Fünf

 

Mit einem erleichterten Seufzer stellte Karin Berndorf ihre Reisetasche mitten in der Diele ab und ließ gleichzeitig eine überdimensionale Kameratasche von der Schulter gleiten. Achtlos warf sie die knallroten Krücken daneben. Den leuchtend blauen Gehstock hängte sie allerdings ordentlich an die Garderobe. Sie war erschöpft und spürte jeden Knochen im Leib. Aber sie war auch zufrieden. Hochzufrieden! Mit sich, der Welt und den Aufnahmen, die sie gemacht hatte.

Drei Tage Plöner Seen. Nichts als blühende Rapsfelder, die im Sonnenlicht so gelb strahlten, dass es in den Augen wehtat. Verschwiegene kleine Seen, manchmal nicht größer als ein Teich, mit ganzen Schwärmen von Wildenten, die aus dem Schilf aufstoben, wenn man ihnen zu nahe kam. Wasser, das aussah wie flüssiges Blei, als sich ein Gewitter zusammenbraute. Ins Abendlicht getauchte Landschaft, und du glaubst, mitten in einem Gemälde von Caspar David Friedrich zu stehen.

Es war grandios gewesen, einfach grandios. Sie hatte fotografiert wie verrückt, wollte sich keine einzige dieser so unterschiedlichen Stimmungen entgehen lassen. Sie bedauerte zwar immer noch, dass sie ihre geliebte Hasselblad nicht mehr hatte. Wieso musste dieses dämliche Flittchen auch ausgerechnet die mitgehen lassen? Aber es waren gute Aufnahmen geworden, das spürte sie. Das zufriedene Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand, als sie sich bückte, um die Schuhe aufzubinden. Ein dumpfer Schmerz zog hoch bis in die linke Hüfte.

„Gottverfluchte Rübenscheiße“, brummte sie. „Okay, altes Mädchen, hast gewonnen.“ Sie nahm die Krücken mit ins Schlafzimmer und riss das Fenster weit auf. Es war stickig in dem kleinen Raum, der kaum Platz genug bot für ein Bett und einen schmalen Kleiderschrank. Einen Augenblick blieb sie stehen und atmete die klare Luft ein. Es roch nach nassem Asphalt und feuchter Erde. Aber der Regen hatte endlich aufgehört. Aus der Platane direkt vor dem Fenster tröpfelte es nur noch leise.

Dann zog sie ihre Jeans herunter und plumpste aufs Bett. Geschickt streifte sie den Silikonstrumpf ab, der ihren linken Oberschenkel mit der Prothese verband, und ließ das künstliche Bein mitsamt Hose einfach zu Boden gleiten. Vorsichtig begann sie, den Beinstumpf zu massieren, bis das Pochen etwas nachließ. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, zwei Beine zu haben. Aber es war zu lange her, als dass sie sich hätte erinnern können.

Schließlich brachte sie das Fenster in Kipp-Position und schwang sich auf den Krücken ins Wohnzimmer. Sie schaltete nur die Lampe über dem Esstisch ein und blieb unschlüssig stehen. Nach der langen Fahrt brauchte sie dringend Entspannung. Und es gab zwei Dinge in ihrem Leben, die sie erholsam fand und die gleichzeitig ihre Leidenschaften waren: Musik hören und lesen. Was also?

Ihr Blick glitt über die hellen Kiefernregale, die eine Seite ihres Wohnzimmers einnahmen. Sie waren vollgestellt mit Büchern, CDs und Musikkassetten. Auf einigen Regalböden standen die Bücher schon zweireihig, besonders bei den Klassikern und in der Krimi-Abteilung. Karin hatte mehrfach den Versuch gemacht, Platz zu schaffen. Wollte ein paar Kartons mit Büchern füllen, die eine Freundin dann auf dem Trödel verkaufen konnte. Aber nie hatte sie sich auch nur von einem einzigen Buch trennen können. Dann eher noch von der kleinen Sammlung Porzellan-Katzen, die sie vor kurzem erst zusammengeschoben hatte, um noch ein paar Wälzer unterzubringen.

„Mein Gott, Bernie“, murmelte sie jetzt. „Was tätest du wohl, wenn es keine Bücher gäbe?“ Grauenhafte Vorstellung!

Endlich entschied sie sich für Musik und legte „Nichts haut mich um“ auf, einen Querschnitt der schönsten Lieder von Hildegard Knef. Sie liebte nicht unbedingt die Knef, aber den Titel. Auch eine Karin Berndorf haute so schnell nichts um!

