Neunzehn

 

Sein Versuch mit Karin zu reden, scheiterte kläglich an ihrem Anrufbeantworter, der Chris freundlich aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Nein, er wollte keine Nachricht hinterlassen, er wollte das Original.

Er überlegte noch, warum Anrufbeantworter immer so frustrierend waren, als die Nixe, die gerade Feierabend machen wollte, aus dem Vorzimmer meldete: „Frau Braun ist hier!“

„Okay“, gab er fast mechanisch zur Antwort, wenn auch überrascht. Es geschah nicht oft, dass die Kommissarin sich herabließ, in sein Büro zu kommen.

Er sah auf den ersten Blick, dass etwas nicht stimmte. Susanne hatte ihr hochoffizielles Gesicht aufgesetzt: angespannt-aufmerksam, nervös. Ein wenig blass um die zu lang geratene Nase; ihr dunkles Haar bildete ein wüstes Durcheinander.

Ohne Begrüßung steuerte sie die kleine Besucherecke im hinteren Teil des Zimmers an. Sie ließ sich in den erstbesten Sessel fallen und streckte die Beine weit von sich. Plötzlich wirkte sie niedergeschlagen, beinahe schwach. Eine Gefühlsregung, die sie sich normalerweise noch nicht einmal vor Hellwein erlaubte. Wie so oft meinte Chris, dass er die höchst zweifelhafte Ehre hatte, als Einziger in ihr Innenleben schauen zu dürfen.

„Du siehst aus, als könntest du einen Cognac vertragen“, bemerkte er, um irgendwie das Gespräch zu eröffnen.

„Bin im Dienst“, kam es knapp zurück und dann, nach einer kurzen Pause: „Gib mir einen Doppelten.“

Susanne im Dienst und Alkohol. Das verhieß nichts Gutes. Chris holte kommentarlos Cognac-Schwenker und eine Flasche aus der Anrichte, füllte die Gläser und reichte eines an sie weiter.

Die Polizistin nahm einen gewaltigen Schluck — und schwieg. Starrte auf den Hundertwasser an der gegenüberliegenden Wand, als ob dort die Lösung ihres Problems geschrieben stände.

„Also gut“, versuchte es Chris, „du hast Hellwein in die Eier getreten und jetzt ein Disziplinarverfahren am Hals!“

„Lass die Witze!“ Ihr Blick löste sich von dem Bild, irrte über den Teppichboden, um schließlich an seinem Gesicht hängenzubleiben. In ihren Augen lag etwas Gequältes.

„Was weißt du über die Tönnessen?“, fragte sie endlich.

Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. „Na, immer noch nichts Anderes, als ich dir vor ein paar Tagen gesagt habe. Jedenfalls nichts Wesentliches.“

Susanne nickte gedankenverloren. „Ich weiß ein bisschen mehr“, sagte sie dabei. „Sie ist tot!“

„Tot?“, echote er blödsinnig.

Wieder nickte sie. „Ja! Ein paar Waldarbeiter sind heute Morgen über sie gefallen.“

Chris wurde es plötzlich kalt, eiskalt. „Moment mal, in den Nachrichten …“

„Genau das! In der Nähe von Bad Münstereifel, Kreis Euskirchen. Um genau zu sein, im Arloffer Wald.“

Die Haut auf seinem Rücken schrumpelte zusammen. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er wieder Luft bekam, und noch länger, bis er in der Lage war, von den Spaziergängen im Arloffer Wald zu berichten, die Karin erwähnt hatte.

„Und wieso hat die Berndorf uns nichts davon gesagt?“ Der Gesichtsausdruck von Susanne wurde streng.

Er zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich hat sie es nicht für wichtig gehalten. Bis vor ein paar Sekunden hätte ich auch nie wieder daran gedacht.“

„Hm“, machte sie nur.

„Sanne! Du glaubst doch nicht alles Ernstes …?

„Ich hab schon Pferde kotzen sehen“, unterbrach sie ihn und setzte hinzu: „Mitten vor der Apotheke.“

Sie stürzte den restlichen Cognac hinunter. „Herrgott nochmal, Chris! Irgendjemand hat sie verdammt übel zugerichtet. Weißt du, ich bin jetzt zwanzig Jahre dabei, und ich dachte, ich hätte mich daran gewöhnt, es gäbe nichts, was ich noch nicht gesehen habe ...“

Wieder fixierte sie den Hundertwasser. Chris trat hinter sie und begann sanft, ihre verkrampften Schultern zu massieren.

„Ich schwöre dir Chris, ich kriege dieses Dreckschwein! Mein Gott, da ist einer hingegangen, das war ein Sadist, ein Verrückter … Ihr ganzer Körper ist voller Schnittwunden, der Unterleib … Aber … aber dann dieser Schuss! Nicht ins Herz oder einfach so draufgeballert. Ein einziger Schuss aus nächster Nähe ins Genick. So, wie es aussieht, hat sie dabei gekniet … Das … das war eine Hinrichtung, Chris!“

Still massierte er weiter, bis sich die Schultern ein wenig entkrampften. Er war froh, dass er Tönnessen nicht persönlich gekannt hatte. So hatte er nur eine vage Vorstellung von ihrem jetzigen Aussehen. Und das war gut so.

„Okay“, sagte er nach einer Weile. „Was kann ich tun?“

„Hilf mir, da oben Ordnung zu schaffen.“ Susanne tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Ich krieg diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Ich sehe immer nur diesen zerschnittenen Leib …“

Chris hörte endgültig mit seiner Massage auf. Außer Mitgefühl brauchte die Kommissarin vor allem einen klaren Verstand, und den bekam man nicht von Schulterkneten. So schwer es ihm auch fiel, verlangte er betont kühl: „Dann gib mir die Fakten!“

Es wirkte. Zumindest für den Augenblick. Susanne nickte. „Geh mit mir essen. Ich hab seit heute Morgen nichts mehr in den Magen bekommen. Du weißt, ohne Essen kann ich nicht denken.“

 

Das Steakhaus um die Ecke hatte mit seinen hohen Decken und quadratischen Tischen den Charme einer Bahnhofshalle. Aber das Essen war annehmbar und die Bedienung freundlich.

Bevor sie losgegangen waren, hatte Chris noch einmal versucht, Karin zu erreichen, war aber wieder nur an die freundliche Stimme auf dem Anrufbeantworter geraten. Nein, er wollte auch jetzt keine Nachricht hinterlassen.

Nachdem Susanne ein paar Stücke Zwiebelrumpsteak und Folienkartoffel in sich hineingeschaufelt hatte, begann sie. Einfach so. Das brachten wohl nur Ärzte und Polizisten fertig, überlegte Chris. Steak essen und dabei über die grauenvollsten Dinge reden. Wenn Anne Kollegen eingeladen hatte, konnte die ganze Runde bis ins kleinste Detail über eitrige Bauchfellentzündungen, diabetische Füße und perforierte Magengeschwüre diskutieren und dabei köstlich gebratene Hühnerbeine abnagen. Und nie war jemandem aufgefallen, dass aus seinem Hühnerbein plötzlich Abszesse und giftige Furunkel wuchsen, die ihm den Appetit gehörig verdarben.

