Der Schwarm aller Männer

 

I

 

Jeden Samstagabend gegen halb elf entzog sich Yanci Bowman unter irgendeinem eleganten Vorwand ihrem Tanzpartner und suchte sich einen günstigen Standpunkt, von dem aus sie die Bar des Countryclubs gut überblicken konnte. Wenn sie ihren Vater entdeckte und er zufällig gerade in ihre Richtung schaute, winkte sie ihn zu sich, andernfalls schickte sie einen Kellner aus, der ihn auf ihre drohende Gegenwart aufmerksam machen sollte. Sofern es noch nicht später als halb elf war – und er noch nicht mehr als eine Stunde mit synthetischen Gin Rickeys hinter sich hatte –, erhob er sich dann meistens von seinem Stuhl und ließ sich dazu bewegen, mit in den Ballsaal zu kommen.

»Ballsaal« – in Ermangelung eines treffenderen Wortes. Es war jener tagsüber mit Korbmöbeln bestückte Saal, der gemeint war, wenn man sagte: »Lass uns reingehen und tanzen.« Man sagte »rein« oder »runter«. Es war der namenlose Raum, in dem die wichtigsten Transaktionen aller Country Clubs in Amerika stattfinden.

Yanci wusste: Wenn es ihr gelang, ihren Vater eine Stunde lang dort festzuhalten, egal, ob er plauderte, ihr beim Tanzen zusah oder – was selten geschah – sogar selber tanzte, dann konnte sie ihn gefahrlos wieder aus ihrer Obhut entlassen. In der Zeit, die von da an noch verblieb, bis der Tanzabend um Mitternacht zu Ende ging, würde er kaum mehr tief genug ins Glas schauen können, um irgendwen zu verärgern.

All das war für Yanci mit beträchtlichen Strapazen verbunden, die sie nicht so sehr um ihres Vaters als vielmehr um ihrer selbst willen auf sich nahm. Im zurückliegenden Sommer hatte es mehrere eher unerquickliche Zwischenfälle gegeben. Eines Abends, als sie wegen des leidenschaftlichen, nicht zu stoppenden Wortschwalls eines jungen Mannes aus Chicago aufgehalten worden war, hatte ihr Vater plötzlich leicht schwankend in der Tür zum Ballsaal gestanden; in seinem attraktiven, geröteten Gesicht versuchten zwei blassblaue, halb zugekniffene Augen, die Tänzer zu fokussieren – offenkundig hatte er vor, sich der erstbesten Witwe von Stand anzubieten, auf die sein Blick fiel. Er war in lächerlichem Maße beleidigt, als Yanci zum sofortigen Aufbruch drängte.

Seit diesem Abend war Yanci dazu übergegangen, ihre Hinhaltetaktik auf die Minute genau zu befolgen.

Yanci und ihr Vater waren die beiden attraktivsten Menschen in ihrer mittelwestlichen Heimatstadt. Zwanzig Jahre im Dienst guten Whiskeys und schlechten Golfspiels hatten Tom Bowman eine kerngesunde Gesichtsfarbe verliehen. Er hatte ein Büro in der Innenstadt, wo er angeblich irgendwelchen nicht näher bestimmten Immobiliengeschäften nachging; in Wirklichkeit aber war für ihn das Wichtigste im Leben, sein gut geschnittenes Profil und seine lässigen, aber kultivierten Manieren im Country Club zur Schau zu stellen, wo er in den zehn Jahren seit dem Tod seiner Frau den größten Teil seiner Zeit verbracht hatte.

Yanci war zwanzig und hatte eine unbestimmt schmachtende Art, die zum einen als Kulisse für ihr schläfriges Temperament diente und zum anderen daher rührte, dass sie als junges, leicht zu beeindruckendes Mädchen Verwandte an der Ostküste besucht hatte. Sie war auf eine irrlichternde Weise intelligent, romantisch bei Mondschein und unfähig, sich zu entscheiden, ob sie der Liebe oder der Bequemlichkeit halber heiraten sollte, wobei die letztere dieser beiden Abstraktionen von einem ihrer glühendsten Verehrer ganz passabel verkörpert wurde. Unterdessen führte sie ihrem Vater nicht ohne Geschick den Haushalt und versuchte in einem ruhigen, gelassenen Zeitmaß, seine unentwegte Zecherei so zu regulieren, dass er auf der nüchternen Seite des Rausches blieb.

Sie verehrte ihren Vater. Sie verehrte ihn wegen seines guten Aussehens und seiner charmanten Umgangsformen. Er hatte die Manieren eines allseits beliebten Skull&Bones-Mannes der Yale-Universität nie ganz abgelegt. Sein Charme war der Standard, an dem sie mit ihrem feinen Gespür die Männer aus ihrem Bekanntenkreis unbewusst maß. Und doch waren Vater und Tochter weit von jenem sentimentalen familiären Verhältnis entfernt, das die Literatur so gerne beschwört, während es im Leben meist nur in der Einbildung des jeweils älteren Parts existiert. Yanci Bowman hatte beschlossen, ihr Elternhaus noch im selben Jahr zu verlassen, um zu heiraten. Sie langweilte sich herzlich.

Scott Kimberly, der sie an diesem Novemberabend im Country Club zum ersten Mal sah, stimmte der Dame, deren Hausgast er war, zu, dass Yanci eine erlesene kleine Schönheit war. Mit einer Art bewusster Sinnenfreude, wie sie bei einem so jungen Mann – Scott war erst fünfundzwanzig – überraschte, vermied er es, ihr vorgestellt zu werden, um sie eine phantasiereiche Stunde lang ungestört beobachten zu können und sich das Vergnügen oder die Enttäuschung einer Unterhaltung mit ihr für das schläfrige Ende des Abends aufzusparen.

»Sie hat es nie verwunden, dass sie dem Prinzen von Wales nicht begegnet ist, als er im Lande war«, sagte Mrs. Orrin Rogers, die seinem Blick gefolgt war. »Das hat sie jedenfalls behauptet; ob es ernst gemeint war, weiß ich nicht. Es heißt, ihre Wände seien mit Bildern von ihm regelrecht gepflastert.«

»Von wem?«, fragte Scott unvermittelt.

»Na, mit Bildern des Prinzen von Wales.«

»Wessen Wände?«

»Na, die von Yanci Bowman, dem jungen Mädchen, das du so hübsch findest.«

»Von einem gewissen Hübschheitsgrad an ist ein Mädchen so hübsch wie das andere«, sagte Scott streitlustig.

»Da magst du recht haben.«

Mrs. Rogers’ Stimme verlor sich im Unbestimmten. Sie hatte in ihrem Leben noch kein Bonmot verstanden, ehe es ihrem Ohr nicht durch ständige Wiederholung vertraut gemacht worden war.

»Unterhalten wir uns doch über sie«, schlug Scott vor.

Mit einem pseudovorwurfsvollen Lächeln gab Mrs. Rogers sich bereitwillig zur Verleumdung her. Eben begann eine Zugabe. Das Orchester ließ Musik in den freundlichen, mit grünem Gitterwerk versehenen Raum rieseln, und die vierzig Paare, die an diesem Abend aus der jüngeren Gästeschar bestanden, passten sich gemächlich seinem Rhythmus an. Nur ein paar teilnahmslose Junggesellen erschienen nach und nach in den Türrahmen, und wer genauer hinsah, merkte wohl, dass die Atmosphäre nicht die Ausgelassenheit erlangte, die allenthalben angestrebt wurde. Die jungen Frauen und Männer kannten einander seit ihrer Kindheit; und wenn sich auf diesem Tanzboden auch Eheschließungen anbahnten, so waren es solche, die dem Milieu, der Resignation oder gar der Langeweile geschuldet waren.

Ihnen fehlte der Glanz der Affären Siebzehnjähriger, die sich während der kurzen, herrlichen Ferien ereigneten. Bei Anlässen wie diesen, dachte Scott, nebenher mit den Augen weiterhin nach Yanci suchend, fanden die Übriggebliebenen zu Paaren zusammen, die Schlichteren, Faderen, Ärmeren dieser Gesellschaft; Paare, die sich mit der gleichen Sehnsucht nach einer glanzvolleren Zukunft bildeten, dabei aber weniger schön waren und weniger jung. Scott selbst fühlte sich sehr alt.

Doch es gab ein Gesicht in der Menge, auf das seine Verallgemeinerung nicht zutraf. Als sein Blick Yanci Bowman zwischen den Tanzenden aufgespürt hatte, fühlte er sich gleich viel jünger. Sie war der Inbegriff all dessen, was dem Ball fehlte – jugendliche Anmut, blasierte, lässige Frische und eine Schönheit, die traurig und vergänglich war wie eine Erinnerung in einem Traum. Ihr Tanzpartner, ein junger Mann mit knallroten, weiß gestreiften Wangen, die ihn aussehen ließen, als wäre er an einem kalten Tag geohrfeigt worden, schien ihr Interesse nicht halten zu können, denn ihr Blick wanderte umher und verweilte mit entrückter, selbstvergessener Melancholie bald bei einer Gruppe, bald bei einem Gesicht, bald bei einem Kleid.

»Dunkelblaue Augen«, sagte Scott zu Mrs. Rogers. »Ich wüsste nicht, dass sie, von ihrer Schönheit abgesehen, etwas zu bedeuten haben, aber diese Nase und die Oberlippe und das Kinn sind eindeutig aristokratisch – falls es so etwas gibt«, fügte er entschuldigend hinzu.

»O ja, sie ist sehr aristokratisch«, bestätigte ihm Mrs. Rogers. »Ihr Großvater war in einem der Südstaaten Senator oder Gouverneur oder etwas in der Art. Ihr Vater sieht auch sehr aristokratisch aus. O ja, sie sind sehr aristokratisch; es sind aristokratische Leute.«

»Sie wirkt schläfrig.«

Scott beobachtete, wie ihr gelbes Abendkleid zwischen den Tänzern schwebte und wieder verschwand.

»Sie bewegt sich nicht gern. Ein Wunder, dass sie so gut tanzt. Ist sie verlobt? Wer ist das, der sie da ständig abklatscht – der Mann, der seine Krawatte so verwegen unter den Kragen gesteckt hat; der mit den auffälligen schrägen Jackentaschen?«

Er ärgerte sich über die Hartnäckigkeit des jungen Mannes, und seinem Sarkasmus fehlte der distanzierte Ton.

»Ach, das« – Mrs. Rogers beugte sich mit zwischen den Zähnen hervorschauender Zungenspitze vor –, »das ist der junge O’Rourke. Ich glaube, er ist ihr ziemlich verfallen.«

»Und ich glaube«, sagte Scott plötzlich, »dass ich dich bitten werde, mich ihr vorzustellen, falls sie in der Nähe ist, wenn die Musik aufhört.«

Sie standen auf und schauten sich nach Yanci um – die kleine, schon ein wenig korpulente, nervöse Mrs. Rogers und Scott Kimberly, der Neffe ihres Mannes, dunkel und nicht ganz mittelgroß. Scott war eine Waise mit einem Vermögen von einer halben Million, und er war aus keinem anderen Grund in der Stadt, als dass er seinen Zug verpasst hatte. Vergebens hielten sie ein paar Minuten lang Ausschau. Yanci in ihrem gelben Kleid bewegte sich nicht mehr mit träger Anmut unter den Tanzenden.

Die Uhr zeigte halb elf.

II

 

»Guten Abend«, sagte ihr Vater im selben Moment zu ihr, wobei er die Silben leicht vernuschelte. »Das scheint hier ja allmählich zur Gewohnheit zu werden.«

Sie standen neben einer Seitentreppe, und über seine Schulter hinweg konnte Yanci durch eine Glastür ein halbes Dutzend Männer in trauter Fröhlichkeit um einen runden Tisch herumsitzen sehen.

»Möchtest du nicht mitkommen und eine Weile zuschauen?«, fragte sie lächelnd, eine Unbefangenheit vorgebend, die sie nicht empfand.

»Heute nicht, danke.«

Das würdevolle Benehmen ihres Vaters war ein wenig zu forciert, um überzeugend zu wirken.

»Komm doch nur mal kurz mit und schau zu«, drängte sie ihn. »Alle sind da, und ich möchte gerne deine Meinung über jemanden hören.«

Das war nicht besonders gut, aber etwas Besseres fiel ihr gerade nicht ein.

»Ich bezweifle sehr stark, dass ich da draußen irgendetwas finden würde, was mich interessiert«, sagte Tom Bowman mit Nachdruck. »Ich merke wohl, dass ich aus irgendeinem idiotischen Grund dauernd in den Ballsaal gelotst werde und dann ’ne halbe Stunde lang da schmoren muss, als wär ich nicht zurechnungsfähig.«

»Ich bitte dich ja nur, ganz kurz zu bleiben.«

»Ist sicher nett gemeint. Aber heute Abend interessiert mich zufällig ein Gespräch, das dort drinnen geführt wird.«

»Ach, komm schon, Vater.«

Yanci hakte sich schmeichlerisch bei ihm unter; aber er löste sich von ihr, indem er einfach seinen Arm hob und ihren fallen ließ. »Nein, tut mir leid.«

»Ich sag dir was«, schlug sie leichthin vor, um ihren Unmut darüber zu verbergen, dass sich diese Auseinandersetzung so ungewöhnlich lange hinzog, »du kommst kurz mit und wirfst einen einzigen Blick hinein, und wenn es dich langweilt, gehst du gleich wieder.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich plötzlich um und verschwand in der Bar. Yanci kehrte in den Ballsaal zurück. Im Vorbeigehen streifte sie die Junggesellenriege mit einem Blick, traf rasch ihre Wahl und murmelte einem Mann in ihrer Nähe zu: »Würdest du mit mir tanzen, Carty? Ich habe meinen Partner verloren.«

»Aber gern«, antwortete Carty wahrheitsgemäß.

»Furchtbar nett von dir.«

»Von mir? Von dir, meinst du wohl.«

Geistesabwesend schaute sie zu ihm hoch. Sie war außer sich vor Wut auf ihren Vater. Am nächsten Morgen beim Frühstück würde sie eine verzehrende Kälte verströmen, doch für heute blieb ihr nichts weiter übrig, als abzuwarten und zu hoffen, dass er, sollte es zum Schlimmsten kommen, wenigstens in der Bar bleiben würde, bis der Tanz zu Ende war.

Plötzlich tauchte Mrs. Rogers, die Nachbarin der Bowmans, mit einem fremden jungen Mann neben ihr auf.

»Yanci«, sagte Mrs. Rogers mit einem leutseligen Lächeln. »Ich möchte dir Mr. Kimberly vorstellen. Mr. Kimberly verbringt das Wochenende bei uns, und ich wollte unbedingt, dass er dich kennenlernt.«

»Wie reizend!«, sagte Yanci gedehnt und kaum mehr als förmlich.

Mr. Kimberly forderte Miss Bowman zum Tanzen auf, wozu Miss Bowman leidenschaftslos ihre Einwilligung gab. Sie verflochten ihre Arme in der üblichen Weise und passten ihre Schritte dem Takt der Trommel an. Gleichzeitig schien es Scott, als ob sich der Saal mitsamt den Paaren, die darin umhertanzten, in eine Kulisse für Yanci verwandelte. Die Allerweltslampen, der Rhythmus des Orchesters, das die Paraphrase einer Paraphrase spielte, die Gesichter vieler Mädchen, hübsch, unscheinbar oder albern, verdichteten sich, als hätten sie sich zu einem Gefolge für Yancis matte Augen und tanzende Füße formiert.