Bei den ersten Takten der Musik setzte sie sich auf die Couch und stopfte sich das dicke seidene Kissen zwischen Armlehne und Rücken. So saß sie am liebsten. Dann zog sie eine Flasche aus dem kleinen Regal neben der Couch, wo alles deponiert war, was sie gern in Griffnähe hatte. Von der Fernbedienung für die Stereoanlage, bis zu Zigaretten und Aschenbecher. Und natürlich die Bücher, die sie gerade las. Auch so eine dumme Angewohnheit von ihr. Wer las schon mehrere Bücher parallel? Im Moment schmökerte sie gleich in drei Krimis und zwei historischen Schmachtfetzen.

Die Handbreit Cognac, die sie sich einschüttete, hatte sie weiß Gott verdient. Zwölf Stunden Autobahn, von einem Stau zum anderen. Die letzten hundert Kilometer dann auch noch kübelweise Regen. Na, selber schuld. Sie hatte sich einfach nicht lösen können von dieser Landschaft, war erst mittags losgefahren und natürlich in den Freitagsverkehr geraten, der die A 1 regelmäßig verstopfte.

Sie balancierte den Cognacschwanker auf der rechten Handfläche und fummelte mit der anderen Hand eine Zigarette aus der Packung. Nur langsam kam die Entspannung, lockerten sich ihre Glieder. Während die Knef rote Rosen regnen ließ, überdachte Karin ihre Pläne für die nächsten Tage. Sie brannte natürlich darauf, die Aufnahmen aus Holstein zu entwickeln, aber das musste wohl noch ein Weilchen warten. Zunächst war da morgen Nachmittag diese dämliche Hochzeit eines ehemaligen Kollegen von der Zeitung. Eines netten Kollegen wohlgemerkt, sonst hätte sie sich niemals breitschlagen lassen, da zu fotografieren.

„Zum Teufel mit deiner Gutmütigkeit“, murmelte sie und trank das Glas leer. „Du bist und bleibst eine dumme Nuss!“ Missmutig drückte sie die halb gerauchte Zigarette aus. Eine Hochzeit, du lieber Himmel! Das war so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren konnte. Erst die Trauung mit Ringtausch und allem Brimborium, und dann war man als „rasender Reporter“ unterwegs, um die Gäste abzulichten, die eine oder andere lustige Szene einzufangen, das Buffet, die geschmückten Tische. Und der Bräutigam wollte auch noch ausschließlich digitale Aufnahmen, die sie ihm auf CD brennen sollte. Das war gar nicht ihr Ding. Sie machte es eigentlich so wie fast alle Profis: Sie fotografierte analog, entwickelte die Negative ganz konventionell und bearbeitete die Bilder dann erst am Computer. Aber da der Kunde immer Recht hatte, würde sie natürlich zur „Digi“ greifen. Dann kam sie wenigstens darum herum, alles zu entwickeln und Abzüge machen zu müssen.

Karin seufzte auf. Auch die Hochzeit würde vorbei gehen. Sonntag das Essen mit Achim und Klaus — immerhin ein Silberstreif am Horizont, bevor sie in der Nacht zu Montag die ersten Aufnahmen für einen Industriekonzern in Wesseling machen musste. Fabrikschlote in der Dunkelheit kamen immer gut, von Scheinwerfern angestrahlte Rohrsysteme, scheinbar bis in den Himmel ragende Schornsteine, an denen Positionslichter blinkten. Sicher auch nicht das, wovon man als Fotografin träumte, aber zumindest würde es jede Menge Geld einbringen.

Dann konnte sie sich vielleicht bald noch einmal ein paar Tage irgendwo gönnen. So wie ihr Ausflug nach Holstein. Damit hatte sie sich sozusagen selbst ein verspätetes Geburtstagsgeschenk gemacht. Endlich mal wieder Schönheit und Unberührtheit sehen, riechen, fotografieren. Einige Abzüge ließen sich mit Sicherheit verkaufen. Bildkalender waren zurzeit der große Renner, und sämtliche Verlage rissen sich um Naturaufnahmen.

Karin gähnte so herzhaft, dass die Kieferknochen knackten. Erst mal musste sie jetzt ausschlafen. Und nach einem ausgiebigen Frühstück im Bett mit leiser Musik und der Tageszeitung, würde sie die Hochzeit und die Schornsteine schon überleben. Ganz sicher.