Zehn

 

Erst auf dem Heimweg erinnerte sich Chris daran, dass er sich ja eigentlich gar nicht hatte einmischen wollen. Alles der Polizei überlassen. Und was tat er, verdammt? Ließ sich von blauen Augen beeindrucken, verfolgte eine wildfremde Frau zu einer Hochzeit, statt seinen Wochenendeinkauf zu machen, und zu guter Letzt hatte Tinni nicht nur sein Versprechen, das mit dem Neuen bei der Sitte zu regeln, sondern auch noch zweihundert Euro aus seiner Brieftasche im Blusenausschnitt verschwinden lassen.

„Sprenger, du bist ein Idiot“, murmelte er, als er den schwarzen Nissan in die einzige freie Parklücke bugsierte, die es auf der Piusstraße noch gab. Seine Euphorie war der ernüchternden Erkenntnis gewichen, dass er es mal wieder nicht lassen konnte. Anne hatte völlig Recht, und Susanne ebenfalls. Wieso steckte er seine Nase immer wieder in Dinge, die ihn nichts angingen? Dieser kleine hässliche Gnom in seinem Kopf, der ihm andauernd einredete: „Niemand kann über seinen eigenen Schatten springen“, war nur eine billige Ausrede. Natürlich hätte er gekonnt — wenn er denn wirklich gewollt hätte.

Er war schon an der Haustür, als ihm seine Bestellung einfiel. Also trabte er zurück zum Kiosk, holte die Zigaretten und lobte Hein wegen seiner neuen Frisur, auf die er ihn stolz aufmerksam machte. Dann hielt Hein einen langen Monolog übers Wetter und die Trinkgewohnheiten seiner Kunden bei einer Hitzewelle, ehe er Chris das Wechselgeld zurückgab.

Er atmete erleichtert auf, als er endlich die Wohnungstür aufschloss. Hein war ein lieber Kerl, aber manchmal etwas anstrengend.

Der Anrufbeantworter auf der Jugendstilkommode im Flur zeigte fünf Gespräche an. Missmutig drückte Chris den Wiedergabeknopf und rückte automatisch den ewig rutschenden Läufer auf dem Boden zurecht. Wie von Geisterhand kroch er alle paar Tage an der Wand zum Wohnzimmer hoch.

Als erstes hörte er die Stimme von Anne. Wo er denn nun schon wieder stecke, ob er über gestern Abend reden wolle, bitte ein Lebenszeichen und so weiter. Seine Befürchtungen bestätigten sich: Zwei weitere Anrufe waren ebenfalls von ihr, die zunehmend gereizt um Rückruf bat.

Nach dem vierten „Piep“ erscholl die Stimme seiner Mutter. „Hallo Kind! Ich muss dir was erzählen!“

Entnervt drückte er die Stopptaste und lehnte sich an die Wand. Dieses „muss“ konnte nur eins bedeuten — sie hatte mal wieder einen Neuen.

„Gott steh mir bei“, murmelte er. Er liebte seine Mutter, wirklich. Sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck, und je nach seiner Gemütslage, die sie mit ihrem mütterlichen Urinstinkt sofort erfasste, gab sie ihm mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge. Gleichzeitig gelang es ihr aber auch, ihren Sohn als eigenständigen Menschen zu akzeptieren. Könnte doch auch er seine Mutter so nehmen, wie sie war — nein, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hatte.

Angefangen hatte es kurz nach dem Tod seines Vaters vor acht Jahren. Er war morgens einfach nicht mehr wach geworden. Und was niemand auch nur im Traun vermutet hätte — der kleine städtische Beamte Herrmann Sprenger hinterließ ein stattliches Vermögen. Mehrere, durch risikoreiche Kapitalanlagen gut gefüllte Konten.

Etwa ein halbes Jahr nach der Beisetzung verkündete Luise Sprenger — bis dahin immer nur Hausfrau, und jetzt trauernde, aber wohlhabende Witwe — ihrem Sohn, sie würde für ein paar Tage eine Schönheitsfarm auf Mallorca besuchen. Warum es unbedingt Mallorca sein musste, begriff Chris erst zwei Wochen später: Seine Mutter hatte sich den Hals straffen lassen! Und spanische Schönheitschirurgen waren ungleich billiger als deutsche.