»Ich habe Sie beobachtet«, sagte Scott geradeheraus. »Sie wirken heute Abend ziemlich gelangweilt.«

»Ach ja?« In ihren dunkelblauen Augen wurde ein Grenzland zarter Iris sichtbar, als sie sie in einer dezenten Parodie aufrichtigen Interesses etwas weiter öffnete. »Wie absolut töd-lich!«, setzte sie hinzu.

Scott lachte. Sie hatte diesen übertriebenen Ausdruck benutzt, ohne zu lächeln, ja ohne ihm auch nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Adjektive des Jahres – »hektisch«, »famos« und »reizend« – wurden ja oft beiläufig fallengelassen, aber er hatte sie noch nie bar jeglicher Bedeutung sagen hören. Bei dieser lustlosen jungen Schönheit war es unaussprechlich charmant.

Der Tanz endete. Yanci und Scott schlenderten zu einem an der Wand stehenden Sofa, doch bevor sie es in Besitz nehmen konnten, ertönte schrilles Gelächter, und ein stämmiges Fräulein mit einem verlegenen Jüngling im Schlepptau schlitterte an ihnen vorbei und ließ sich auf das Sofa plumpsen.

»Wie ungehobelt!«, bemerkte Yanci.

»Wahrscheinlich ist es ihr Vorrecht.«

»Ein Mädchen mit solchen Fesseln hat keine Vorrechte.«

Sie setzten sich steif auf zwei unbequeme Stühle.

»Woher kommen Sie?«, fragte sie Scott mit höflichem Desinteresse.

»Aus New York.«

Auf diese Mitteilung hin ließ Yanci sich herab, den Blick fast zehn Sekunden lang auf ihn zu richten.

»Wer war der Herr mit der unsichtbaren Krawatte«, fragte Scott taktlos, damit sie ihn noch einmal ansah, »der Sie so mit Beschlag belegt hat? Ich konnte die Augen nicht von ihm wenden. Ist seine Persönlichkeit so amüsant wie seine Aufmachung?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie gedehnt, »ich bin erst seit einer Woche mit ihm verlobt.«

»Mein Gott!«, rief Scott aus, der plötzlich unter den Augen schwitzte. »Entschuldigen Sie vielmals, ich wusste ja nicht…«

»Das war nur ein Scherz«, unterbrach sie ihn mit einem Lachen, das wie ein Seufzer klang. »Ich wollte bloß mal sehen, was Sie dazu sagen würden.«

Sie mussten beide lachen, und Yanci fuhr fort: »Ich bin mit niemandem verlobt. Wer verlobt sich schon mit einem Mauerblümchen.« Wieder die gleiche Tonart, die gleiche schläfrige Stimme, die ihre Bemerkung auf ironische Weise Lügen strafte. »Mich wird nie jemand heiraten.«

»Wie schrecklich!«

»Ja«, murmelte sie, »ich kann nämlich gar nicht leben, ohne andauernd Komplimente zu bekommen, und da mich niemand mehr attraktiv findet, macht mir auch niemand mehr welche.«

Scott hatte sich selten so gut unterhalten gefühlt.

»Also wirklich, Sie schönes Kind«, rief er, »ich wette, Sie hören von morgens bis abends nichts anderes!«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete sie, offensichtlich erfreut. »Ich bekomme kein einziges Kompliment, wenn ich es nicht selbst hervorkitzele.«

›Es ist immer dasselbe‹, dachte sie, als sie in sonderbar gedrückter Stimmung den Blick schweifen ließ. Dieselben Jungs nüchtern, dieselben betrunken; dieselben alten Frauen auf den Stühlen an der Wand – und neben ihnen ein oder zwei junge, die im Jahr zuvor noch getanzt hatten.

Yanci hatte das Stadium erreicht, in dem ihr diese Country-Club-Bälle kaum mehr als ein Jahrmarkt der schieren Einfalt zu sein schienen. Das Bild des märchenhaften Karnevals, auf dem sich mit Juwelen geschmückte, makellose Mädchen, mit rosigem Rouge auf das Sittsamste geschminkt, fremden und faszinierenden Männern darboten, war verblasst und ein mittelgroßer Saal darunter zum Vorschein gekommen, in dem unverhüllte Motive und offenkundige Misserfolge auf beinahe obszöne Weise zur Schau getragen wurden. So viel davon seit mehreren Jahren! Und der Ball hatte sich kaum verändert – im Höchstfall gab es mal eine modische Rüsche hier oder eine neue sprachliche Kapriole dort.

Yanci war bereit zu heiraten.

Unterdessen wurde das Dutzend Erwiderungen, das Scott Kimberley schon auf der Zunge lag, durch Mrs. Rogers vereitelt, die plötzlich mit entschuldigender Miene vor ihnen stand.

»Yanci«, sagte die ältere Frau, »unser Chauffeur hat gerade angerufen und Bescheid gegeben, dass der Wagen liegengeblieben ist. Ob du und dein Vater auf dem Heimweg wohl noch Platz für uns hättet? Wenn es auch nur die geringsten Umstände macht, zögere bitte nicht –«

»Es wird ihm bestimmt ein großes Vergnügen sein. Und Platz hat er mehr als genug, denn ich bin mit jemand anderem hergekommen.«

Sie fragte sich, ob ihr Vater um Mitternacht noch präsentabel sein würde.

Fahren würde er jedenfalls immer noch können – außerdem sollten Leute, die chauffiert werden wollten, gefälligst nehmen, was sie bekamen.

»Das ist wunderbar. Danke vielmals«, sagte Mrs. Rogers.

Da sie die koketten späten Dreißiger, in denen Frauen glauben, bei den jungen Leuten noch persona grata zu sein, gerade hinter sich gelassen hatte und ihre Kinder ihr, der Anfang Vierzigjährigen, taktvoll zu verstehen gegeben hatten, dass dem nun nicht mehr so sei, entfernte Mrs. Rogers sich rasch von der Bildfläche. Im selben Augenblick setzte die Musik ein, und der bedauernswerte junge Mann mit den weißen Streifen auf roter Haut tauchte bei Yanci auf.

Kurz bevor der nächste Tanz zu Ende war, klatschte Scott Kimberly sie wieder ab.

»Ich bin noch einmal gekommen«, fing er an, »um Ihnen zu sagen, wie schön Sie sind.«

»Bin ich gar nicht«, entgegnete sie. »Außerdem sagen Sie das doch zu jeder.«

Die Musik nahm Fahrt für das Finale auf, und sie ließen sich auf das bequeme Sofa nieder.

»Ich habe es seit drei Jahren zu keiner mehr gesagt«, antwortete Scott.

Es gab keinen Grund, warum er ausgerechnet drei Jahre sagte, aber irgendwie klang es für sie beide überzeugend. Yancis Neugier war geweckt. Sie fing an, sich nach ihm zu erkundigen. Sie unterzog ihn einer trägen Befragung, die mit seiner Beziehung zu den Rogers’ begann und – er wusste nicht, auf welchen Wegen – mit einer detaillierten Beschreibung seines Apartments in New York endete.

»Ich möchte auch in New York leben«, eröffnete sie ihm; »an der Park Avenue, in einem dieser wunderschönen weißen Häuser, deren Wohnungen alle zwölf große Zimmer haben und ein Vermögen an Miete kosten.«

»Das würde ich auch wollen, wenn ich verheiratet wäre. Die Park Avenue ist für mich eine der schönsten Straßen der Welt, vielleicht vor allem deshalb, weil sie keinen leprösen Park hat, der ihr etwas künstlich Suburbanes zu geben versucht.«

»Was immer das heißt«, pflichtete Yanci ihm bei. »Na ja, Vater und ich fahren jedenfalls dreimal im Jahr nach New York. Wir wohnen dann immer im Ritz.«

Das stimmte nicht ganz. Einmal im Jahr eiste sie gewöhnlich ihren Vater aus seinem beschaulichen, nicht unsegensreichen Dasein los, damit sie eine Woche in New York verbringen und an den Schaufenstern der Fifth Avenue entlangbummeln, mit einer alten Schulfreundin aus Farmover zu Mittag essen oder Tee trinken und gelegentlich mit jungen Männern, die dafür extra aus Yale oder Princeton angereist kamen, ins Restaurant oder Theater gehen konnte. Das waren schöne Abenteuer gewesen – nicht eines darunter, das nicht bis an den Rand mit farbenfrohen Stunden gefüllt war: tanzen im Montmartre, dinieren im Ritz, wo irgendein Filmstar oder eine wahnsinnig berühmte Dame der feinen Gesellschaft am Nachbartisch saß, oder auch davon träumen, was sie sich bei Hempel oder Waxe oder Thrumble kaufen könnte, wenn das Einkommen ihres Vaters eine Null mehr auf der richtigen Seite des Trennpunkts hätte. Sie liebte New York über alles, empfand eine große, unpersönliche Zuneigung für diese Stadt, wie sie nur ein Mädchen aus dem Mittelwesten oder Süden zu empfinden vermag. In New Yorks grellen Warenhäusern geriet ihre Seele in stürmische Verzückung, denn sie sah dort nichts, was hässlich war, gewöhnlich oder fad.

Einmal, ein einziges Mal, hatte sie im Ritz gewohnt. Das Manhattan, wo sie normalerweise abstiegen, war abgerissen worden. Sie wusste, dass sie ihren Vater nie wieder dazu bewegen könnte, sich das Ritz zu leisten.

Einen Augenblick später borgte sie sich einen Stift und Papier und schrieb eine Nachricht »Für Mr. Bowman in der Bar«, in der sie ihm mitteilte, er möge Mrs. Rogers und ihren Gast mit nach Hause nehmen, »auf deren Bitte hin« – Letzteres war unterstrichen. Sie hoffe, er könne das mit Würde und Anstand tun. Diese Botschaft ließ sie ihrem Vater durch einen Kellner zukommen. Bevor der nächste Tanz begann, wurde sie ihr mit einem hingekritzelten »O.K.« und den Initialen ihres Vaters zurückgebracht.

Der Rest des Abends verging schnell. Scott Kimberly tanzte mit ihr, sooft es möglich war, und machte ihr jene beruhigenden Komplimente hinsichtlich ihrer dauerhaften Schönheit, nach denen sie sich nicht ohne ulkiges Pathos verzehrte. Er lachte auch über sie, und ob ihr das gefiel, wusste sie nicht recht. Wie alle verträumten Menschen nahm sie sich selbst nicht als verträumt wahr. Sie verstand nicht genau, was Scott Kimberly meinte, als er ihr sagte, ihre Persönlichkeit würde noch Bestand haben, wenn sie schon längst zu alt wäre, sich darum zu scheren.

Am liebsten unterhielt sie sich über New York, und jedes ihrer unterbrochenen Gespräche rief ihr ein Bild der Metropole ins Gedächtnis oder erinnerte sie an etwas, worüber sie dann nachdachte, während sie Jerry O’Rourke oder Carty Braden oder irgendeinem anderen Schönling, die sie, wie alle anderen auch, angenehm ungerührt ließen, über die Schulter blickte. Um Mitternacht schickte sie ihrem Vater eine weitere Nachricht, in der sie ihn bat, unverzüglich auf der Veranda neben der Haupteinfahrt zu erscheinen, wo Mrs. Rogers und ihr Gast auf ihn warten würden. Dann trat sie, auf das Beste hoffend, in die sternenklare Nacht hinaus und ließ sich von Jerry O’Rourke in dessen Roadster helfen.

III

 

»Gute Nacht, Yanci.« Sie stand mit ihrem jüngsten Verehrer vor dem gemieteten Stuckhaus, in dem sie wohnte. Mr. O’Rourke versuchte Bedeutungsschwere in die gedehnte Aussprache ihres Namens zu legen. Seit Wochen bemühte er sich, ihre Beziehung schon fast gewaltsam auf eine sentimentale Ebene zu heben; doch mit ihrer verträumten Ungerührtheit, die ein Schutz gegen nahezu alles war, hatte Yanci seine Bemühungen ins Leere laufen lassen. Jerry O’Rourke war ein alter Hut. Seine Familie hatte Geld; aber er – er arbeitete wie die meisten anderen jungen Männer seiner Generation in einer Maklerfirma. Er verkaufte Wertpapiere – Wertpapiere waren im Moment gefragt. Zur Zeit des Booms waren Immobilien gefragt gewesen; dann Autos. Jetzt waren es Wertpapiere. Sie wurden von jungen Männern verkauft, die nicht wussten, was sie sonst tun sollten.

»Du brauchst mich nicht zur Tür zu bringen, danke.« Und als er den Gang einlegte: »Ruf mich bald an!«

Als er eine Minute später auf der mondbeschienenen Straße um die Ecke bog und verschwand, hallte sein abgesägter Auspuff laut durch die Nacht, ohne ein Hehl daraus zu machen, dass der Rest der zwei Dutzend müden Anwohner für seine fröhliche Spritztour ohne jeden Belang war.

Yanci setzte sich nachdenklich auf die Verandastufen. Sie hatte keinen Schlüssel und musste warten, bis ihr Vater kam. Fünf Minuten darauf bog ein Roadster in die Straße ein, näherte sich mit übertriebener Vorsicht und hielt vor dem großen Haus der Rogers gleich nebenan. Erleichtert stand Yanci auf und schlenderte langsam die Einfahrt hinunter. Der Wagenschlag hatte sich geöffnet, und Mrs. Rogers war mit Scott Kimberlys Hilfe sicher auf den Gehweg gelangt; doch zu Yancis Erstaunen kehrte Scott Kimberly, nachdem er Mrs. Rogers bis an die Stufen vor ihrer Haustür begleitet hatte, zum Wagen zurück. Yanci konnte erkennen, dass er sich ans Steuer setzte. Als er vor dem Haus der Bowmans vorfuhr, sah sie ihren Vater in der äußersten Ecke des Wagens sitzen und mit grotesker Würde gegen den Schlaf ankämpfen, der ihn zu übermannen drohte. Sie stöhnte. Die unheilvolle letzte Stunde hatte das Ihre getan – Tom Bowman war einmal mehr hors de combat.

»Hallo«, rief Yanci, als sie den Bordstein erreichte.

»Yanci«, nuschelte ihr Vater in dem vergeblichen Bemühen, eine forsche Begrüßung zustande zu bringen. Seine Lippen verbogen sich zu einem einschmeichelnden Grinsen.

»Ihr Vater fühlte sich nicht ganz fit, deshalb hat er mich fahren lassen«, erklärte Scott fröhlich, während er ausstieg und zu ihr kam. »Schöner kleiner Wagen. Haben Sie den schon lange?«

Yanci lachte, aber ohne Humor.

»Kann er sich nicht mehr bewegen?«

»Kann wer sich nich’ mehr beweg’n«, fragte die Gestalt auf der Rückbank mit einem beleidigten Seufzer.

Scott stand neben ihm.

»Darf ich Ihnen aus dem Wagen helfen, Sir?«

»Is schon gut, is schon gut«, sagte Mr. Bowman. »Geh’n Sie nur ma ’n bisschen aus’m Weg. Irgendwer muss mir furch’bar schlech’n Whiskey gegeben haben.«

»Du meinst, eine Menge Leute müssen dir welchen gegeben haben«, entgegnete Yanci kalt und mitleidlos.

Mr. Bowman stieg erstaunlich behende aus, doch die Leichtigkeit täuschte, denn fast im nächsten Moment versuchte er sich an einen nur für ihn sichtbaren Haltegriff in der Luft zu klammern, wurde aber von Scott, der ihm rasch seinen Arm anbot, gerettet. Von den beiden Männern gefolgt, ging Yanci zum Haus, innerlich brodelnd vor Beschämung. Würde der junge Mann jetzt denken, dass sich solche Szenen allabendlich bei ihnen abspielten? Es war hauptsächlich ihre eigene Gegenwart, die die Situation für Yanci demütigend machte. Wäre ihr Vater jede Nacht von zwei Butlern ins Bett getragen worden, wäre sie vielleicht sogar stolz gewesen, weil er sich solche Ausschweifungen leisten konnte; aber dass der Eindruck entstand, sie müsse ihm helfen, ja es sei ihr aufgebürdet, sich um ihn zu kümmern und zu sorgen! Und schließlich ärgerte sie sich auch über Scott Kimberly, weil er zur Stelle war und so dienstfertig mithalf, ihren Vater ins Haus zu bringen.

