselten mit Kölschkränzen hin und her, und an der Theke standen die Gäste in Dreierreihen. Im hinteren Teil waren Tische zusammengeschoben worden, und eine große Gruppe Frauen feierte dort offenbar Junggesellinnenabschied. Jedenfalls schienen sie betrunken genug dafür.

„Ah — der Rächer der Enterbten!“ Lea gabelte ihn schon auf, bevor er sich zur Theke durchkämpfen konnte. Ihre veilchenblauen Augen blitzten vergnügt. „Unser charmanter Anwalt scheint etwas abgespannt!“

„Vergiss es“, grummelte er, genoss aber ihre lange Umarmung. Er roch Pfirsich und einen Hauch Aprikose, unverkennbar Leas Duschgel.

„Im Ernst“, sie hakte sich unter und bahnte einen Weg zu ihrem Stammplatz an der Durchreiche. „Du siehst aus, als wärst du unter die Straßenbahn gekommen. Oder bist du mit deinem Staatsanwalt Zenker zusammengerasselt?“

„Schlimmer!“

„Jetzt lass dir nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen!“ Sie nippte an ihrem Wein und musterte Chris aufmerksam, der das Bier, das ihm die Wirtin unaufgefordert hingestellt hatte, fast in einem Zug austrank.

Er erhielt einen Stoß in den Rücken, worauf ein gelalltes „`Tschulligung“ folgte. Gleich darauf schepperten irgendwo ein paar Gläser zu Boden. Ein grauhaariger Typ, dessen Gesicht ihm vage bekannt vorkam, haute ihm kumpelhaft auf die Schulter, ehe er Richtung Toiletten wankte. Warum, um alles in der Welt, war er bloß hierhergekommen? Dieses Gewirr schwitzender, trinkender Leiber machte ihn plötzlich wahnsinnig. Die laute Musik, die einen zwang, sich beinahe brüllend zu unterhalten, tat ihm in den Ohren weh. Der Geruch von Sauerbraten, der aus der Küche herüberwaberte, war ihm zuwider, und das Bier schmeckte eigentlich scheußlich. Wieso hatte er sich nicht einfach mit einer Flasche Whisky ins Bett verkrochen? Entnervt knallte er sein Glas auf die Theke.

Das „Gute-Laune-Spiel“ von Lea änderte sich schlagartig. Sie rückte nah an ihn heran und legte den Arm um seine Schultern. „So schlimm?“, rief sie ihm dabei ins Ohr. Trotzdem hörte er die Zärtlichkeit in ihrer Stimme.

„Merkt man das?“, knurrte Chris. Verdammt, es fehlte nicht viel, und er hätte losgeheult. Aber Männer heulten schließlich nicht.

Lea umfasste ihn fester. „Puh, mein Engel! Dich hat´s aber erwischt!", stellte sie fest und rutschte von ihrem Barhocker.

Dann baute sie sich breitbeinig vor ihm auf und fragte mit unnatürlicher, dunkel-heiserer Stimme: „Gehen wir zu dir oder zu mir, Baby?“

Sie schaffte es immerhin, ihm ein Grinsen zu entlocken. „John Wayne?“

„Humphrey Bogart. — Los komm!“ Mit einer Handbewegung bedeutete sie der Wirtin, anzuschreiben. Der Einfachheit halber bezahlte sie hier sowieso nur ein Mal im Monat.

 

Bis sie in der Piusstraße waren, schwiegen sie beide. Lea ließ ihm Zeit, sich zu sammeln, die richtigen Worte zu finden. Manchmal konnte sie ekelhaft sensibel sein.

Bei viel zu viel Wein brach schließlich die ganze vergangene Woche aus ihm heraus. Angefangen mit diesen panisch aufgerissenen Augen, die so unwirklich erleuchtet wurden von den blauen Lettern der „Frielingsdorf KG“; über das dumpfe, nagende Gefühl, Inge könnte noch leben, wenn er sie nicht hochgehoben und uns Auto getragen hätte; bis hin zu dieser schroffen Bärin, die sich so unvermittelt in sein Herz geschummelt hatte. Einfach da war und nicht wieder verschwinden wollte.

Lea hörte geduldig zu, gab hier und da einen Kommentar ab, und meinte schließlich — genau wie Anne —, dass er richtig gehandelt hatte, als er Inge Lautmann ins Krankenhaus gefahren hatte. Dann spielte sie alle Theorien durch, die Chris und Susanne im Kopf herumschwirrten, kam aber auch zu keinem schlüssigen Ergebnis. Nur zu Karin sagte sie kein einziges Wort.

 

Chris wachte auf, als ihm die Sonne ins Gesicht schien. Nur vage erinnerte er sich, wie er ins Bett gegangen war, und der dumpfe Schmerz hinter der Stirn verriet ihm, dass er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte. Seine Augen brannten, es war viel zu hell im Zimmer und er war versucht, sich einfach das Kissen über den Kopf zu ziehen und noch eine Runde zu schlafen.