„Heute Morgen gegen sechs haben Waldarbeiter die Leiche gefunden“, führte Susanne aus und aß dabei ungerührt weiter. „Ganz in der Nähe eines abgelegenen Parkplatzes. Vorläufige Todeszeit circa drei Uhr in der Nacht. Todesursache höchstwahrscheinlich erst der Genickschuss. Die anderen Verletzungen sind grauenvoll, haben aber nicht unmittelbar zum Tod geführt. Fundort und Tatort sind identisch. Blut, aufgewühlter Boden, alles spricht dafür. Sie war nackt, ihre Kleidung lag auf einem Haufen, etwa vier Meter von der Leiche entfernt. Ob sie auch vergewaltigt wurde, muss noch bei der Obduktion geklärt werden. Zwei Hundertschaften haben heute den ganzen Wald durchkämmt und machen morgen weiter, sobald es hell ist. Aber ich verspreche mir nicht viel davon.

Heute Mittag hat eine Streife hier in der Innenstadt ihren Wagen gefunden. Unverschlossen. Sie sind aufmerksam geworden, weil er verkehrswidrig abgestellt war. Der Wagen wird zurzeit untersucht. Auf dem Parkplatz im Wald haben wir frische Reifenspuren entdeckt. Ich gehe davon aus, dass sie zu ihrem Wagen gehören. Der Täter ist also damit in aller Seelenruhe zurück nach Köln gefahren.“

Susanne war jetzt wieder ganz die kühle, routinierte Polizistin. Und auch Chris gelang es allmählich, Distanz zu schaffen zwischen seinem halb durchgebratenen Pfeffersteak und Brigitte Tönnessen.

„Zeugen gibt´s natürlich keine“, fuhr Susanne fort. „Wer spaziert auch schon morgens um drei durch den Wald? Die …“

Das Summen ihres Handys ließ sie abbrechen. Sie nestelte es aus der Jackentasche, mit der anderen Hand grub sie ihre Brille, einen kleinen Notizblock und einen Stift hervor. Hörte zu, schrieb ein paar Worte. Außer einem „Okay“, das das Gespräch beendete, hatte sie kein Wort mit ihrem Gesprächspartner gewechselt.

Sie schob den fast leeren Teller von sich und wandte sich wieder Chris zu. „Das war Hellwein. Auch bei Tönnessen gibt es keine Spermaspuren. Kein Fremdblut, keine Hautpartikel unter den Nägeln oder das sonst Übliche. Einfach nichts! Es ist wie verhext!“

Sie blätterte in ihrem Notizbuch zurück. „Wo war ich? — Ach ja! Die Wohnung von Tönnessen ist durchwühlt worden. Ob vor oder nach ihrer Ermordung wissen wir noch nicht. Die Tür war nicht beschädigt. — Stimmt was nicht?“

„N … nein, ist schon gut“, log Chris und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Nichts stimmte, überhaupt nichts. Erst Karins Wohnung, jetzt die von Tönnessen. Und die war tot! Es war höchste Zeit, der Kommissarin von dem Einbruch bei Karin zu erzählen. Als Susanne dann auch noch wie beiläufig erwähnte, dass alle Wertsachen der Tönnessen offensichtlich noch da waren, wurde ihm erst recht übel. Aber dieser kleine, hässliche Zwerg in seinem Kopf zischte nur: „Verräter!“, und er biss die Zähne aufeinander.

In möglichst neutralem Ton sagte er: „Ihr habt doch sicher im Laufe der Woche das Vorleben von Tönnessen recherchiert — wenn auch aus anderen Gründen.“

Susanne nickte. „Haben wir.“ Wieder blätterte sie in ihrem Notizblock. „Also: Geboren am 18. Januar 1966 in Hamburg. Normale Kindheit mit zwei Geschwistern, aber immer schon eine Vorliebe für schicke Klamotten und schnelle Autos. Zwischen 1987 und 1992 vier Mal wegen illegaler Prostitution hochgenommen. 1993 zieht sie nach Köln und arbeitet bis 2003 als Edelnutte. Dann hat sie sich wahrscheinlich gesagt, dass sie zu alt wird für den Job und diese Begleitagentur aufgezogen. Das war zwar polizeilich bekannt, aber es hat nie Probleme gegeben. Vielleicht, weil sie von den entsprechenden Leuten geschützt wurde.

Es war ein überaus korrekt geführtes Unternehmen. In finanziellen Dingen scheint sie eine ziemliche Macke gehabt zu haben. Ihre Buchhaltung ist vom Feinsten. Sie hat offensichtlich sogar über jeden privat ausgegebenen Cent eine Notiz. Wir haben uns das noch nicht genauer angesehen, aber da sind bergeweise Unterlagen. Von ihren Kunden wissen wir allerdings so gut wie nichts. Wenn es je so etwas wie eine Kundenkartei gegeben hat, hat derjenige, der die Wohnung durchwühlt hat, sie garantiert mitgenommen.“

„Es sollen ein paar große Nummern dabei sein.“

Susanne grinste schief. „Wir machen gerade die Mädchen ausfindig, die für sie gearbeitet haben. Die werden schon singen. Und ich wette, dass die Hälfte unserer Kommunalpolitiker dabei ist. Industrielle, Richter, Staatsanwälte. Du weißt schon.“

Chris wusste. Und ihm war auch klar, dass das die Ermittlungen nicht unbedingt erleichterte. Wenn jetzt einigen Leuten der Arsch auf Grundeis ging, konnten sie Susanne so zusetzen, dass eine Ermittlung fast unmöglich wurde.

„Das also war Brigitte Tönnessen.“ Wieder blätterte Susanne zurück. „Kommen wir zu Ingeborg Maria Lautmann. Geboren am 24. Mai 1980 in einem Kaff in der Eifel. Mutter alleinerziehend, vier Geschwister. Realschulabschluss, Ausbildung als Textilverkäuferin. Ihre ehemaligen Kolleginnen haben sie als sehr freimütige Person geschildert, die offen mit ihrer Bisexualität umgegangen ist.“

Susanne winkte der Kellnerin und bestellte noch ein Viertel Rotwein. Dann wandte sie sich wieder ihren Notizen zu. „2008 lernte sie Tönnessen kennen und hat sporadisch für sie gearbeitet. Kleine Gehaltsaufbesserung sozusagen.

Seit 2009 hat sie bei Tönnessen gelebt und sich von ihr aushalten lassen. Sie wurde für die ganz besonderen Kunden aufgehoben. Bis sie vor vier Wochen so sang- und klanglos verschwunden ist. Wir haben mit ihrer Familie gesprochen, Kollegen, Freunden. Oder besser: ehemaligen Freunden. Aktuelle Kontakte konnten wir bisher nicht ausfindig machen. Es ist fast so, als hätte sie die letzten Jahre nicht mehr existiert. Sie hat zwar drei, vier Mal im Jahr ihre Mutter besucht, aber keinerlei persönliche Dinge angesprochen. Eine ehemalige Kollegin, einer ihrer Brüder und auch Tönnessen haben sich an eine Gertrud erinnert, mit der sie befreundet gewesen sein soll. Alle drei wussten jedoch weder den Nachnamen noch sonst was.“

Chris ließ sich das Gehörte eine Weile durch den Kopf gehen. „Ist sicher, dass es ein und derselbe Täter war?“, fragte er dann.