Ungefähr drei Monate danach kamen Wangen und Augen an die Reihe. Und dann, dann war Luise auf Männerjagd gegangen. Über einschlägige Annoncen, in der U-Bahn, im Supermarkt, auf der Straße, im Hausflur. Oder sie ging im hautengen Lederkostüm zu den Tanztees im Café Bauer und verdrehte dort den mehr oder weniger alleinstehenden Herren den Kopf. Dabei machte sie sich regelmäßig fünf bis zehn Jahre jünger, als sie in Wirklichkeit war. Aber das bereitete Chris keine Sorgen. Luise war rank und schlank, und ihre Liftings waren gut gemacht. Wenn sie meinte, sie müsse mit „fünfundfünfzig“ prahlen, statt zerknirscht „fünfundsechzig“ zuzugeben — bitte. Was ihm aber manchmal den Schlaf raubte, war das seltsame „Pech“, von dem seine Mutter nun schon seit Jahren verfolgt wurde: Die erste ernstzunehmende Männerbekanntschaft war bei Luise eingezogen und schaffte es etwa ein halbes Jahr, dann erlag er einem Herzinfarkt. Nach einer angemessenen Trauerzeit zog der zweite bei ihr ein. Das junge Glück währte knappe zwölf Monate, und den Geliebten traf der Schlag. Er vegetierte noch drei Wochen im Krankenhaus vor sich hin und schied dann aus dem Leben. Der dritte schließlich brach während des Liebesakts über Luise zusammen. Herzversagen stand auf dem Totenschein.

Alle drei waren in gesetzterem Alter und recht betucht gewesen. Und ob Luise in den jeweiligen Testamenten bedacht worden war, verriet sie nicht einmal ihrem Sohn.

Bisher hatte sich Chris jeden ernsthaften Gedanken über diese seltsame Häufung von Todesfällen verboten. Schließlich war Luise kein männermordender Vamp, sondern seine Mutter. Dieses „muss“ aber besagte mit Sicherheit, dass sie einen neuen Liebhaber hatte. Unwillkürlich berechnete Chris, wie lange der es wohl überleben würde.

„Mein Gott, der vierte“, sagte er leise. Wenn man seinen Vater dazurechnete, waren es sogar schon fünf. Entschlossen drückte er noch einmal auf den Wiedergabeknopf.

Die letzte Nachricht auf dem Band hob seine Laune ein wenig: Lea verkündete, sie sei heute Abend im „Mainzer Hof“, und wenn er Lust auf ein Bier hätte, sollte er doch vorbeikommen.

Wieso Lea das so großartig verkündete, war Chris allerdings schleierhaft. An den Wochenenden gehörte sie in dieser Kneipe sozusagen zum lebenden Inventar. Er konnte sich kaum daran erinnern, sie freitags oder samstags jemals woanders angetroffen zu haben. Und immerhin kannten sie sich seit seiner Abifete. Damals hätte er gern was mit ihr angefangen, aber Lea hatte ihn eiskalt abblitzen lassen, weil sie auf hünenhafte Typen stand, die drei Mal die Woche in die Muckibude gingen. Trotzdem, oder gerade deshalb, war eine tiefe Freundschaft entstanden, die über so manche Krise getragen hatte. Die letzte Krise war Anne gewesen.

Chris verspürte weder Lust, im „Mainzer Hof“ abzuhängen, noch den Bitten von Anne um Rückruf nachzukommen. Schon gar nicht wollte er Luise zuhören, die voller Euphorie erzählen würde, wie blendend ihre neue Liebe aussähe und wie ausdauernd er im Bett war. Letzteres musste Chris nun wirklich nicht wissen, aber er würde weder seiner Mutter noch Anne entgehen können.

Seufzend nahm er das Telefon mit ins Wohnzimmer und holte sich aus der Küche ein Bier. „Grete, die Fischfrau“ lachte ihn an. Er prostete ihr zu und lachte zurück.

Dann streckte er sich auf der Couch aus und wählte Annes Nummer im Krankenhaus, hatte die unsinnige Hoffnung, sie könnte gerade mit einem Notfall beschäftigt sein und keine Zeit für ihn haben. Natürlich war sie gleich am Apparat, und er hörte sich minutenlange Tiraden darüber an, warum er sein Handy nie dabeihatte, wo er gewesen sei, und dass er bloß die kleine Feier morgen nicht vergessen sollte. Chris hörte kaum zu, musste sich beherrschen, nicht aufzulegen. Er konnte diese Sätze, die so oft mit „Du musst“ und „Du sollst“ anfingen, einfach nicht mehr ertragen.