Aber in der Küche schmetterte jemand grässlich falsch den „Gefangenen-Chor“, und Kaffeeduft stieg ihm in die Nase. Also rappelte er sich hoch, schlüpfte in den blauen Bademantel und taperte barfuß durchs Wohnzimmer. Auf der Couch lag zerwühltes Bettzeug. Hatte er Lea etwa noch ein Bett gemacht? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

Sie erschien in der Küchentür und blieb mit schief gelegtem Kopf stehen. Die feuerroten Haare glänzten feucht und standen in alle Himmelsrichtungen. Ihre Augen leuchteten mit den Apfelbäckchen um die Wette. Kurz: Sie sah aus wie das blühende Leben. Dabei hatte sie mindestens so viel getrunken wie Chris.

„Komm frühstücken“, forderte sie ihn auf und wedelte zur Bekräftigung mit einem Küchenhandtuch.

Sie hatte frische Brötchen besorgt und die Tageszeitung aus dem Briefkasten gefischt. Der runde Tisch in der Küche war in der für Lea typischen eigenwilligen Art zum Frühstück gedeckt. Tassen und Untertassen gehörten zu dem edlen Geschirr mit dem geblümten Rand, das er von Luise zum Einzug bekommen hatte. Daneben allerdings lagen die eckigen zerkratzten Holzbrettchen, die er nur selten benutzte. Darauf wiederum standen Servietten, die kunstvoll zu einer Blume gefaltet waren — eine der vielen Leidenschaften von Lea.

Chris nahm sich Kaffee und schlug gleich die Zeitung auf. Nichts Neues in der Welt. Manchmal fragte er sich, wie die Redakteure es trotzdem schafften, eine dicke Samstagsausgabe hinzukriegen. Sogar die „mysteriösen Morde im Rotlichtmilieu“ waren auf Seite zwei des Kölnteils gerutscht. Der Artikel enthielt nichts, was er nicht schon wusste.

„Iss was!“, verlangte Lea plötzlich.

Er hatte zwei Tassen Kaffee getrunken, aber feste Nahrung bislang verschmäht.

„Du klingst wie meine Mutter!“

„Scheiße, Chris! Scheiße! Es nützt niemandem, wenn du vom Fleisch fällst!“, blaffte sie zurück und setzte hinzu: „Karin am allerwenigsten!“

Da war es wieder, dieses Ziehen in der Herzgegend. Aber hatte sie nicht Recht? Er zwang sich ein Brötchen mit Marmelade rein, das wie kalte Pappe schmeckte.

Den Verzehr dieses Brötchens sah Lea wohl als Schonfrist an, denn kaum hatte er den letzten Bissen geschluckt, legte sie los. Begann eine nüchterne Analyse.

„Also gut, mein Schatz! Dass du nix dafür kannst, dass diese Lautmann tot ist, hast du hoffentlich kapiert. Geh ich zumindest von aus. Was bleibt, ist Karin!“

„Lea, tu mir einen Gefallen …“

„Nein, den tue ich dir nicht!“, unterbrach sie ihn schroff. „Sie kann nur Affären, hast du gesagt. Willst du dich für ein paar Minuten im Bett verschleißen lassen?“

„Hör auf!“

„Willst du das?“, wiederholte sie ungerührt.

„Wenn du´s unbedingt hören willst: Nein!“, brüllte Chris und schlug mit der Faust auf den Tisch. Leas Kaffee schwappte in die Untertasse.

„Du stehst nicht auf große Frauen.“

„Nein.“

„Sie ist schwierig.“

„Ja.“

„Sie sieht nicht aus wie Claudia Schiffer.“

„Lea! Es geht nicht darum, wie sie aussieht, wie viele Narben auf ihrer Haut sind und ob sie ein, zwei oder drei Beine hat!“ Er stand kurz vor der Explosion. Hätte er sich doch bloß allein betrunken gestern Abend! Welcher Teufel mochte ihn geritten haben, sich ausgerechnet bei Lea auszuheulen?

„Wie viele erwachsene Frauen gibt es in Köln?“

„Was? — Etwa dreihunderttausend“, antwortete er automatisch und begriff plötzlich. Lea spielte den Advocatus Diaboli auf ihre Weise.

„Und du bist sicher, dass es ausgerechnet diese eine sein muss?“

„Ja“, sagte er schlicht.

Und ebenso schlicht kam es nach ein paar Sekunden, in denen Lea ihn durch den Rauch ihrer Zigarette fixiert hatte, zurück: „Okay.“

In stillem Einvernehmen grinsten sich die beiden über den Küchentisch hinweg an. Bis Lea fragte: „Was hast du jetzt vor?“

„Wenn Karin meint, mich wieder ertragen zu können, wird sie mich das wissen lassen“, antwortete Chris so beiläufig wie möglich. Obwohl er keineswegs sicher war, ob das jemals der Fall sein würde. Bei einem Menschen wie Karin funktionierte es ganz sicher nicht, sich einfach zu entschuldigen und die Sache damit aus der Welt zu schaffen. Ob er Abbitte leistete oder in China ein Sack Reis platzte, würde auf Karin ungefähr die gleiche Wirkung haben, nämlich gar keine! Wenn sie etwas mit ihm zu tun haben wollte, musste sie mit sich und der Welt wieder ins Reine kommen. Ganz einfach. Und dazu konnte er nichts, absolut nichts beitragen.