„Es wäre mehr als Zufall, wenn wir zwei Täter und zwei Motive hätten“, erklärte Susanne. Sie wartete, bis die Kellnerin den kleinen Weinkrug abgestellt hatte und wieder außer Hörweite war, ehe sie weitersprach. „Eins gibt mir allerdings zu denken: Lautmann hat dir gegenüber in der Mehrzahl gesprochen. Bei Tönnessen können wir jedoch darauf schließen, dass nur einer auf sie losgegangen ist. Die Schnittführung des Messers zum Beispiel ist sehr eindeutig.“

„Dann könnten wir aber den wildgewordenen Freier vergessen, der plötzlich Spaß an spritzendem Blut hat“, warf er ein.

„Nicht unbedingt! Wäre nicht das erste Mal, dass einer Lust hat am Zugucken und ein anderer die Drecksarbeit macht. Wir müssen natürlich auch die Schwangerschaft berücksichtigen.“

„Sie erpresst den Vater, der hat eine Menge zu verlieren und schlägt zu“, baute Chris eine Theorie auf. „Tönnessen weiß, wer der Vater ist und damit auch der Täter und muss ebenfalls dran glauben.“

Nachdenklich wiegte Susanne den Kopf. „Tönnessen hat uns gegenüber gesagt, dass sie rauskriegen wollte, wer denn dieser ominöse Liebhaber war. Mal angenommen, es ist ihr gelungen. Wieso kommt sie dann mit dieser Information nicht zu uns?“

„Weil sie geldgierig war und ihn erpressen wollte“, spekulierte Chris.

„Mag sein. Aber sie war clever. Sie hätte sich eine Art Lebensversicherung besorgt, glaub mir. Vielleicht hätte sie behauptet, dass noch jemand den Namen des Liebhabers kennt und gleich zur Polizei geht, falls ihr was passiert. Irgendwas in der Art. Sie hätte ihm keine Möglichkeit gelassen, sie einfach so umzubringen. Wie dem auch sei: Gestern Abend ist mir noch eine Idee gekommen, die wir nicht außer Acht lassen sollten.“ Ihre Stimme hatte plötzlich etwas Lauerndes — empfand Chris jedenfalls. „Mal angenommen, Karin Berndorf ist ebenfalls bisexuell und hatte ein Verhältnis mit Inge Lautmann.“

Chris explodierte augenblicklich. „Ach, interessant! Karin Berndorf fällt also plötzlich ein, dass sie eifersüchtig sein könnte, sperrt Lautmann drei Wochen in den Keller und prügelt ein bisschen auf ihr herum? Und weil´s so schön war, gibt sie´s Tönnessen auch noch! Mach dich doch nicht lächerlich!“

Susanne blätterte in ihrem Block und sah ihn kühl an. „Dann pass mal auf! Karin Berndorf, geboren am 30. April 1974 in Köln.“

Bis zum 30. April 1984, dem zehnten Geburtstag von Karin, hörte Chris nur mit einem Ohr zu. Und dann wünschte er sich, er hätte bei dem, was danach kam, überhaupt nicht mehr hingehört.

„Das heiße Öl setzte die Küche in Brand“, führte Susanne weiter aus. „Der Vater ist davongelaufen. Nachbarn haben das schreiende Kind schließlich aus den Flammen gezogen. Manfred Berndorf wurde zu zwei Jahren verurteilt, nicht etwa wegen Missbrauch, sondern wegen schwerer Körperverletzung. Diese Missbrauchsgeschichten wurden ja damals noch oft unter den Teppich gekehrt. Kurz nach seiner Freilassung ist er vor ein Auto gerannt, Exitus. Der Verbleib der Mutter ist übrigens unbekannt. Aber das nur am Rande. Karin Berndorf wächst fortan bei den Großeltern auf, die alles für das traumatisierte, entstellte Kind tun. Sie versäumen nur eines: ihrer Enkelin einen guten Psychiater zu besorgen. Wie alte Leute so sind: Deckel drauf und Ende. So lange nichts rauskommt, ist auch nie was gewesen.“

Susanne holte tief Luft und als sie fortfuhr, meinte Chris, Triumph in ihren Augen zu sehen. „1992 versucht sie, einem wildfremden Mann den Schädel einzuschlagen. Er hatte auf der Straße eine tätliche Auseinandersetzung mit seiner Freundin. Berndorf kam zufällig vorbei und ist wie wahnsinnig mit einem Pflasterstein auf ihn losgegangen. Der Junge hat knapp überlebt. Sie hat damals ausgesagt, dass sie keine Gewalt ertragen kann und es deshalb getan hat. Aufgrund zweier Gutachten und ihrer Geschichte wird sie für schuldunfähig erklärt und in die psychiatrische Landesklinik Düsseldorf eingewiesen. Ende 1994 wechselt sie in die dort angeschlossene offene Wohngruppe und beginnt eine Ausbildung zur Fotografin. Mitte 1997 schließt sie die Ausbildung ab. Sie hat inzwischen eine eigene Wohnung, bleibt aber bis Ende 1998 in psychiatrischer Behandlung. Sie arbeitet als Bildreporterin für ein Nachrichtenmagazin und macht 2002 eine vielbeachtete Reportage über Kriegsopfer auf dem Balkan. Dafür erhält sie einen internationalen, mit zwanzigtausend Dollar dotierten Preis. Im gleichen Jahr stirbt ihre Großmutter und hinterlässt ihr circa fünfzigtausend Euro. Das zusammen war wohl ihr Startkapital. Jedenfalls arbeitet sie seit 2003 als freiberufliche Fotografin. Sie führt heute ein völlig normales Leben. Ein paar Freunde, wechselnde Beziehungen, keinerlei Gesetzeskonflikte.“

Endlich klappte Susanne den Block zu und nahm umständlich ihre Brille ab. Chris fixierte den langen Stiel seines Weinglases und beobachtete, wie sich das Licht darin brach. Er war nicht entsetzt, nicht einmal sonderlich überrascht. Im ersten Moment hatte er das Gefühl gehabt, jemand hätte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Dann aber war alles nur viel klarer geworden. Es war die logische Konsequenz eines zutiefst verletzten und alleingelassenen Kindes. Nicht mehr und nicht weniger. Und es war vorbei. Seit zwanzig Jahren schon vorbei. Er schob alles, was da auf ihn einzustürzen drohte, in eine seiner so hilfreichen Schubladen. Es war jetzt nicht die Zeit, sich über Karins Kindheit und Jugend Gedanken zu machen. Im Moment zählte nur die Gegenwart. Und die zeigte ihm eine Frau, die sicherlich nicht einfach war, die aber ihre Vergangenheit bewältigt hatte und mit der Gegenwart leben konnte. Trotzdem klang seine Stimme irgendwie heiser, als er fragte: „Und was willst du damit sagen?“

„Ich will damit nur sagen, dass wir es hier mit einer Frau zu tun haben, die psychisch schwer gestört ist.“

„War“, korrigierte Chris mechanisch.

