Dreißig
Der nächste Tag verlief genauso, wie der Nachmittag davor: Chris im Sessel, Karin über ihren Karteikästen.
Aber er wurde zunehmend ungeduldig. Mittlerweile war Karin bei ihrer Suche schon bis 2005 zurückgegangen, und so langsam musste er sich eingestehen, dass sich seine vage Ahnung als Flop erweisen würde. Wen interessierten schon Fotos, die vor mehr als sechs Jahren gemacht worden waren?
Aber Karin wollte das jetzt zu Ende bringen, bevor sie andere Möglichkeiten in Betracht ziehen mussten. Also tigerte Chris in der Wohnung herum, machte Mittagessen, goss die Blumen, starrte auf Karins gekrümmten Rücken, lief wieder von einem Zimmer zum anderen. Die „Besucherin“ hatte jeden Reiz verloren.
Als die übliche Geräuschkulisse der klappernden Karteikästen dieses Mal verstummte, hörte er es gleich und rannte beinahe ins Arbeitszimmer.
Karin stand mitten in dem Chaos aus Ordnern und Unterlagen und stierte zu Boden.
„Was ist?“ Seine Stimme klang rau und fremd vor Erregung.
„Toskana“, antwortete sie. „Die Toskana fehlt!“
„Bist du sicher?“ Mit zwei Schritten war Chris neben ihr.
„Ja, aber das ist völliger Blödsinn!“ Sie hob den Blick und runzelte die Stirn. „Die Negative sind fast acht Jahre alt. Es war einer meiner ersten Aufträge.“
Sie hatte das letzte Wort noch nicht ganz ausgesprochen, als sie kreideweiß wurde. „Mein Gott“, murmelte sie. Sie schluckte und sagte dann lauter: „Chris! Ich war diesen April wieder in der Toskana!“
Er brauchte einen Moment, um das zu verdauen. In seinem Kopf purzelte mit einem Mal alles wild durcheinander. Am 20.April endeten die Eintragungen in Inges Taschenkalender, am 22. April war sie mit ihren beiden Koffern bei Gertrud Schmitz aufgetaucht, und ein paar Tage später hatte sie Karin die Kamera gestohlen. Kurz davor war Karin in der Toskana gewesen. Und jetzt fehlten uralte Negative?
„Du warst vor acht Jahren in der Toskana, hast Aufnahmen gemacht, und die fehlen jetzt?“, vergewisserte er sich.
„Ja.“
„Und vor ein paar Wochen warst du wieder in der Toskana und hast Aufnahmen gemacht.“
Sie nickte, die Kiesel weit aufgerissen.
„Karin!“ Er fasst sie hart am Arm und schob sie zur Couch. Sie ließ sich einfach ins Polster fallen und lehnte die Krücken an den Glastisch, sah aus, als hätte ihr jemand vor den Kopf geschlagen.
„Karin!“ Er bemühte sich, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben, diese Ruhe auf Karin zu übertragen. „Wo sind diese Negative?“
„Die waren nie hier, Chris. Ich habe die Entwicklung im Labor gemacht und sie gleich zum Verlag gegeben. Die stellen jetzt die Abzüge her, und in zwei oder drei Wochen setzen wir uns zusammen und entscheiden, welche Aufnahmen in Frage kommen.“
In seinem Kopf kam ein Häkchen an „Punkt eins“.
„Was war in der Toskana?“
„Was soll schon gewesen sein? Ich hab mir einen Plattfuß gelaufen und Bilder gemacht!“
So ging das nicht. So ging das ganz und gar nicht. Er hatte schon oft mit völlig verwirrten Mandanten oder Zeugen gesprochen. Mit Menschen, die so schockiert waren, dass sie keinen vernünftigen Satz herausbrachten und sich in Allgemeinplätzen ergingen. Um brauchbare Aussagen zu bekommen, redete Chris mit ihnen, wie man mit einem kranken Pferd redet. Nun war also Karin das kranke Pferd.
„Von Anfang an! Du bist mit dem Auto gefahren?“
„Ja.“
„Welche Strecke?“
„Brenner, Verona, Florenz.“ Langsam schien sie ruhiger zu werden. „Von Florenz aus nach San Filomento. Das ist ein kleines Nest, im April noch nicht so überlaufen. Ich hab dort in einem Hotel gewohnt, das ich von damals noch kannte.“
„Vor acht Jahren? Oder warst du in der Zwischenzeit nochmal dort?“
„Nein.“
Häkchen an „Punkt zwei“.
