Eine unsägliche Type

 

I

 

Als Fifi ihre Tanten auf Long Island das erste Mal besuchte, war sie erst zehn Jahre alt, aber nach ihrer Rückkehr nach New York meinte der Mann, der sich dort um Haus und Garten kümmerte, die Sanddünen würden nie mehr so sein wie früher, denn sie habe sie ruiniert. Nachdem sie abgereist war, wirkte alles am Montauk Point traurig, sinnlos, heruntergekommen und alt. Sogar die Möwen drehten ihre Kreise mit merklich weniger Enthusiasmus, als vermissten sie das braungebrannte, zähe kleine Mädchen mit den großen Augen, das immer barfuß im Sand gespielt hatte.

Die Jahre bleichten Fifis Sonnenbräune und verwandelten sie in einen blassrosa Teint, aber noch immer brachte sie es fertig, viele Plätze und viele Pläne für viele hoffnungsvolle Männer zu ruinieren. Deshalb war man allgemein eher erfreut, als endlich in den besten Zeitungen zu lesen war, dass sie ihr Augenmerk nun ganz auf einen Gentleman namens Van Tyne richtete, womit all die Traurigkeit und Sehnsucht, die ihr stets auf dem Fuß folgten, in die Verantwortung eines einzigen, selbstaufopfernden Individuums übergehen sollten; nicht unbedingt zum Besten des besagten Individuums zwar, aber entschieden zum Besten von Fifis kleiner Welt.

Die Verlobung wurde weder auf der Sportseite angezeigt, noch etwa in der Rubrik mit den Kleinanzeigen, denn Fifis Familie gehörte der Gesellschaft zur Erhaltung Großer Vermögen an; und unter Mr. Van Tynes Vorfahren befand sich zufälligerweise der Mann, der diese Gesellschaft damals vor dem Sezessionskrieg gegründet hatte. Jene Anzeige erschien also auf der Seite, die großen Namen vorbehalten bleibt, illustriert mit dem Bild einer schielenden jungen Dame an der Hand eines abstoßenden Herrn mit doppeltem Gebiss. So jedenfalls kamen ihre Bilder heraus; die Öffentlichkeit freute sich über die Entdeckung, dass die beiden trotz ihres vielen Geldes so scheußliche Monster waren, und man war allerorten rundum zufrieden. Der Redakteur der Gesellschaftsseite verfasste einen Artikel, in dem er mitteilte, Mrs. Van Tyne habe auf der Überfahrt mit der Aquitania ein Reisekostüm aus blauem Loden getragen, dazu einen passenden steifen runden Hut, womit Fifi, soweit sich zwischenmenschliche Ereignisse prophezeien ließen, so gut wie verheiratet war – oder, wie nicht wenige junge Männer meinten, so schlecht wie verheiratet.

»Eine außergewöhnlich brillante Partie«, bemerkte Tante Cal am Vorabend der Hochzeit, als sie in ihrem Haus am Montauk Point die entsprechende Meldung für ihre Cousinen in Schottland ausschnitt. Und dann fügte sie abwesend hinzu: »Damit ist alles vergeben und vergessen.«

»Aber Cal!«, rief Tante Josephine. »Was meinst du mit: Alles ist vergeben und vergessen? Fifi hat dir doch nie etwas getan.«

»In den ganzen letzten neun Jahren hat sie es nicht einmal für nötig gehalten, uns hier am Montauk Point zu besuchen, obwohl wir sie immer wieder eingeladen haben.«

»Aber ich finde, man kann ihr daraus keinen Vorwurf machen«, sagte Tante Josephine, die selbst erst einunddreißig war. »Was soll so ein junges hübsches Mädchen hier schon anfangen mit all dem Sand?«

»Wir mögen den Sand, Jo.«

»Aber wir sind alte Jungfern, Cal, und haben keine Laster außer Zigarettenrauchen und zu zweit Mah-Jongg spielen. Fifi dagegen, wo sie doch noch so jung ist, liebt natürlich aufregende, lasterhafte Dinge – halbe Nächte durchmachen, um Geld würfeln, eben die Art Zeitvertreib, die wir nur aus diesen Büchern kennen.« Sie machte eine vieldeutige Handbewegung. »Ich mache ihr keinen Vorwurf, dass sie nicht hierherkommt. Wenn ich sie wäre –«

Welche abartigen Ambitionen in Tante Jos Kopf auf ihre Chance lauerten, blieb unenthüllt, denn der Satz wurde nie zu Ende gesprochen. Die Vordertür des Hauses öffnete sich mit einem plötzlichen Ruck, und eine junge Dame, deren Kleid die unverwechselbare Aura ›Paris‹ umgab, betrat das Zimmer.

»Guten Abend, meine Damen.« Sie lächelte strahlend von der einen zur anderen. »Ich bin für unbestimmte Zeit hergekommen, um im Sand zu spielen.«

»Fifi!«

»Fifi!«

»Meine Tanten!«

»Aber liebes Kind«, rief Tante Jo, »ich dachte, heute wäre dein Polterabend.«

»Das stimmt ja auch«, gab Fifi fröhlich zu. »Aber ich bin nicht hingegangen. Ich gehe auch nicht zur Hochzeit. Ich habe sie heute mit tiefstem Bedauern abgesagt.«

Es war alles ziemlich verworren, aber soweit ihre Tanten ihr folgen konnten, schien der junge Van Tyne allzu perfekt zu sein – was immer das bedeuten sollte. Nachdem sie sich ausgiebig hatte bitten lassen, erklärte Fifi schließlich, er erinnere sie an eine Reklame für ein neues Auto.

»Ein neues Auto?« Tante Cal riss die Augen auf. »Was für ein neues Auto?«

»Irgendeines.«

»Willst du damit sagen…« Tante Cal wurde rot. »Ich kenne mich nicht mit diesen modernen Begriffen aus, aber gibt’s beim Auto nicht etwas, was… was ›Chassis‹ heißt?«

»Oh, körperlich mag ich ihn schon«, bemerkte Fifi kühl. Ihre Tanten zuckten unisono zusammen. »Er war eben einfach… oh, einfach zu vollkommen, zu neu; als wenn man in der Fabrik die längste Zeit an ihm herumgefeilt und ihm dann auch noch extra Vorhänge verpasst hätte…«

Tante Jo hatte Visionen von einem Salonlöwen in schwarzem Leder.