„Ansonsten werde ich versuchen, mit dieser Gertrud Schmitz zu reden. Irgendwo muss es ja mal ein Packende geben!“

„Leg dir vorher ein paar Eiswürfel auf die Augen“, sagte Lea trocken. „Du siehst aus wie ein Karnickel aus dem Versuchslabor. Also gut, während du dich um die Schmitz kümmerst, besorg ich uns was Nettes zum Abendessen und hol mir ein paar Klamotten von zu Hause.“

„Lea, du musst wirklich nicht …“, begann er lahm, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

„Schätzchen — unsere wievielte Krise ist das?“

 

Sie war nicht davon abzubringen, den Rest des Wochenendes bei Chris zu kampieren. Und so ganz unlieb war ihm das nicht, wie er sich eingestand, als er mit viel kaltem Wasser und einer gründlichen Rasur versuchte, sein Gesicht auf Vordermann zu bringen.

Gertrud Schmitz war im Telefonbuch achtundzwanzig Mal vertreten. Lea zählte nach und kam zu dem gleichen Ergebnis. Innerlich beglückwünschte sich Chris, keinen Willi oder Josef zu suchen. Die gab es nämlich zu Hunderten!

Sie teilten sich die achtundzwanzig Nummern. Lea schnappte sich das Handy und verzog sich in die Küche, Chris nahm den Festnetzanschluss.

Es war immer das Gleiche. Nachdem er sich vorgestellt hatte, um Entschuldigung für die Störung bat und nach Inge Lautmann fragte, hörte er nur: „Keine Ahnung.“ „Nie gehört.“ „Tut mir Leid.“ „Nein, kenn ich nicht.“

Er wählte gerade die elfte Nummer auf seiner Liste an, als Lea aus der Küche gewuselt kam.

„Bingo!“ Triumphierend hielt sie einen Zettel hoch. „Um drei. Friedrich-Schmidt-Straße!“

„Du bist ein Engel!“, rief Chris, der von Gespräch zu Gespräch niedergeschlagener geworden war.

„Das weiß ich, Süßer! — War ein bisschen verkniffen, die Dame.“

„Wie meinst du das?“

„Na ja, sie wollte erst gar nicht so mit der Sprache raus. Wollte sich auch nicht mit dir treffen. Erst als ich gesagt habe, Heinz schickt dich, hat sie zugestimmt. Sie schien ziemlich nervös.“

Als er gegen halb drei auf die Straße trat, hielt er einen Augenblick lang sein Gesicht in die Sonne und atmete tief durch. Es war ein warmer Tag, der nach Sommer duftete. Hein stand wie immer vor seinem Kiosk und grüßte fröhlich herüber. Chris winkte zurück und stieg schnell in den schwarzen Nissan. Er hatte wirklich keine Lust auf einen Schwatz mit Hein.

Die Friedrich-Schmidt-Straße lag direkt am Stadtwald. Eine edle Gegend mit gepflegten Gärten, altem Baumbestand und einigen Villen aus der Gründerzeit. Wer hier wohnte, war mit Sicherheit nicht arm, und bevor er den Finger auf die Klingel legte, fragte er sich kurz, wie das zusammenging. Gertrud Schmitz in diesem Viertel und ihr Bruder auf einer Bank am Ebertplatz.

Sie war genauso, wie Klein Fritzchen sich eine Sekretärin aus den sechziger Jahren vorstellte: Ein bisschen mollig, geblümtes Kleid, Perlenkette, sorgfältig geschminktes Puppengesicht. Sie legte sogar züchtig die Knie aneinander, als sie Chris in einem großzügig gestalteten Wohnzimmer gegenüber saß. Dazu passte allerdings ihre unübersehbare Schüchternheit überhaupt nicht. Sekretärinnen hatten kompetent und souverän zu sein. Gertrud Schmitz hingegen war die personifizierte Unsicherheit. Ihre Nervosität strömte aus jeder Pore ihres Körpers, war beinahe greifbar in diesem Zimmer, das wirkte wie ein Ausstellungsraum im Möbelhaus. Die geblümten Chintzsessel, der Teppich, Eichenschrankwand und Tisch — alles harmonierte perfekt miteinander. Es war nur nirgendwo Leben zu entdecken. Kein aufgeschlagenes Buch, kein überflüssiger Krimskrams, kein Stäubchen auf den polierten Hölzern.

„Sie waren mit Inge befreundet?“, begann Chris und hoffte, so einfühlsam wie möglich zu klingen, obwohl er sich in dieser absolut sterilen Umgebung unwohl fühlte. Mindestens so unwohl wie die Bewohnerin dieser Sterilität, die ihn mit flackernden Augen beobachtete und auf seine Frage hin nur nickte.

„Wann haben Sie Inge zum letzten Mal gesehen?“, bohrte er weiter.

„Was wollen Sie?“, kam es schrill zurück.

„Wissen, wer sie umgebracht hat. Wo sie die letzten Wochen vor ihrem Tod gewesen ist!“

Gertrud Schmitz sah ihn lange aus rot umränderten Augen an. Und jetzt erst bemerkte er, dass das die Augen eines Menschen waren, der viel geweint hatte in letzter Zeit. Viel zu viel.