„Gut! Weiter! Du bist angekommen. Was dann?“
„Koffer ausgepackt, mich aufs Bett gelegt und von schönen Männern geträumt“, grinste sie.
Genau da hatte er sie hinbringen wollen, zum „Normalbetrieb“, zu ihrer heiteren Gelassenheit. „Oh, war ich auch dabei?“, fragte er deshalb und kuschelte sich an Karin.
„Du warst immerhin in der ersten Reihe.“
„Mit wie viel anderen?“
„Fünf, sechs …“
„Aha!“
„Fiel mir nicht leicht, mich zu entscheiden“, murmelte sie und gab Chris einen langen Kuss.
„Hab ich dir schon mal gesagt, dass du ein richtiges Scheusal bist?“, sagte er leise, als er wieder Luft bekam. „Weiter?“
„Weiter! Ich hab also erst mal ausgeschlafen. Am nächsten Tag … warte …Ja, zuerst bin ich durch die Gegend gefahren und hab Ausschau gehalten nach markanten Gebäuden. Ich wollte romantisch gelegene Fattorias, alte Bruchsteingemäuer — na, du weißt schon.
Am zweiten Tag das gleiche Spiel. Gebäude, Ruinen … Scheiße! Na klar! Aber … aber das wäre grotesk!“
„Was?“ Chris bemühte sich, so gelassen wie möglich zu klingen, obwohl sein Herz hart gegen die Rippen schlug. Mit fahrigen Fingern zündete er zwei Zigaretten an und steckte Karin eine davon zwischen die Lippen.
Sie nahm einen tiefen Zug, blies geräuschvoll den Rauch wieder aus und stierte den blauen Wölkchen hinterher. „Also, pass auf: Nein — das ist wirklich zu blöd!“
„Erzähl es trotzdem!“
„Okay, okay! Ich bin am zweiten Tag schon am Nachmittag nach San Filomento zurückgekommen. Weißt du, ich hatte tagelang fast nur im Auto gesessen und war ziemlich fertig. Ich hab mich ein bisschen hingelegt, und dann hab ich vor dem Abendessen noch einen Spaziergang gemacht. Du musst wissen, San Filomento liegt in einem wunderschönen Tal, ganz für sich, nur noch ein paar Höfe verstreut drum herum. Hinter dem Hotel geht gleich ein schmaler Weg nach oben auf die Hügel. Da bin ich hoch. Es ist so eine Art Rundweg, sehr beliebt bei den Touristen wegen der Aussicht. Es war ein traumhaft schöner, klarer Abend, und da oben waren noch jede Menge Leute unterwegs. Und es war grandios, sagte ich dir. Die Sonne stand ziemlich tief in meinem Rücken. Unten im Tal blühten schon die Wiesen, und die Sonne tauchte alles in fast unwirkliche Farben. Ich weiß noch, dass ich mich geärgert habe, weil ich nur die kleine Fototasche dabei hatte. Aber ich hab trotzdem wie wild draufgehalten. Die Sonne sank tiefer, und auf einmal war das ganze Tal rot überschwemmt. Es war ein Traum!“
Chris wagte nicht, diese klaren Erinnerungen zu unterbrechen, obwohl rot überschwemmte Täler ihn im Moment einen Dreck interessierten. Andererseits war es großartig zu sehen, wie Karin in ihrem Element war, mit leuchtenden Augen erzählte. Wie ein Kind, das die letztjährige Weihnachtsbescherung beschreibt.
„Ich wollte gern noch eine Aufnahme von einem einzelnen Baum machen, der einen riesigen Schatten warf. Aber dafür hätte ich das Tele nehmen müssen. Nur war es im Prinzip schon zu dunkel — zumindest, wenn man kein Stativ dabei hat.“
„Wieso?“, unterbrach Chris, der keine Ahnung vom Fotografieren hatte, sie nun doch.
„Durch die Länge des Objektivs, die vielen Linsen und unvorteilhafte Brechungswinkel ist es längst nicht so lichtstark, wie ein Normalobjektiv zum Beispiel. Und wenn du die Kamera nicht ganz ruhig halten kannst, verwackeln die Aufnahmen, weil die Belichtungszeit zu lang wird.