Plötzlich aber war er hellwach. Anne sagte nämlich fast beiläufig: „Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist. Auf jeden Fall hat hier heute früh gegen fünf ein Typ angerufen und sich nach dieser Lautmann erkundigt. Er hat gesagt, er wäre ihr Bruder. Hildchen war am Apparat, und als sie ihm beigebracht hat, dass seine Schwester tot ist, hat er einfach aufgelegt. Was sagst du jetzt?“

Erst einmal sagte er nicht viel. Dafür aber verknüpfte er in Sekundenbruchteilen diese neue Information mit dem wenigen, was er bisher wusste. Was bedeutete dieser Anruf? Hatten ihre Peiniger nicht das aus ihr herausgepresst, was sie sich erhofften und wollten sie im Krankenhaus überfallen? Oder wollten sie sich einfach vergewissern, dass Inge Lautmann nicht mehr reden konnte?

Und was war mit Anne? Sie wusste doch wahrscheinlich schon seit Stunden, dass der Täter angerufen hatte. Und das erwähnte sie erst, nachdem sie ihm die Ohren vollgeheult hatte, und dann so beiläufig, als würde sie über den letzten Kaffeeklatsch reden. War sie wirklich so gefühlskalt?

Als er aufgelegt hatte, blieb er lange still sitzen. Zum ersten Mal sah er ganz deutlich vor sich, wie das Verhältnis zu Anne enden würde. Wenn zwei Menschen sich in so unterschiedliche Richtungen entwickelten, blieb irgendwann nichts mehr übrig. Zunächst würden sie sich nicht mehr so häufig sehen, dann nur noch zu Geburtstagen und anderen Feierlichkeiten, bis schließlich der Kontakt völlig abbrach. Eine absolut normale und logische Entwicklung, die sich im Laufe eines Lebens häufig vollzog. Wieso zwickte dieser Gedanke dann irgendwo tief drin? Es tat nicht wirklich weh, war mehr ein kurzes Stechen.

Er wischte den Gedanken beiseite und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Inges „Bruder“. Das musste Susanne unbedingt erfahren. Aber ihre Leitung war besetzt. Also rief er zunächst seine Mutter an — dann hatte er das wenigstens hinter sich. Die erzählte ihm tatsächlich von „Hans-Dieter“, der nächsten Monat bei ihr einziehen würde, und der größte Schatz aller Zeiten war, wie Luise voller Enthusiasmus erklärte. Chris hoffte nur, der Schatz würde überleben, und legte entnervt auf.

Als er Susanne endlich am Hörer hatte, gab er ihr erst einen Bericht darüber, was er über Brigitte Tönnessen erfahren hatte, und versprach, die Spur weiter zu verfolgen. Spätestens jetzt hätte er Karin erwähnen müssen, aber wieder sagte er kein Wort.

Den Anruf von dem angeblichen Bruder bewahrte er sich bis zum Schluss auf. Die Kommissarin war genauso elektrisiert wie er selbst.

„Was denn? Bruder?“, rief sie. „Bruder! Das war einer unserer Freunde!“

„Die Wette würdest du gewinnen!“

„Meinst du, wir kriegen von der Nonne eine vernünftige Aussage?“

„Hundert Pro! Schwester Hilde ist zwar alt, aber völlig klar im Kopf!“

 

Am Sonntagmorgen räkelte er sich lange in der Badewanne, baute Schaumburgen und Pyramiden auf seiner Handfläche und sah zu, wie sie knisternd an Volumen verloren.

Heute wollte er endlich den Tag so verbringen, wie er sich das eigentlich schon für gestern vorgenommen hatte: wenig arbeiten, viel lesen und noch mehr Musik hören. Und alle Annes und Ingeborgs dieser Welt hatten weder in seinem Kopf, noch in seinem Herzen etwas zu suchen. Da waren diese faszinierenden blaugrauen Augen schon besser.

„Sie interessieren mich einfach!“ — Himmel, wann war er das letzte Mal so puterrot geworden? Diese kräftigen Hände, die wahrscheinlich sehr zärtlich sein konnten. Konnten sie sich auch zur Faust ballen und einen Menschen totprügeln? Foltern? Zigaretten auf der bloßen Haut ausdrücken?

„Scheiße!“ Mit einem Satz sprang Chris aus dem Wasser und rubbelte sich trocken. Zum Teufel mit der ganzen Geschichte! Auch Karin hatte in seinem Kopf nichts zu suchen!

Zwei Minuten später ertappte er sich dabei, wie er vor den Spiegeltüren seines Kleiderschranks stand und kritisch die dunkelblonde Wolle auf seiner Brust und den dichten Flaum auf seinen Armen betrachtete. „Behaart wie ein Affe“, grummelte er. Ansonsten fand er sich ja ganz in Ordnung. Er hatte weder Bauch noch Geheimratsecken, und die kleinen Fältchen um die Augen gehörten mit Mitte dreißig einfach dazu. Nur mit seinem Bewuchs und seinem immens sprießenden Bart haderte er immer wieder. Ob Karin auf solche Typen stand?