»…und Ballonreifen und eine Dauerrasur. Er war einfach zu zivilisiert für mich, Tante Cal.« Sie seufzte. »Ich bin wohl doch weniger kultiviert, als ich gedacht habe.«

Dabei saß sie da, makellos, graziös, das Bild einer jungen Lady, fertig zum Rahmen und An-die-Wand-Hängen. Ihre Tanten bemerkten jedoch die hysterische Nervosität unter Fifis oberflächlicher Fröhlichkeit und gaben ihren Verdacht nicht auf, hinter der ganzen Sache stecke noch etwas Bestimmteres, Schändlicheres.

»Aber nein«, beharrte Fifi. »Unsere Verlobung wurde vor drei Monaten bekanntgegeben, und seither hat noch keine einzige Revuetänzerin George wegen gebrochenem Heiratsversprechen verklagt. Nicht eine! Er vermeidet jeden Kontakt mit Alkohol, außer in Form von Haarwasser. Meine Güte, wir haben uns bis heute noch nicht einmal gestritten!«

»Du hast einen schweren Fehler gemacht«, sagte Tante Cal.

Fifi nickte.

»Ich fürchte, ich habe das Herz des nettesten Mannes gebrochen, dem ich je in meinem Leben begegnet bin, aber es hilft alles nichts. Makellos! Himmel, was nützt es schon, makellos zu sein, wenn man, ganz egal, wie sehr man sich anstrengt, nicht mal halb so makellos sein kann wie der eigene Ehemann? Und taktvoll! George würde es fertigbringen, Trotzki mit Rockefeller bekannt zu machen, ohne dass sich die beiden dabei in die Haare kriegen würden. Aber ab einem bestimmten Punkt bestimme ich den Takt in meiner Familie, und das hab ich ihm auch gesagt. Ich habe noch nie einen Mann praktisch an der Kirchentür stehenlassen, also werde ich hierbleiben, bis alle genügend Gelegenheit hatten, die ganze Sache zu vergessen.«

Und sie blieb tatsächlich – was ihre Tanten nicht wenig überraschte, denn sie hatten erwartet, sie werde gleich am nächsten Morgen zerknirscht Hals über Kopf nach New York zurückstürmen. Sie erschien sehr ruhig, frisch und beherrscht zum Frühstück, als ob sie die ganze Nacht durchgeschlafen hätte, verbrachte dann den Tag nahe den sonnigen Dünen unter einem roten Sonnenschirm liegend und betrachtete den Atlantik, der von Osten heranrollte. Ihre Tanten fingen die Abendzeitung ab und verbrannten sie ungelesen im Kamin, der festen Meinung, Fifis Flucht müsste in roten Schlagzeilen die Titelseite zieren. Sie akzeptierten Fifis Anwesenheit als unabänderliche Tatsache, und außer dass Tante Jo beim Mah-Jongg zu empfindlichen Konzentrationsschwächen neigte, wenn sie über den zu perfekten Mann nachgrübelte, verlief ihr Leben eigentlich fast im üblichen Rahmen. Aber eben doch nur fast.

»Was ist denn mit dieser Nichte von Ihnen los?«, erkundigte sich der Gärtner finster bei Tante Josephine. »Warum kommt ein so hübsches junges Mädchen hierher und vergräbt sich?«

»Meine Nichte ruht sich aus«, erklärte Tante Josephine steif.

»Die Dünen, die sind aber gar nicht gut für Leute, die Erholung brauchen«, wandte der Gärtner ein und massierte sich mit den Fingern den Schädel. »Die haben so was Monotones. Gestern, da hat sie ihren Sonnenschirm genommen und wollte eine damit kaputthauen, so ist sie ihr auf die Nerven gegangen. Eines Tages merkt sie, wie viele es überhaupt davon gibt, und dann dreht sie bestimmt durch.« Er schniefte. »Und dann haben wir was Schönes am Hals.«

»Das genügt, Percy«, unterbrach ihn Tante Jo scharf. »Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Ich möchte, dass zehn Pfund Muschelscherben in den Gartenweg eingewalzt werden.«

»Und was soll ich jetzt mit dem Sonnenschirm machen?«, verlangte Percy zu wissen. »Ich hab die Reste aufgehoben.«

»Es ist nicht mein Sonnenschirm«, antwortete Tante Jo sarkastisch. »Von mir aus kannst du die Reste ebenfalls in den Gartenweg walzen.«

Und so verstrich der Juni von Fifis annullierten Flitterwochen; Morgen für Morgen hinterließen ihre Gummischuhe nasse Abdrücke an irgendeinem verlassenen Strand im Nirgendwo. Eine Zeitlang schien die Abgeschiedenheit ihr gutzutun, und die frische Meeresluft blies ein gesundes Rot auf ihre Wangen, doch nach einer Woche stellten ihre Tanten fest, dass sie auffallend ruhelos und sogar noch deprimierter war als bei ihrer Ankunft.

»Ich fürchte, du wirst langsam schwermütig hier, mein Liebes«, sagte Tante Cal an einem besonders rauhen, stürmischen Nachmittag. »Wir haben dich furchtbar gerne bei uns, aber wir machen uns Sorgen, weil du so traurig dreinschaust. Warum fragst du nicht deine Mutter, ob sie dich den Sommer über mit nach Europa nimmt?«

»Europa ist viel zu geschniegelt«, wandte Fifi müde ein. »Mir gefällt es hier, wo alles primitiv, schroff und ungeschliffen ist, wie am Ende der Welt. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gern noch länger bleiben.«

Sie blieb länger und schien mit jedem Tag, der unter dem heiseren Geschrei der Möwen und dem tosenden Tumult der Brandung zerrann, melancholischer zu werden. Dann, eines Nachmittags, kehrte sie in der Abenddämmerung vom längsten ihrer langen Spaziergänge mit einem extrem abgerissen aussehenden Exemplar des männlichen Geschlechts zurück. Ein Blick auf ihn genügte, um ihre Tanten zu überzeugen, die Prophezeiung des Gärtners habe sich bewahrheitet und Fifi sei vor Einsamkeit verrückt geworden.

II

 

Ein ausgesprochen verwahrlostes Wrack von einem Mann stand da an diesem Sommerabend in der Tür und blinzelte Tante Cal in die Augen; er machte den Eindruck eines Strandguträubers, den es durch Zufall aus einem Film über die Südsee nach Long Island verschlagen hatte. In seinen Händen hielt er einen knorrigen Knüppel von brutalen, verräterischen Dimensionen, ein wirklich mörderisch aussehendes Stück Holz, dessen Anblick Tante Cal ein wenig ins Zimmer zurückschrecken ließ.