Okay, ich wollte also diesen Baum. Neben mir war eine Art Steilhang mit großen Felsblöcken. Ich hatte ziemliche Schwierigkeiten, da hochzukommen, runter war´s übrigens noch schlimmer. Gut, ich bin also da rauf und hab die Kamera auf einen Felsblock gelegt, als Stativersatz sozusagen. Ich war ziemlich hektisch, weil es so schnell gehen musste. Das Licht änderte sich von Sekunde zu Sekunde. Ja, und als ich dann abdrückte, sind sie mir ins Bild gelaufen.“
„Was? Wer?“
„Zwei Wanderer. Männer. So was passiert tausendfach. Du drückst auf den Auslöser, und in dem Moment latscht dir einer ins Bild. Der klassische Fehlschuss sozusagen. Das ist zwar ärgerlich, aber nichts Ungewöhnliches. Und wie gesagt, da oben war jede Menge los. Hier allerdings … Na ja, wir sind wohl alle ziemlich erschrocken. Weißt du, ich hocke da hinter einem Felsen über ihnen, und ich, ich hab sie auch nicht gehört oder gesehen, weil ich so auf die Perspektive konzentriert war. Aber die beiden sahen derart verschreckt aus, dass ich mich schließlich entschuldigt habe. Dabei waren sie doch mir ins Bild gelaufen! Ich hab´s erst auf Italienisch versucht, dann auf Deutsch, zum Schluss noch auf Englisch. Aber die Typen haben mich nur angestarrt, als hätte ich Hörner auf der Stirn. Dann fing der eine an, auf den anderen einzureden, ziemlich wütend, hatte ich den Eindruck. Ich hab kein Wort verstanden. Aber er ist sehr aufgeregt gewesen. Sie sind dann schnell weitergegangen und haben sich noch mehrfach nach mir rumgedreht. Aber ich habe dem kaum Beachtung geschenkt, weil ich auch wütend war. In der Zwischenzeit war das fantastische Rot nämlich weg.“
„Hast du die beiden noch mal gesehen? Später vielleicht, im Ort?“
Karin schüttelte den Kopf und drückte die Zigarette in dem kleinen gläsernen Aschenbecher aus, den sie aus dem Regal geangelt hatte.
„In welcher Sprache haben sie sich unterhalten?“
„Puh, keine Ahnung! Italienisch war´s jedenfalls nicht. Es könnte …“ Sie brach ab und biss sich auf die Lippen.
„Spanisch?“, hakte Chris nach.
„Ja, kann gut sein.“
„Viego?“
„Nein, sie waren beide älter. Um die sechzig würde ich sagen. Ich könnte sie jetzt nicht genau beschreiben. Aber sie waren recht korpulent, Halbglatze, teuer gekleidet. Keiner von denen hatte auch nur halbwegs Ähnlichkeit mit diesem Carlos.“
Und auch nicht mit Geseke, setzte er im Stillen hinzu. Laut sagte er: „Gut! Das Bild, Karin! Sind sie auf dem Bild?“
„Ich weiß nicht. Ich hab die Negative nur entwickelt und dann gleich zum Verlag gegeben. Ich hatte keine Zeit, sie mir genauer anzusehen.“
Chris stand auf und ging zum Telefon in der Diele. „Okay. Wir brauchen die Negative“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Karin. „Und dafür brauchen wir Susanne.“
Im Büro war sie nicht, ebenso wenig zu Hause. Erst über ihr Handy hatte er Glück, und er führte wahrscheinlich das kürzeste Telefonat seines Lebens.
Als die Polizistin sich meldete, sagte er nur: „Wir haben´s.“
Und sie gab ebenso knapp zurück: „Ich komme.“
Karin hielt sich nicht so lange bei den Landschaftsbeschreibungen auf, als sie ihre Geschichte gegenüber Susanne wiederholte. Alles andere aber gab sie exakt so wieder, wie beim ersten Mal. Chris hörte genau zu, entdeckte jedoch kein Detail, das dazugekommen oder weggefallen war.