Verwirrt brach er diese kritische Musterung ab, schlüpfte in ausgebeulte Jogginghosen und legte sich zurecht, was er am Abend anziehen wollte. Einen Augenblick dachte er daran, boshaft zu sein und Anne mit seiner ältesten Jeans zu schockieren. Dann aber entschied er sich doch für dunkle Tuchhosen und weißes Hemd. Zu einer Krawatte konnte er sich allerdings nicht durchringen.

Die Sonne strahlte verheißungsvoll, und auf seinem windgeschützten Balkon war es mollig warm. Aber bevor sich Chris mit seinem Laptop und einigen Akten, die er dringend durchsehen musste, nach draußen setzte, suchte er seinen Lieblingskugelschreiber. Ein sündhaft teures Schreibgerät, das Luise ihm zur Eröffnung der „Kanzlei“ geschenkt hatte. Ohne den konnte er unmöglich arbeiten! Er suchte die ganze Wohnung ab, sogar das kleine Arbeitszimmer, in das er sich selten verirrte. Es war ein völlig schmuckloser Raum, in dem es außer einem Schreibtisch und Regalen voller Fachbücher nichts gab, und Chris fühlte sich wohler an seinem Küchentisch oder auf dem Balkon.

Er fand den Kuli schließlich auf dem Spülkasten des Klosetts. Stimmt, er hatte während der letzten „Sitzung“ das Kreuzworträtsel in der Fernsehzeitung gelöst. Erleichtert schnappte er sich Kugelschreiber und Unterlagen und ging nach draußen.

Aus der Häuserzeile gegenüber plärrte ein Radio, und irgendwo übte jemand Trompete — wie jeden Sonntag. Chris hielt sein Gesicht einen Moment in die Sonne und sah auf den „begrünten Innenhof“. So jedenfalls hatte sich der Makler ausgedrückt, als er die Wohnung vermittelte. Das Grün bestand aus einem Wiesenquadrat und drei kümmerlichen Büschen, die im Juli gelb blühten.

„Immerhin“, murmelte Chris und zog den Laptop heran. Er hatte die besten Vorsätze. Wirklich. Aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab, wanderten ziellos umher, nagten hier und pickten dort, um schließlich bei den Kieselaugen zu landen. Ein auffliegender Vogel führte ihn weit weg von Strafprozessordnungen und Schadensersatzforderungen. Ein welkes Blatt, das über den Balkonboden raschelte, zog seinen Blick magisch an. Dickbauchige Hummeln, die auf dem Geländer eine Pause einlegten, wirkten beinahe hypnotisierend.

Nach einer Stunde gab er auf, packte missgelaunt alles zusammen und verzog sich nach drinnen.

Vielleicht sollte er anrufen. Doch ihm fiel absolut kein vernünftiger Grund ein. Und sie einfach fragen, wie es ihr ging — nein, völlig ausgeschlossen! Ihr sagen, wie sehr er fasziniert war von ihrer geradlinigen Art, dieser heiteren Gelassenheit? Dass er am hellerlichten Tag von Kieselaugen träumte? — Karin würde sich halb totlachen!

Also kein Anruf!

Vielleicht half ja Staubwischen gegen dieses seltsame Kribbeln in der Magengrube. Oder die Badezimmerarmaturen auf Hochglanz bringen. Bitter nötig war eine Putzorgie allemal. Chris wienerte und schrubbte, wusch sogar die hässlichen, grün gesprenkelten Kacheln im Bad ab und widmete sich schließlich auch seinen verkümmerten Blumen auf den Fensterbänken. Wasser brauchten sie, erst einmal Wasser. Und morgen würde er Dünger kaufen und neue Erde. Ganz bestimmt.

Aber all die hektische Aktivität, die er an den Tag legte, ließ die Gedanken nur noch mehr wandern, machte aus den Ameisen im Bauch ausgewachsene Schmetterlinge. Er schimpfte sich einen „Vollidioten“ und vermied es, darüber nachzudenken, was hinter den Schmetterlingen steckte. Es war sowieso blödsinnig. Wahrscheinlich machte sich nur bemerkbar, dass er seit zwei Jahren sozusagen im Zölibat lebte, denn schließlich stand er weder auf große Frauen, noch auf mächtige Busen. Wirklich nicht.