Fifi schloss die Tür hinter ihnen und wandte sich ihren Tanten zu, als sei das Ganze die normalste Angelegenheit der Welt.

»Das ist Mr. Hopkins«, gab sie bekannt, drehte sich dann aber nach Bestätigung suchend zu ihrem Begleiter um. »Oder war es Hopwood?«

»Hopkins«, antwortete der Mann heiser. »Hopkins.«

Fifi nickte vergnügt.

»Ich habe Mr. Hopkins zum Abendessen eingeladen«, sagte sie.

Das Leben an der stolzen See hatte Tante Cal und Tante Josephine eine Art Würde verliehen, die es ihnen nicht gestattete, sich Überraschung anmerken zu lassen. Jetzt war dieser Mann ein Gast ihres Hauses, das genügte. Doch in ihrem Innern herrschte Aufruhr und Verwirrung. Sie wären nicht überraschter gewesen, wenn Fifi ein mehrköpfiges Meeresungeheuer mit nach Hause gebracht hätte.

»Wollen Sie… möchten Sie sich nicht setzen, Mr. Hopkins?«, fragte Tante Cal nervös.

Mr. Hopkins schaute sie einen Moment lang ausdruckslos an, dann produzierte er hinten in seinem Mund ein lautes, schnalzendes Geräusch. Er machte einen Schritt auf einen Stuhl zu und sank auf dessen vergoldete Zerbrechlichkeit hinab, als habe er die Absicht, ihn augenblicklich zu zertrümmern. Tante Cal und Tante Josephine ließen sich etwas erschöpft aufs Sofa fallen.

»Mr. Hopkins und ich haben uns am Strand kennengelernt«, erklärte Fifi. »Er verbringt den Sommer hier, um sich zu erholen.«

Mr. Hopkins heftete seine Augen glasig auf die zwei Tanten.

»Ich bin hier, um mich zu erholen«, sagte er.

Tante Cal gab ein kaum hörbares Geräusch von sich, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt und nickte gemeinsam mit Tante Jo dem Besucher eifrig zu, als ob er ihr tiefstes Mitgefühl erntete.

»Jahaa«, wiederholte er munter.

»Er dachte, die Meeresluft würde ihm guttun und ihn wieder zu Kräften kommen lassen«, fuhr Fifi lebhaft fort. »Das ist es doch, warum Sie hier sind, nicht wahr, Mr. Hopkins?«

»Sie sagen es, Schwester«, stimmte Mr. Hopkins nickend zu.

»Siehst du, Tante Cal«, lächelte Fifi, »also sind Tante Jo und du nicht die Einzigen, die an die medizinischen Qualitäten dieser Gegend glauben.«

»Nein«, stimmte Tante Cal schwach zu. »Jetzt sind… jetzt sind wir schon drei.«

Es wurde gemeldet, das Abendessen sei serviert.

»Möchten Sie… wollen Sie«, Tante Cal nahm allen Mut zusammen und sah Mr. Hopkins in die Augen, »wollen Sie sich vor dem Essen noch die Hände waschen?«

»Ach, nicht der Rede wert.« Mr. Hopkins wedelte nachlässig mit seinen Fingern vor ihrem Gesicht herum.

Man ging zu Tisch, und nach einigem verstohlenen Schieben und Stoßen (die beiden Tanten versuchten, sich Mr. Hopkins so weit wie möglich vom Leibe zu halten) nahm man Platz.

»Mr. Hopkins lebt im Wald«, sagte Fifi. »Er hat ein kleines Haus ganz für sich allein, da kocht er sich Woche für Woche seine eigenen Mahlzeiten und wäscht seine Wäsche.«

»Wie faszinierend!« Tante Jos Augen suchten ihren Gast sorgfältig nach irgendwelchen Merkmalen des gelehrten Eremiten ab. »Leben Sie schon länger hier in der Nähe?«

»Nein, noch nicht lange«, antwortete er mit einem verschlagenen Seitenblick. »Aber ich halt’s hier gut aus, verstehn Sie? Kann sein, ich bleib hier, bis ich verfaule.«

»Sind Sie… leben Sie weit weg von hier?« Tante Cal fragte sich, was sie wohl bei einem Eilverkauf für das Haus bekommen würde und ob sie und ihre Schwester es überhaupt ertragen könnten, von Montauk Point wegzuziehen.

»Nur eine Meile von hier… Ein hübsches Mädel haben Sie da«, fügte er hinzu und zeigte mit dem Löffel auf ihre Nichte.

»Wie?… Ja.« Die beiden Damen blickten beklommen zu Fifi hinüber.

»Irgendwann hol ich sie mir und brenne mit ihr durch«, erklärte er in angenehmem Konversationston.

Mit heroischem Einsatz lenkte Tante Cal das Gespräch von ihrer Nichte auf ein anderes Thema. Man sprach über Mr. Hopkins’ Waldhütte. Mr. Hopkins gefiel es dort ganz gut, gestand er, sähe man über die Präsenz von mikroskopisch kleinem tierischem Leben hinweg, einen minimen Nachteil dieser ansonsten exzellenten Wohnstatt.

Nach dem Abendessen gingen Fifi und Mr. Hopkins auf die Veranda hinaus, während ihre Tanten Seite an Seite auf dem Sofa Zeitschriften durchblätterten und sich von Zeit zu Zeit waidwunde Blicke zuwarfen. Dass ein Wilder noch vor wenigen Minuten an ihrem Tisch gesessen hatte, dass er sich jetzt allein mit ihrer Nichte auf der dunklen Veranda befand – ein so entsetzliches Erlebnis war in ihrem sittsamen, zurückgezogenen Leben niemals vorgesehen gewesen.

Tante Cal beschloss, sie werde Fifi ungeachtet der Konsequenzen um neun hereinrufen, eine Notmaßnahme, die ihr allerdings erspart blieb, denn nach einer halben Stunde kam die junge Dame gelassen hereinspaziert und verkündete, Mr. Hopkins sei nach Hause gegangen. Sie sahen sie an, sprachlos.

»Fifi!«, stöhnte Tante Cal. »Mein armes Kind! Kummer und Einsamkeit haben deinen Geist verwirrt!«

»Wir verstehen ja, mein Liebes«, sagte Tante Jo und betupfte ihre Augen mit dem Taschentuch. »Es war unser Fehler, dich so lange bleiben zu lassen. Ein paar Wochen in einem dieser Erholungsheime oder vielleicht sogar ein gutes Varieté, das wird –«

»Wovon sprecht ihr überhaupt?« Fifi sah überrascht von der einen zur anderen. »Wollt ihr damit sagen, ihr habt etwas dagegen einzuwenden, dass ich Mr. Hopkins mitgebracht habe?«

Tante Cal lief puterrot an, und ihre Lippen pressten sich fest aufeinander.