Als Karin geendet hatte, kam Susanne zu dem selben Schluss wie Chris. „Wir müssen an die Negative“, sagte sie. „Heute ist zwar Sonntag, aber wir können nicht bis morgen warten. Frau Berndorf: Welcher Verlag, wer ist der zuständige Mensch?“
„Kriegbaum & Kriegbaum. Mein Ansprechpartner da ist ein Herr Meier. Ich glaube, Jens heißt der mit Vornamen.“
Susanne fummelte ihr Handy aus der Tasche und drückte hektisch darauf herum. Aber es dauerte eine Weile, bis sie Hellwein aufgetrieben und ihm die nötigen Instruktionen gegeben hatte. Er sollte nicht nur Jens Meier ausfindig machen, sondern gleichzeitig die italienischen Kollegen um Amtshilfe bitten. Vielleicht erinnerte sich ja ein Zimmermädchen oder der Portier aus Karins Hotel daran, von einem Fremden über die Fotografin aus Deutschland ausgefragt worden zu sein.
„Also, ihr beiden“, rief sie aufgeräumt, als sie das Gerät wieder wegsteckte. „Hellwein kümmert sich um alles und treibt jemanden vom Verlag auf. Bis es soweit ist, könntet ihr zwei vielleicht eine arme Beamtin zum Essen ausführen. Ich falle um vor Hunger!“
Unwillkürlich sah Chris auf die Uhr. Über Toskana, Susanne und Hellwein war es sieben Uhr abends geworden, und wenn er das Gefühl in seinem Magen richtig interpretierte, war er ebenfalls hungrig. Wenn das auch beinahe untergegangen war in dem Gefühl, dass sie endlich den Durchbruch hatten, dass es weiterging.
„Zwei arme Freiberufler sollen eine Beamtin zum Essen einladen?“, fragte er grinsend. „Findest du das korrekt?“
„Es ist mir scheißegal, was du korrekt findest, Sprenger“, gab Susanne mit zusammengekniffenen Augen zurück. „Ohne Essen kann ich nicht mehr denken!“
„Wie wär´s mit italienisch?“, warf Karin trocken ein. „Ihr müsst ja nicht unbedingt toskanische Spezialitäten bestellen!“
Karin führte sie zu dem Italiener, den sie auch mit Achim und Klaus vor zwei Wochen besucht hatte. Als Stammgast würden sie auch sonntags, ohne Reservierung Plätze bekommen, versicherte sie.
Das kleine Lokal mit den grob verputzten Wänden und den schweren dunklen Möbeln gefiel Chris ausnehmend gut. Mario, der Wirt, ein kleiner rundlicher Mann mit blütenweißer Schürze, begrüßte Karin mit einer Verbeugung und einem breiten Lachen. Dann führte er die drei zu einem ruhigen Ecktisch, der sie vom übrigen Geschehen im Lokal weitgehend abschirmte.
„Wollt ihr meine Theorie?“, fragte Susanne eine halbe Stunde später. Sie schwelgte in Saltimbocca und schien wieder guter Dinge.
Als sie keine Antwort erhielt, fuhr sie fort: „Also: Sie, Frau Berndorf fotografieren aus Versehen eine Art geschäftlicher Besprechung, sagen wir zwischen dem alten Viego und jemandem, den wir noch nicht kennen. Nach Ihrer Beschreibung könnte er es durchaus sein. Nehmen wir an, er erkundigt sich in San Filomento nach der Fotografin, hat Angst, in voller Lebensgröße auf Zelluloid gebannt zu sein. Immerhin gilt er seit zehn Jahren als verschollen. Dann beauftragt er seinen Neffen, den Beweis seiner Existenz zu vernichten.“
„Moment!“, unterbrach Karin. Ihre Gabel mit einem aufgespießten Salatblatt schwebte in der Luft. „Was soll dann Inge dabei? Ich meine — Carlos hätte nur der Fotografin das Licht auspusten und das Negativ suchen müssen, mehr nicht.“
Chris stockte kurz der Atem, und er griff unwillkürlich nach ihrer Hand. Der Fotografin das Licht auspusten! Dass in diesem Augenblick zwei Polizisten vor dem Lokal standen, um ihn selbst zu schützen, hatte er völlig vergessen.
„Inge hat irgendwie Wind davon bekommen, klaut die —wenn auch falschen — Negative und versucht eine Erpressung“, schlug Susanne ungerührt vor und schob sich ein weiteres Stück Kalbfleisch in den Mund.
„So war Inge nicht!“, antwortete Karin dumpf. Das Salatblatt rutschte von der Gabel und klatschte auf den Teller zurück. „Außerdem kommt Tönnessen in Ihrer Geschichte nicht vor.“
Ein ziemlich überzeugendes Argument, fand Chris im Stillen. Aber da war noch etwas. Ganz nah.