Als sie die niedrige Backsteinveranda erreichten, suchte Yanci in Tom Bowmans Jacke nach dem Schlüssel und sperrte die Haustür auf. Eine Minute später wurde der Herr des Hauses in einen Sessel verfrachtet.

»Danke vie’mals«, sagte er, während er sich einen Moment erholte. »Setzen Sie sich. Woll’n Sie was trinken? Yanci, Liebes, hol doch ’n paar Cracker und Käse, wenn wir so was dahaben, ja?«

Das kam mit so selbstvergessener Unbekümmertheit, dass Scott und Yanci lachen mussten.

In dem Bemühen, trotz ihrer Wut diplomatisch zu bleiben, sagte sie: »Es ist Schlafenszeit, Vater.«

»Gib mir meine Gitarre«, schlug er vor, »dann spiel ich euch was.«

Außer in Situationen wie dieser hatte er seine Gitarre seit zwanzig Jahren nicht angerührt. Yanci wandte sich Scott zu.

»Es ist schon gut, vielen Dank. Er wird gleich einschlafen, und wenn ich ihn dann aufwecke, geht er lammfromm ins Bett.«

»Na schön…«

Sie schlenderten gemeinsam zur Tür.

»Müde?«, fragte er.

»Nein, kein bisschen.«

»Dann lassen Sie mich doch lieber noch ein paar Minuten bleiben, bis Sie sicher sind, dass alles in Ordnung ist. Mrs. Rogers hat mir einen Schlüssel gegeben, so dass ich ins Haus gelange, ohne sie zu stören.«

»Aber es ist alles in Ordnung«, protestierte Yanci. »Es macht mir überhaupt nichts aus, und er wird mir keinen Ärger bereiten. Er muss wohl ein Glas zu viel getrunken haben, und dieser Whiskey, den wir hier draußen haben – Sie wissen schon! So etwas ist schon einmal passiert, letztes Jahr«, fügte sie hinzu.

Damit war sie zufrieden; als Erklärung schien es ihr überzeugend zu klingen.

»Darf ich Ihnen trotzdem noch einen Moment Gesellschaft leisten?« Sie setzten sich nebeneinander auf ein Korbsofa.

»Ich überlege, ein paar Tage hierzubleiben«, sagte Scott.

»Wie schön!« Ihre Stimme hatte jetzt wieder ihren schmachtenden Tonfall angenommen.

»Mein Cousin Pete Rogers fühlte sich heute nicht wohl, aber morgen geht er Enten schießen und möchte, dass ich mitkomme.«

»Oh, wie aufregend! Das wollte ich schon immer wahnsinnig gern mal machen, und Vater hat mir oft versprochen, mich mitzunehmen, aber er hat es nie getan.«

»Wir werden ungefähr drei Tage unterwegs sein, und ich dachte mir, dass ich danach noch einmal herkomme und das nächste Wochenende hier ver–« Er unterbrach sich plötzlich und beugte sich vor, um zu lauschen. »Was in aller Welt ist das?«

In dem Zimmer, das sie kürzlich verlassen hatten, ertönte abgehackte Musik – ein stümperhafter Akkord auf der Gitarre, dann ein halbes Dutzend kläglicher Anfänge.

»Das ist Vater!«, rief Yanci.

Und nun drang eine Stimme zu ihnen heraus, die, trunken und nuschelig, die langen Töne melancholisch einzufärben versuchte:

»Sing a song of cities
Ridin’ on a rail
A niggah’s ne’er so happy
As when he’s out-a jail.«

»Wie schrecklich!«, rief Yanci aus. »Er weckt ja die ganze Nachbarschaft!«

Der Gesang brach ab, die Gitarre quengelte wieder, gab dann ein letztes scharfes Zeng! von sich und war still. Auf diese Ruhestörung folgte gleich darauf ein leises, aber ziemlich eindeutiges Schnarchen. Mr. Bowman war, nachdem er seinen musikalischen Neigungen gefrönt hatte, eingeschlafen.

»Lassen Sie uns spazierenfahren«, schlug Yanci gereizt vor. »Hier ist es mir zu hektisch.«

Scott stand eilfertig auf, und sie gingen gemeinsam zum Wagen.

»Wo wollen wir hin?«, überlegte sie.

»Ganz egal.«

»Wir könnten den halben Block bis zur Crest Avenue hochfahren – das ist unser Prachtboulevard – und dann zur Allee unten am Fluss.«

IV

 

Als sie in die Crest Avenue einbogen, hockte dort auf der anderen Straßenseite, einer dicken weißen, auf den Hinterläufen sitzenden Bulldogge gleich, die neue Kathedrale, gewaltig und unvollendet wie das Imitat einer durch widrige Umstände unvollendet gebliebenen Kathedrale in einer flämischen Kleinstadt. Die Geister von vier mondbeschienenen Aposteln blickten bleich aus Mauernischen zu ihnen herab, in denen noch die weißen, staubigen Abfälle der Bauarbeiter herumlagen. Die Kathedrale eröffnete die Crest Avenue. Danach kam der Sandsteinkoloss, den der Mehlkönig R. R. Comerford sich errichtet hatte, gefolgt von einer halben Meile protziger Steinvillen aus den düsteren neunziger Jahren. Letztere schmückten sich mit monströsen Toren und Wagenauffahrten, auf denen einst die Hufe teurer Pferde widergehallt hatten, und riesenhaften Rundfenstern, die die Obergeschosse in ein Korsett zwängten.

Die Reihe dieser Mausoleen wurde von einem kleinen Park unterbrochen, einem dreieckigen Rasenstück, auf dem Nathan Hale, die Hände mit einem steinernen Strick auf dem Rücken gefesselt, drei Meter hoch aufragte und über ein Steilufer hinweg auf den langsam dahinfließenden Mississippi schaute. Die Crest Avenue führte an diesem Steilufer entlang, war ihm jedoch nicht zugewandt und schien auch nichts von ihm zu wissen, denn alle Häuserfronten zeigten zur Straße. Nach einer halben Meile fing der neuere Teil an, gewagte Versuche mit terrassenförmig angelegten Gärten, wilden Stuckmischungen oder Villen aus Granit, die mittels einer Vielfalt gradueller Verfeinerungen die Marmorkonturen des Petit Trianon nachempfanden. Die Häuser in diesem Abschnitt flogen minutenlang am Roadster vorbei; dann ging es um die Kurve, und der Wagen steuerte geradewegs ins Mondlicht hinein, das wie der Scheinwerfer eines gigantischen Motorrads von weitem auf sie zugerast kam.

Vorbei an den flachen korinthischen Konturen des Christian Science Temples, an einigen dunklen Bausünden aus Holz, an einer unbewohnten Reihe düsterroten Backsteins – ein unglückliches Experiment der späten neunziger Jahre –, dann wieder an neuen Häusern aus leuchtend rotem, weiß abgesetztem Backstein mit schwarzen schmiedeeisernen Zäunen und Hecken, die blühende Gärten begrenzten. Diese zogen vorbei und verschwanden wieder aus dem Blickfeld, nachdem sie ihren Moment der Größe ausgekostet hatten; dann warteten sie im Mondlicht wie vor ihnen schon die Kuppeldach-Holzhäuser der Südstadt und die Backsteinbauten der älteren Crest Avenue, bis sie aus der Mode kommen würden.

Plötzlich wurden die Dächer niedriger, die Grundstücke enger und die Häuser kleiner, bis sie in Bungalows übergingen. Diese beherrschten die letzte Meile der Straße bis zur Flussbiegung, die den stolzen Boulevard beim Standbild von Chelsea Arbuthnot enden ließ. Arbuthnot war der erste Gouverneur gewesen – und fast der letzte von angelsächsischem Blut.

Yanci hatte auf dem ganzen Weg geschwiegen, noch in dem Verdruss gefangen, den der Abend ihr bereitet hatte, doch irgendwie fühlte sie sich von der frischen Luft des nördlichen Novembers, die an ihnen vorbeirauschte, auch getröstet. Sie würde am nächsten Tag ihren Pelzmantel herausholen müssen, dachte sie.

»Wo sind wir jetzt?«

Während sie langsamer wurden, blickte Scott zu der pompösen Steinfigur hinauf, die klar umrissen im kühlen Mondlicht stand, eine Hand auf einem Buch und den ausgestreckten Zeigefinger der anderen wie zum Zeichen des Vorwurfs direkt auf die in der Straße stattfindenden Bauarbeiten gerichtet.

»Dies ist das Ende der Crest Avenue«, sagte Yanci und schaute ihn an. »Unseres Prachtboulevards.«

»Ein Museum architektonischer Fehlschläge.«

»Wie bitte?«

»Nichts«, murmelte er.

»Ich hätte Ihnen etwas dazu erzählen sollen. Das habe ich ganz vergessen. Wir könnten noch die Uferallee entlangfahren, wenn Sie möchten – oder sind Sie müde?«

Nein, keineswegs, beteuerte Scott – er sei nicht im Geringsten müde.

Auf der Allee wand sich die Zementstraße unter den dunkleren Bäumen dahin.

»Der Mississippi – wie wenig er Ihnen heute bedeutet!«, sagte Scott auf einmal.

»Wie bitte?« Yanci schaute sich um. »Ach so, der Fluss.«

»Ich nehme an, dass er für Ihre Vorfahren einmal sehr wichtig war.«

»Meine Vorfahren lebten damals gar nicht hier«, sagte Yanci würdevoll. »Meine Vorfahren stammen aus Maryland. Mein Vater ist erst nach seinem Studium in Yale hierhergezogen.«

»Oh!« Scott zeigte sich höflich beeindruckt.

»Meine Mutter stammte aus dieser Gegend. Mein Vater ist aus gesundheitlichen Gründen hergekommen – er lebte vorher in Baltimore.«

»Oh!«

»Aber inzwischen« – dies in leicht herablassendem Tonfall – »gehören wir natürlich genauso gut hierher wie an irgendeinen anderen Ort.«

»Natürlich.«

»Abgesehen davon, dass ich gerne an der Ostküste leben würde und Vater nicht dazu bewegen kann«, schloss sie.

Es war jetzt nach ein Uhr morgens, und die Allee lag fast verlassen da. Dann und wann tauchten vor ihnen oberhalb einer Steigung zwei gelbe Scheiben auf, die sich als ein spät heimkehrendes Auto entpuppten. Ansonsten waren sie allein in einer gleichbleibenden, rauschenden Dunkelheit. Der Mond war untergegangen.

»Wenn die Straße wieder näher am Fluss entlangläuft, könnten wir doch mal anhalten und ihn uns anschauen«, schlug er vor.

Yanci lächelte innerlich. Das war offenkundig so eine Bemerkung, wie sie ein junger Mann aus ihrem Bekanntenkreis als einen ›internationalen Knutschwink‹ bezeichnete, einen Vorschlag also, der auf natürliche Weise eine Gelegenheit für einen Kuss herbeiführen sollte. Sie dachte nach. Bisher hatte der Mann noch keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht. Er sah gut aus, war offensichtlich wohlhabend und kam aus New York. Auf dem Tanz hatte sie angefangen, ihn zu mögen, gegen Ende des Abends immer mehr; dann hatte der grässliche Zwischenfall bei der Ankunft ihres Vaters kaltes Wasser über diese beginnende Wärme gegossen. Und nun – es war November, die Nacht war kalt. Und dennoch –

»Gut«, stimmte sie plötzlich zu.

Die Straße gabelte sich; Yanci bog ab und brachte den Wagen hoch oberhalb des Flusses zum Stehen.

»Gut so?«, fragte sie in die tiefe Stille hinein, die auf das Abschalten des Motors folgte.

»Danke.«

»Gefällt es Ihnen hier?«

»Fast. Nicht ganz.«

»Warum nicht?«

»Das sage ich Ihnen gleich«, antwortete er. »Warum heißen Sie Yanci?«

»Der Name kommt in der Familie häufig vor.«

»Er ist sehr schön.« Zärtlich wiederholte er ihn ein paarmal. »Yanci – er hat den ganzen Charme von Nancy, ohne dabei geziert zu klingen.«

»Wie heißen Sie?«, fragte sie.

»Scott.«

»Und weiter?«

»Kimberly. Wussten Sie das nicht?«

»Ich war mir nicht sicher. Mrs. Rogers hat so genuschelt, als sie uns vorstellte.«

Eine kleine Pause trat ein.

»Yanci«, wiederholte er, »die schöne Yanci mit den dunkelblauen Augen und der schläfrigen Seele. Wissen Sie, warum es mir hier noch nicht ganz gefällt, Yanci?«

»Nein, warum?«

Unmerklich hatte sie ihr Gesicht näher zu ihm hinbewegt und wartete mit leicht geöffneten Lippen auf eine Antwort, die ihre Frage, das wusste er jetzt, ihm gewährt hatte.

Ohne Eile beugte er sich vor und berührte ihre Lippen.

Er seufzte, und beide waren auf eine gewisse Art erleichtert – erleichtert, dass die lästigen Konventionen, an die man sich in einer solche Situation noch immer halten musste, nun überwunden waren.

»Danke«, sagte er wie in dem Moment, als sie den Motor abgeschaltet hatte.

»Gefällt es dir hier jetzt?«

Ihre blauen Augen schauten ihn in der Dunkelheit an, ohne zu lächeln.

»In gewisser Weise – ja; aber das gilt natürlich nie uneingeschränkt.«

Erneut neigte er sich zu ihr hinüber, doch sie beugte sich vor und ließ den Motor an. Es war spät, und Yanci wurde allmählich müde. Der Zweck des Experiments war erfüllt. Er hatte bekommen, worum er sie gebeten hatte. Wenn er es schön gefunden hatte, würde er mehr davon haben wollen, und das gab ihr einen kleinen Vorsprung in dem Spiel, mit dem sie soeben begonnen hatte.

»Ich habe Hunger«, sagte sie. »Lass uns in die Stadt fahren und etwas essen.«

»Wie du meinst«, willigte er traurig ein. »Dabei hat es mir gerade so gut gefallen – hier am Mississippi.«

»Findest du mich schön?«, fragte sie beinahe wehleidig, während sie den Wagen zurücksetzte.

»Was für eine absurde Frage!«

»Aber ich höre es so gern.«

»Ich wollte es dir ja eben sagen – als du den Motor angelassen hast.«

In der Stadt setzten sie sich in ein menschenleeres Lokal, das die ganze Nacht geöffnet hatte, und aßen Eier mit Speck. Sie war jetzt bleich wie Elfenbein. Die Nacht hatte ihrem Gesicht die träge Lebendigkeit und matte Farbe entzogen. Sie bat ihn, ihr von New York zu erzählen, bis er jeden Satz mit »Na schön, also, mal sehen…« begann.

Danach fuhren sie nach Hause. Scott half ihr, den Wagen in der kleinen Garage zu parken, und vor der Haustür ließ sie ihn noch einmal die Andeutung eines Kusses auf ihre Lippen hauchen. Dann ging sie hinein.

Das längliche Wohnzimmer, das die ganze Breite des kleinen Stuckhauses einnahm, war in das rötliche Licht eines verlöschenden Kaminfeuers getaucht, welches bei Yancis Aufbruch hell gebrannt hatte und jetzt nur noch stetig und ohne Geflacker glomm. Sie nahm ein Holzscheit aus dem Korb und warf es auf die Kohlen – und erschrak, als sie aus dem Halbdunkel am anderen Ende des Raums eine Stimme vernahm.