Über der linken Augenbraue von Susanne entstand ihre typische Zornfalte. „Du bist hier nicht im Gericht, wo du dich in Spitzfindigkeiten ergehen musst!“, antwortete sie heftig, lenkte dann aber ein. „Okay, von mir aus: psychisch gestört war. Nichtsdestotrotz werden wir uns nochmal mit ihr unterhalten müssen.“ Sie begann an den Fingern abzuzählen. „Ihre Vorgeschichte, Lautmann beklaut sie, der Arloffer Wald, den Berndorf kennt, Lautmann ruft nach ihr.“

„Karin kauft sich also irgendwo einen sadistischen Killer, setzt sich daneben und guckt zu“, unterbrach er sie. „Du bist komplett meschugge!“

 

Es war kurz vor zehn, als Chris nach Hause kam. Zu spät, um nach diesem Heinz Stockberger zu suchen, aber noch früh genug, um Karin anzurufen.

Der Anrufbeantworter raubte ihm den letzten Rest seiner Fassung. Eine bis dahin mühsam aufrecht gehaltene Beherrschung, die mit diesem „Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht“ völlig den Bach runterging.

Er legte Mercedes Sosa auf — mit „Shuffle“ — und drehte etwas leiser, weil er nicht sicher sein konnte, ob seinen Nachbarn um diese Uhrzeit noch nach argentinischen Volksliedern war. Dann klemmte er sich die Whiskyflasche unter den Arm und begann, im Wohnzimmer herumzuwandern, auf und ab, ab und auf, wie ein Tier in einem zu engen Käfig. Es fehlten nur die Zoobesucher, die ihre Nasen durch die Gitterstäbe drückten, um zu sehen, wie der Affe ab und zu einen Schluck aus der Pulle nahm. Eine Banane müsste man dem Affen reichen, eine Banane!

Wie ein offenes Buch lag Karin plötzlich vor ihm. Das traumatisierte, verstümmelte Kind, dessen stumme Hilfeschreie die Großeltern wahrscheinlich nicht verstanden hatten. Die Heranwachsende, die, während andere in ihrem Alter die ersten sexuellen Erfahrungen machten, vielleicht schon von Heirat redeten, zu Hause saß und sich ihres Körpers schämte. Deren letzter Hilfeschrei ein Pflasterstein gewesen war.

Die erwachsene Frau, die nicht nur fürchtete, jemand könnte in ihre Privatsphäre eindringen, sondern auch Angst davor hatte, dass man in ihrer Geschichte wühlte. In ihrer eigenen, ganz persönlichen Geschichte, die, obwohl längst verjährt und abgeschlossen, zu weiteren Befragungen und Neugier führen würde. Natürlich musste ihr das klar gewesen sein — in dem Augenblick schon, als Chris ihr von Inges Tod erzählte. Warum, zum Teufel, hatte sie nichts gesagt? Genauso, wie sie weder die brennende Küche erwähnt hatte, noch den Preis, den sie für ihre Balkan-Bilder bekommen hatte. Weil sie sich schämte? Weil sie dachte, zu viel von sich preiszugeben, eben nicht wie ein offenes Buch sein wollte? — Oder weil es nicht mehr wichtig war?

„Sie kriegen ´ne Kurzfassung, okay?“ Oh ja, die hatte er bekommen! Zum Kotzen, einfach zum Kotzen!

Und was würde es ändern, wenn er es vorher gewusst hätte? Hätte er weniger Herzklopfen? Hätte er irgendetwas tun können?

Es machte keinen Unterschied. Und trotzdem — dass er „nur“ die Kurzfassung bekommen hatte, nagte an ihm, machte ihn wütend.

Zweifel hatte er keine. Der kleine Gnom in seinem Kopf schwieg. Der Pflasterstein gehörte genauso zu Karin wie ihr Beinstumpf. Es war ein und dieselbe Geschichte, das eine die unvermeidliche Folge des anderen. Und er war sicher, dass Karin die ersten zehn Jahre ihres Lebens verarbeitet hatte. Sie brauchte keine Pflastersteine mehr und erst recht keine sadistischen Quälereien. Was Chris an den Rand der Raserei trieb und dazu, die gut viertelvolle Flasche auszutrinken, war abermals seine Hilflosigkeit. Er konnte dieser wunderbaren Frau nichts abnehmen, absolut nichts — weder ihren zehnten Geburtstag, noch die Jahre davor oder danach. Und er konnte keine alten Polizeiakten ausradieren oder den Namen Berndorf aus dem Gedächtnis von Susanne streichen. Er hatte nicht einmal den Schimmer einer Idee, was Karin, Inge und Brigitte Tönnessen gemeinsam haben könnten, um Totschlag, Mord und durchwühlte Wohnungen unter einen Hut zu bringen.

Er wünschte, er könnte Karin in die Arme nehmen und einfach sagen: „Heh, Süße, es war alles nur ein schlechter Traum. Ich bin da, und alles ist gut!“

Nichts war gut, überhaupt nichts. Aber nachdem die Flasche leer war, wusste er nicht mal mehr das.

 

Chris stand mit dem Gefühl auf, als wäre er von einem Bus überfahren worden. Trotz — oder gerade wegen — des vielen Alkohols hatte er kaum geschlafen. In seinem Kopf hatte ein wildes Chaos aus Dominas in Lederkleidung, Leichen, Wäldern, Kieselaugen, Schmollmündern und Freiern in Maßanzügen geherrscht.

Seine Glieder fühlten sich schwer an, er war müde und zerschlagen. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Nicht vom Schnaps, sicher nicht.

Und natürlich hatte sich an diesem Morgen alles gegen ihn verschworen: Die Rasur endete blutig, sein blaues Lieblingshemd war in der Wäsche, von den bequemen grauen Slippern, die er heute tragen wollte, war zunächst nur der linke auffindbar, und der Autoschlüssel blieb spurlos verschwunden.

Den rechten Schuh fand er schließlich in der hintersten Ecke des Schuhschranks, und der Ersatzschlüssel war ausnahmsweise da, wo er hingehörte: in dem Schubladenkasten, über dem „Grete“ hing. Im Auto stellte er dann fest, dass er den Originalschlüssel gestern Abend im Zündschloss hatte stecken lassen.

Das Wetter passte zu seiner Stimmung. Der Himmel war grau, und es nieselte leicht. Dazu eine drückende Schwüle, die die Abgase in den Straßen festhielt und das Atmen schwer machte.

Als er ins Büro kam, war er ähnlich gut gelaunt wie ein hungriger Grizzly. Die Nixe trug heute auch noch zu einem eng anliegenden schwarzen Kostüm diese riesigen Goldkreolen, die er nicht ausstehen konnte. Sie empfing ihren Chef gleich mit: „Ihre Mutter hat angerufen, um Sie an den Kaffee-Donnerstag zu erinnern.“

Das fehlte gerade noch! Aber heute war Donnerstag, der vorletzte im Monat. Und seit sein Vater gestorben war, ging er jeden vorletzten Donnerstag im Monat zu seiner Mutter und ließ sich mit Kaffee und selbst gebackenem Kuchen verwöhnen. Dazwischen gingen sie manchmal miteinander essen oder verabredeten sich zu einem Spaziergang im Stadtwald. Das war eine flexible Angelegenheit. Der vorletzte Donnerstag im Monat allerdings war eine Institution. Eine Absage akzeptierte Luise nur bei Naturkatastrophen oder vierzig Grad Fieber.