„Lautmann und Tönnessen machen gemeinsame Sache“, bot Susanne als nächste Theorie an. „He, Chris! Fällt dir gar nichts dazu ein?“
Doch. Ihm fiel eine ganze Menge ein. Er konnte es nur noch nicht einordnen, fand keine Übersicht, kein System. Irgendwie war plötzlich alles klar. Sicher: Es fehlten Details, die Reihenfolge war verwirrend, aber im Prinzip stimmte es. Einzig und allein der Zufall war im Weg, an den er nicht mehr glauben wollte.
Da war Larissa, die gesagt hatte, der Preis, den Inge für ein sorgenfreies Leben zahlte, sei ihr erst in den letzten Monaten bewusst geworden. Gertrud Schmitz, die Inges „Kapital“ aufbewahrte. Brigitte Tönnessen, die für Geld über Leichen ging, und eine alte Kamera mit eingraviertem Namen. Das in die richtige Reihenfolge gebracht …
„Ich muss an die Luft!“, sagte er nur und rannte hinaus.
Einer seiner Bewacher heftete sich sofort an seine Fersen, aber es war ihm gleichgültig. Er lief ein Stück die Straße hinunter und bog dann in eine schmale Gasse mit Kopfsteinpflaster ab. Hier war er aufgewachsen, kannte jeden Hinterhof, jede Toreinfahrt, jeden der kleinen Läden, die es seltsamerweise schafften, auch heute noch zu überleben. Der Scherenschleifer auf der Ecke, der Trödler in seiner Holzbaracke, wo man früher alte Comic-Hefte für einen Groschen bekam. Und auch der Alteisenhändler existierte noch, auf dessen Hof man spielen durfte und dabei immer so herrlich ölverschmierte Hände bekam.
Im Schaufenster des Trödlers lagen vergilbte Bücher, mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Darüber hingen ein Ochsenjoch und mehrere verbeulte Petroleumlampen. Chris blieb eine Weile vor dem Fenster stehen und versuchte, Ordnung in seinem Kopf zu schaffen. Diese ganze Geschichte in Rubriken einzupassen, die ihm bekannt waren. Die er nachvollziehen und verstehen konnte, die keine Zufälle übrig ließen.
Aus der Kneipe gegenüber drang Gläserklirren und vielstimmiges Gelächter. Das brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Wie peinlich, einfach so wegzurennen. Was sollte Karin von ihm denken? Und die anderen Gäste erst!
Als er wieder beim Italiener ankam, war er soweit, dass er den anderen halbwegs verständlich darlegen konnte, was er meinte.
Er murmelte eine Entschuldigung, als er wieder Platz nahm und machte sich über die Reste seines Salats her. Zwei Augenpaare fixierten ihn. Das eine erwartungsvoll-kühl, das andere erwartungsvoll-besorgt.
„Nehmen wir mal an“, begann er, „nehmen wir mal an, nicht Inge hat die falschen Negative mitgenommen, sondern erst der Einbrecher. Nehmen wir weiter an — was mir eine Informantin auch bestätigt hat — Inge hatte keine Lust mehr, der Fußabtreter von Tönnessen zu sein. Sie fertigt eine Kundenliste an, die sie als ihr Kapital bezeichnet und bereitet ihren Absprung vor. Aber dann kommt ihr die ungewollte Schwangerschaft dazwischen. Sie überwirft sich mit Tönnessen, dreht durch, haut ab, und taucht irgendwo unter, wo sie garantiert niemand findet.“ Hier konnte er ein süffisantes Lächeln in Richtung Susanne nicht unterdrücken. „Inge beschließt ihren Absprung vorzuziehen, aber dafür braucht sie Geld. Und sie weiß, wie sie drankommt.“
„Der Umschlag und die Kamera“, sagte Karin dumpf.
„Ja, wobei die fünfhundert Euro wohl eher als Taschengeld gedacht waren. Ich denke, in erster Linie ging es um die Kamera.“
„Frau Berndorf“, schaltete Susanne sich ein. „Sie haben gesagt, dass diese Kamera sehr wertvoll ist. Wie viel hätte sie dafür bekommen können?“
„Schwer zu sagen. Bei einem seriösen Händler hätte sie sicher keine Chance gehabt, zumal ja mein Name eingraviert ist. Ich weiß allerdings, dass es einen Haufen verrückter Sammler gibt, die solche Schätze um jeden Preis haben wollen. Das ist wie mit den geklauten Ölgemälden von alten Meistern. Die hängen in irgendwelchen alarmgesicherten Kellern, einzig und allein zur Freude des momentanen Besitzers. Öffentlich zeigen kann man sie ja nicht.