»Schon zurück?«

Es war die Stimme ihres Vaters, noch nicht gänzlich nüchtern, aber wach und vernünftig.

»Ja. Bin spazieren gefahren«, antwortete sie kurz angebunden und setzte sich auf einen Korbstuhl beim Feuer. »Dann war ich noch in der Stadt und habe etwas gegessen.«

»Aha!«

Ihr Vater erhob sich und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl beim Feuer, wo er sich mit einem Seufzer ausstreckte. Als sie aus dem Augenwinkel verstohlen zu ihm hinüberschaute – entschlossen, eine angemessene Kälte zu zeigen –, nahm Yanci fasziniert zur Kenntnis, dass er innerhalb von zwei Stunden seine ganze Würde wiedererlangt hatte. Das ergrauende Haar war fast makellos frisiert; das feine Gesicht hatte die gleiche gesunde Farbe wie immer. Nur seine Augen, kreuz und quer von kleinen roten Linien durchzogen, zeugten von seiner jüngsten Ausschweifung.

»Hast du dich gut amüsiert?«

»Warum willst du das wissen?«, antwortete sie grob.

»Warum nicht?«

»Vorhin schien es dich nicht weiter zu interessieren. Ich habe dich gebeten, zwei Personen für mich nach Hause zu bringen, und du warst nicht einmal in der Lage, mit deinem eigenen Auto zu fahren.«

»Und ob ich dazu in der Lage war!«, protestierte er. »Ich hätte bei einem – bei einem verdammten Rennen in der Arana, Areaena mitfahren können. Diese Mrs. Rogers hat darauf bestanden, dass ihr junger Verehrer fährt, was hätte ich denn da machen sollen?«

»Das ist nicht ihr junger Verehrer«, erwiderte Yanci scharf. Sie sprach jetzt kein bisschen gedehnt mehr. »Sie ist so alt wie du. Er ist ihre Nichte – ihr Neffe, meine ich.«

»Verzeihung!«

»Ich finde, du solltest dich bei mir entschuldigen.« Sie merkte auf einmal, dass sie ihm gar nicht böse war. Eher tat er ihr leid, und ihr wurde bewusst, dass sie ihn mit ihrer Bitte, Mrs. Rogers nach Hause zu fahren, auf gewisse Weise in seiner Freiheit eingeschränkt hatte. Trotzdem, Disziplin war notwendig – es würde schließlich noch weitere Samstagabende geben. »Findest du nicht?«

»Es tut mir leid, Yanci.«

»Gut, ich nehme deine Entschuldigung an«, antwortete sie steif.

»Und ich werde es auch wiedergutmachen.«

Ihre blauen Augen verengten sich. Sie hoffte – sie wagte kaum zu hoffen, dass er mit ihr nach New York fahren würde.

»Mal sehen«, sagte er. »Wir haben November, nicht? Den wievielten?«

»Den dreiundzwanzigsten.«

»Gut, ich sage dir, was ich tun werde.« Er tippte zögernd die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander. »Ich werde dir etwas schenken. Ich wollte dich schon den ganzen Herbst über auf eine Reise schicken, aber die Geschäfte liefen schlecht.« Fast hätte sie gelächelt – als ob die Geschäfte von irgendeiner Bedeutung für sein Leben wären. »Aber du musst auch mal eine Reise machen. Ich schenke sie dir.«

Er stand erneut auf, ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich daran.

»Ich habe seit geraumer Zeit ein bisschen Geld auf einer New Yorker Bank liegen«, sagte er, während er in einer Schublade nach einem Scheckheft kramte. »Und beabsichtige schon länger, das Konto aufzulösen. Lass – mal – sehen. Ich muss nur –« Sie hörten das Kratzen seines Stiftes. »Wo zum Teufel ist der Löscher? Ah!«

Er kam zum Feuer zurück, und ein pinkfarbenes, längliches Stück Papier flatterte ihr in den Schoß.

»Aber Vater!«

Es war ein Scheck über dreihundert Dollar.

»Kannst du dir das denn leisten?«, fragte sie.

»Ist schon in Ordnung«, sagte er und nickte. »Es kann ja gleichzeitig ein Weihnachtsgeschenk sein, und du wirst wohl auch noch ein Kleid oder einen Hut oder so etwas brauchen, bevor du losfährst.«

»Aber«, begann sie unsicher, »ich weiß gar nicht, ob ich das annehmen kann! Ich habe ja selber noch zweihundert auf meinem Konto. Meinst du wirklich –«

»O ja!« Er winkte mit einer großen, lässigen Geste ab. »Du brauchst mal Ferien. Du hast immer wieder von New York gesprochen, und ich möchte, dass du jetzt dorthin fährst. Ruf deine Freunde in Yale und an den anderen Colleges an, damit sie dich zur Prom oder dergleichen einladen. Das wäre doch schön. Du wirst dich gut amüsieren.«

Er ließ sich jäh auf seinem Stuhl nieder und stieß einen langen Seufzer aus. Yanci faltete den Scheck und steckte ihn tief in den Ausschnitt ihres Kleides.

»Ach«, sagte sie, jetzt wieder so leise und gedehnt, wie es sonst ihre Art war, »das ist wirklich wahnsinnig lieb von dir, aber ich möchte nicht so schrecklich verschwenderisch sein.«

Ihr Vater antwortete nicht. Er gab noch einen kleinen Seufzer von sich und lehnte sich schläfrig in seinem Stuhl zurück.

»Nach New York möchte ich natürlich schon sehr gerne«, fuhr Yanci fort.

Ihr Vater schwieg noch immer. Sie fragte sich, ob er eingeschlafen war.

»Schläfst du?«, fragte sie fröhlich. Sie beugte sich zu ihm hinunter; dann richtete sie sich wieder auf und schaute ihn an.

»Vater«, sagte sie zaghaft.

Ihr Vater regte sich nicht; die gesunde Farbe war plötzlich aus seinem Gesicht gewichen.

»Vater!«

Ihr dämmerte – und bei dem Gedanken wurde ihr kalt, und ein stählernes Korsett schnürte ihr die Brust zusammen –, dass sie allein im Zimmer war. Nach einem Augenblick der Panik sagte sie sich, dass ihr Vater tot war.

V

 

Yanci übte sich selbst gegenüber zwangsläufig Nachsicht – ganz ähnlich wie eine Mutter es ihrem wilden, verwöhnten Kind gegenüber tun mochte. Sie war weder ein rationaler Mensch, noch lebte sie nach einer eigenen, klar durchdachten Weltanschauung. Ihre spontane Reaktion auf eine solche Katastrophe wie den Tod ihres Vaters war daher hysterisches Selbstmitleid. Die ersten drei Tage waren ein einziger Alptraum; doch die mitfühlende Zivilisation, im Heilen der Wunden ihrer vom Glück begünstigten Kinder so unfehlbar wie die Natur, hatte eine gewisse Mrs. Oral, die Yanci schon immer verabscheut hatte, mit einem leidenschaftlichen Interesse für jedwede Krisen dieser Art ausgestattet. Im Grunde war es Mrs. Oral, die Tom Bowman beerdigte. Am Morgen nach seinem Tod hatte Yanci ihrer Tante mütterlicherseits in Chicago telegrafiert, doch die unaufdringliche, begüterte Dame hatte bislang nicht geantwortet.

Vier Tage lang saß Yanci von morgens bis abends in ihrem Zimmer im ersten Stock und hörte auf der Veranda Schritte kommen und gehen, und dass die Türklingel abgeschaltet worden war, verstärkte ihre Nervosität nur noch. Es war eine Anweisung von Mrs. Oral gewesen! Türklingeln würden immer abgeschaltet! Nach der Beerdigung ließ die Anspannung nach. In ihrem neuen schwarzen Kleid betrachtete Yanci sich im Wandspiegel und weinte, weil sie sich selbst so traurig und schön fand. Sie ging hinunter, versuchte in einer Filmzeitschrift zu lesen und hoffte, dass sie nicht allein im Haus sein würde, wenn kurz nach vier Uhr die Winterdunkelheit hereinbrach.

An diesem Nachmittag hatte Mrs. Oral dem Dienstmädchen carpe diem gesagt, und Yanci wollte eben in der Küche nachsehen, ob das Mädchen schon gegangen war, als plötzlich die wieder eingeschaltete Klingel durchs Haus schellte. Yanci erschrak. Sie wartete einen Moment, dann öffnete sie die Tür. Es war Scott Kimberly.

»Ich wollte mich nur mal nach dir erkundigen«, sagte er.

»Ach! Mir geht es schon viel besser, danke«, antwortete sie mit jener stillen Würde, die ihrer Rolle angemessen schien.

Sie standen etwas befangen in der Diele und erinnerten sich beide an ihre letzte, halb amüsante, halb romantische Begegnung. Es schien ein so respektloses Vorspiel zu einem derart traurigen Unglücksfall zu sein. Jetzt gab es nichts mehr, was sie verband, keine Kluft, die durch eine zarte Anspielung auf ihre gemeinsame Vergangenheit überbrückt werden konnte, und auch keine Grundlage, auf der Scott hätte vorgeben können, ihren Kummer zu teilen.

»Möchtest du nicht hereinkommen?«, fragte sie und kaute nervös auf ihrer Lippe herum. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und setzte sich neben sie aufs Sofa. Kaum eine Minute später weinte sie an seiner Schulter, einfach weil er da war und lebendig und freundlich war.

»Na, na!«, sagte er, während er den Arm um sie legte und ihr tölpisch auf die Schulter klopfte. »Na, na, na!«

Er war klug genug, ihrem Verhalten keine tiefere Bedeutung zuzuschreiben. Sie war von Kummer und Einsamkeit und Sentimentalität überwältigt; praktisch jede andere Schulter hätte es auch getan. Der biologische Reiz, der für sie beide davon ausging, war nicht größer, als wäre Scott hundert Jahre alt gewesen. Nach wenigen Augenblicken richtete sie sich auf.

»Entschuldige«, murmelte sie mit brüchiger Stimme. »Aber es ist – es ist heute so trostlos hier im Haus.«

»Ich weiß genau, wie du dich fühlst, Yanci.«

»Hast du – hast du Tränen auf dein Jackett bekommen?«

In Reaktion auf die angespannte Stimmung brachen sie beide in hysterisches Gelächter aus, und damit gewann sie für den Moment ihren Anstand wieder.

»Ich weiß auch nicht, warum ich mich ausgerechnet an deiner Schulter ausheulen muss«, jammerte sie. »Eigentlich ist es nicht meine Art, das bei je-hedem zu machen, der gerade hereinkommt.«

»Ich nehme es als – als Kompliment«, antwortete er sachlich, »und ich verstehe, in welcher Verfassung du bist.« Dann, nach einer Pause: »Weißt du schon, was du jetzt tun wirst?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ka-haum«, murmelte sie zwischen kleinen Seufzern. »Ich da-hachte, ich fahre vielleicht eine Zeitlang zu meiner Tante nach Chicago.«

»Das wäre bestimmt das Beste – ganz bestimmt.« Und weil ihm sonst nichts einfiel, was er hätte sagen können, fügte er hinzu: »Ja, ganz bestimmt das Beste.«

»Was treibst du – hier in der Stadt?«, fragte sie zwischen winzigen Atemzügen und betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch.

»Ach, ich bin – bei den Rogers’. Schon eine Weile.«

»Zum Jagen?«

»Nein, nur so.«

Er sagte ihr nicht, dass er ihretwegen geblieben war. Sie hätte es womöglich als dreist empfunden.

»Verstehe«, sagte sie, obwohl sie es nicht verstand.

»Ich frage mich, ob ich nicht irgendetwas für dich tun kann, Yanci. Vielleicht für dich in die Stadt fahren oder Besorgungen machen – was auch immer. Vielleicht möchtest du dich auch warm einpacken und mal an die frische Luft kommen. Ich könnte dich abends einmal in deinem Wagen spazieren fahren, und niemand würde dich sehen.«

Er verschluckte das letzte Wort, als ihm dämmerte, wie unbedacht sein Vorschlag war. Voller Entsetzen starrten sie einander an.

»O nein, danke!«, rief sie. »Ich möchte wirklich nicht spazieren fahren.«

Zu seiner Erleichterung ging die Haustür auf, und eine ältere Dame kam herein. Es war Mrs. Oral. Scott stand sofort auf und trat den Rückzug an.

»Wenn Sie sicher sind, dass ich nichts für Sie tun kann…«

Yanci stellte ihn Mrs. Oral vor; dann ließ sie die ältere Frau beim Feuer stehen und begleitete ihn hinaus. Sie hatte plötzlich eine Idee.

»Warte einen Moment.«

Sie lief die Stufen zum Haus hinauf und kehrte kurz darauf mit einem pinkfarbenen Zettel in der Hand zurück.

»Du könntest doch etwas für mich tun«, sagte sie. »Geh bitte mit dem Scheck hier zur First National Bank und lös ihn ein. Du kannst mir das Geld jederzeit vorbeibringen.«

Scott holte seine Brieftasche hervor und öffnete sie. »Ich könnte ihn auch jetzt gleich einlösen«, schlug er vor.

»Ach, es eilt nicht.«

»Aber warum nicht jetzt.« Er nahm drei neue Hundertdollarscheine heraus und gab sie ihr.

»Das ist wahnsinnig lieb von dir«, sagte Yanci.

»Nicht der Rede wert. Darf ich, wenn ich das nächste Mal in der Gegend bin, bei dir vorbeischauen?«

»Ich würde mich freuen.«

»Dann werde ich das tun. Ich reise heute Abend zurück an die Ostküste.«

Die Tür ging zu, und er stand allein in der verschneiten Dämmerung, während Yanci zu Mrs. Oral zurückkehrte. Mrs. Oral wollte Pläne erörtern.

»Und, meine Liebe, was gedenkst du jetzt zu tun? Wir sollten wohl irgendeinen Plan haben, nach dem wir vorgehen können, also wollte ich mal nachfragen, ob du schon etwas Konkretes ins Auge gefasst hast.«

Yanci versuchte nachzudenken. Sie hatte das Gefühl, entsetzlich allein auf der Welt zu sein.

»Ich habe noch nichts von meiner Tante gehört. Heute Morgen habe ich ihr noch einmal telegrafiert. Vielleicht ist sie in Florida.«

»Und dann würdest du dort hingehen?«

»Ich glaube schon.«

»Und das Haus würdest du aufgeben?«

»Ich glaube schon.«

Mrs. Oral blickte sich mit gelassenem Pragmatismus um. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht selbst gerne hier wohnen würde, sofern Yanci das Haus aufgab.

»Und weißt du denn«, fuhr sie fort, »wie du finanziell dastehst?«

»Ganz gut, nehme ich an«, antwortete Yanci gleichgültig. Und dann mit einer plötzlichen Gefühlsaufwallung: »Es war genug für zwei-hei da; dann sollte es wohl auch für ei-heinen reichen.«

»Das meine ich nicht«, sagte Mrs. Oral. »Ich meine: Weißt du über die Einzelheiten Bescheid?«

»Nein.«

»Nun, das dachte ich mir. Und ich finde, du solltest über alle Einzelheiten Bescheid wissen – einen detaillierten Bericht darüber bekommen, welcher Art dein Vermögen ist und wo es liegt. Deshalb habe ich Mr. Haedge angerufen, der deinen Vater persönlich sehr gut kannte, und ihn gebeten, heute Nachmittag herzukommen und die Unterlagen durchzusehen. Er wird übrigens auch bei der Bank deines Vaters vorbeigehen und sich dort über alle Einzelheiten informieren. Ich glaube nicht, dass dein Vater ein Testament hinterlassen hat.«

Einzelheiten! Einzelheiten! Einzelheiten!