„Sie war hier“, sagte sie dann leise. „Hier bei mir.“

Einen Moment lang stockte ihm der Atem. So einfach war das also. So beschissen einfach.

„Die ganze Zeit?“ Seine Stimme klang rau vor nervöser Erwartung.

„Eine Nacht war sie mal weg.“

„Von wann bis wann genau war sie hier?“

„Sie … sie ist an einem Sonntag gekommen“, antwortete sein Gegenüber so leise, dass Chris Mühe hatte, sie zu verstehen. „Am 22. April, um genau zu sein. Sie hätte sich mit dieser Tönnessen zerstritten, sagte sie. Sie hatte zwei Koffer dabei und wollte eine Weile bleiben. Ich … ich hätte ihr das doch nie abschlagen können.“ Schmitz schaute ihn mit einem flehenden Blick an. „Sie hat doch … für Heinz … gesorgt.“

Plötzlich glaubte er zu verstehen. „Haben Sie auch für Heinz gesorgt?“, fragte er deshalb.

Chris erntete ein heftiges Kopfschütteln. „Nein, nein! Ich hätte … hätte mich nie getraut … Aber Inge machte es … nichts aus.“

„Aber ein Teil des Geldes für Heinz ist von Ihnen gekommen?“

Sie nickte und brach unvermittelt in Tränen aus. Chris bemühte sich, gelassen zu bleiben. Er hatte jetzt eine ungefähre Vorstellung davon, was de Stang mit „Musst ´n bisschen Jeduld mit ihr haben“ gemeint hatte.

Nach einer Weile schnäuzte sie sich geräuschvoll in ein Tempo. „Er hat mir immer so Leid getan“, erzählte sie dann weiter. „Aber ich habe nie verstanden, warum er … Ich habe ihm tausend Mal angeboten, hier zu wohnen.“

Was mochte schlimmer sein, überlegte Chris. Mit dieser Frau in einem Möbelkatalog zu leben, oder auf Platte. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass Stockberger das kleinere Übel gewählt hatte.

„Die Nacht, in der sie nicht hier war, wann war das?“

„Ich … ich weiß nicht mehr. Ein paar Tage nach dem 22.“

Chris kramte in seinem Gedächtnis. Karin hatte gesagt, Inge wäre am 25. oder 26. bei ihr gewesen. Das käme also hin.

„Wann haben Sie Inge das letzte Mal gesehen?“

„Mittwoch!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Mittwoch, bevor sie … Sie schien sich auf was zu freuen. Sie hat gesagt, jetzt würde sie endlich das dicke Geld bekommen, hat ihre Koffer gepackt und …“ Ein erneuter Tränenausbruch verschluckte den Rest des Satzes.

„Frau Schmitz“, begann er und zwang sich zur Ruhe. „Sie wissen, was mit Inge passiert ist, aus der Zeitung oder sonst wo her. Wieso sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“

„Aber das konnte ich doch nicht!“ Ihre Empörung ließ die Tränen versiegen. „Sie hatte mir doch gesagt …“ Unvermittelt brach sie ab und biss sich auf die Lippen.

„Was hat sie Ihnen gesagt?“

Schmitz schlug die Augen nieder. „Sie hat gesagt, dass nie jemand erfahren dürfte, dass sie hier war. Was … was auch immer passiert! Und den Umschlag sollte ich … verbrennen.“

Und wieder vergaß Chris, Luft zu holen. In seinem Kopf brannte nur „Umschlag“. Das konnte alles bedeuten. Ein Testament, ein Geständnis, eine Anklage, gar nichts. Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, sein Gegenüber nicht zu schütteln.

„Sie hat Ihnen einen Umschlag in Verwahrung gegeben?“, fragte er, nachdem er endlich wieder zu Atem gekommen war.

Nicken.

„Und den sollten Sie verbrennen, wenn ihr etwas passiert?“, sekundierte er weiter.

Nicken.

„Haben Sie diesen Umschlag verbrannt?“

Kopfschütteln.

Chris ballte die Hände zu Fäusten, um seine Anspannung unter Kontrolle zu halten. „Würden Sie … Würden Sie mir diesen Umschlag geben?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Nein, nein!“ Schmitz schien ob dieses Ansinnens schockiert. „Ich darf ihn nicht aus der Hand geben! Niemals!“

„Frau Schmitz! Inge ist tot!“ Chris war so ziemlich am Ende seiner Geduld angelangt.

„Aber sie hat doch gesagt … ich bin ihr doch verpflichtet …“

„Sie ist tot“, wiederholte er und wunderte sich, woher seine Ruhe kam. „Sie wurde auf äußerst scheußliche Art und Weise umgebracht. Und vielleicht würde dieser Umschlag helfen, ihren Mörder zu finden.“

Aber sie schüttelte nur den Kopf, immer und immer wieder, wie um sich selbst einzuhämmern, die Anweisung von Inge um jeden Preis befolgen zu müssen.

„Frau Schmitz“, sagte Chris leise. Er kam sich vor, wie ein Schlangenbeschwörer. „Wie wäre es, wenn wir gemeinsam in den Umschlag schauen, und dann entscheiden Sie, was damit geschehen soll?“

Sie überlegte. Lange Zeit. Etliche Sekunden, die seine Ungeduld schier ins Unendliche steigerten. „Du hast Hummeln im Hintern!“, hätte seine Mutter jetzt gesagt.