Meine Hasselblad war die Nummer zwei einer weltweit limitierten und nummerierten Auflage, Baujahr 65. Jemand, der sie unbedingt haben will, würde so um die Fünfzig- Sechzigtausend hinblättern, denke ich.“
Unwillkürlich pfiff Chris durch die Zähne. Susanne dagegen sprach nur die nächstliegende Frage aus: „Wo hatten Sie die denn her?“
„Mein Lehrmeister hat sie mir zur Prüfung geschenkt. Er hat auch die Plakette mit meinem Namen aufschweißen lassen. Dass sie ein edles Teil war, haben wir beide gewusst. Aber damals hat es noch nicht diese Sammelwütigen gegeben, die sogar für ein seltenes Überraschungsei ein paar Tausender abdrücken. Wenn er noch lebt, wird er sich mittlerweile vermutlich ein zweites Loch in den Hintern gebissen haben vor Wut.“
„Wusste Inge Lautmann, was die Kamera wert ist?“, schoss Susanne ihre nächste Frage ab.
„Kann sein, dass wir mal darüber gesprochen haben. Ich hab sie ja gehütet wie meinen Augapfel.“
Jetzt nickte die Kommissarin zufrieden und forderte Chris auf: „Gut! Weiter!“
Er ließ sich das nicht zwei Mal sagen. „Inge weiß also, was die Kamera wert ist, und sie kennt einen Sammler.“
„Och nee, Chris, och nee!“ Susanne verzog das Gesicht. „Und der Sammler ist rein zufällig einer unserer Freunde aus der Toskana, wittert Erpressung, fordert Viego an, der schlägt zu fest auf Lautmann ein, und Geseke ist die Unschuld vom Lande. Also, Chris, wirklich!“
Er hob die Schultern. „Warum nicht? Aus Inge bringen sie nichts raus — die weiß ja gar nichts von der Toskana. Dann suchen sie bei Karin, und als sie merken, dass sie die falschen Negative haben, gehen sie zu Tönnessen. Aus irgendeinem Grund muss die ins Gras beißen.“
„Und warum solltest du ins Gras beißen?“, fragte Karin spontan. Ihrem Gesichtsausdruck nach fand sie seine Theorie ebenso wenig überzeugend wie Susanne.
Das Dudeln von Susannes Handy enthob Chris einer Antwort. Er hätte sowieso keine gehabt. Das war der Punkt, den er nicht verstand. Die Kamera und die Toskana waren die Fäden, die Karin, Inge und Brigitte Tönnessen verbanden, dessen war er sich sicher. Es waren brüchige Fäden, natürlich. Bisher gab es weder Beweise, noch eine schlüssige Indizienkette. Und auf die Polizistin hatte er jetzt sicher gewirkt wie der Märchenonkel bei der Lesestunde. Er war ja selbst im Zweifel. Außer seinem Gefühl gab es nichts, womit sich seine Theorie untermauern ließ. Und welche Rolle er selbst in diesem Märchen spielte, hätte er am allerwenigsten erklären können.
Susanne steckte ihr Handy zurück in die Jackentasche und verkündete: „Hellwein hat diesen Meier aufgetrieben. Begeistert war er wohl nicht, aber er trifft sich in einer halben Stunde mit uns am Verlag.“
Jens Meier, ein hagerer Glatzkopf mit Nickelbrille und Goldkettchen, war wirklich alles andere als begeistert. Die Negative waren für den Verlag ein Vermögen wert. Und wer konnte schon wissen, in welchem Zustand er sie zurückbekommen würde, und vor allem, wann. Und ob man nicht eigentlich eine richterliche Verfügung oder so was benötigte.
Als Susanne ihm ernsthaft erklärte, dass es um mehrere Menschenleben ging, fühlte er sich allerdings plötzlich wie ein Held. Dann versprach sie ihm hoch und heilig, die Negative gleich Montag früh unbeschadet bei ihm persönlich abzuliefern, und endlich rückte er die dicke Mappe heraus.