»Danke«, sagte Yanci. »Das wäre sehr – nett.«

Mrs. Oral nickte drei oder vier Mal energisch mit dem Kopf, als setze sie dicke Punkte. Dann stand sie auf.

»Und jetzt mache ich dir, falls Hilma schon fort ist, einen Tee. Möchtest du ein wenig Tee?«

»Vielleicht.«

»Gut, dann mache ich dir einen schönen Tee.«

Tee! Tee! Tee!

Mr. Haedge, der aus einer der besten schwedischen Familien der Stadt stammte, traf um fünf Uhr ein. Er begrüßte Yanci mit Leichenbittermiene; sagte, er habe sich schon einige Male nach ihr erkundigt; habe bereits die Grabträger bestellt und werde jetzt im Handumdrehen herausfinden, wie sie dastehe. Ob es denn wohl ein Testament gebe? Sie wisse es nicht? Nun, wahrscheinlich gebe es keins.

Es gab eins. Er fand es fast augenblicklich in Mr. Bowmans Schreibtisch – doch dann arbeitete er an jenem Abend bis elf, ohne sonst noch viel zu finden. Am nächsten Morgen kam er um acht, ging um zehn in der Stadt zur Bank, von dort zu einer gewissen Maklerfirma, und um zwölf stand er wieder vor Yancis Tür. Er hatte Tom Bowman einige Jahre lang gekannt und war doch aufs Äußerste erstaunt, als er entdeckte, in welchem Zustand der gutaussehende Galan seine Angelegenheiten hinterlassen hatte.

Er beriet sich mit Mrs. Oral und teilte einer erschrockenen Yanci noch am selben Nachmittag in gemessenen Worten mit, dass sie so gut wie mittellos sei. Mitten in dieser Unterredung traf ein Telegramm aus Chicago ein, des Inhalts, dass ihre Tante in der vergangenen Woche zu einer Orientreise aufgebrochen sei und erst im späten Frühjahr zurückerwartet werde.

Die schöne Yanci, so großzügig, so sorglos und lässig im Umgang mit ihren herrlichen Adjektiven, hatte für dieses Desaster keines parat. Sie schlich die Treppe hinauf wie ein gekränktes Kind und setzte sich vor den Spiegel, wo sie sich, um Trost zu finden, das üppige Haar bürstete. Sie bürstete es mit einhundertfünfzig Strichen, ganz nach Vorschrift, und dann noch weitere einhundertfünfzig Mal – zu verstört, um mit der nervösen Bewegung aufzuhören. Sie bürstete es, bis ihr der Arm weh tat, nahm die Bürste in die andere Hand und machte weiter.

Das Dienstmädchen fand sie am nächsten Morgen in einem vom schweren, süßen Duft verschütteten Parfüms erfüllten Zimmer vornübergebeugt über den Toilettenartikeln auf der Frisierkommode liegen und schlafen.

VI

 

Um genau zu sein – was Mr. Haedge in deprimierendem Maße war –, hatte Tom Bowman ein mehr als ausreichendes Bankguthaben hinterlassen; das heißt mehr als ausreichend, um den posthumen, die eigene Person betreffenden Forderungen nachzukommen. Außerdem gab es das in zwanzig Jahren angesammelte Mobiliar, einen launischen Roadster mit asthmatischen Zylindern und zwei Eintausend-Dollar-Wertpapiere einer Juwelierladenkette, die 7,5 Prozent Zinsen abwarfen. Leider waren diese auf dem Rentenmarkt unbekannt.

Als sie Wagen und Möbel verkauft und den Stuckbungalow vermietet hatten, betrachtete Yanci trübsinnig die verbleibenden Mittel. Sie hatte rund eintausend Dollar auf dem Konto. Wenn sie sie anlegte, würde ihr Nettoeinkommen auf fünfzehn Dollar im Monat steigen. Damit würde sie, wie Mrs. Oral fröhlich bemerkte, das Pensionszimmer, das sie für Yanci gemietet hatte, bis an ihr Lebensende bezahlen können. Yanci war von dieser Nachricht derart ermutigt, dass sie in Tränen ausbrach.

Also tat sie, was jedes schöne Mädchen in einer vergleichbaren Notlage getan hätte. Mit seltener Entschlossenheit erklärte sie Mr. Haedge, dass sie ihre eintausend Dollar auf dem Konto belassen wolle, marschierte dann aus seinem Büro, überquerte die Straße und ging in einen Schönheitssalon, um sich das Haar wellen zu lassen. Das hob ihre Stimmung in erstaunlichem Maß. Ja, sie zog sogar noch am selben Tag aus der Privatpension aus und mietete sich ein kleines Zimmer im besten Hotel der Stadt. Wenn sie schon in Armut versinken musste, würde sie es wenigstens in großem Stil tun.

Die drei neuen Einhundertdollarscheine, das letzte Geschenk ihres Vaters, hatte sie in das Futteral ihres besten Trauerhuts eingenäht. Was sie sich von ihnen erwartete und warum sie sie auf diese Weise aufbewahrte, wusste sie nicht; vielleicht tat sie es, weil sie unter glücklichen Vorzeichen an die Scheine gelangt war und man dank der gewissen Fröhlichkeit, die ihrem knisternden, jungfräulichen Papier innewohnte, womöglich schönere Dinge damit kaufen konnte als einsame Mahlzeiten und enge Hotelbetten. Sie waren Hoffnung, Jugend, Glück und Schönheit; in gewisser Weise begannen sie, für all jene Dinge zu stehen, die sie in jener Novembernacht verloren hatte, als Tom Bowman sie rücksichtslos an den Rand der Welt geführt hatte und dann selbst abgestürzt war, so dass sie den Weg zurück allein finden musste.

Yanci blieb drei Monate im Hiawatha Hotel und merkte, dass ihre Freunde nach den ersten Beileidsbesuchen Vergnüglicheres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, als sie in Yancis Gesellschaft zu verbringen. Jerry O’Rourke kam eines Tages mit wildem Keltenblick zu ihr und verlangte, dass sie ihn auf der Stelle heiraten solle. Als sie ihn um Bedenkzeit bat, verließ er wutschnaubend den Raum. Später erfuhr sie, dass man ihm eine Stellung in Chicago angeboten hatte und er noch am selben Abend abgereist war.

Ängstlich und unsicher dachte sie nach. Sie hatte schon von Menschen gehört, die aus ihrer Gesellschaftsschicht, aus dem Leben, herausgefallen waren. Ihr Vater hatte ihr von einem Mann aus seinem Jahrgang im College erzählt, der später in Gastwirtschaften arbeitete, wo er für den Preis eines Bieres Messinggeländer polierte; und sie wusste auch, dass es in dieser Stadt junge Mädchen gab, mit deren Müttern ihre Mutter als kleines Kind gespielt hatte, die inzwischen jedoch arm und gewöhnlich waren; die in Geschäften arbeiteten und ins Proletariat hineingeheiratet hatten. Aber dass ihr selbst ein solches Schicksal drohen sollte – wie absurd! Sie kannte doch jeden! Sie war schon überallhin eingeladen worden; schließlich war ihr Urgroßvater Gouverneur einer der Südstaaten gewesen!

Sie hatte ihrer Tante nach Indien und dann noch einmal nach China geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Daraus schloss sie, dass sich die Reiseroute ihrer Tante geändert hatte, was sich bestätigte, als eine Postkarte aus Honolulu eintraf, die auf keinerlei Kenntnis von Tom Bowmans Tod hindeutete, sondern ankündigte, sie werde zusammen mit einigen anderen Reisenden an die afrikanische Ostküste fahren. Damit war auch die letzte Hoffnung dahin. Die verträumte, schläfrige Yanci war nun endlich auf sich selbst gestellt.

»Warum gehen Sie nicht eine Zeitlang arbeiten?«, schlug Mr. Haedge etwas gereizt vor. »Das tun heutzutage viele anständige junge Frauen, einfach, um sich mit etwas zu beschäftigen. Elsie Prendergast zum Beispiel, die Gesellschaftsnachrichten für das Bulletin schreibt, und die kleine Semple –«

»Das geht nicht«, sagte Yanci knapp; in ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich reise im Februar an die Ostküste.«

»An die Ostküste? Ach, besuchen Sie dort jemanden?«

Sie nickte. »Ja, ich besuche jemanden«, log sie, »deshalb lohnt es sich kaum noch, arbeiten zu gehen.« Sie hätte weinen können, schaffte es jedoch, ein hochmütiges Gesicht aufzusetzen. »Für eine Zeitung berichten würde ich allerdings auch gerne mal, bloß so zum Spaß.«

»Ja, das macht großen Spaß«, stimmte Mr. Haedge leicht ironisch zu. »Aber Eile ist wohl nicht geboten. Sie haben ja sicher noch eine Menge von den eintausend Dollar übrig.«

»O ja, eine Menge!«

Sie wusste, dass sie noch ein paar hundert übrig hatte.

»Nun, dann wird ein wenig Erholung, ein Tapetenwechsel wohl das Beste für Sie sein.«

»Ja«, antwortete Yanci. Ihre Lippen zitterten, und als sie aufstand, war sie kaum in der Lage, sich zu beherrschen. Mr. Haedge wirkte auf eine so unpersönliche Weise kalt. »Deshalb fahre ich ja auch weg. Erholung ist genau das, was ich brauche.«

»Ich denke, das ist sehr klug von Ihnen.«

Was Mr. Haedge gedacht hätte, wenn er die zahlreichen Entwürfe eines gewissen Briefes zu Gesicht bekommen hätte, die sie an jenem Abend schrieb, ist zweifelhaft. Hier sind zwei der früheren Versionen. Die in Klammern gesetzten Wörter sind Alternativvorschläge:

Lieber Scott,
da wir uns seit jenem Tag, als ich dummer Esel in Dein Jackett geweint habe, nicht mehr gesehen haben, dachte ich mir, ich schreibe Dir, um Dich wissen zu lassen, dass ich sehr bald an die Ostküste kommen werde, und Dich zu fragen, ob Du Lust hättest, mit mir zu Mittag (Abend) zu essen oder etwas in der Art. Ich wohne im Moment in einem Zimmer (einer Suite) im Hiawatha Hotel und warte auf meine Tante, bei der ich leben (wohnen) werde und die diesen Monat (dieses Frühjahr) aus China zurückkehrt. Ich habe etliche Einladungen, Bekannte an der Ostküste zu besuchen etc., und da dachte ich, das könnte ich jetzt gut machen. Daher würde ich Dich gerne treffen…

Dieser Entwurf endete hier und landete im Papierkorb. Nach einer weiteren Stunde Arbeit hatte sie Folgendes zustande gebracht:

Mein lieber Mr. Kimberly,
ich habe mich oft (manchmal) gefragt, wie es Ihnen wohl ergangen ist, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Ich komme nächsten Monat, bevor ich zu meiner Tante nach Chicago fahre, an die Ostküste, und dann müssen Sie mich besuchen. Ich gehe im Moment kaum aus, aber mein Arzt meint, ich brauche ein bisschen Abwechslung, also gedenke ich mit ein paar fröhlichen Begegnungen an der Ostküste gegen die Anstandsregeln zu verstoßen –

Als sie schließlich völlig verzagt war, schrieb sie einfach drauflos, eine schlichte Nachricht ohne Erklärung oder Vorwand, zerriss sie und ging zu Bett. Am nächsten Morgen fischte sie sie aus dem Papierkorb, fand, dass es letztlich von allen der beste Entwurf war, und schickte Scott Kimberly eine ordentliche Abschrift davon. Die Nachricht lautete nun folgendermaßen:

Lieber Scott,
nur ein paar Zeilen, um Dich wissen zu lassen, dass ich ab dem siebten Februar im Hotel Ritz-Carlton wohnen werde, wahrscheinlich für zehn Tage. Solltest Du mich eines verregneten Nachmittags anrufen, lade ich Dich gerne zum Tee ein.
Herzlich,
Yanci Bowman

VII

 

Yanci stieg nur deshalb im Ritz ab, weil sie Scott Kimberly einmal erzählt hatte, sie steige immer dort ab. Als sie in New York ankam – einem kalten New York, einem seltsam bedrohlichen New York, so ganz anders als die ausgelassene Stadt der Theater und Hotelflur-Rendezvous, die sie kannte –, hatte sie noch genau zweihundert Dollar im Portemonnaie.

Ein Großteil ihres Bankguthabens war in ihren Lebensunterhalt geflossen, und schließlich hatte sie auch noch ihre heiligen dreihundert Dollar angebrochen, um die schwere, schwarze Kleidung, die sie beiseitegelegt hatte, gegen hübsche, feine Vierteltrauerkleider einzutauschen.

Sie betrat das Hotel just in dem Augenblick, als seine fabelhaft gekleideten Gäste sich zum Mittagessen versammelten, und es zehrte an ihrem Selbstvertrauen, sich gelangweilt und ungezwungen zu geben. Gewiss wussten die Angestellten am Empfang über den Inhalt ihres Geldbeutels Bescheid. Sie bildete sich sogar ein, dass die Pagen hinter vorgehaltener Hand über die ausländischen Aufkleber lachten, die sie mit Wasserdampf von einem alten Überseekoffer ihres Vaters abgelöst und auf ihrem eigenen Koffer angebracht hatte. Dieser letzte Gedanke versetzte sie in Panik. Vielleicht waren die Hotels und Schiffe mit den großartigen Namen schon längst nicht mehr in Betrieb!

Während sie mit den Fingern auf den Rezeptionstresen trommelte, überlegte sie, ob es ihr für den Fall, dass man ihr ein Zimmer verweigerte, gelingen würde, ein unbekümmertes Lächeln aufzusetzen und lässig genug hinauszuschlendern, um zwei in der Nähe stehende, teuer gekleidete Damen zu täuschen. Das Selbstvertrauen von zwanzig Jahren hatte sich ziemlich schnell in Luft aufgelöst. Drei Monate ohne Sicherheit hatten Yancis Seele einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt.

»Vierundzwanzig zweiundsechzig«, sagte der Mann am Empfang kühl.

Ihr Herz beruhigte sich wieder, als sie dem Pagen zum Fahrstuhl folgte und im Vorbeigehen einen nonchalanten Blick auf die beiden modisch gekleideten Damen warf. Waren ihre Röcke lang oder kurz? Länger, wie sie sah.

Sie überlegte, wie viel Saum man wohl aus ihrem neuen Stadtkostüm herauslassen konnte.

Beim Mittagessen schnellte ihre Stimmung in die Höhe. Der Oberkellner verneigte sich vor ihr. Das leise Gemurmel der Gespräche, das gedämpfte Summen der Musik trösteten sie. Sie bestellte Melonenfilets, Eggs Suzette und eine Artischocke, und als die Rechnung neben ihrem Teller lag, würdigte sie sie kaum eines Blickes, sondern schrieb nur ihre Zimmernummer darauf. Oben in ihrem Zimmer versuchte sie, das Telefonbuch aufgeschlagen vor sich auf dem Bett, ihre verstreuten weltstädtischen Bekannten ausfindig zu machen. Doch schon beim Anblick der Telefonnummern mit ihren hochnäsigen Etiketten, Plaza, Circle und Rhinelander, spürte sie, wie ihrem labilen Selbstvertrauen ein kalter Wind entgegenblies. Diese Mädchen, die sie aus der Schule kannte, von einem Sommer, einer privaten Party oder auch nur einem Prom-Wochenende her – welchen Anspruch sollte sie, mittellos und ohne Freunde, auf sie erheben können, welchen Reiz auf sie ausüben? Sie hatten ihre Liebschaften und Rendezvous, ihre im Voraus geplanten wöchentlichen Vergnügungen. Die Erinnerung an sie würde ihnen eher lästig sein.