»›Einzuwenden‹ ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Du triffst irgendeinen grässlichen, brutalen Herumtreiber am Strand –«

Sie brach ab und stieß einen spitzen Schrei aus. Die Tür war plötzlich aufgeschwungen, und ein behaartes Gesicht äugte ins Zimmer herein.

»Ich hab meinen Stock vergessen.«

Mr. Hopkins entdeckte die unappetitliche Waffe angelehnt in einer Ecke, worauf er sich auf die gleiche formlose Weise zurückzog, auf die er auch erschienen war, die Tür hinter sich zuknallend. Fifis Tante blieb reglos sitzen, bis seine Schritte die Veranda verlassen hatten. Dann eilte Tante Cal zur Tür und schob den Riegel vor.

»Ich nehme an, er wird kaum versuchen, uns heute Nacht zu berauben«, sagte sie grimmig, »weil er wissen muss, dass wir vorbereitet sind. Aber ich werde Percy warnen und ihm sagen, er soll in der Nacht ein paar Runden durch den Garten machen.«

»Euch berauben?«, rief Fifi ungläubig.

»Reg dich nicht auf, Fifi«, befahl Tante Cal. »Setz dich still in den Sessel da; ich rufe deine Mutter an.«

»Ich möchte aber nicht, dass du meine Mutter anrufst.«

»Setz dich ruhig hin, schließ die Augen und versuch… versuch, Schäfchen zu zählen.«

»Darf ich denn einen Mann nur ansehen, wenn er einen Cut trägt?«, protestierte Fifi mit blitzenden Augen. »Ist das hier finsterstes Mittelalter oder das Jahrhundert der… der Aufklärung? Mr. Hopkins ist eine der interessantesten Typen, die ich je in meinem Leben kennengelernt habe.«

»Mr. Hopkins ist ein Wilder!«, sagte Tante Cal knapp.

»Mr. Hopkins ist eine ganz famose Type.«

»Eine ganz famose was?«

»Eine ganz famose Type.«

»Mr. Hopkins ist eine… eine… eine unsägliche Type«, verkündete Tante Cal in Übernahme von Fifis Ausdrucksweise.

»Nur weil er ganz natürlich ist«, rief Fifi ungehalten. »Na gut, ist mir auch egal; für mich ist er jedenfalls gut genug.«

Die Situation schien sogar noch schlimmer zu sein, als sie dachten. Es handelte sich keineswegs nur um eine momentane geistige Verwirrung: Offensichtlich interessierte sich Fifi für diesen abscheulichen Menschen, weil er das genaue Gegenteil ihres verflossenen Verlobten darstellte. Sie hatte ihn, wie sie beichtete, schon vor einigen Tagen kennengelernt, und sie beabsichtigte auch, ihn am folgenden Tag wiederzusehen. Man habe sich zum Spazierengehen verabredet.

Das Schlimmste aber war, dass Tante Cal, nachdem Fifi mit Verachtung im Blick zu Bett gegangen war, ihre Mutter anrief – und entdecken musste, dass sie ihre Mutter gar nicht erreichen konnte; Fifis Mutter war nach White Sulphur Springs gereist und würde vor Ablauf einer Woche nicht zurück sein. Damit fiel die Verantwortung für die Angelegenheit endgültig Tante Cal und Tante Jo zu, eine Angelegenheit, die am nächsten Nachmittag zur Teestunde auf die Spitze getrieben wurde, als Percy aufgebracht durch die Küchentür auf sie zustürzte. »Miss Marsden«, stieß er mit schockierter, tief verletzter Stimme hervor, »ich kündige!«

»Aber Percy!«

»Es geht nicht anders. Ich habe über fünfundvierzig Jahre meines Lebens hier am Point verbracht, aber so was wie eben ist mir noch nicht unter die Augen gekommen.«

»Was ist denn passiert?«, riefen die zwei Damen und sprangen von wilder Panik gepackt auf.

»Gehen Sie ans Fenster und sehn Sie’s sich selber an. Miss Fifi steht da unten am Strand und küsst am helllichten Tage einen Gammler!«

III

 

Fünf Minuten später stapften zwei unverheiratete Damen durch den Sand auf ein Paar zu, das dicht beieinander am Ufer stand, deutlich abgehoben vom hellen Nachmittagshimmel. Als sie näher kamen, unterbrachen Fifi und Mr. Hopkins ihre intensive gegenseitige Betrachtung und lösten sich zögernd voneinander. Tante Cal begann schon aus dreißig Meter Entfernung zu sprechen.

»Geh ins Haus, Fifi!«, rief sie.

Fifi sah Mr. Hopkins an, der beruhigend ihre Hand berührte und ihr zunickte. Wie unter dem Einfluss eines Zaubers wandte sich Fifi von ihm ab, um mit gesenktem Kopf, aber vollendeter Grazie aufs Haus zuzugehen.

»Nun, guter Mann«, Tante Cal kreuzte die Arme, »was haben Sie eigentlich für Absichten?«

Mr. Hopkins erwiderte ihren durchdringenden Blick herausfordernd. Dann gab er ein tiefes, heiseres Lachen von sich.

»Was geht Sie das an?«, wollte er wissen.

»Sehr viel. Miss Marsden ist unsere Nichte, und Ihre Aufmerksamkeiten sind unerwünscht – um nicht zu sagen widerwärtig.«

Mr. Hopkins drehte sich halb weg.

»Ouh, quatschen Sie sich ruhig aus!«, riet er ihr.

Tante Cal versuchte, die Sache von einer anderen Seite anzupacken.

»Und was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass Miss Marsden geistig zerrüttet ist?«

»Was ist denn das?«

»Sie… sie ist ein bisschen verrückt.«

Er lächelte geringschätzig.

»Und wieso ist sie verrückt? Weil sie mich mag?«

»Das beweist es höchstens«, antwortete Tante Cal mutig. »Sie hat eine unglückliche Liebesgeschichte hinter sich, und davon ist ihr Verstand angegriffen. Schauen Sie!« Sie öffnete das Täschchen, das an ihrer Hüfte baumelte. »Wenn ich Ihnen fünfzig… hundert Dollar gebe, hier, jetzt und in bar, versprechen Sie dann, dass Sie mindestens zehn Meilen strandaufwärts ziehen?«

»Ah-h-h-h!«, zischte er so gehässig, dass sich die beiden Damen schwankend aneinander festhielten.