Im Auto orakelte Susanne: „Wie ich unseren Laden kenne, haben die im Labor jetzt stundenlang keine Zeit für uns.“
„Ich hab ´ne bessere Idee. Wir fahren in mein Labor“, schlug Karin vor.
Der Keller unter dem Laden von Achim und Klaus war funktional eingerichtet, aber nicht ungemütlich, wenn man von einem chaotisch wirkenden Lagerraum einmal absah, in dessen Regalen sich Bilderrahmen aller Größen, Formen und Farben, Kartons mit Fotoalben, Kamerazubehör, Fototaschen und Plastiktüten mit Werbeaufdruck in wildem Durcheinander stapelten. Einzig und allein die Seite, auf der die Filme und Kameras selbst gelagert wurden, zeigte eine gewisse Ordnung. In den Gängen zwischen den Regalreihen versperrte Dekorationsmaterial den Weg, Pappdisplays, Werbeschilder und jede Menge Krimskrams zur Schaufenstergestaltung. Chris sah zwei Plüschhasen im Liegestuhl, eine Sandburg aus Styropor und Wasserbälle. Achim und Klaus schienen die Sommerdekoration vorzubereiten.
Der Rest des Kellers trug eindeutig die Handschrift von Karin. Eine gemütliche und aufgeräumte Büroecke aus hellem Holz, eingerahmt mit meterhohen Fotos, die vergessen ließen, dass es hier unten kein Tageslicht gab. Da waren Tulpenfelder unter blauem Himmel mit Schäfchenwolken, Sonnenaufgänge über dem Meer und blühender Lavendel auf einer so großen Anbaufläche, dass sich das Blau irgendwo am Horizont verlor.
„Frankreich“, erklärte Karin lächelnd, als sie sah, wie Chris fasziniert auf den Lavendel starrte.
Dann zwängte sie sich an einer Passepartoutschneidemaschine vorbei und öffnete die Tür dahinter. Über dem Rahmen hing eine Glühbirne aus rotem Glas. „Oben im Laden ist eine kleine Küche“, gab sie Anweisung. „Koch mal einer Kaffee. Und wenn die Birne leuchtet, kommt ja nicht rein!“
Während Susanne nach oben ging, um die Küche zu suchen, wanderte Chris zwischen den Regalen herum. Frankreich! Wenn das hier vorbei war, würde er das Büro für mindestens zwei Wochen schließen und mit Karin Urlaub machen. Wenn es vorbei war …
Gedankenverloren blätterte er in einem hohen Papierstapel, unter dessen Gewicht sich der Regalboden bog. Rechnungen, Lieferscheine, Preislisten und Werbeprospekte lagen in wildem Durcheinander. Der Steuerberater, der dieses Chaos lichten musste, hätte er nicht sein mögen. Offenbar hatten Achim und Klaus das Wort „Ablage“ noch nie gehört.
Nervös rieb er sich über die Stirn. Hoffentlich war der ganze Aufwand nicht umsonst. Vielleicht war es ja doch kein Fehlschuss gewesen, und die beiden Männer waren gar nicht auf dem Bild. Oder sie waren nicht zu erkennen, oder, oder, oder … Wenn der eine tatsächlich Manuel Viego war, wie Susanne vermutete, wer war dann der andere? Auf jeden Fall jemand, den Inge gekannt hatte. Und welchen Mann hatte sie gekannt, außer ihren Freiern oder ominösen Liebhabern? Womit sie wieder am Anfang wären.
Als die Kommissarin mit einem gut bestückten Tablett zurückkam, mixte Chris in eine Tasse halb Milch, halb Kaffee, so wie Karin es am liebsten hatte, und brachte sie nach nebenan. Nicht ohne vorher auf die Lampe zu schauen, die immer noch dunkel war.
Der kleine Raum war vollgestopft mit Geräten, die ihm völlig fremd waren. Kästen, über denen dicke Lupen hingen; etwas, das aussah wie ein auf dem Kopf stehendes Mikroskop; ein großer Apparat, den man für einen überdimensionierten Kopierer halten konnte. Bunte Plastikschüsseln verschiedener Größe waren mit Flüssigkeit gefüllt. Auf einem Regalbrett darüber standen Dutzende brauner Flaschen und Kanister. Ein penetranter Chemikaliengeruch hing im Raum.
Karin saß vor einem von unten beleuchteten Kasten, schob in einen Schlitz an der Seite die Negativstreifen, die sie dann vergrößert und gut ausgeleuchtet betrachten konnte.