Schließlich sah Schmitz ihn an. „Meinen Sie wirklich?“, fragte sie zweifelnd.

Chris nickte heftig. Endlich stand sie zögernd auf und verschwand im Nebenzimmer. Auf ihrer Stirn lagen tiefe Falten. Offensichtlich dachte sie angestrengt darüber nach, ob das Versprechen, das sie einer Lebenden gegeben hatte, für eine Tote noch von Bedeutung war.

„Mach schon!“, murmelte Chris mit zusammengepressten Lippen, als sie nach nebenan ging. „Hol ihn. Er ist wichtig. Ich weiß, dass er wichtig ist!“

Und noch etwas war wichtig: Wenn Inge dieses Dokument und die entsprechenden Anweisungen hinterlegt hatte, musste sie gewusst haben, dass sie ein gefährliches Spiel spielte. Was auch immer das war.

Als Schmitz zurückkam, trug sie einen braunen DIN-A 5 Umschlag mit beiden Händen vor sich her, fast wie ein Priester den Kelch bei der Wandlung. Dann setzte sie sich neben Chris auf die Couch und gab ihm den Umschlag, ohne ihn anzusehen.

Er zog zwei Blätter daraus hervor. Sie waren eng, aber sauber in Spalten eingeteilt: Name, Vorname, Titel oder Beruf, manchmal eine Telefonnummer. Die letzte Spalte war jeweils gespickt mit Abkürzungen, auf die er sich zunächst keinen Reim machen konnte. Aber er ahnte deren Bedeutung: Vorlieben und Praktiken der ausschließlich männlichen Mitglieder eines zweifelhaften Clubs, verpackt in Kürzel und Codeworte, die Kenner der Szene ohne Probleme entschlüsseln würden.

„Heureka!“, murmelte er, als er endlich begriff, was er da in Händen hielt.

 

Er war beinahe euphorisch, als er Richtung Büro fuhr. Es hatte nicht mehr viel Überredungskunst erfordert, dass Gertrud Schmitz ihm den Umschlag samt Inhalt anvertraute. Offenbar hatte sie keine Vorstellung davon, was diese Liste beinhaltete. Sie wusste nur, dass Inge sie als Kapital bezeichnet hatte. „Das ist mein Grundkapital, wenn ich mich auf eigene Beine stelle, du wirst sehen!“, hatte sie mehr als einmal gesagt.

Im Grunde lag er mit seiner Theorie also doch richtig. Inge wollte das Geschäft allein machen, nicht nur sporadisch mit einzelnen Freiern, sondern im großen Stil. Dann allerdings passte der Mord an Tönnessen nur, wenn ihre Begleitagentur noch ein paar Nummern größer war, als sie bisher angenommen hatten.

Vielleicht war sie in einem ganzen Netzwerk von Vermittlungen so eine Art Filialleiterin gewesen. Und als die Bestrafung von Inge tödlich endete, bekam sie kalte Füße und drohte den Hintermännern. Und natürlich verurteilten genau diese Hintermänner Tönnessen zum Tode. Das war so üblich in der Branche.

Die polizeilichen Ermittlungen würden nun in zwei Richtungen laufen müssen. Zum einen war immer noch ein persönliches Motiv nicht auszuschließen. Also würde man weiter nach einem durchgeknallten Freier oder dem Liebhaber von Inge suchen. Zum anderen mussten sie jetzt aber auch organisiertes Verbrechen und beauftragte Killer in ihre Überlegungen einbeziehen.

Im Büro jagte Chris die Liste durch den Kopierer und rief währenddessen im Präsidium an, um sicher zu sein, dass Susanne dort war. Anschließend ließ er die kopierten Seiten in den Tiefen seines Sakkos verschwinden. — Man konnte nie wissen!

Und dann hatte er eine brillante Idee! Seiner Meinung nach jedenfalls.

Als er im Präsidium ankam, lag ein glückliches, erwartungsvolles Lächeln auf seinen Lippen. Inges Kundenliste hatte ihren Preis! Und Chris hatte ihn festgesetzt! Er war so begeistert von seinem Einfall, dass er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Etagen nach oben hetzte.

Wie üblich wippte Susanne auf ihrem Stuhl, und er fragte sich zum wiederholten Mal, wie lange es noch dauern würde, bis er endgültig aus dem Leim ging. Jedenfalls knackte er schon seit Ewigkeiten verdächtig.

Irritiert sah er auf Hellweins Platz, der aufgeräumt wie selten war. Nur wenige rote Aktendeckel waren zu einem sauberen Stapel aufgeschichtet, und die Stifte steckten alle in der dafür vorgesehenen Holzbox. Sogar die Ablagekörbchen waren beinahe leer.

„Hast du ihn auf ein Seminar für Büroorganisation geschickt?“, fragte er und deutete mit dem Kopf auf den Schreibtisch von Hellwein.