»Zweihundert!«, rief Tante Cal mit stockender Stimme.

Er wedelte mit dem Finger in ihre Richtung.

»Sie können mich nicht kaufen!«, knurrte er. »Ich bin so viel wert wie jeder andere auch. Jeden Tag heiratet irgendein Chauffeur oder so was Ähnliches eine Millionärstochter. Das hier ist Amerika, ein freies Land, kapiert?«

»Sie wollen sie also nicht aufgeben?« Tante Cal schluckte schwer bei ihren eigenen Worten. »Sie hören also nicht auf, sie zu belästigen, und Sie gehen nicht?«

Plötzlich bückte er sich und schaufelte zwei dicke Handvoll Sand auf, die er in einem hohen Bogen in die Luft warf, worauf der Sand auf die entsetzten Damen herunterrieselte und sie für kurze Zeit in einen dichten Nebel hüllte. Dann lachte er noch einmal sein heiseres, flegelhaftes Lachen, drehte sich um und verschwand im lockeren Laufschritt den Strand hinunter.

Benommen wischten sich die beiden Frauen den verbliebenen Sand von den Schultern und stelzten zum Haus zurück.

»Ich bin jünger als du«, sagte Tante Jo mit fester Stimme, als sie das Wohnzimmer erreicht hatten. »Ich will jetzt mal ausprobieren, was ich tun kann.«

Sie ging zum Telefon und wählte eine New Yorker Nummer.

»Die Praxis von Doktor Roswell Gallup? Ist Doktor Gallup zu sprechen?« Tante Cal nahm auf dem Sofa Platz und starrte tragisch zur Decke empor. »Doktor Gallup? Hier spricht Josephine Marsden, Montauk Point… Doktor Gallup, wir haben ein äußerst heikles Problem hier im Zusammenhang mit meiner Nichte. Sie hat sich da mit jemandem eingelassen, einer… einer… einer unsäglichen Type.« Sie keuchte bei dem Wort, sprach dann aber weiter, um mit wenigen Worten zu erläutern, was so unheimlich an der Situation war.

»Und ich dachte, vielleicht kann eine Psychoanalyse klären, womit meine Schwester und ich nicht fertig werden.«

Doktor Gallup zeigte sich interessiert. Es schien sich genau um seine Spezialität zu handeln.

»In einer halben Stunde fährt ein Zug, mit dem Sie um neun Uhr hier sein könnten«, sagte Tante Jo. »Sie können bei uns zu Abend essen und hier übernachten.«

Sie hängte den Hörer ein.

»So! Außer unserem Wechsel von Bridge auf Mah-Jongg dürfte das hier der erste wirklich moderne Schritt sein, den wir je in unserem Leben gemacht haben.«

Die Stunden vergingen schleppend. Um sieben kam Fifi zum Abendessen herunter, so gelassen, als ob nicht das Geringste geschehen wäre; ihre Tanten unterstützten sie tapfer in ihrer ruhigen Haltung, fest entschlossen, bis zur Ankunft des Doktors nichts von ihrem Plan zu erwähnen. Nach dem Essen schlug Tante Jo eine Runde Mah-Jongg vor, aber Fifi erklärte, sie wolle lieber lesen, und machte es sich mit einem Band des Lexikons auf dem Sofa bequem. Mit einem Blick über ihre Schulter stellte Tante Cal alarmiert fest, dass sie sich den Abschnitt über den australischen Busch vorgenommen hatte.

Im Zimmer herrschte absolute Stille. Mehrere Male hob Fifi den Kopf, als lauschte sie; einmal stand sie auf, ging zur Tür und starrte lange in die Nacht hinaus. Ihre Tanten warteten angespannt in ihren Sesseln, bereit, beim ersten Anzeichen von Flucht sofort hinter ihr herzustürmen, doch nach einer Weile schloss sie mit einem Seufzer die Tür und kehrte zum Sofa zurück. Erleichtert hörten sie kurz nach neun das Geräusch von Autoreifen auf dem Muschelweg, das ihnen anzeigte, dass Doktor Gallup endlich eingetroffen war.

Er war ein kleiner, dicklicher Mann mit flinken schwarzen Augen und nervösem Gehabe. Er trat ein, schaute ungeduldig um sich, und als seine Augen Fifi erfassten, leuchteten sie auf wie die eines hungrigen Mannes, der ein mögliches Nahrungsmittel erspäht. Fifi erwiderte seinen Blick neugierig, offensichtlich nicht ahnend, dass sein Kommen etwas mit ihr zu tun hatte.

»Ist das die Dame?«, rief er, indem er ihre Tanten mit einem flüchtigen Händedruck abfertigte und sich Fifi in lebhaft hopsendem Gang näherte.

»Dieser Herr hier ist Doktor Gallup, Liebes«, strahlte Tante Jo zuversichtlich. »Er ist ein alter Bekannter von mir, der dir helfen wird.«

»Natürlich werde ich das!«, beteuerte Doktor Gallup, der Herzlichkeit ausstrahlend um sie herumhüpfte. »Ich werde Sie wieder tipptopp hinkriegen.«

»Er weiß alles über die menschliche Seele«, sagte Tante Jo.

»Nicht alles«, gab Doktor Gallup bescheiden lächelnd zu. »Aber wir bringen die gewöhnlichen Ärzte schon manchmal zum Staunen.« Er wandte sich schelmisch an Fifi. »Jawoll, junges Fräulein, wir bringen die gewöhnlichen Ärzte schon manchmal zum Staunen.«

Entschlossen klatschte er in die Hände, zog sich einen Sessel heran und setzte sich Fifi direkt gegenüber.

»Kommen Sie«, forderte er sie auf, »wollen doch gleich mal sehn, was uns fehlen könnte. Wir beginnen damit, dass Sie mir die ganze Geschichte in Ihren eigenen Worten erzählen. Fangen Sie an.«

»Die Geschichte«, bemerkte Fifi unterdrückt gähnend, »geht Sie zufälligerweise gar nichts an.«

»Geht mich nichts an!«, stieß er ungläubig hervor. »Aber mein liebes Kind, ich versuche Ihnen zu helfen! Nun kommen Sie, erzählen Sie mal dem alten Doktor Gallup schön brav die ganze Geschichte.«

»Das können meine Tanten wohl besser«, sagte Fifi kalt. »Sie scheinen ja mehr darüber zu wissen als ich.«

Doktor Gallup legte die Stirn in Falten.