Die Kiesel strahlten, als sie die Tasse entgegennahm. „Ich hab gerade von dir geträumt“, sagte sie.
„He, du sollst dieses verdammte Negativ suchen.“ Er setzte sich auf die Tischkante.
„Ich weiß. Aber ich … Chris.“ Sie schlug die Augen nieder. „Du bist nur da nebenan, und ich vermisse dich schon. Ist das normal?“
Es schien ihr mit der Frage ernst zu sein. Deshalb ging er ebenso ernst darauf ein. „Völlig normal, mein Engel!“, antwortete er. „Du bist eben über beide Ohren verliebt. Und zu deiner Beruhigung: Mir geht´s genauso.“
Er rutschte vom Tisch und gab Karin einen Kuss. „Reicht das für die nächste Stunde?“
„Halbe“, knurrte sie und grinste verschmitzt. „Und jetzt verschwinde, ich muss arbeiten.“
Warten. Auf einem unbequemen Stuhl hocken und warten. Gemeinsam mit Susanne den Keller in blauen Dunst hüllen und ab und an einen Schluck kalt gewordenen Kaffee schlürfen.
Chris war tief in den Stuhl gerutscht und hatte die Beine auf einen Stapel Werbeprospekte gelegt. Während er versuchte, die Tulpen auf dem Bild zu zählen, verzog er immer wieder das Gesicht. Er hasste kalten Kaffee fast ebenso wie Tee.
Sie wechselten kein Wort, brüteten nur dumpf vor sich hin und blickten ab und an auf diese unselige Glühbirne, die immer noch dunkel war. Es würde dauern. Natürlich. Es waren über vierzig Filme mit je sechsunddreißig Bildern, die Karin durchgehen musste. Und wenn sie dann das Negativ gefunden hatte, wollte sie einen aufwändigen Handabzug machen, um die beste Qualität zu erzielen.
Von außen drang kein Geräusch in den Keller, und auch aus dem Nebenraum war nichts zu hören. Nichts deutete drauf hin, dass sich dort jemand befand und vielleicht die Lösung des ganzen Falls in Händen hielt. Wie Blei lag die Stille im Raum, eine zähe Masse, die sich schwer auf die Schultern legte, ins Gehirn waberte und jeden Gedanken zu grauer, undefinierbarer Pampe werden ließ.
„Chris!“
Erschrocken fuhr er zusammen und folgte dann dem Blick von Susanne. Die rote Lampe leuchtete. Wie gebannt starrten beide darauf, wurden unruhig, scharrten mit den Schuhen, zündeten sich die x-te Zigarette an.
Aber es dauerte noch mal eine halbe Stunde, bis die Lampe endlich erlosch und fast gleichzeitig die Tür geöffnet wurde. Karin kam blinzelnd nach draußen, geblendet von so viel Licht, und nahm sich aus der Packung von Chris eine Zigarette.
Susanne stürzte an ihr vorbei nach nebenan, dicht gefolgt von Chris.
„Vorsicht! Es ist noch nass!“, rief Karin, bevor sie, die qualmende Zigarette zwischen den Lippen, hinterher trottete.
Sie hatte Recht gehabt. Es war ein grandioses Farbenspiel. Das Bild schien in Rot förmlich zu ersaufen, mittendrin ein einzelner Baum, dessen Schatten wie ein schwarzer Schirm über dem Rot lag. Es hätte eine perfekte Aufnahme sein können, wäre am unteren Bildrand nicht der leicht unscharfe Kopf eines Mannes gewesen. Neben ihm befand sich eine zweite Person. Ein Stück Schulter und ein Oberarm schauten hervor. Der Kopf war leider von dem Ersten verdeckt.
„Ich hatte natürlich auf dem Baum scharfgestellt“, erklärte Karin, die dicht hinter Chris getreten war. „Deshalb ist der vordere Bereich verschwommen. Ich hab ein bisschen rumgebastelt, aber besser krieg ich´s nicht hin.“
„Geht das auch größer?“, fragte Susanne knapp.
„Ja! Allerdings wird es mit zunehmender Größe noch körniger. Ich glaube, mehr lässt sich nicht rausholen.“
„Kann ich das Negativ und das Bild haben?“
„Ich leg den Abzug nur schnell in die Trockenpresse, dann können Sie es mitnehmen.“