Susanne murmelte nur etwas Unverständliches. Ihre Laune schien von der übelsten Sorte zu sein. Und Chris war sich völlig im Klaren darüber, dass er sie gleich noch mehr aufbringen würde.

„Was Neues?“, fragte er deshalb betont gelassen, nachdem er sich auf der anderen Seite des Tisches niedergelassen hatte. Bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen.

„Neues?“ Die Kommissarin spuckte das Wort förmlich aus. Sie beugte sich weit über den Schreibtisch und stützte ihre mageren Arme auf. „Neues! Oh ja: Es gibt jetzt eine SOKO Lautmann. Mit sage und schreibe acht Leuten! Acht! Für jede scheiß Beziehungstat krieg ich mehr Mitarbeiter! Wenn die so weitermachen mit Sparmaßnahmen und Budgetierungen, bleiben irgendwann Hellwein und ich allein übrig für jeden einzelnen Todesfall in dieser beschissenen Stadt. Acht Leute! Allesamt immer noch beschäftigt mit Befragungen sämtlicher Zeugen, die Lautmann oder Tönnessen kannten.

Wir haben sogar ein paar Mädchen ausfindig gemacht, die für Tönnessen gearbeitet haben. Sie erzählen viel, oh ja! Ich bin jetzt Expertin für Sado-Maso in jeglicher Form. Auf kleine Brettchen genagelte Hoden; Peitschen mit Eisenkugeln an den Enden; Ehefrauen, die sich die Brustwarzen versengen lassen, währenddessen die Mädels dem Ehegespons einen blasen. Willst du noch mehr?“

Sie erwartete offensichtlich keine Antwort, hatte sich regelrecht in Rage geredet. „Verdammt! Sie quatschen dich tot mit dem Zeug! Nur mit Namen gehen sie äußerst sparsam um. Sie behaupten, die wirklich dicken Fische hätte sowieso nur Lautmann bekommen!“

„VICLAS?“, fragte Chris dazwischen, um Susanne von dem Thema abzubringen, sie vielleicht in Bahnen zu lenken, die sie ruhiger angehen konnte. Denn VICLAS könnte wirklich eine Chance sein. In das Computerprogramm flossen bei jedem Mord oder Sexualdelikt die Auswertungen von mehr als hundertfünfzig Standardfragen ein und wurden dort analysiert. Die Profiler des LKA suchten dann nach vergleichbaren Handlungsmustern, einer „Handschrift“, die der Täter hinterließ.

„VICLAS!“, schnaubte Susanne. Mit fahrigen Bewegungen begann sie, die Ärmel ihrer Jeansbluse hochzukrempeln. „Es gibt kein eindeutiges Handlungsmuster. Einmal haben wir Schläge, Tritte, Brandwunden. Das andere Mal einen zerschnittenen Körper und eine brutale Exekution. Das reicht nicht, um ein klares Bild zu liefern. Oder anders gesagt: Es gibt zu viele, die auf die eine oder andere Weise sadistisch handeln, was eine vernünftige Eingrenzung unmöglich macht. Sagen jedenfalls die Spezialisten.

Wenigstens haben wir jetzt eine Analyse der Haare. Die auf Lautmanns Kleidung wie auch die im Wagen von Tönnessen  sind identisch. In unserer Gendatenbank haben wir zwar kein Gegenstück dafür, zumindest aber können wir damit eine eindeutige Identifizierung vornehmen. — Wenn wir den Kerl irgendwann kriegen! Das beweist natürlich noch gar nichts. Wir wissen, dass es ein Mann war und wir wissen, dass er mit beiden Kontakt hatte. Es ist ein Indiz, aber kein Beweis, dass er sie auch getötet hat. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass das unser Täter ist. — Ein Sadist, der ein ziemlich großes Repertoire hat!“

„Er hatte unterschiedliche Motive“, sinnierte Chris. „Lautmann ist wohl eher aus Versehen gestorben. Dagegen war der Tod von Tönnessen geplant.“

„So seh ich das auch. Trotzdem ist dass der beschissenste Fall den ich je hatte, Chris!“ Die Hand von Susanne sauste auf die Tischplatte, und aus dem übervollen Aschenbecher kullerten zwei Zigarettenstummel. Aber sie kümmerte sich nicht darum. „Es gibt einfach keine logische Verknüpfung, verdammt! Wir drehen uns immer nur im Kreis!“

„Womöglich nicht mehr lange“, bemerkte Chris leichthin und erntete einen ungläubigen Blick, der mehr und mehr in Misstrauen umschlug.

„Wie meinst du das?“, kam es dann langgezogen.

„Ich hätte vielleicht eine Kleinigkeit!“

„Was?“

Er wedelte mit dem Umschlag. „Ich tausche, Susanne! Das hier gegen die kompletten Ermittlungsakten Lautmann-Tönnessen!“

Zornig fuhr die Kommissarin von ihrem Stuhl hoch. „Du hast sie ja nicht alle! Komplette Ermittlungsakten! Du weißt so gut wie ich, dass das nicht geht! Wo kämen wir hin, wenn Hinz und Kunz … Was ist da drin?“

Chris legte eine Kunstpause ein. Zögerte, ließ sie im luftleeren Raum hängen. Er schlug die Beine übereinander und schnippte ein Fädchen von seinem Hemd.