»Sie haben mir die Situation in groben Zügen geschildert, ja. Vielleicht fange ich besser damit an, dass ich Ihnen einige Fragen stelle.«

»Du wirst doch dem Doktor antworten, nicht wahr, Liebstes?«, redete Tante Jo ihr zu. »Doktor Gallup ist einer der modernsten Ärzte in ganz New York.«

»Ich bin ein altmodisches Mädchen«, wandte Fifi boshaft ein. »Und ich finde es unmoralisch, seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Aber fragen Sie ruhig, ich werd sehen, was ich Ihnen so alles an originellen Antworten bieten kann.«

Doktor Gallup überhörte die unnötige Frechheit dieser Bemerkung und rang sich ein professionelles Lächeln ab.

»Nun, Miss Marsden, soweit ich weiß, sind Sie vor einem Monat hierhergekommen, um sich auszuruhen.«

»Nein, ich bin hergekommen, um mein Gesicht zu verstecken.«

»Sie haben sich geschämt, weil Sie Ihre Verlobung aufgelöst haben?«

»Schrecklich. Wenn Sie einen Mann am Altar stehenlassen, brandmarken Sie ihn doch für den Rest seines Lebens.«

»Warum?«, fragte er scharf.

»Warum nicht?«

»Hier stellen nicht Sie die Fragen, sondern ich… Na ja, lassen wir das. Also, als Sie dann hier waren, wie haben Sie sich da die Zeit vertrieben?«

»Meistens bin ich spazieren gegangen – am Strand.«

»Und auf einem dieser Spaziergänge haben Sie die… ähm… Person getroffen, von der mir Ihre Tante am Telefon erzählt hat?«

Fifis Gesicht nahm eine leichte Rosafärbung an.

»Ja.«

»Was tat er denn, als Sie ihn das erste Mal sahen?«

»Er saß auf einem Baum und hat mich angeschaut.«

Das löste einen gemeinsamen Kommentar ihrer Tanten aus, in dem das Wort Affe vorkam.

»Fanden Sie ihn sofort attraktiv?«, wollte Doktor Gallup wissen.

»Nein, nicht besonders. Zuerst habe ich nur gelacht.«

»Ich verstehe. Nun, soviel ich weiß, war dieser Mann sehr… ähm… sehr originell gekleidet?«

»Ja«, bestätigte Fifi.

»Er war unrasiert?«

»Ja.«

»Ah!« Doktor Gallup schien von einer Art Krampf geschüttelt zu werden, wie ein Medium, das aus seiner Trance erwacht. »Miss Fifi«, schrie er triumphierend, »haben Sie je Der Scheich gelesen?«

»Noch nie gehört.«

»Haben Sie sonst irgendein Buch gelesen, in dem ein Mädchen von einem romantischen, wild verwegenen Naturmenschen verführt wird?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Was war denn Ihr Lieblingsbuch, als Sie klein waren?«

»Der kleine Lord.«

Doktor Gallup war merklich enttäuscht. Er beschloss, den Fall unter einer neuen Perspektive anzugehen.

»Miss Fifi, geben Sie zu, dass hinter dem Ganzen nicht mehr steckt als irgendeine Phantasterei in Ihrem Kopf?«

»Im Gegenteil«, antwortete Fifi zur allgemeinen Verblüffung, »es steckt eine ganze Menge mehr dahinter, als ihr alle ahnt. Er hat meine gesamte Einstellung zum Leben verändert.«

»Wie meinen Sie das?«

Sie schien nahe daran, eine Erklärung abzugeben, doch nach einer kurzen Denkpause verengten sich ihre schönen Augen störrisch, und sie blieb still.

»Miss Fifi«, Doktor Gallup hob seine Stimme scharf an, »die Tochter von C. T. J. Calhoun, dem Kekskönig, ist mit einem Taxifahrer durchgebrannt. Wissen Sie, was sie jetzt macht?«

»Nein.«

»Sie arbeitet in einer Wäscherei auf der East Side und versucht, ihr Kind gerade so durchzubringen.«

Er sah sie prüfend an; in ihrem Gesicht waren Anzeichen von Erregung zu erkennen.

»Estelle Holliday ging 1920 mit dem Assistenten ihres Vaters durch!«, schrie er. »Soll ich Ihnen sagen, was ich als Letztes von ihr gehört habe? Sie hat sich in ein Armenhospital geschleppt, am ganzen Körper grün und blau geschlagen, weil ihr betrunkener Mann sie um ein Haar totgeprügelt hätte!«

Fifi atmete heftig. Ihre Tanten beugten sich vor. Doktor Gallup sprang abrupt auf die Füße.

»Aber verglichen mit Ihnen sind die beiden ja noch auf Nummer sicher gegangen!«, brüllte er. »Die haben wenigstens keinen Exsträfling angehimmelt, an dessen Händen Blut klebt.«

Jetzt stand auch Fifi auf den Beinen, und ihre Augen sprühten Funken.

»Sehen Sie sich vor!«, schrie sie. »Gehen Sie nicht zu weit!«

»Das kann ich gar nicht!« Er griff in seine Tasche, zog eine zusammengefaltete Abendzeitung heraus und knallte sie auf den Tisch.

»Lesen Sie das, Miss Fifi!«, donnerte er. »Hier steht, wie vor drei Wochen vier Totschläger in eine Bank in West Crampton eindrangen. Hier steht, wie sie den Kassierer kaltblütig niedergeschossen haben und wie einer von ihnen, der Brutalste, der Skrupelloseste, der Unmenschlichste, fliehen konnte. Und hier steht auch, dass sich dieser menschliche Gorilla vermutlich in der Gegend um Montauk Point versteckt hält!«

Ein kurzer erstickter Laut – und Tante Jo und Tante Cal, die ihr Leben lang alles in vollkommener Harmonie getan hatten, fielen synchron in Ohnmacht. Im selben Augenblick klopfte jemand laut und heftig, wie mit einem schweren Knüppel, an die verriegelte Vordertür.

IV

 

»Wer da?«, rief Doktor Gallup und fuhr herum. »Antworten Sie – oder ich schieße!«

Seine Augen suchten den Raum eilig nach einer möglichen Waffe ab.

»Wer sind Sie?«, dröhnte eine Stimme von der Veranda her. »Öffnen Sie lieber, oder ich puste ein Loch durch die Tür.«

»Was sollen wir tun?« Doktor Gallup schwitzte ausgiebig.