Welcher sechste oder siebte Muttersinn hatte sie wohl dazu bewogen, ausgerechnet dieses Mal daran zu erinnern? Es war nicht ihre Art, ihrem Sohn hinterherzulaufen, aber ausgerechnet heute hätte er es wahrscheinlich vergessen.

Die Nixe brachte wie üblich Kaffee und stellte offenbar gleich die richtige Diagnose. Jedenfalls plauderte sie nicht, sondern blieb ein paar Sekunden unschlüssig stehen.

Mindestens eine Sekunde zu viel.

„Is´ was?“, blaffte Chris.

Die Nixe kniff die vollen Lippen aufeinander und trat wortlos den Rückzug an. Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, tat es ihm Leid. Aber er hatte nicht die Kraft, aufzustehen, ihr ins Vorzimmer zu folgen und sich zu entschuldigen.

Stattdessen wählte er wieder einmal die Nummer von Karin — nur um diesen beschissenen, gotterbärmlichen Anrufbeantworter zu hören. Wutschnaubend knallte er den Hörer auf. Erledigte halbherzig seine Post, mit einem Kribbeln im Bauch, das von Minute zu Minute stärker wurde.

Gegen halb elf gab er endgültig auf, rief nochmals bei Karin an — alles wie gehabt. Dann schnappte er sich sein Sakko und stürmte mit einem „Bin außer Haus“ an der Nixe vorbei.

Aber die rief ihm hinterher: „Sie haben um eins einen Termin mit Frau von der Höh!“

„Dann sagen Sie ihn ab, verdammt nochmal!“, rief er wütend und knallte die Tür zu.

Er war noch nicht im Erdgeschoss, als es ihm diesmal wirklich Leid tat. Er lief zurück, riss die Tür auf und blieb einigermaßen zerknirscht darin stehen.

Die Nixe schaute erstaunt von ihrem Computer auf und schob das rote Brillengestell nach oben.

„Entschuldigung“, murmelte Chris.

„Ist schon gut!“ Sie erteilte ihm mit einer wegwerfenden Handbewegung die Absolution.

„Es muss mitunter ein Alptraum sein, für mich zu arbeiten“, beharrte er.

Seine Mitarbeiterin legte den Kopf schief und sagte einfach: „Ich mag Sie“, als ob das alles erklärte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bildschirm zu.

Chris fiel nichts Besseres ein, als sich verlegen zu räuspern. „Was haben wir morgen?“, fragte er vorsichtig.

„Nur um zehn die Körperverletzung, Herr und Frau Hilgers“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Die Nixe schaute kurz hoch und grinste. „Ich sag´s ab.“

Er grinste zurück und verließ mit einem „Ich Sie übrigens auch“ endgültig das Büro.

Auf direktem Weg fuhr er zu Karin. Und nachdem er drei Mal vergeblich den Finger auf die Klingel gelegt hatte, stellte sich wieder dieses Grizzly-Gefühl ein. Wut, Beklemmung und die verdammte Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte, überhaupt nicht stimmte.

„Da werden Sie kein Glück haben!“

Die ältere Frau, die da plötzlich hinter ihm stand, trug trotz des schwülen Wetters einen dicken Wollmantel. Schwerfällig setzte sie ihre Einkaufstasche ab.

„Was?“

Die Frau deutete mit dem Kopf auf das Klingelbrett neben der Haustür. „Na, bei der Berndorf! Zu der wollen Sie doch! Hab Sie neulich da rauskommen sehen — früh morgens!“ Sie musterte ihn von oben bis unten und setzte dann ein wissendes Lächeln auf.

Chris atmete tief ein und schluckte eine Bemerkung herunter. Wenn er eins hasste, dann waren es neugierige Nachbarn. „Wissen Sie, wo sie ist?“, fragte er stattdessen.

Mit Triumph in den Augen nickte die Alte. „Und ob! Die ist heute Morgen mitgenommen worden.“

Sie kam vertraulich näher, und er wich ein Stück zurück. „Bullen waren das, das riech ich zehn Meilen gegen den Wind. Ver-haf-tet, verstehen Sie?“ Das „verhaftet“ schmolz ihr offensichtlich auf der Zunge. „Ich hab´s genau gesehen. Aber, ich hab ja immer gewusst, dass … Heh, wo rennen Sie denn hin?“

 

Kurz bevor er das Präsidium erreichte, um Susanne zu erwürgen, konnte er wieder denken. Bis dahin war nur dieses „ver-haf-tet“ in seinem Kopf herumgegeistert.

Als er aber jetzt die blankgewienerten Stufen nach oben eilte, sagte er sich, dass von „Bullen“ abgeholt zu werden, noch lange keine Verhaftung bedeutete. Dafür hätte Susanne etwas Konkretes in der Hand haben müssen. Und bis gestern Abend war das noch nicht der Fall gewesen. „Und das ist es jetzt auch noch nicht“, murmelte Chris mit zusammengebissenen Zähnen und einer leichten Gänsehaut. Trotzdem stürmte er ohne anzuklopfen in das Büro von Susanne. Die Tür krachte gegen das kleine Waschbecken, dass es schepperte. Auch eine weitere Befragung war schlimm genug. Er kannte Susanne, und er kannte Hellwein. Zu oft schon war er als Anwalt von Verdächtigen bei Verhören dabei gewesen, hatte erlebt, wie Hellwein sich festbiss, wenn sich jemand, verwirrt und erschöpft von Befragungsbombardements, in Widersprüche verwickelte.

„Wo ist sie?“, polterte Chris sofort los.

„Du kommst spät!“ Seelenruhig saß Susanne hinter ihrem Schreibtisch und schaute ihn gelassen an. Ekelhaft gelassen. „Du wirst doch wohl nicht alt, mein Lieber?“

Das reichte, um ihn endgültig explodieren zu lassen. „Welches miese Spiel spielst du eigentlich hier? Ich soll dir Gott weiß was für Informationen beschaffen, weil du einen sadistischen Freier suchst, und gleichzeitig machst du Karin die Hölle heiß? Oder wie soll ich das verstehen? Wieso überprüfst du nicht einfach ihr Alibi und dann ist es genug? Die Nachbarn erzählen sich schon, sie wäre verhaftet worden! Könnt ihr Scheißbullen nicht ein Mal Rücksicht …“

„Würdest du jetzt die Luft anhalten?“, unterbrach Susanne ihn scharf. „Wir haben ihr Alibi überprüft! Sie ist Freitag gegen zwölf Uhr mittags von Neubergen in Norddeutschland aufgebrochen. Das bestätigt die Pensionswirtin. Perfekt, findest du nicht? Im Übrigen dürfte gerade dir klar sein, dass sie nicht verhaftet ist! Dass wir uns noch mal mit ihr unterhalten würden, haben wir gestern Abend besprochen, oder? Mein Job ist es, eine Körperverletzung mit Todesfolge und einen hundsgemeinen Mord aufzuklären. Und deshalb verfolge ich Spuren. Und Berndorf ist eine davon! Geht das in deinen verdammten Dickschädel rein?“

Chris versuchte, seinen Puls wieder auf Normalfrequenz zu bringen und holte tief Luft. Er hatte die Nerven verloren, zum Teufel! Sich zu verknallen war eine Sache, den Verstand an der Garderobe abzugeben, eine andere.