„Eine wunderbare kleine Liste“, ließ er sich dann zu einer Erklärung herab. „Eine Kundenliste, wenn du so willst. Wahrscheinlich keine komplette, aber immerhin.“

Susanne zog tief die Luft ein. „Das ist nicht dein Ernst!“

„Mein voller! — Also, was ist?“

„Chris! Ich kann das nicht machen!“

„Sanne! Das hier und ich sage dir auch noch, dass sie die letzten drei Wochen bei einer Freundin untergetaucht war. Zwei Tage vor ihrer Ermordung hat sie ihre beiden Koffer gepackt und ist abgezogen. Ganz offensichtlich in freudiger Erwartung auf eine Menge Geld, das jetzt fließen sollte. Na, komm schon! Die Liste gegen ein paar blöde Kopien.“

Er war sich völlig im Klaren darüber, was er von der Polizistin verlangte. Aber ihm war auch klar, dass er ohne diese Papierberge keinen Schritt weiterkam. Keine Chance hatte, sein ungutes Gefühl aufzudröseln, das seit Freitag an ihm nagte wie die Maus an der Käseecke. Er musste jeden Schritt, jedes Detail und jede Aussage schwarz auf weiß haben, sich in Ruhe darin vergraben, um einen bestimmten Punkt zu finden. Das, von dem er wusste, dass es da war, aber keinen blassen Schimmer, wo, wann und weshalb.

Als er eine Stunde später nach Hause fuhr, sah er aus wie ein Kind, dem man gerade eine Doppelportion Schokoladeneis spendiert hatte. Auf dem Beifahrersitz neben ihm lag eine dicke Mappe. Von Susanne höchstpersönlich kopiert.

Nach dieser Aktion hatten sie sich gemeinsam die Liste angeschaut. Es waren an die dreißig Namen darauf: Hohe Beamte der Staatskanzlei in Düsseldorf, Industrielle, Uni-Professoren, Kommunalpolitiker, Polizeibeamte im höheren Dienst, Richter, Staatsanwälte — genau wie Tönnessen behauptet hatte.

Susanne stöhnte auf, als sie die Brisanz der beiden Blätter erkannte. Und Chris beneidete sie nicht um ihren Job. Was sie auch tun würde — es war mit Sicherheit falsch. In dieser Aufstellung war kaum jemand, zu dem man einfach hingehen und sein Alibi überprüfen konnte. Keiner, den man mal eben so um eine Speichelprobe bat, ohne sich Beschwerden bei höheren Dienststellen einzuhandeln. Andererseits waren genau das die Wege, die die Kommissarin einschlagen musste. Und er konnte überhaupt nicht einschätzen, wie viel Rückendeckung sie von ihrem Vorgesetzten und der Staatsanwaltschaft bekam, und ob sie das nötige Fingerspitzengefühl für die weiteren Ermittlungen aufbrachte.

Genau das ging auch ihr durch den Kopf, als sie über die Liste gebeugt aufstöhnte und dann nur murmelte: „Ach, du große Kacke!“

 

Lea blieb bis Sonntagnachmittag. Widerstrebend gestand Chris sich ein, dass es angenehm gewesen war, das Wochenende nicht allein verbringen zu müssen. In ihrer Anwesenheit war es leichter gewesen, auf einen Anruf zu warten, der nicht kam, leichter an „Weißt du eigentlich, dass du wunderschöne Lachfalten hast?“ zu denken. Ein Satz, der Jahrhunderte zurücklag und doch so nah war und so verdammt wehtat.

Um jeden weiteren Gedanken an Karin zu verbannen, stürzte er sich auf die Ermittlungsakten, nachdem Lea gegangen war. Er lag im Wohnzimmer auf dem Parkettboden und hatte Tatortberichte, Fotos und Protokolle wild um sich verteilt. Der ebenfalls kopierte Kartenausschnitt von dem Gebiet um den Arloffer Wald lag etwas weiter weg und diente als Untersetzer für sein Bierglas. Die Karte war nicht weiter wichtig, und die feuchten Kränze, die das Glas hinterließ, spielten keine Rolle. Besser da drauf, als auf dem Parkett.

Chris versuchte Ordnung zu schaffen in dem Papierberg und in seinem Kopf. Zwei Stunden lang. Aber immer wieder begegnete ihm der Name Berndorf auf dem Papier und brachte seinen Kopf in Unordnung. Bis schließlich rote Krücken, Pflastersteine, Protokolle, Aussagen und Kieselaugen ein heilloses Chaos bildeten, dem er mit seinem geliebten Whisky zu entkommen versuchte. Irgendwann hallten nur noch zwei Sätze in ihm wider. Der eine drehte sich um Lachfalten, der andere giftete: „Vielen Dank für die Belehrung, Doktor Sprenger!“

Spät am Abend warf er den leeren Whiskybecher mit voller Wucht an die gegenüberliegende Wand und traf eins der unter Glas gerahmten Bruno-Bruni-Poster.

„Verschwinde, Karin Berndorf! Verschwinde endlich!“, schrie er, bevor er mit der Flasche im Arm auf der Couch einschlief.