Fifi, die damit beschäftigt gewesen war, ihre Tanten in gerechter Verteilung mit Wasser zu besprenkeln, drehte sich verächtlich lächelnd zu ihm um.

»Das ist nur Percy, der Gärtner. Er hält Sie wahrscheinlich für einen Einbrecher.«

Sie ging zur Tür und schob den Riegel zurück. Percy, in der Hand ein Gewehr, äugte vorsichtig ins Zimmer.

»Alles in Ordnung, Percy. Das ist nur so ein verrückter Spezialist aus New York.«

»Heute Abend ist alles ein bisschen verrückt«, verkündete Percy mit verängstigter Stimme. »Die ganze letzte Stunde lang hab ich andauernd das Geräusch von Rudern gehört.«

Die Augenlider von Tante Jo und Tante Cal flatterten simultan nach oben.

»Überall am Point ist Nebel«, fuhr Percy verstört fort, »und da sind Stimmen drin. Ich konnte keinen halben Meter weit sehen, aber ich könnte schwören, da warn Boote nah am Ufer, und ich hab ein Dutzend Leute miteinander reden und einander rufen hören, als wenn ein Haufen Gespenster ein Picknick veranstalten würde.«

»Was war das für ein Geräusch?«, schrie Tante Jo, die jetzt kerzengerade dasaß.

»Die Tür war verschlossen«, erklärte Percy, »darum hab ich mit meinem Gewehr angeklopft.«

»Nein, ich meine gerade eben!«

Sie lauschten. Durch die offene Tür drang ein tiefes, stöhnendes Geräusch, das aus dem dunklen Nebel kam, der Ufer und Meer gleichermaßen einhüllte.

»Wir gehen hinunter und sehen nach!«, rief Doktor Gallup, dessen erschüttertes Gleichgewicht sich wieder stabilisiert hatte. Als das klagende Geräusch erneut herüberwehte, wie der gequälte Todesschrei eines Meeresungeheuers, fügte er allerdings hinzu: »Ich glaube, heute Abend bräuchten Sie hier mehr als nur einen Psychoanalytiker. Gibt es noch eine Waffe im Haus?«

Tante Cal erhob sich und entnahm der Schublade ihres Sekretärs einen kleinen Revolver mit Perlmuttgriff.

»Sie können uns doch hier im Haus nicht allein lassen«, erklärte sie mit Nachdruck. »Wo immer Sie hingehen, wir bleiben bei Ihnen!«

Dicht beieinander gingen die vier – denn Fifi war plötzlich verschwunden – hinaus und die Verandastufen hinunter, wo sie einen Moment unschlüssig in den undurchdringlichen Dunst hineinstarrten, der in ihren Augen mehr Geheimnisse barg als jede Dunkelheit.

»Da draußen ist es«, flüsterte Percy, dem Meer zugewandt.

»Also vorwärts!«, murmelte Doktor Gallup angespannt. »Ich neige zu der Annahme, dass es sich hier um eine reine Nervensache handelt.«

Langsam und schweigend tasteten sie sich den Strand entlang, bis Percy plötzlich den Arm des Doktors packte.

»Hören Sie!«, zischte er.

Alle erstarrten. Aus der nahen Dunkelheit war eine düstere, verschwommene Gestalt aufgetaucht, die unnatürlich steif über den Sand schritt. Gegen ihren Körper gepresst trug sie ein langes, dunkles Tuch, das fast den Boden berührte. Sie wurde augenblicklich wieder vom Nebel verschluckt, gefolgt von einem zweiten Phantom mit der gleichen militärischen Haltung, an dessen Arm etwas Weißes, Unheimliches baumelte. Wenig später breitete sich keine zehn Meter weit von ihnen entfernt in der Richtung, in die die Gestalt verschwunden war, ein schwacher Lichtschein aus, dessen Quelle anscheinend hinter der größten der Dünen lag.

Aneinandergedrängt bewegten sie sich auf diese Düne zu, zögerten kurz und ließen sich dann, dem Beispiel Doktor Gallups folgend, auf ihre Knie nieder, um vorsichtig die strandwärts gerichtete Dünenseite hinaufzukriechen, dem stärker werdenden Lichtschein entgegen. Am höchsten Punkt angelangt, streckten sie gleichzeitig die Köpfe über den Dünenkamm. Ihnen bot sich folgender Anblick:

Im Licht von vier starken Taschenlampen in den Händen von vier Matrosen in makellosen weißen Uniformen, stand ein nur mit Shorts und Unterhemd bekleideter Herr im Sand und rasierte sich. Vor seine Augen hielt ein untadeliger Diener einen silbernen Spiegel, der die schaumbedeckte Ansicht seines Gesichts reflektierte. Rechts und links von ihm standen zwei weitere Bedienstete, einer mit der Jacke und der Hose eines Smokings über dem Arm, der andere mit einem weißen, gestärkten Oberhemd, dessen Manschettenknöpfe im Licht der elektrischen Lampen glitzerten. Es war kein Laut zu hören außer dem leisen Kratzen der Rasierklinge über das Gesicht ihres Benutzers und dem stöhnenden Geräusch, das in Abständen vom Meer herüberdrang.

Doch nicht der bizarre Charakter dieser Zeremonie mit ihrer dunstigen, irrealen Kulisse im flackernden Licht der Taschenlampen war es, der den beiden Frauen ein kurzes, unfreiwilliges Seufzen entlockte. Es war die Tatsache, dass das Gesicht im Spiegel, vielmehr seine unrasierte Hälfte, ihnen schrecklich bekannt vorkam. Binnen eines Augenblicks fiel ihnen ein, zu wem dieses halbe Gesicht gehörte – es war das Antlitz des verwilderten Verehrers ihrer Nichte, der seit kurzem halbnackt den Strand unsicher machte.

Gerade als sie hinunterschauten, wurde er mit der einen Seite seines Gesichtes fertig, worauf ein Diener vortrat, mit einer Schere den groben Bewuchs der anderen entfernte und damit das symmetrische Gesicht eines zwar etwas verhärmten, aber nicht unansehnlichen jungen Mannes vollständig freilegte. Er seifte die bärtige Seite ein, zog mit schnellen Bewegungen die Klinge darüber hinweg, massierte eine Flüssigkeit in die gesamte Hautfläche ein und überprüfte sodann sein Aussehen mit beträchtlicher Aufmerksamkeit im Spiegel. Der Anblick schien ihn zu befriedigen, denn er lächelte. Auf ein Wort hin überreichte ihm einer der Diener die Hose, mit der er darauf seine wohlproportionierten Beine verhüllte. Er ließ sich sein Hemd überstreifen, arrangierte den Kragen, band mit geübter Hand eine elegante, schwarze Schleife und schlüpfte in das bereitgehaltene Smokingjackett. Nach dieser Verwandlung, die vor ihren eigenen Augen stattgefunden hatte, staunten Tante Cal und Tante Jo unverhofft den makellosesten, gepflegtesten jungen Mann an, den sie je gesehen hatten.