„Entschuldige“, murmelte er und legte Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Schon das zweite Mal heute, dass er das Wort benutzte, das so schwer über die Lippen ging.

Susanne stand auf und schloss die Bürotür. Wahrscheinlich hatte das halbe Präsidium sein Gebrüll mit angehört.

„Was ist los mit dir, Chris?“ Die Kommissarin blieb neben ihm stehen und sah ihn aufmerksam an. „Immer wenn es um Karin Berndorf geht, wirst du zum Löwenmännchen, das sein Rudel …“ Sie brach ab und pfiff durch die Zähne.

„Ach, so ist das“, stellte sie dann fest, und ihre Stimme wurde weicher als Chris je für möglich gehalten hätte. „Ernsthaft?“

Er biss sich auf die Lippen.

„Willst du raus aus der Sache?“

Heftig schüttelte er den Kopf. Er war Strafverteidiger, und er war ein Profi. Also keine Gefühle. Bloß keine Gefühle jetzt.

„Chris, nochmal: Sie ist als Zeugin hier, nicht als Verdächtige. Unser Seelenklempner hat sich ein bisschen mit ihrer Vergangenheit beschäftigt und meint, dass sie als Racheengel nicht taugt. Und dass sie jemanden beauftragt, dem sadistische Quälereien Befriedigung verschaffen, glaube ich ebenso wenig. Selbst getan haben kann sie es auch nicht.“ Sie zählte an den Fingern ab. „Als Lautmann gefoltert wurde, war deine Karin nachweislich an den Plöner Seen, und vorgestern Nacht, als Tönnessen starb, war sie betrunken, sagt sie. Und das glaube ich ihr. Sie ist eine Zeugin, die wir ein weiteres Mal befragt haben, nichts weiter. Reicht dir das?“

Als sie keine Antwort erhielt, setzte sie mit Nachdruck hinzu: „Ich muss dem nachgehen, das weißt du!“

Und sie wie eine Verbrecherin gleich hierher schleppen?, dachte er wütend. Sie treffen bis ins Mark? Es kostete ihn all seine Selbstbeherrschung, nicht noch einmal über seine Freundin herzufallen.

Susanne stöhnte auf. „Okay, mit dir ist heute nicht zu reden. Du kannst dem Steuerzahler ein paar Kosten sparen und sie nach Hause bringen. Sonst muss ich Hellwein schicken. Sie ist im Vernehmungsraum.“

Ausgerechnet! Chris kannte dieses winzige Zimmer. Die Wände waren grau, und außer ein paar Stühlen und einem Resopaltisch mit unzähligen Brandlöchern gab es dort nichts. Es war nicht nur für einen so feinfühligen Menschen wie Karin bedrückend und entmutigend, dort eine Weile verbringen zu müssen.

Er steuerte wortlos auf die Tür zu, als Susanne ihn zurückhielt. „Moment noch! Was ist mit dem Einbruch?“

„Hat sie …?“

„Sie hat. Also?“

Kurz zählte er die Fakten auf, die sich offensichtlich mit der Aussage von Karin deckten, weil Susanne immer nur zustimmend nickte.

„Du hättest mit mir darüber reden sollen.“ In ihrer Stimme war weniger Vorwurf als er erwartet hatte. „Aber lassen wir das jetzt. — Was hältst du davon?“

„Wenn es kein Zufall ist, dann frage ich mich, was diese drei Frauen miteinander verbindet.“

„Das frage ich mich auch“, gab Susanne zu. „Was Lautmann und Tönnessen verbindet, wissen wir. Glauben wir jedenfalls zu wissen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Deine Karin passt da überhaupt nicht rein. Also doch Zufall?“

„Glaubst du an Zufälle?“, schnaubte Chris.

Susanne schwieg. Aber das war Antwort genug.

 

Als sie ins Vernehmungszimmer traten, hatte Karin offenbar gerade ihre Aussage unterschrieben. Jedenfalls steckte Hellwein ein paar bedruckte Blätter in eine dünne Mappe. Er trug einen nachtblauen, leicht glänzenden Sommeranzug. Und obwohl es in dem kleinen Raum heiß und stickig war, hatte er noch nicht mal die Krawatte gelockert.

Karin blickte auf und sah Chris stumm an. Die Kiesel wirkten dunkel und drückten eine Mischung aus Wut und Trauer aus. Ihr rotes Polohemd war unter den Achseln vom Schweiß dunkel gefärbt.

Irgendetwas zog sich in Chris zusammen.

„Doktor Sprenger fährt Sie nach Hause“, brach Susanne das Schweigen und schaffte es, mit diesem „Doktor Sprenger“ Distanz zu vermitteln, ihn aus dem Kreis, der Karins Leben auseinander nahm, auszuschließen. Hoffte er jedenfalls.

Er wurde schnell eines Besseren belehrt. Die ganze Fahrt über sagte Karin kein Wort. Sie saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz, und er konnte die Mauer, die sie um sich herum aufgebaut hatte, beinahe sehen. Er hatte keine Idee, wie er diese Barriere aufbrechen sollte. Wie er ein noch so winziges Loch schaffen konnte, um das Bollwerk zu durchdringen. Also schwieg auch er, konzentrierte sich auf den Verkehr und bemühte sich, seine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bringen, die so trüb waren, wie die Regenschleier über dem Asphalt vor ihm.

Erst als er vor dem großen alten Haus am Klettenbergpark hielt, platzte Karin heraus: „Ist es schon so weit, dass ich einen Anwalt brauche?“

„Ich versuche, seit gestern Abend, mit dir darüber zu reden.“

„Ich war im Labor. Du hättest mir eine Nachricht hinterlassen können.“

Die Wischerblätter quietschten über die Windschutzscheibe. Mit einer wütend wirkenden Bewegung ließ er den Hebel in die „Aus“-Position schnappen. „Ich wollte mit dir reden, nicht mit deinem Anrufbeantworter!“, versuchte er sich zu rechtfertigen.

Aber sie schien seine Worte gar nicht aufzunehmen. „Verdammt!“, rief sie aufgebracht. „Sie holen mich ab, sie fragen mir Löcher in den Bauch, ob ich vielleicht auch bi bin und ein Verhältnis mit Inge hatte. Sie zeigen mir Bilder von dieser Tönnessen da im Wald, sie graben Geschichten aus, die zwanzig Jahre her sind. `Wo waren Sie am Freitag, Frau Berndorf? Und die Tage davor? Sind Sie sicher, dass Sie Ingeborg Lautmann Ende April zum letzten Mal gesehen haben?´ — Gott, ist das zum Kotzen!“

Ihre Worte waren eine einzige Verurteilung. Und irgendwie hatte Chris das Gefühl, dass er mit auf der Anklagebank saß. Er befand sich plötzlich zwischen allen Stühlen. Auf der einen Seite Susanne, die tat, was sie tun musste, auf der anderen Seite Karin, die Loyalität und Verständnis erwartete.

„Du musst doch gewusst haben, dass sie die alten Akten ausgraben würden!“ Chris gelang es nicht, den vorwurfsvollen Ton zu unterdrücken, die Kränkung, dass er als letzter davon erfahren hatte. „Du hättest mit mir darüber reden sollen!“

„Und? Was hätte das geändert?“

„Nichts“, gab er zu.