 

Er kam mal wieder zu spät ins Büro, hatte erst abgewartet, bis das Aspirin wirkte und Scherben aufgekehrt. Dabei betrauerte er das zerschnittene Poster und legte es beinahe ehrfürchtig zu dem schon wieder angeschwollenen Berg Altpapier in der Fensternische.

„Ihre Mutter hat schon angerufen“, empfing die Nixe ihn. Der vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Es fehlte nur noch, dass sie demonstrativ auf die Uhr geschaut hätte.

„Dann verbinden Sie mich“, bellte Chris nur und rauschte in sein Zimmer.

Luise am frühen Morgen! Welche Katastrophe würde jetzt noch über ihn hereinbrechen?

Aber sie verkündete nur, sie habe sich von ihrem Hans-Dieter getrennt. Immer noch besser, als ihm den Pass aushändigen zu müssen, meinte sie. Chris wusste nicht, ob er die spürbare Trauer seiner Mutter teilen oder froh und dankbar sein sollte. Schließlich standen jetzt die Chancen nicht schlecht, dass Hans-Dieter noch ein langes, erfülltes Leben vor sich hatte.

Um jeden Gedanken an Karin im Keim zu ersticken, stürzte er sich in die Arbeit, las bis halb elf die Entwürfe zweier Klageschriften, versah sie mit Randbemerkungen, die die Nixe ausarbeiten würde und brachte dann die Körperverletzung hinter sich, die er Freitag abgesagt hatte.

Drei Anrufe liefen währenddessen auf: Stefan Eickboom, Lea und Anne.

Eickboom wollte wissen, welche Chancen bestünden, seinen Führerschein früher als nach einem Jahr zurückzubekommen. Chris sagte zu, sich darum zu kümmern, konnte ihm aber nicht viel Hoffnung machen. Pflichtschuldigst ließ er am Ende des Gesprächs Grüße an den Senior ausrichten. Und Eickboom versprach daran zu denken; der Vater sei gerade gestern von einem Kurzurlaub in Italien zurückgekehrt.

Anne war einfach nur ungehalten, weil Chris sich eine ganze Woche nicht gemeldet hatte. Dass man das Ganze genauso gut umgekehrt sehen konnte — sie hatte sich schließlich bei ihm auch nicht gemeldet —, entging ihr offensichtlich.

Was Lea wollte, war klar. „Geht es dir gut? Kommst du zurecht?“ Er bejahte beide Fragen halbherzig, sich durchaus einer Lüge bewusst.

Er hatte gerade beschlossen, Feierabend zu machen und schon den Autoschlüssel aus der Hosentasche gekramt, als die Nixe hereinkam und mit einem leichten Stirnrunzeln Johannes Eickboom meldete.

Der sah ganz und gar nicht so aus, als wäre er gerade aus Italien zurückgekehrt. Es sei denn, er hätte sich Venedig bei Regen angesehen oder so ähnlich. Er war kalkweiß, und die Ringe unter den Augen waren noch tiefer als letzte Woche bei Gericht. Ein ums andere Mal zupfte er nervös an seinem Nadelstreifenanzug herum und schien nicht in der Lage, auch nur ein paar Sekunden still zu sitzen.

Geistesabwesend übergab er Chris die Unterlagen für seine Eigentumswohnung mit den Mängeln. Chris sah die Papiere flüchtig durch. Kaufvertrag, Grundriss, Nebenabreden — es schien alles dabei zu sein. Er würde sich intensiv damit befassen, wenn der Sachverständige sein Gutachten abgegeben hatte.

Er legte die dünne Mappe beiseite und sah Eickboom erwartungsvoll an. Der Alte war nicht nur gekommen, um ein paar Unterlagen abzugeben, mit denen Chris im Moment noch gar nichts anfangen konnte. Das war nicht seine Art.

Durch die Glasplatte seines Schreibtischs konnte er sehen, dass Eickboom nervös mit dem rechten Fuß wippte. Dabei zog er ein blau-weiß gestreiftes Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn, ehe er zögernd den wahren Grund seines Besuchs nannte.

„Ich … äh … ein Freund von mir …“ Eickboom räusperte sich. „Ein Freund von mir lässt fragen, ob Sie ihm einen guten … Scheidungsanwalt empfehlen können.“

Chris bemühte sich um einen angemessenen Gesichtsausdruck. Natürlich kaufte er ihm den „Freund“ nicht ab. Der Alte selbst brauchte einen Scheidungsanwalt. Und deshalb war er so verändert. Was war wohl geschehen? Hatte seine Frau ihn bei einem seiner Seitsprünge ertappt? Oder hatte seine Geliebte ihm ein Ultimatum gestellt? Wie auch immer: für Eickboom und seine Frau ging es um eine Menge Geld.

Ohne einen Kommentar abzugeben, schrieb Chris ihm ein paar Namen von Kollegen auf, die auf Familienrecht spezialisiert waren.

Als Eickboom sich verabschiedet hatte, sah Chris ihm lange nach. Er hatte ihn bisher nur als Siegertypen erlebt, als Spieler, der jede Partie gewann. Ihn jetzt als fast gebrochenen Mann zu sehen, war erschreckend. Er machte sich ernsthaft Sorgen um den Alten.