Trotzdem rief sie vier der Mädchen an. Eine war gerade nicht zu Hause, eine hielt sich in Palm Beach auf, eine in Kalifornien. Die Einzige, die sie erreichte, sagte mit kräftiger Stimme, sie liege mit Grippe im Bett, werde Yanci jedoch anrufen, sobald sie sich wieder gut genug fühle, um auszugehen. Daraufhin schrieb Yanci die Mädchen ab. Sie würde die Illusion, sich gut zu amüsieren, auf andere Weise erzeugen müssen. Denn die Illusion musste erzeugt werden – das war Teil ihres Plans.

Sie schaute auf die Armbanduhr und sah, dass es drei Uhr nachmittags war. Scott Kimberly hätte inzwischen anrufen oder wenigstens eine Nachricht hinterlassen müssen. Nun, vermutlich war er beschäftigt – hielt sich in einem Club auf, dachte sie unbestimmt, oder kaufte Krawatten. Er würde vermutlich um vier anrufen.

Yanci war sich vollends darüber im Klaren, dass sie schnell ans Werk gehen musste. Sie hatte genau ausgerechnet, dass einhundertfünfzig Dollar, vorsichtig ausgegeben, sie zwei Wochen über Wasser halten würden, länger nicht. Noch hatte die Möglichkeit des Scheiterns, die Angst, am Ende dieser Frist ohne Freunde und ohne einen Penny dazustehen, sie nicht zu plagen begonnen.

Es war nicht das erste Mal, dass sie aus Spaß, um einer begehrten Einladung willen oder aus Neugier ganz bewusst versuchte, einen Mann zu erobern; aber es war das erste Mal, dass sie ihre Pläne unter dem Druck der Notwendigkeit und der Verzweiflung schmiedete.

Einer ihrer Trümpfe war stets ihre Herkunft gewesen, die Tatsache, dass sie den Eindruck vermittelte, umschwärmt, beliebt und glücklich zu sein. Jetzt musste sie diesen Eindruck selbst erzeugen, und das anscheinend aus dem Nichts. Scott musste auf irgendeine Weise glauben gemacht werden, dass ihr ein guter Teil New Yorks zu Füßen lag.

Um vier Uhr brach sie zur Park Avenue auf, wo die Sonne gerade spazieren ging, der Februartag sich, nach Frühling duftend, in aller Frische präsentierte und die hohen Apartmenthäuser ihrer Träume leuchtend weiß die Straße säumten. Hier würde sie nach einem fröhlichen, vom Vergnügen bestimmten Tagesablauf leben. In diesen vornehmen Damengeschäften, die man nicht ohne Kreditkarte betrat, würde sie die Vormittagsstunden damit zubringen, einzukaufen und einzukaufen, unaufhörlich und ohne an die Kosten zu denken; in diesen Restaurants würde sie mittags in Gesellschaft anderer eleganter Frauen speisen, stets mit Orchideen geschmückt und vielleicht mit einem absurd kleinen Spitz in den seidig glatten Armen.

Im Sommer – ja, im Sommer würde sie nach Tuxedo fahren, vielleicht zu einem makellosen, auf glanzvoller Höhe thronenden Haus, von wo aus sie eine Welt der Nachmittagstees und Bälle, der Reitturniere und Polospiele besuchen würde. In den Halbzeiten würden die Polospieler in ihren weißen Anzügen und Helmen sich bewundernd um sie scharen, und wenn sie von dannen rauschte, weil bereits der nächste herrliche Zeitvertreib lockte, wären ihr die Blicke etlicher neidischer, aber eingeschüchterter Frauen sicher.

Jeden zweiten Sommer würden sie natürlich nach Europa reisen. Sie begann, ein typisches Jahr zu planen, ein paar Monate hier- und ein paar Monate dorthin verteilend, so dass sie – das schloss Scott Kimberly ein – zu den Vorreitern der Saison avancieren würden, indem sie auf die kleinste Regung des gesellschaftlichen Barometers hin vom ländlichen zum urbanen Leben, von Palmen zu Pinien wechselten.

Sie hatte zwei Wochen Zeit, mehr nicht, um diese Position zu erlangen. Mit einem ekstatischen Gefühl der Entschlossenheit hob sie den Kopf zu dem höchsten der hohen weißen Apartmenthäuser empor.

»Es wird einfach wundervoll sein!«, sagte sie zu sich selbst.

Beinahe zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie keine übertriebenen Worte gewählt, um das Staunen auszudrücken, das in ihren Augen leuchtete.

VIII

 

Gegen fünf Uhr eilte sie zum Hotel zurück und erkundigte sich aufgeregt am Empfang, ob eine telefonische Nachricht für sie hinterlassen worden sei. Zu ihrer tiefen Enttäuschung war dies nicht der Fall. Kurz nachdem sie ihr Zimmer betreten hatte, klingelte das Telefon.

»Hier ist Scott Kimberly.«

Bei diesen Worten hallte ein Schlachtruf in ihrem Herzen wider.

»Ach, hallo!«

Ihr Ton – nicht kühl, sondern nur beiläufig – implizierte, dass sie ihn fast vergessen hatte.

Als sie die unvermeidliche Frage beantwortete, um welche Uhrzeit sie angekommen sei, breitete sich ein warmes Glühen in ihr aus. Jetzt, da er sich von der Verkörperung aller Reichtümer und Vergnügungen, nach denen es sie verlangte, in eine bloße männliche Stimme am Telefon verwandelt hatte, erstarkte ihr Selbstvertrauen. Männliche Stimmen waren männliche Stimmen. Man konnte sie manipulieren; man konnte sie dazu bringen, Silben zu intonieren, die der Verstand dahinter gar nicht billigte. Männliche Stimmen konnten nach Belieben traurig, zärtlich oder verzweifelt gemacht werden. Sie frohlockte. Der Lehm lag weich in ihren Händen.

»Möchtest du nicht heute Abend mit mir essen gehen?«, schlug Scott eben vor.

»Nun« – vielleicht besser nicht, dachte sie; lass ihn heute Abend an dich denken –, »ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, sagte sie. »Ich habe schon eine Verabredung zum Essen und fürs Theater. Es tut mir schrecklich leid.«

Ihre Stimme klang nicht so, als tue es ihr leid – sie klang höflich. Dann, als sei ihr plötzlich eine schöne Idee gekommen, wann und wo sie ihn in die Liste ihrer Verabredungen einschieben könnte: »Aber warum kommst du nicht diesen Nachmittag zum Tee hierher?«

Er werde sofort bei ihr sein. Er habe gerade Squash gespielt, wolle nur kurz unter die Dusche springen und sich dann auf den Weg machen. Yanci legte den Hörer auf und wandte sich, zu angespannt, als dass sie hätte lächeln mögen, mit ruhiger Effizienz dem Spiegel zu.

Mit kritischem Wohlwollen begutachtete sie ihre glänzenden Augen und ihr dunkles Haar. Dann suchte sie ein lavendelfarbenes Nachmittagskleid aus ihrem Koffer heraus und begann sich anzukleiden.

Sie ließ ihn sieben Minuten in der Lobby warten, bevor sie erschien; dann ging sie ihm mit einem freundlichen, trägen Lächeln entgegen.

»Hallo«, raunte sie. »Wie wunderbar, dich wiederzusehen. Wie geht es dir?« Und mit einem langen Seufzer: »Ich bin schrecklich müde. Ich war seit meiner Ankunft heute Morgen ununterbrochen unterwegs – erst einkaufen, dann wie der Wind zum Mittagessen und weiter zu einer Nachmittagsvorstellung. Ich habe alles gekauft, was ich gesehen habe. Ich weiß gar nicht, wie ich das alles bezahlen soll.«

Sie erinnerte sich lebhaft, wie sie ihm bei ihrer ersten Begegnung – in der sicheren Annahme, dass er ihr nicht glauben würde – gesagt hatte, sie sei ein Mauerblümchen. Eine solche Bemerkung konnte sie sich heute nicht erlauben, auch nicht im Scherz. Er sollte unbedingt denken, sie sei den ganzen Tag unterwegs gewesen.

Sie setzten sich an einen Tisch und bekamen Oliven-sandwichs und Tee serviert. Er sah so gut aus, dachte sie, und war so fabelhaft gekleidet. Seine grauen Augen blickten sie unter tadellos frisiertem, aschblondem Haar voller Interesse an. Sie fragte sich, wie er seine Zeit verbrachte, ob ihr Kleid ihm gefiel, woran er gerade dachte.

»Wie lange wirst du hier sein?«, fragte er.

»Zwei Wochen, mit Unterbrechungen. Ich fahre zur Februar-Prom nach Princeton und dann für ein paar Tage nach Westchester County, wo eine private Party stattfindet. Schockiert es dich, dass ich schon so bald wieder ausgehe? Vater hätte es so gewollt, weißt du. Er hatte sehr moderne Ansichten.«

Diese Ausführungen hatte sie sich im Zug überlegt. Sie würde auf keine private Party gehen. Sie war nicht zur Princetoner Prom eingeladen. All dies war jedoch notwendig, um besagte Illusion zu erzeugen. Die Illusion bedeutete alles.

»Und außerdem«, fuhr sie lächelnd fort, »sind zwei meiner alten Verehrer in der Stadt, was schön für mich ist.«

Sie sah Scott blinzeln und wusste, dass er die Bedeutung dieser Information erfasst hatte.

»Was sind deine Pläne für den Winter?«, fragte er. »Fährst du wieder heim?«

»Nein. Es ist nämlich so, dass meine Tante diese Woche aus Indien zurückkommt. Sie bezieht dann ihr Haus in Florida, und dort werden wir bis Mitte März bleiben. Danach fahren wir nach Hot Springs, und den Sommer verbringen wir vielleicht in Europa.«

Das war alles reine Erfindung. Ihr erster Brief an ihre Tante, der in schlichten Worten Nachricht von Tom Bowmans Tod gab, hatte seine Adressatin schließlich irgendwann erreicht. Ihre Tante hatte daraufhin mit ein paar dem Anlass gemäßen Zeilen ihr Beileid bekundet und mitgeteilt, sie werde im Laufe der nächsten zwei Jahre nach Amerika zurückkehren, es sei denn, sie beschließe, in Italien zu leben.

»Aber ich darf dich doch irgendwann mal sehen, solange du hier bist«, drängte Scott, nachdem er sich dieses eindrucksvolle Programm angehört hatte. »Wenn du heute Abend nicht mit mir essen kannst, wie wäre es dann am Mittwoch – also übermorgen?«

»Mittwoch? Mal überlegen.« Yanci runzelte in gespielter Nachdenklichkeit die Stirn. »Ich glaube, ich habe am Mittwoch eine Verabredung, aber ich bin mir nicht sicher. Ruf mich doch morgen an, dann sage ich dir Bescheid. Ich würde sehr gerne mit dir ausgehen, aber ich glaube, ich habe schon eine Verabredung.«

»Sehr schön, ich rufe dich also an.«

»Ja, tu das – so gegen zehn.«

»Bitte versuch doch, es möglich zu machen – egal wann.«

»Ich gebe dir Bescheid – wenn ich am Mittwochabend nicht mit dir essen kann, dann ganz bestimmt am Mittag.«

»Gut«, sagte er. »Und ins Theater gehen wir auch.«

Sie tanzten ein paarmal. Mit keinem Wort oder Zeichen verriet Yanci mehr als das oberflächlichste Interesse an ihm, bis sie ganz am Schluss die Hand ausstreckte, um ihm auf Wiedersehen zu sagen.

»Auf Wiedersehen, Scott.«

Für den Bruchteil einer Sekunde – so kurz, dass er nicht sicher sein würde, ob es überhaupt geschehen war, aber lange genug, um ihm, wie vage auch immer, jene Nacht an der Mississippi-Allee ins Gedächtnis zu rufen – schaute sie ihm in die Augen. Dann wandte sie sich rasch ab und eilte davon.

Sie aß in einer kleinen Teestube um die Ecke zu Abend. Es war eine sparsame Mahlzeit, die anderthalb Dollar kostete. Eine Verabredung war keineswegs damit verbunden und auch kein Mann, außer einem älteren Menschen in Gamaschen, der mit ihr zu reden versuchte, als sie aus der Tür trat.

IX

 

Yanci saß allein in einem der prächtigen Filmtheater – ein Luxus, den sie meinte sich erlauben zu können –, und während sie Mae Murray durch herrlich ausgeschmückte Szenerien wirbeln sah, ließ sie den ersten Tag Revue passieren. Im Rückblick war es ein eindeutiger Erfolg. Sie hatte den richtigen Eindruck vermittelt, sowohl ihren materiellen Wohlstand als auch ihre Haltung gegenüber Scott selbst betreffend. Es schien ihr das Beste, Abendverabredungen zu vermeiden. Sollte er die Abende für sich haben, an sie denken, sie sich in Gesellschaft anderer Männer vorstellen, ja sogar ein paar einsame Stunden in seinem Apartment verbringen und sich ausmalen, wie viel lustiger es wäre, wenn… Sollten Zeit und Abwesenheit für sie arbeiten.

Während sie sich eine Weile lang auf den Film konzentrierte, schätzte sie die Kosten des Apartments, in dem die Heldin ihr filmisches Unrecht ertrug. Sie bewunderte den schlanken italienischen Tisch, der eine Seite des großen Speisezimmers einnahm und von einer langen Bank flankiert war, was ihm die Anmutung von mittelalterlichem Luxus gab. Sie erfreute sich an der Schönheit von Mae Murrays Kleidern und Pelzen, ihren herrlichen Hüten, ihren klein wirkenden französischen Schuhen. Einen Augenblick später kehrten ihre Gedanken zu ihrem eigenen Drama zurück; sie fragte sich, ob Scott bereits verlobt war, und dabei wurde ihr ganz bang ums Herz. Aber es war doch unwahrscheinlich. Dafür hatte er sie nach ihrer Ankunft zu schnell angerufen, war an diesem Nachmittag zu freigebig mit seiner Zeit, zu interessiert und aufmerksam gewesen.

Nach dem Kino kehrte sie ins Ritz zurück, wo sie fast zum ersten Mal seit drei Monaten tief und glücklich schlief. Die Atmosphäre um sie herum erschien ihr jetzt gar nicht mehr kalt. Selbst der Mann am Empfang hatte freundlich und voller Bewunderung gelächelt, als Yanci um ihren Schlüssel bat.

Am Morgen um zehn rief Scott an. Yanci, die schon seit Stunden wach war, gab vor, von den Ausschweifungen der letzten Nacht noch ganz schläfrig zu sein.

Nein, sie könne am Mittwoch nicht mit ihm zu Abend essen. Es tue ihr schrecklich leid; sie habe, wie befürchtet, schon eine Verabredung. Aber sie könne mit ihm zu Mittag essen und am Nachmittag eine Theatervorstellung besuchen, wenn er sie rechtzeitig zum Tee wieder zurückbringe.

Sie verbrachte den Tag damit, auf den Straßen umherzustreifen. Im Doppeldecker – oben, aber nicht ganz vorne, wo Scott sie womöglich entdecken könnte – segelte sie auf dem Riverside Drive stadtauswärts und bei Anbruch der Winterdämmerung über die Fifth Avenue wieder zurück, und ihre Gefühle für New York und seine Herrlichkeiten vertieften und verstärkten sich. Hier wollte sie leben und reich sein, hier wollte sie von den Verkehrspolizisten an der Ecke mit einem Kopfnicken gegrüßt werden, wenn sie – mit einem kleinen Hund – in ihrer Limousine saß, und hier wollte sie sonntags zu einer stilvollen Kirche und von dort wieder zurückflanieren, während Scott, mit seinem Cutaway und hohen Hut sehr gutaussehend, verliebt neben ihr herspazierte.