„Einmal muss doch Schluss sein mit der Geschichte“, sagte Karin bitter. „Wieso können die mich nicht in Ruhe lassen?“

„Sie mussten das tun, Karin. Es gab …“

„Sag mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?“, wurde er scharf unterbrochen.

„Zum Teufel noch mal! Es macht mich genauso wütend wie dich, dass du das jetzt mitmachen musst. Aber das Leben ist nun mal kein Kokon aus Friede, Freude, Eierkuchen! Manchmal passieren eben Dinge, die einem nicht ins Konzept passen!“ Die Worte waren ihm über die Zunge gerollt, ehe er etwas dagegen tun konnte.

„Was du nicht sagst!“, schnaubte Karin. „Und die Polizei tut nur ihre Pflicht. Schließlich hat die Berndorf ja schon mal zugeschlagen!“ Mit Schwung drückte sie die Wagentür auf. „Vielen Dank für die Belehrung, Doktor Sprenger!“

Sie war schneller aus dem Auto, als er für möglich gehalten hätte. Als die Tür zuschlug, hatte er das Gefühl, sein Herz würde in tausend Stücke zerspringen.

Wie versteinert saß er da, die Hände um das Lenkrad gekrampft und spürte — nichts. Irgendwann fand er sich in einem Parkhaus unterhalb des Doms wieder und wusste nicht, wie er dort hingekommen war und was er dort sollte. Er wusste nur, dass er alles hätte sagen dürfen, nur nicht das mit dem Kokon. Nicht zu Karin, nicht in dieser Situation.

Er trug das Herz auf der Zunge, ja, das wusste er. Aber warum, verdammt noch mal, immer im falschen Moment? Er hätte mitfühlend sein müssen, verständnisvoll. Stattdessen benahm er sich wie ein Elefant im Porzellanladen und gab saudumme Weisheiten von sich. Wenn jemand wusste, dass das Leben kein weiches Daunenkissen war, dann Karin.

„Na gut, Sprenger“, begann er ein Selbstgespräch, „was ist denn großartig passiert? Du hast dich in eine Frau verknallt, die du drei Mal gesehen hast. Die nur auf Affären steht. Du hast dich auf einen heftigen Flirt eingelassen und Punkt. Nicht mehr und nicht weniger! So schlimm ist das nun auch wieder nicht. Du kannst nichts verlieren, was du noch gar nicht gehabt hast. Also mach deinen Job und Schluss damit!“

Er brach ab, weil ihm ein älterer Herr mit Hut, der gerade in den Wagen neben ihm steigen wollte, merkwürdige Blicke zuwarf. Es war ja auch zu lächerlich: Ein unrasierter Typ, mutterseelenallein im Auto, der vor sich hin brabbelt. Klasse, Sprenger! Mach nur weiter so!

Er hätte ins Büro fahren müssen, zumindest aber die Nixe anrufen, fragen, ob es irgendetwas von Belang gab. Aber dazu brachte er nicht die Kraft auf.

Er holte die Regenjacke aus dem Kofferraum und lief hinunter zum Rheinufer. Bei schönem Wetter flanierten hier Tausende von Menschen, saßen in der Sonne oder warteten auf die kleinen Rundfahrtschiffe. Jetzt war Chris beinahe allein. Abgesehen von ein paar Möwen, die auf der Kaimauer saßen und sich putzten. In Höhe des Pegelhäuschens blieb er eine Weile stehen. Aber er sah weder die weißen Ausflugsdampfer, die an den Anlegern dümpelten, noch die langsam treibenden Wolken, die tief über dem Fluss hingen. Er starrte einfach auf das braune Wasser. So weit weg mit seinen Gedanken, dass er nicht hätte sagen können, wo sie denn waren.

Irgendwann stieg er die Stufen zur Philharmonie hoch und spielte kurz mit dem Gedanken, in den Carrebean Club zu gehen. Aber Theos unerschütterliche Fröhlichkeit hätte er nicht ertragen, und nach einem Essen war ihm schon mal gar nicht.

Der Anblick des Doms lenkte ihn kurzfristig ab. Er konnte sich nie entscheiden, ob er ihn nun „wuchtig“, überwältigend“, „monumental“ oder einfach nur „schön“ finden sollte. Imposant war er allemal. Chris legte den Kopf in den Nacken und versuchte, die vielen kleinen Kreuzblumen über den Fialen zu zählen. Es gelang ihm natürlich nicht, und als sein Genick steif wurde, gab er auf.

Vor dem Dom-Hotel wurde er fast von ein paar Jugendlichen umgerissen, die auf ihren Inlines vorübersausten. Am Eingang der Hohe Straße saß ein Straßenmusikant und fiedelte die „Kleine Nachtmusik“. Chris hörte ein paar Minuten zu und schlenderte dann durch die Fußgängerzone. Musste tropfenden Regenschirmen ausweichen und einem Typen, der mit dem unvermeidlichen „Hasse ma ´n Euro?“ genau auf ihn zusteuerte. Ab und an blieb er vor dem Schaufenster einer Buchhandlung oder eines Kaufhauses stehen, aber er nahm nichts richtig wahr. Außer der Uhr, die ihm alle paar Minuten sagte, dass es immer noch nicht Zeit war, zu seiner Mutter zu fahren. Zeit totschlagen nennt man das wohl.

Als es endlich so weit war, dachte er sogar daran, einen Strauß gelber Nelken zu kaufen, die Luise so liebte. Seine Mutter ließ auch gleich die Nase in den Blüten verschwinden, als Chris sie ausgewickelt hatte.

Anerkennend musste er zugeben, dass sie in dem weit ausgeschnittenen rosafarbenen Top wirklich nicht aussah wie fünfundsechzig. Dazu trug sie einen eng anliegenden eisgrauen Rock. Ihre Beine waren mindestens so lang wie die von Heidi Klum, und das betonte sie noch durch hochhackige Pumps.

„Du siehst schlecht aus, Kind!“, stellte Luise fest, als sie Kaffee einschenkte.

Kind! Wahrscheinlich konnte er hundert werden und würde doch immer „Kind“ bleiben. Er erinnerte sich an die Beerdigung einer Kollegin vor ein paar Jahren. Neunundsechzig war sie geworden, und ihre zweiundneunzigjährige Mutter stand am Grab und rief immer wieder: „Mein Kind! Mein Kind!“

„Ich hatte eine schlimme Woche“, antwortete er so lässig wie möglich. Hatte er das nicht auch schon Tinni vor ein paar Tagen gesagt?

Luise lud ihm ein Stück Käsekuchen auf den Teller, und Chris bemerkte an ihrem Mittelfinger einen großen Aquamarin, eingefasst in fein ziseliertes  Gold.

„Oh — Hans-Dieter?“

Seine Mutter streckte die Hand aus, betrachtete den Ring und seufzte. „Ach — er ist richtig nett, weißt du! Er will eine Amerikareise mit mir machen.“

„Ist doch toll!“

„Ist es nicht!“, sagte sie streng. „Er will meinen Pass haben, um das Visum zu beantragen.“

„Deinen Pass? Na und?“ Plötzlich dämmerte es ihm. „Oh, Mama, du hast doch nicht wieder …?“

„Natürlich habe ich!“, gab Luise entrüstet zurück und machte sich mit Appetit über ihren Kuchen her.