Er versuchte es mit Musik, seinem Allheilmittel gegen unklare seelische Verfassungen. Aber auch das erwies sich als wirkungslos. Was auch immer er auflegte, ob Grieg, Beethoven oder Barclay James Harvest — nach zwei Minuten hingen seine Gedanken bei den blaugrauen Augen.

Und obwohl er absolut keine Lust auf eine ewig nörgelnde Anne und einen dämlich lächelnden Hans hatte, war er erleichtert, als er losmusste. Wenn er sich auch vermutlich den ganzen Abend ärgern würde, bedeutete das zumindest Ablenkung. Es führte weg von plötzlich einsetzendem Herzklopfen und schweißnassen Händen, der unterschwelligen Angst, krank zu werden, ein Kreislaufproblem zu haben.

 

Ausnahmsweise war Chris pünktlich. Er nahm nicht den Aufzug, sondern ging die vier Etagen zu Fuß nach oben. So blieb ihm Zeit, sich gegen die seltsame Beklemmung zu wappnen, die ihn immer noch überfiel, wenn er die Wohnung betrat, die so lange auch seine gewesen war. Nichts hatte sich dort verändert. Auf dem Sofa lag der grüne Überwurf, den Chris nicht mochte. Der Esstisch hatte diesen ausgeblichenen Fleck, als er einmal Essig verschüttet hatte, und das Brandloch im Teppichboden wurde immer noch verdeckt durch den kleinen gestreiften Läufer. Es wäre sicher einfacher gewesen, wenn sich mit dem Einzug von Hans auch die Wohnung verändert hätte.

Der „kleine Kreis“, in dem Hans seinen Geburtstag feiern wollte, bestand aus Anne, Chris und einer ihm bis dahin unbekannten Frau namens Heike, einer blonden Schönheit mit asketischem Gesicht und dunkler Stimme. — Ein mehr oder weniger geschickter Schachzug von Anne, ihn zu verkuppeln, wie sich schnell herausstellte. Heike lächelte süß, klimperte mit den Augen und versuchte immer wieder, ihn in ein intensives Gespräch über Nockenwellen und Einspritzpumpen zu verwickeln — sie arbeitete als technische Zeichnerin bei Ford. Nockenwellen und Einspritzpumpen waren allerdings so ziemlich das Letzte, was Chris interessierte. Er hörte nicht zu, starrte gelangweilt auf Annes Mineraliensammlung in der kleinen Vitrine am Fenster und ärgerte sich zunehmend. Dass Hans so ganz freiwillig nur ihn und diese Heike eingeladen hatte, war ziemlich unwahrscheinlich. Schließlich war es sein Geburtstag, und dazu gehörten seine Freunde, nicht die von Anne.

Aber Hans tat sowieso alles, was Anne verlangte, ohne zu fragen, ohne sich Gedanken zu machen. Er war glücklich, wenn Anne glücklich war. — Und das war sie an diesem Abend. Sie saß wie eine Glucke zwischen ihrem aktuellen und ihrem abgelegten Geliebten und heuchelte Interesse an modernen Dieselmotoren!

Aber irgendwann schien selbst sie genug zu haben, und bei Filetspitzen in Burgundersoße wechselte sie ziemlich abrupt das Thema. Sie ließ sich von Chris genau schildern, was er unternommen hatte, wie er auf Karin gestoßen war, was Susanne über die Obduktion gesagt hatte. Einfach alles. Als er Tinni erwähnte, wurde ihre Miene streng. Sie hatte einfach nie verstehen können, was ihn und die „Venus von Kilo“ miteinander verband. „Solche Leute sind kein Umgang für dich“, hatte sie mal gesagt. „Wenn du dich mit so halbseidenen Typen umgibst, wirst du es nie zu was bringen.“ Ob Chris es überhaupt „zu was bringen“ wollte, beziehungsweise ob er darunter Geld und Karriere verstand, hatte sie leider nie hinterfragt.

Sie waren schon beim Dessert, einem Vanillepudding mit Himbeersoße, als Chris seinen Rapport endlich abschloss.

„Diese Karin scheint dich ja mächtig beeindruckt zu haben“, stellte Anne wie beiläufig fest und kratzte mit dem Löffel auf dem Boden ihrer Puddingschale herum.

„So ein Quatsch!“, giftete Chris.

„Na, zumindest ist es die erste Frau seit langem, die du dir genauer angeschaut hast.“

„So war das doch nicht gemeint“, gab er verärgert zurück. „Sie ist absolut nicht mein Typ!“

Anne sagte nichts mehr dazu, sondern lud sich noch eine Portion Pudding auf.