Beim Mittagessen am Mittwoch beschrieb sie Scott zwei phantastische Tage. Sie erzählte ihm von einer Motorbootfahrt den Hudson hinauf und sagte ihm ihre Meinung zu zwei Theaterstücken, die sie gesehen habe – mit ihr ergebenen Männern an ihrer Seite, wie sie durchblicken ließ. Sie hatte in der Morgenzeitung sorgfältig über die Stücke nachgelesen und die beiden ausgewählt, über die sie die meisten Informationen sammeln konnte.

»Ach«, sagte er bestürzt, »du hast Dulcy schon gesehen? Ich habe zwei Karten dafür besorgt, aber du willst es ja bestimmt nicht noch einmal sehen.«

»Doch, doch, das macht mir gar nichts«, widersprach sie wahrheitsgemäß. »Wir waren spät da, weißt du, und außerdem fand ich es fabelhaft.«

Aber er wollte nichts davon hören, dass sie das Stück ein zweites Mal über sich ergehen ließ – er selbst kenne es im Übrigen auch schon. Es war ein Stück, das Yanci wahnsinnig gern gesehen hätte, doch nun musste sie hinnehmen, dass er die Karten gegen andere eintauschte, zumal gegen die schlechteren, die in letzter Minute noch zu haben waren. Manchmal kam ihr das Spiel ziemlich schwierig vor.

»Übrigens«, sagte er hinterher, als sie im Taxi zum Hotel zurückfuhren, »du fährst doch morgen nach Princeton, nicht wahr?«

Sie erschrak. Weder hatte sie sich klargemacht, dass die Prom schon so bald stattfinden würde, noch, dass Scott davon wissen könnte.

»Ja«, antwortete sie unverfroren. »Ich fahre morgen Nachmittag.«

»Mit dem Zug um zwanzig nach zwei, nehme ich an«, sagte Scott. Und dann: »Triffst du den Mann, mit dem du hingehst – in Princeton?«

Einen Moment lang war sie überrumpelt.

»Ja, er holt mich vom Zug ab.«

»Dann bringe ich dich zum Bahnhof«, schlug Scott vor. »Es wird voll sein, und es könnte schwierig werden, einen Träger zu finden.«

Ihr fiel nichts ein, was sie dagegen hätte sagen, kein sinnvoller Einwand, den sie hätte vorbringen können. Sie wünschte, sie hätte ihm erzählt, dass sie mit dem Auto fahre, doch jetzt sah sie keine elegante, plausible Möglichkeit mehr, ihre erste Aussage zu korrigieren.

»Das ist schrecklich nett von dir.«

»Und wenn du zurückkommst, wohnst du dann wieder im Ritz?«

»O ja«, antwortete sie. »Ich behalte meine Zimmer.«

Ihr Zimmer war das kleinste und billigste des Hotels.

Sie würde sich wohl oder übel von ihm an den Zug nach Princeton bringen lassen müssen; sie wusste einfach nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Als sie am nächsten Tag nach dem Mittagessen zu packen begann, hatte sie sich derart in die Situation hineinversetzt, dass sie alles in den Koffer tat, was sie auch mitgenommen hätte, wäre sie tatsächlich zu jenem Ball gefahren. Ihr Plan lief darauf hinaus, an der ersten Haltestelle auszusteigen und nach New York zurückzufahren.

Scott kam um halb zwei, um sie abzuholen, und sie nahmen ein Taxi zur Pennsylvania Station. Der Zug war, wie er erwartet hatte, sehr voll, doch er fand einen freien Platz für sie und verstaute ihr Gepäck in der Ablage.

»Ich rufe dich Freitag an, um zu hören, wie du dich benommen hast«, sagte er.

»In Ordnung. Ich werde brav sein.«

Ihre Blicke trafen sich, und in einer unerklärlichen, nur halb bewussten Gefühlsregung befanden sie sich einen Augenblick lang in vollkommener Übereinstimmung. Wenn Yanci erst zurück wäre, schien der Blick zu besagen, ach, dann…

Eine laute Stimme ließ sie zusammenzucken: »Na, so was – Yanci!«

Yanci schaute sich um. Zu ihrem Entsetzen entdeckte sie ein Mädchen namens Ellen Harley, eine jener Bekannten, die sie nach ihrer Ankunft angerufen hatte.

»Yanci Bowman! Also, dich hätte ich ja nun als Allerletzte hier erwartet! Wie geht’s?«

Yanci stellte ihr Scott vor. Ihr Herz klopfte heftig.

»Fährst du auch zur Prom? Wie reizend!«, rief Ellen. »Kann ich mich zu dir setzen? Ich wollte mich schon die ganze Zeit mit dir treffen. Mit wem gehst du denn zum Ball?«

»Kennst du nicht.«

»Vielleicht ja doch.«

Ihre Worte, die wie scharfe Krallen auf Yancis empfindsame Seele trafen, wurden von einem unverständlichen Ausbruch des Schaffners abgeschnitten. Scott verbeugte sich vor Ellen, warf Yanci einen ruhigen Blick zu und eilte davon.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Während Ellen ihren Koffer verstaute und ihren Pelzmantel abwarf, schaute Yanci sich um. Der Wagen wimmelte von fröhlichen Mädchen, deren aufgeregtes Geschnatter die feuchte, zähe Luft wie Rauch erfüllte. Hier und dort saß eine Anstandsdame dazwischen, ein massiger, bröckelnder Fels inmitten einer Blumenwiese, und prophezeite mit stummer und düsterer Fatalität das Ende aller Fröhlichkeit und Jugend. Wie oft war Yanci selber Teil solchen Treibens gewesen, unbekümmert und froh, hatte von den Männern geträumt, die sie kennenlernen würde, den geschundenen Kleppern, die sie am Bahnhof erwarteten, dem schneebedeckten Campus, den großen Kaminfeuern in den Clubhäusern und dem eigens angereisten Orchester, das mit trotzigem Wohlklang gegen den nahenden Morgen anspielte.

Und nun – nun war sie ein Eindringling, nicht geladen, nicht erwünscht. Wie am Tag ihrer Ankunft im Ritz hatte sie das Gefühl, dass ihre Maske ihr jeden Moment vom Gesicht gerissen und sie vor den Augen aller, die in diesem Wagen saßen, als Hochstaplerin entlarvt werden würde.

»Erzähl mir alles!«, sagte Ellen jetzt. »Erzähl, was du so getrieben hast. Ich habe dich letzten Herbst bei keinem einzigen Footballspiel gesehen.«

Womit sie Yanci wissen ließ, dass sie für ihr Teil bei jedem Spiel dabei gewesen war.

Der Schaffner bellte hinten im Wagen: »Nächster Halt Manhattan Transfer!«

Yancis Wangen brannten vor Scham. Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte – erwog ein Geständnis, verwarf es wieder, beantwortete Ellens Geschnatter mit ängstlicher Einsilbigkeit –, und als die Geschwindigkeit des Zuges mit unheilvoll polternden Bremsen nachzulassen begann, sprang sie einem verzweifelten Impuls folgend auf.

»Himmel!«, rief sie. »Ich habe meine Schuhe vergessen! Ich muss zurückfahren und sie holen.«

Ellen reagierte darauf mit ärgerlicher Effizienz.

»Ich nehme deinen Koffer«, sagte sie schnell, »du kannst ihn dann bei mir abholen. Ich wohne im Charter Club.«

»Nein!« Yanci kreischte beinahe. »Da ist mein Kleid drin!«

Ohne sich um die mangelnde Logik dieser Bemerkung zu scheren, schwang sie den Koffer mit geradezu übermenschlicher Anstrengung von der Ablage und taumelte, von den arroganten Blicken vieler Mädchen neugierig verfolgt, den Gang hinunter. Als sie, kaum dass der Zug gehalten hatte, auf dem Bahnsteig gelandet war, fühlte sie sich schwach und elend. Sie stand auf dem harten Zement, der das malerische alte Dorf von Manhattan Transfer kennzeichnet, und Tränen strömten ihr über die Wangen, als sie die herzlosen Waggons mit ihrer Fracht glücklicher Jugend gen Princeton rauschen sah.

Nach einer halben Stunde Wartezeit stieg Yanci in einen Zug und kehrte nach New York zurück. In nur dreißig Minuten hatte sie alles Selbstvertrauen, das in einer Woche gewachsen war, wieder verloren. Sie kam in ihr kleines Zimmer zurück und legte sich still aufs Bett.

X

 

Bis Freitag hatten sich Yancis Lebensgeister von der kalten Schwermut teilweise wieder erholt. Mitten am Vormittag Scotts Stimme am Telefon zu hören war wie ein Tonikum, und sie erzählte ihm mit überzeugender Begeisterung von den herrlichen Erlebnissen in Princeton, wofür sie aus ihren Erinnerungen an einen Ball schöpfte, an dem sie zwei Jahre zuvor teilgenommen hatte. Er würde sie gerne bald sehen, sagte er. Ob sie nicht am Abend mit ihm essen und ins Theater gehen wolle? Yanci überlegte; die Versuchung war groß. Ein Abendessen – am Essen hatte sie in den letzten Tagen gespart, und ein köstliches Diner in einem extravaganten Showtheater, gefolgt von einer musikalischen Komödie, reizte ihre ausgehungerte Phantasie durchaus; doch ihr Instinkt sagte ihr, dass der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen war. Sollte er warten. Sollte er ruhig noch etwas mehr, noch etwas länger träumen.

»Ich bin zu müde, Scott«, antwortete sie, größte Aufrichtigkeit mimend, »ich sag’s dir ganz ehrlich. Seit ich hier bin, war ich jeden Abend aus, ich bin wirklich halb tot. Ich werde mich bei der privaten Party am Wochenende erholen, und dann gehe ich mit dir essen, wann immer du willst.«

Er schwieg einen Moment lang, während sie erwartungsvoll den Hörer ans Ohr hielt.

»Auf einer Party wirst du dich auch gerade erholen«, entgegnete er, »außerdem ist es bis nächste Woche noch so lange hin. Ich kann es wirklich kaum erwarten, dich zu sehen, Yanci.«

»Ich auch nicht, Scott.«

Sie ließ eine Spur von Zärtlichkeit auf seinem Namen nachklingen. Als sie aufgelegt hatte, war sie wieder glücklich. Trotz ihrer Demütigung im Zug hatte ihr Plan Erfolg gehabt. Die Illusion war noch intakt; sie war fast vollendet. Im Verlauf von drei Begegnungen und einem halben Dutzend Telefonaten hatte sie es geschafft, mehr Spannung zwischen ihnen zu erzeugen, als wenn sie sich permanent gesehen und sich den Launen, Bekenntnissen und Täuschungen eines allen Regeln der Kunst gehorchenden Flirts ausgesetzt hätten.

Am Montag bezahlte sie die Hotelrechnung für die erste Woche. Die Höhe der Summe beunruhigte sie nicht – sie war darauf vorbereitet –, aber so viel Geld über den Tisch wandern zu sehen und sich klarzumachen, dass vom Geschenk ihres Vaters nur noch einhundertzwanzig Dollar übrig waren, bescherte ihr doch ein seltsam flaues Gefühl in der Magengrube. Sie beschloss, auf der Stelle zu List und Tücke zu greifen und Scott mittels einer sorgsam eingefädelten Begebenheit eine Art Falle zu stellen, um ihm am Ende der Woche endgültig zu zeigen, dass sie ihn liebte.

Als Köder für ihre Falle machte sie per Telefon einen gewissen Jimmy Long ausfindig, einen gutaussehenden jungen Mann, mit dem sie als kleines Mädchen gespielt hatte und der seit kurzem in New York arbeitete. Jimmy Long wurde auf raffinierte Weise dazu gebracht, sie am Mittwochnachmittag zu einer Theatervorstellung einzuladen. Er sollte sie um zwei Uhr in der Hotellobby abholen.

Am Mittwoch aß sie mit Scott zu Mittag. Seine Blicke folgten jeder ihrer Bewegungen, und als sie dies merkte, wurde sie von einer Woge zärtlicher Gefühle für ihn erfasst. Nachdem sie zuerst nur begehrt hatte, was er repräsentierte, war sie inzwischen, halb unbewusst, auf dem besten Weg, auch ihn selbst zu begehren. Dennoch erlaubte sie sich nicht, die Zügel schleifen zu lassen. Die Zeit war zu kurz, zu viel stand auf dem Spiel. Dass sie anfing, ihn zu lieben, verstärkte ihre Entschlossenheit nur.

»Was hast du heute Nachmittag vor?«, erkundigte er sich.

»Ich gehe ins Theater – mit einem Mann, der mir lästig fällt.«

»Inwiefern fällt er dir lästig?«

»Er möchte, dass ich ihn heirate, und ich glaube, ich möchte es nicht.«

Sie hatte nur den Hauch einer Betonung auf das Wort »glaube« gelegt. Sie wollte damit andeuten, dass sie sich nicht sicher war – jedenfalls nicht ganz.

»Heirate ihn nicht.«

»Das werde ich auch nicht tun – wahrscheinlich.«

»Yanci«, sagte er leise, »erinnerst du dich an die Nacht auf jener Allee…«

Sie wechselte das Thema. Es war Mittagszeit, und der Raum war voller Sonnenlicht. Es war nicht der richtige Ort und nicht die richtige Zeit. Wenn er sprach, musste sie jeden Aspekt der Situation unter Kontrolle haben. Er durfte nur sagen, was sie hören wollte; nichts anderes würde genügen.

»Es ist fünf Minuten vor zwei«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir sollten jetzt gehen. Ich muss meine Verabredung einhalten.«

»Hast du denn Lust?«

»Nein«, sagte sie schlicht.

Das schien ihn zufriedenzustellen, und sie gingen in die Lobby. Dann erblickte Yanci einen Mann, der offensichtlich voller Unbehagen und in einer Aufmachung, wie man sie an keinem Stammgast des Ritz je zu Gesicht bekommen hätte, dort wartete. Es war Jimmy Long, vor nicht allzu langer Zeit einer der begehrtesten jungen Männer in seiner westlichen Heimatstadt. Und jetzt – er trug doch tatsächlich einen grünen Hut! Sein Jackett, etliche Saisons alt, war eindeutig das Erzeugnis eines bekannten Konfektionswarenhauses. Seine Schuhe, lang und schmal, bogen sich an den Spitzen nach oben. Vom Kopf bis zu den Füßen war alles an ihm falsch, was nur irgend falsch sein konnte. Verlegen war er nur aus Instinkt, völlig ahnungslos, wie linkisch er wirkte, ein Scheusal, eine Nemesis, ein Graus.

»Hallo, Yanci!«, rief er und kam ihr sichtbar erleichtert entgegen.

Mit heroischer Anstrengung wandte Yanci sich Scott zu, damit er den Blick auf sie gerichtet hielt. Noch während sie das tat, registrierte sie, wie untadelig sein Jackett und seine Krawatte aussahen.

»Danke für das Mittagessen«, sagte sie mit strahlendem Lächeln. »Bis morgen.«

Dann lief, nein: stürzte sie auf Jimmy Long zu, ignorierte seine ausgestreckte Hand und schob ihn – mit einem raschen »Komm schnell!«, um sein etwas beleidigtes Erstaunen zu mildern – so ungestüm durch die Drehtüren, dass sie überall anstießen.

Der Vorfall bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sie tröstete sich damit, dass Scott den Mann nur flüchtig gesehen und vermutlich ohnehin nur auf sie geachtet hatte. Trotzdem war sie entsetzt, und es ist zweifelhaft, ob ihre Gesellschaft Jimmy Long genügend Freude bereitete, um ihn für die billigen Plätze in der zwanzigsten Reihe, die er im Black’s Drugstore erworben hatte, zu entschädigen.