„Wie viel?“

„Sechsundfünfzig!“, nuschelte sie mit vollem Mund.

„Mama! Stell dir vor, du willst noch mal heiraten. Da wird dein Alter zwangsläufig herauskommen. Wie soll das …?“

„Ich will ja gar nicht noch mal heiraten!“, wurde er patzig unterbrochen. Und dann: „Du hast Liebeskummer, stimmt´s?“

„Mama, bitte!“

„Lüg deine Mutter nicht an! — Ist sie nett?“

Chris überlegte kurz. „Eher ungewöhnlich“, antwortete er dann. Was würde wohl passieren, wenn Luise und Karin einander kennen lernten, überlegte er. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie würden sich lieben oder aber abgrundtief hassen. Irgendetwas dazwischen schien unmöglich. Aber so, wie die  Dinge jetzt standen, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich jemals begegneten, relativ gering.

„Und jetzt habt ihr euch gestritten?“, bohrte seine Mutter weiter.

„So … kann man es nennen, ja.“ Er schob seinen Teller zurück. Kaum zwei Bissen hatte er heruntergewürgt. Karin war ihm auf den Magen geschlagen, eindeutig.

„Warum?“

„Mama!“

„Warum?“

Er gab auf. „Man hat sie wegen eines abscheulichen Verbrechens verhört. Und das nur, weil sie vor zwanzig Jahren mal Mist gebaut hat. Und nun ist sie ziemlich wütend. Auf mich, auf die Polizei, auf die ganze Welt, glaube ich.“

„Dann solltest du zusehen, dass die Sache möglichst schnell aufgeklärt wird“, stellte Luise ganz einfach fest.

Und in diesem Moment löste sich seine Versteinerung. Es war alles wieder da. Schmollmund, Kieselaugen, Hinrichtungen, brennendes Fett und Pflastersteine. Verwirrt blinzelte er zu seiner Mutter hinüber, die sich mit dem zweiten Stück Kuchen beschäftigte. Chris konnte nichts an Karins Gefühlen ändern, damit musste sie selbst fertig werden. Aber er konnte dazu beitragen, dass dieser Alptraum ein Ende hatte, dass Licht in diese verworrene Geschichte kam. Er konnte die Puzzleteile zu einem Bild zusammensetzen.

Er sprang auf, rannte um den Tisch und umarmte seine Mutter so stürmisch, dass deren Kuchenteller in eine gefährliche Schieflage geriet.

„Manchmal bist du unbezahlbar!“, rief er und drückte einen Kuss auf die Wange zwischen sechsundfünfzig und fünfundsechzig.

„Das ´manchmal` hab ich jetzt überhört. — Bist du nun endlich in der Lage, etwas zu essen?“

Er war. Und er war auch in der Lage, die Nixe anzurufen, die keinerlei Besonderheiten zu melden hatte.

Fast überhastet brach er dann von Luise auf und fuhr in die Stadt zurück. Zunächst versuchte er es am Rudolfplatz. Die kleine Grünanlage dort war regelmäßiger Treffpunkt von Berbern und Punkern. Die beiden ersten Gruppen ignorierten seine Frage nach Heinz Stockberger völlig und taten so, als sei Chris Luft. Von der dritten Gruppe bekam er ein „Hau ab“ zu hören. Angesichts der drückenden Übermacht befolgte er die Aufforderung umgehend.

Dann stieg er in die U-Bahnstation hinab. Die blauen und roten Kacheln an den Wänden in der Zwischenebene waren großflächig mit schwarzem Graffiti übersprüht, und der Vitrine, in der die Fahrpläne aushingen, fehlte das Glas. Vor den beiden Fahrkartenschaltern drängelten sich Dutzende von Leuten. Chris schob sich mit einem mehrfachen „`tschuldigung, darf ich mal?“ hindurch auf die andere Seite. In einer Nische mit Schließfächern, die kein Mensch benutzte, lagerte eine Gruppe Obdachloser. Es stank nach Urin und Schweiß.

Seine Frage nach Heinz Stockberger wurde nur mit einem „Verpiss dich“ quittiert. Irgendwie hatte er wohl die falsche Strategie gewählt. Also versuchte er es anders. Ging kreuz und quer durch die Innenstadt, ließ weder Straßen aus, in denen sich ein teures Markengeschäft ans andere reihte, noch die Fußgängerzonen. Er hielt Ausschau nach einzelnen Bettlern, die meistens auf den Lüftungsschächten der großen Geschäfte hockten. In den alten Zigarrenkisten oder Pappbechern vor ihnen lagen jeweils wenige Münzen.

Sie waren freundlicher als ihre Kollegen am Rudolfplatz, und einiges an Kleingeld wanderte aus der Geldbörse von Chris in die Kisten und Becher. Aber niemand wollte sich an einen Heinz Stockberger erinnern.

Als es dämmerte, gab er auf. Trotz der bequemen Schuhe brannten ihm die Füße. Zu Hause schleuderte er die Slipper einfach von sich und rückte wieder einmal den Läufer im Flur zurecht. Dann setzte er sich in einen Sessel, legte die Beine auf den Wohnzimmertisch und massierte seine steinharten Wadenmuskeln.

Später holte er eine neue Flasche Whisky aus der Küche und steckte eine CD von Mercedes Sosa in den Player. Er legte sich auf die Couch, balancierte das Whiskyglas auf dem Bauch und dachte darüber nach, wie er Heinz Stockberger finden könnte. Er würde seine Taktik rigoros ändern müssen. So viel war jedenfalls klar.

Er hatte alle Lichter gelöscht, bis auf den kleinen Wandspot, der die beiden Akte von Bruno Bruni beleuchtete. Er sah auf die zarte Wölbung des Rückgrats, verfolgte die Linie der Brüste, die nur mit einem feinen Stich angedeutet war und klapperte im Geiste alle einschlägigen Treffpunkte in der Stadt ab. Und wenn Stockberger in einem der Außenbezirke sein Revier hatte? Es gab schätzungsweise zweitausend Obdachlose in Köln. Wie sollte er da einen Mann finden, von dem er nicht mehr wusste als den Namen? Und würde ausgerechnet ein Penner die Erleuchtung bringen? Er brauchte Namen. Kunden. Nach dem Tod von Tönnessen erst recht. Er brauchte ein Motiv, den Ort, an dem Inge sich versteckt gehalten hatte, und den Ort, an dem sie gefoltert worden war — und er brauchte Karin.

Jetzt, allein in seinem Wohnzimmer, nur mit Mercedes Sosa, die die „Missa Criola“ mit wahrer Inbrunst sang, war er wieder mutlos und niedergeschlagen. Noch einmal verfluchte er seine saudumme Reaktion heute Mittag im Auto. Dieser vertrackte Satz mit dem Kokon, der ihm nur über die Lippen gesprudelt war, weil er mit seiner eigenen Hilflosigkeit nicht umgehen konnte. Irgendwann, als Mercedes Sosa längst verstummt war, flüchtete er vor seinen Gedanken endgültig in den geliebten Whisky und von dort in einen unruhigen Schlaf.