»Walters!«, sagte er plötzlich, mit klarer, kultivierter Stimme.

Einer der weißgekleideten Seeleute trat vor und salutierte.

»Sie können die Boote zur Yacht hinausbringen. Sie müssten sie mit Hilfe des Nebelhorns problemlos finden können.«

»Jawohl, Sir.«

»Sobald der Nebel sich hebt, stechen Sie in See. Funken Sie inzwischen nach New York, dass mein Wagen heruntergeschickt wird. Er soll mich im Haus der Marsdens am Montauk Point abholen.«

Als der Matrose sich umdrehte, streifte der Lichtkegel seiner Taschenlampe zufällig die vier höchst verwunderten Gesichter, die auf die merkwürdige Szene hinunterstarrten.

»Sehen Sie da, Sir!«, rief er.

Die vier Lampen erfassten den Spähtrupp auf dem Kamm des Hügels.

»Hände hoch da unten!«, schrie Percy und richtete seine Flinte auf den grellen Lichtschein.

»Miss Marsden!«, rief der junge Mann lebhaft. »Ich wollte gerade zu Ihnen kommen.«

»Keine Bewegung!«, brüllte Percy; und dann zum Doktor: »Soll ich schießen?«

»Natürlich nicht!«, schrie Doktor Gallup. »Junger Mann, lautet Ihr Name so, wie ich vermute?«

Der junge Mann verbeugte sich höflich.

»Mein Name ist George Van Tyne.«

Wenige Minuten später schüttelten sich der tadellose junge Mann und zwei völlig fassungslose Damen die Hände. »Ich kann mich gar nicht oft genug bei Ihnen entschuldigen«, gestand er, »denn ich habe Sie beide der seltsamen Laune eines jungen Mädchens geopfert.«

»Was für eine Laune?«, fragte Tante Cal.

»Nun…«, er zögerte, »sehen Sie, mein ganzes Leben habe ich besonders viel Aufmerksamkeit auf die sogenannten Feinheiten des guten Benehmens verwandt, Feinheiten der Kleidung, der Manieren, des Stils…«

Er brach reumütig ab.

»Fahren Sie fort«, befahl Tante Cal.

»Genau wie Ihre Nichte. Sie hat sich selbst immer eher für ein Muster an… an Kultiviertheit gehalten« – er errötete –, »bis sie mich traf.«

»Ich verstehe.« Doktor Gallup nickte. »Sie konnte es nicht ertragen, jemanden zu heiraten, der ein noch größerer – sagen wir, ein Dandy? – war als sie selbst.«

»Richtig«, sagte George Van Tyne mit einer perfekten Verbeugung wie aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Es war notwendig, ihr zu zeigen, was für ein… für eine…«

»…unsägliche Type«, half Tante Josephine.

»…was für eine unsägliche Type ich sein konnte. Es war schwierig, aber machbar. Denn wenn man weiß, was korrekt ist, muss man notwendigerweise auch wissen, was nicht korrekt ist; und ich hatte die Absicht, so fürchterlich unkorrekt zu sein wie irgend möglich. Ich hoffe nur, Sie werden mir eines Tages verzeihen können, dass ich Sie mit Sand beworfen habe… ich fürchte, da ist meine Rolle mit mir durchgegangen.«

Wenig später gingen sie alle gemeinsam zum Haus zurück.

»Aber ich kann noch immer nicht glauben, dass ein Gentleman so… so unsäglich sein kann«, stieß Tante Jo hervor. »Und was wird erst Fifi dazu sagen?«

»Nichts«, antwortete Van Tyne fröhlich. »Sehen Sie, Fifi wusste die ganze Zeit Bescheid. Sie hat mich sogar schon am allerersten Tag oben im Baum erkannt. Sie bat mich immer wieder, bis heute Nachmittag, damit… damit aufzuhören, aber ich habe mich geweigert, bis sie mich geküsst hat, trotz Bart und allem.«

Tante Cal blieb plötzlich stehen.

»Das ist ja alles gut und schön, junger Mann«, sagte sie streng, »aber da Sie so viele verschiedene Gesichter haben, woher wissen wir denn, dass Sie in einem Ihrer geistesabwesenden Momente nicht der Mörder sind, der sich am Point versteckt hält?«

»Der Mörder?«, fragte Van Tyne verwirrt. »Welcher Mörder?«

»Ah, lassen Sie mich das erklären, Miss Marsden.« Doktor Gallup lächelte bedauernd. »In Wirklichkeit hat es gar keinen Mörder gegeben.«

»Keinen Mörder?« Tante Cal musterte ihn kritisch.

»Nein, den Bankraub und den entflohenen Mörder, das habe ich alles erfunden. Ich wollte Ihrer Nichte damit nur so eine Art starker Medizin verabreichen.«

Tante Cal sah ihn verächtlich an und wandte sich ihrer Schwester zu. »Nicht alle deine modernen Ideen sind so glücklich wie Mah-Jongg«, bemerkte sie bedeutungsvoll.

Der Nebel war aufs Meer zurückgewichen, und als sie in Sichtweite des Hauses kamen, leuchteten die Lampen in die Dunkelheit hinaus. Auf der Veranda wartete eine makellose junge Frau in einem strahlend weißen Kleid, das mit Perlenschnüren bestickt war, die im klaren Mondlicht schimmerten.

»Der vollkommene Mann«, murmelte Tante Jo und wurde dabei rot, »ist natürlich der, der jedes Opfer bringt.«

Van Tyne antwortete ihr nicht; er war damit beschäftigt, ein nicht wahrnehmbares Fläumchen, unauffälliger noch als ein Haar, von seinem Ellbogen zu entfernen, und nachdem er das getan hatte, lächelte er. Jetzt war nicht mehr die leiseste Unvollkommenheit an ihm zu entdecken, außer dort, wo heftiges Herzklopfen den Satinaufschlag seines Smokings kaum merklich aus der Fasson brachte.

Winterträume
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