Jimmy Long mochte zwar als Köder jämmerlich versagt haben, doch am Donnerstag kam es zu einer Begebenheit, die ihr große Befriedigung verschaffte und ihre Geistesgegenwart bewies. Sie hatte eine Verabredung zum Mittagessen erfunden, und Scott wollte sie um zwei Uhr abholen, um sie ins Hippodrom auszuführen. Unvorsichtigerweise aß sie im Speisesaal des Ritz zu Mittag und schlenderte fast Seite an Seite mit einem gutaussehenden jungen Mann hinaus, der am Nebentisch gesessen hatte. Sie dachte, dass sie Scott in der Lobby treffen würde, doch als sie den Ausgang des Restaurants erreichte, sah sie ihn nicht weit entfernt davon stehen.

Auf einen blitzartigen Impuls hin wandte sie sich dem gutaussehenden Mann neben ihr zu, verneigte sich freundlich und sagte mit gut hörbarer, lieblicher Stimme: »Also dann, bis später.«

Und bevor der Mann auch nur sein eigenes Erstaunen registrieren konnte, wirbelte sie herum und gesellte sich zu Scott.

»Wer war das?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Sieht er nicht hinreißend aus?«

»Wenn dir diese Art von Aussehen gefällt.«

Scotts Ton implizierte, dass er den betreffenden Herrn effeminiert und viel zu vornehm gekleidet fand. Yanci lachte, voll objektiver Bewunderung für ihre raffinierte List.

Zur Vorbereitung auf jenen alles entscheidenden Samstagabend ging sie am Donnerstag in ein Geschäft an der Forty-second Street, um sich lange Handschuhe zu kaufen. Sie fand welche und gab der Verkäuferin einen Fünfzig-dollarschein, damit ihr mittlerweile recht leichtes Portemonnaie sich dank des Wechselgelds schwerer anfühlen würde. Zu ihrer Überraschung reichte die Verkäuferin ihr das Paket und ein Fünfundzwanzigcentstück.

»Wünschen Sie sonst noch etwas?«

»Den Rest meines Wechselgelds.«

»Den haben Sie bereits. Sie haben mir fünf Dollar gegeben. Vier fünfundsiebzig kosten die Handschuhe, bleiben fünfundzwanzig Cent.«

»Ich habe Ihnen fünfzig Dollar gegeben.«

»Sie müssen sich irren.«

Yanci durchsuchte ihre Handtasche.

»Ich habe Ihnen fünfzig gegeben!«, wiederholte sie in höchster Erregung.

»Nein, Ma’am, ich habe es genau gesehen.«

Sie starrten einander wutentbrannt an. Eine Kassiererin wurde als Zeugin herbeigerufen, dann der Abteilungsleiter; eine kleine Menschenmenge bildete sich.

»Aber ich bin mir absolut sicher!«, rief Yanci, und zwei Zornestränen zitterten in ihren Augen. »Ich weiß es ganz genau!«

Der Abteilungsleiter sagte, es tue ihm leid, aber die Dame müsse den Schein wohl zu Hause vergessen haben. In der Kassenschublade befinde sich kein Fünfzigdollar-schein. Der Boden unter Yancis wackliger Welt gab knirschend nach.

»Wenn Sie mir Ihre Adresse dalassen wollen«, sagte der Abteilungsleiter, »gebe ich Ihnen Bescheid, falls sich doch noch etwas findet.«

»Ach, ihr grässlichen Dummköpfe!«, rief Yanci, nun völlig außer sich. »Ich hole die Polizei!«

Und weinend wie ein Kind verließ sie das Geschäft. Draußen übermannte sie Hilflosigkeit. Wie sollte sie etwas beweisen? Es war bereits nach sechs, und der Laden schloss gerade. Welche Angestellte ihren Fünfzigdollarschein auch genommen hatte, sie würde auf dem Heimweg sein, bevor die Polizei eintraf, und warum sollte die New Yorker Polizei Yanci glauben oder ihr auch nur eine faire Behandlung zuteilwerden lassen?

Verzweifelt kehrte sie ins Ritz zurück, wo sie mit hoffnungslosen, mechanischen Handgriffen ihren Koffer nach dem Geldschein durchsuchte. Er war nicht da. Sie hatte gewusst, dass er nicht da sein würde. Als sie all ihr Geld zusammengekratzt hatte, zeigte sich, dass sie noch einundfünfzig Dollar und dreißig Cent besaß. Daraufhin rief sie an der Rezeption an und bat darum, dass man bis zum folgenden Mittag ihre Rechnung fertigstellen möge – der Gedanke, das Hotel schon vorher zu verlassen, kam ihr vor lauter Niedergeschlagenheit nicht.

Sie blieb in ihrem Zimmer, wagte noch nicht einmal, sich Eiswasser bringen zu lassen. Dann klingelte das Telefon, und sie hörte die fröhliche, metallische Stimme des Empfangschefs.

»Miss Bowman?«

»Ja.«

»Ihre Rechnung, einschließlich dieser Nacht, beträgt ex-akt einundfünfzig zwanzig.«

»Einundfünfzig zwanzig?« Ihre Stimme zitterte.

»Ja, Ma’am.«

»Danke vielmals.«

Atemlos saß sie neben dem Telefon, zu verängstigt, um zu weinen. Sie hatte auf der ganzen Welt noch zehn Cent übrig!

XI

 

Freitag. Sie hatte kaum geschlafen, hatte schwarze Ringe unter den Augen; selbst ein heißes Bad, gefolgt von einem kalten, vermochte sie nicht aus ihrer verzweifelten Lethargie zu wecken. Sie hatte sich nie ganz klargemacht, was es bedeuten würde, ohne Geld in New York zu sein; ihre Entschlossenheit und Vitalität schienen sich zusammen mit dem Fünfzigdollarschein in Luft aufgelöst zu haben. Nun half alles nichts mehr – sie musste ihren Wunsch wahr machen, heute oder nie.

Sie war mit Scott zum Tee im Plaza verabredet. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder war er am vergangenen Nachmittag betont kühl gewesen? Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie nicht ständig achtgeben müssen, dass das Gespräch keine sentimentale Wendung nahm. Und wenn er nun zu dem Schluss gelangt war, dass nichts daraus werden solle – dass sie zu extravagant sei, zu frivol? Einhundert Möglichkeiten gingen ihr an diesem Morgen durch den Sinn – einem trübseligen Morgen, der lediglich durch den Kauf eines Brötchens für zehn Cent in einem Lebensmittelgeschäft etwas aufgelockert wurde.

Es war seit zwanzig Stunden das Erste, was sie aß, aber dem Lebensmittelhändler gegenüber führte sie sich so auf, als fände sie es amüsant und lustig, ein einzelnes Brötchen zu kaufen. Sie bat ihn sogar, ihr die Weintrauben zu zeigen, die sie abschätzig – und hungrig – begutachtete, um dann zu verkünden, sie werde doch keine nehmen; sie habe den Eindruck, sie seien noch nicht reif. Das Geschäft war voller wohlhabender Damen, die Lebensmittel inspizierten, indem sie Daumen und Zeigefinger zusammendrückten und sie in die Höhe hielten. Yanci hätte gerne eine von ihnen gebeten, ihr Trauben zu schenken. Stattdessen zog sie sich wieder in ihr Zimmer zurück und aß ihr Brötchen.

Als es vier wurde, merkte sie, dass sie viel intensiver an die Sandwiches dachte, die man ihr zum Tee servieren würde, als an alles, was dabei sonst noch geschehen musste, und während sie langsam die Fifth Avenue zum Plaza hinaufging, verspürte sie eine jähe Schwäche, die sie erst nach mehreren tiefen Atemzügen überwand. Sie fragte sich, wo wohl die Armenküche war. Dort sollten Menschen in ihrer Situation hingehen – aber wo war diese Einrichtung? Wie fand man das heraus? Sie stellte sich vor, es stünde im Telefonbuch unter A, oder vielleicht auch unter N wie New Yorker Armenküche.

Sie erreichte das Plaza. Scott wartete im Gedränge der Lobby auf sie, die Stabilität und Hoffnung in Person.

»Komm schnell!«, rief sie mit einem gequälten Lächeln. »Ich fühle mich elend und brauche unbedingt eine kleine Stärkung!«

Sie aß ein Clubsandwich, Schokoladeneis und sechs kleine Biskuits. Sie hätte noch viel mehr verdrücken können, doch das traute sie sich nicht. Nun, da ihr Hunger fürs Erste gestillt war, musste sie sich konzentrieren und sich der lebenswichtigen Frage widmen, die der ihr gegenübersitzende gutaussehende junge Mann verkörperte. Hinter der Ruhe, mit der er sie anschaute, verbarg sich ein Gefühl, dessen Bedeutung sie nicht ausmachen konnte.

Doch die geplanten Worte, die flüchtigen Blicke, subtil, durchdringend und süß, wollten nicht kommen.

»Ach, Scott«, sagte sie mit matter Stimme. »Ich bin es so leid.«

»Was?«, fragte er gelassen.

»Ach – alles.«

Es entstand eine Pause.

»Ich fürchte«, sagte sie unsicher, »ich fürchte, ich werde unsere Verabredung morgen nicht einhalten können.«

Es war keinerlei Verstellung mehr in ihrer Stimme. Ihre Gemütsregung offenbarte sich in jedem zitternden Wort, ohne Absicht oder Kontrolle.

»Ich gehe fort.«

»Fort? Wohin denn?«

Sein Ton verriet ein starkes Interesse, doch ihr Herz stockte, als sie sah, dass das alles war.

»Meine Tante ist zurück. Sie möchte, dass ich mich sofort auf den Weg zu ihr nach Florida mache.«

»Kommt das nicht ziemlich unerwartet?«

»Doch.«

»Wirst du bald wieder zurück sein?«, fragte er nach kurzem Schweigen.

»Ich glaube nicht. Wir werden wohl nach Europa reisen, von – von New Orleans aus.«

»Oh!«

Erneut entstand eine Pause. Sie zog sich in die Länge. Noch ein winziger Moment, und es würde peinlich werden, das wusste sie. Sie hatte verloren – und nun? Trotzdem würde sie das Spiel bis zum Ende weiterspielen.

»Wirst du mich vermissen?«

»Ja.«

Ein Wort. Sie suchte seinen Blick, fragte sich einen Moment lang, ob sie darin mehr als freundliches Interesse sah; dann schlug sie die Augen nieder.

»Mir gefällt es hier – im Plaza«, hörte sie sich sagen.

Sie unterhielten sich über solche und ähnliche Dinge. Hinterher konnte sie sich kaum erinnern, was sie gesagt hatten. Sie unterhielten sich einfach – über den Tee, das Tauwetter, das zu Ende war, und die Kälte, die jetzt draußen einsetzte. Sie war todtraurig und fühlte sich sehr alt. Schließlich stand sie auf.

»Ich muss los«, sagte sie. »Ich bin zum Abendessen verabredet.«

Bis zum Letzten würde sie weitermachen – die Illusion, das war es, was zählte. Dafür zu sorgen, dass ihre stolzen Lügen unversehrt blieben – nur noch einen Augenblick lang. Sie gingen zur Tür.

»Begleite mich zum Taxi«, sagte sie ruhig. »Mir ist nicht nach Laufen zumute.«

Er half ihr hinein. Sie schüttelten einander die Hand.

»Leb wohl, Scott«, sagte sie.

»Leb wohl, Yanci«, antwortete er langsam.

»Du warst schrecklich nett zu mir. Dass die zwei Wochen hier so schön für mich waren, habe ich auch dir zu verdanken, und das werde ich dir nie vergessen.«

»Es war mir eine Freude. Soll ich dem Fahrer das Ritz nennen?«

»Nein. Sag ihm nur, er soll auf die Fifth fahren. Ich klopfe dann an die Scheibe, wenn er anhalten soll.«

Auf die Fifth! Vielleicht würde er denken, sie esse an der Fifth zu Abend. Was für ein angemessener Abschluss das wäre! Sie fragte sich, ob er wohl beeindruckt war. Sie konnte sein Gesicht nicht gut sehen, weil die Luft vom Schnee verdunkelt und ihr Blick von Tränen verschleiert war.

»Leb wohl«, sagte er schlicht.

Er schien zu begreifen, dass sie alle Vortäuschung von Abschiedsschmerz seinerseits sofort durchschauen würde. Sie wusste, dass er sie nicht wollte.

Die Tür schlug zu, der Wagen fuhr an und schlitterte auf die verschneite Straße hinaus.

Yanci lehnte sich tief betrübt in ihrer Ecke zurück. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht erkennen, wo sie versagt oder aus welchem Grund sich seine Haltung ihr gegenüber verändert hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich einem Mann ganz offenkundig angeboten – und er hatte sie nicht gewollt. Ihre prekäre Situation verblasste neben dieser tragischen Niederlage.

Sie ließ den Wagen weiterfahren – obwohl sie jetzt eigentlich frische Luft gebraucht hätte. Zehn trostlose Minuten verstrichen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie keinen Penny hatte, um den Fahrer zu bezahlen.

›Egal‹, dachte sie. ›Sie werden mich ins Gefängnis schicken, dann habe ich wenigstens einen Platz zum Schlafen.‹

Sie begann, an den Taxifahrer zu denken.

»Er wird böse sein, wenn er es erfährt, der arme Mann. Vielleicht ist er sehr arm und muss die Fahrtkosten selbst bezahlen.« Voll diffuser Rührseligkeit fing sie an zu weinen.

»Armer Taxifahrer«, sagte sie halblaut. »Ach, die Menschen haben es so schwer – so schwer!«

Sie klopfte ans Fenster, und als der Wagen am Bordstein hielt, stieg sie aus. Sie befanden sich am Ende der Fifth Avenue, und es war dunkel und kalt.

»Holen Sie die Polizei!«, rief sie rasch und leise. »Ich habe kein Geld!«

Der Taxifahrer schaute sie mit finsterem Blick an.

»Warum sind Sie dann überhaupt eingestiegen?«

Sie hatte nicht bemerkt, dass ein weiterer Wagen ungefähr zehn Meter hinter ihnen angehalten hatte. Sie hörte Laufschritte auf dem Schnee und dann eine Stimme neben ihr.

»Es ist in Ordnung«, sagte jemand zu dem Taxifahrer. »Hier ist Ihr Geld.«

Ein Schein wurde hinübergereicht. Yanci sank gegen Scotts Mantel.

Scott wusste Bescheid – er wusste Bescheid, weil er nach Princeton gefahren war, um sie zu überraschen, weil der Fremde, mit dem sie im Ritz gesprochen hatte, sein bester Freund war, weil ihm der Scheck ihres Vaters über dreihundert Dollar mit dem Vermerk »ohne Deckung« zurückgeschickt worden war. Scott wusste Bescheid – schon seit Tagen.

Aber er sagte nichts; stand nur da und hielt sie mit einem Arm fest, während das Taxi davonfuhr.

»Ach, du bist es«, sagte Yanci matt. »Ein Glück, dass du vorbeikommst. Ich habe mein Portemonnaie im Ritz vergessen, ich Esel. Ich stelle so dumme Sachen an…«

Scott lachte amüsiert. Es schneite leicht, und damit sie auf dem feuchten Untergrund nicht ausrutschte, nahm er sie auf den Arm und trug sie zu seinem wartenden Taxi.

»So dumme Sachen«, wiederholte sie.

»Fahren Sie zuerst zum Ritz«, sagte er zu dem Fahrer. »Ich möchte dort einen Koffer abholen.«

Winterträume
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