Diamond Dick
Als Diana Dickey im Frühjahr 1919 aus Frankreich zurückkehrte, fanden ihre Eltern, sie habe für ihre schändliche Vergangenheit genug gebüßt. Sie hatte ein Jahr beim Roten Kreuz gedient und war angeblich mit einem jungen amerikanischen Fliegerass von Rang und Charme verlobt. Mehr konnte man nicht verlangen; von Dianas früheren Sünden blieb nur ihr Spitzname übrig…
Diamond Dick! Unter allen Namen der Welt hatte sie sich diesen ausgewählt, als sie ein dünnes, schwarzäugiges Kind von zehn Jahren war.
»Diamond Dick«, sagte sie hartnäckig, »so heiße ich. Und wer mich nicht so nennen will, ist ein dreimal vermaledeiter Dummkopf.«
»Das ist doch kein schöner Name für eine Dame«, wandte ihre Gouvernante ein. »Wenn du einen Jungennamen haben möchtest, warum nennst du dich dann nicht George Washington?«
»Weil ich eben Diamond Dick heiße«, erklärte Diana ihr geduldig. »Verstehst du das nicht? Ich muss so genannt werden, sonst kriege ich nämlich einen Wutanfall und der ganze Familienfrieden ist dahin.«
Am Ende kriegte sie sowohl einen Wutanfall – und zwar einen schönen Koller, der einen missgelaunten Nervenspezialisten aus New York auf den Plan rief – als auch ihren Spitznamen. Und einmal im Besitz desselben, machte sie sich daran, den Gesichtsausdruck jenes Schlachterjungen nachzuahmen, der an Greenwichs Hintereingängen Fleisch anlieferte. Sie reckte den Unterkiefer vor und öffnete auf einer Seite die Lippen, so dass Partien ihrer Milchzähne zum Vorschein kamen – und aus diesem alarmierenden Spalt drang die rauhe Stimme einer ausgebufften Verbrecherin.
»Miss Caruthers«, höhnte sie zum Beispiel schneidig, »was soll das heißen – keine Marmelade? Willst du eins auf die Rübe?«
»Diana! Ich werde auf der Stelle deine Mutter rufen!«
»Pass bloß auf!«, drohte Diana finster. »Wenn du sie rufst, kriegst du vielleicht sogar ’ne Kugel in die Rübe!«
Miss Caruthers hob mit einigem Unbehagen die Hand an die Ponyfrisur. Sie war irgendwie eingeschüchtert.
»Na schön«, sagte sie unsicher, »wenn du dich wie ein kleiner Gassenjunge aufführen willst…«
Ja, das wollte Diana. Die Manöver, die sie tagtäglich auf dem Gehweg übte und die ihre Nachbarn für eine neue Version von Himmel und Hölle hielten, waren in Wirklichkeit die Vorarbeiten für einen schwankenden Apachengang. Als sie damit zufrieden war, schlurfte Diana mit heftig verzerrtem Gesicht, unter dem Schlapphut ihres Vaters nur halb zu erkennen, durch die Straßen von Greenwich, und ihr Oberkörper, von den Schultern hin und her geworfen, schwankte von der einen zur anderen Seite, bis einem, wenn man ihr länger dabei zusah, ein leichter Schwindel in den Kopf stieg.
Zuerst war es nur einigermaßen skurril, doch als Dianas Sprache von merkwürdig verdrehten Redensarten, die sie für den Dialekt der Unterwelt hielt, nur so strotzte, wurde es beunruhigend. Und ein paar Jahre später machte sie alles noch komplizierter, indem sie sich zu einer Schönheit entwickelte – einer dunklen kleinen Schönheit mit tragischem Blick und einer volltönenden, in der Kehle rollenden Stimme.
Dann trat Amerika in den Krieg ein, und Diana schiffte sich an ihrem achtzehnten Geburtstag mit der Feldkücheneinheit nach Frankreich ein.
Die Vergangenheit war vorbei; alles war vergessen. Kurz bevor der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, erhielt sie eine lobende Erwähnung dafür, in der Hitze des Gefechts einen kühlen Kopf bewahrt zu haben. Außerdem – und dies war der Teil, der vor allem ihrer Mutter gefiel – ging das Gerücht, sie sei mit Mr. Charley Abbot aus Boston und Bar Harbor verlobt, »einem jungen Heeresflieger von Rang und Charme«.
Doch Mrs. Dickey war kaum auf die veränderte Diana vorbereitet, die in New York landete. Als sie in der Limousine nach Greenwich saßen, wandte sie sich mit erstauntem Blick ihrer Tochter zu.
»Ach, alle sind ja so stolz auf dich, Diana«, rief sie aus. »Das Haus quillt förmlich über vor Blumen. Was du alles schon gesehen und gemacht hast – mit neunzehn!«
Dianas Gesicht war unter einem unvergleichlichen safrangelben Hut starr auf die Fifth Avenue gerichtet, die für die heimkehrenden Divisionen mit Fahnen geschmückt war.
»Der Krieg ist vorbei«, sagte sie mit einer seltsamen Stimme, so als sei es ihr erst in dieser Minute klargeworden.
»Ja«, antwortete ihre Mutter gutgelaunt, »und wir haben gewonnen. Ich habe es die ganze Zeit über gewusst.«
Sie überlegte, wie sie das Gespräch am besten auf Mr. Abbot bringen konnte.
»Du bist ruhiger geworden«, begann sie vorsichtig. »Du wirkst, als wärst du jetzt vielleicht so weit, einen Hausstand zu gründen.«
»Ich möchte diesen Herbst debütieren.«
»Aber ich dachte…« – Mrs. Dickey unterbrach sich und hüstelte –, »nach allem, was so gemunkelt wurde, hatte ich geglaubt…«
»Sprich ruhig weiter, Mutter. Was hast du gehört?«
»Mir ist zu Ohren gekommen, du wärst mit diesem jungen Charles Abbot verlobt.«
Diana antwortete nicht, und ihre Mutter fuhr nervös mit der Zunge über ihren Schleier. Das Schweigen im Auto wurde bedrückend. Mrs. Dickey war von Diana stets ein wenig eingeschüchtert gewesen – und sie begann sich zu fragen, ob sie zu weit gegangen war.
»Die Abbots aus Boston sind so nette Leute«, wagte sie sich zaghaft vor. »Ich habe seine Mutter ein paarmal getroffen – sie hat mir erzählt, wie hingebungsvoll –«
»Mutter!« Dianas Stimme durchbrach kalt wie Eis ihren schwatzhaften Traum. »Es interessiert mich nicht, was du gehört oder wo du es gehört hast, aber ich bin nicht mit Charley Abbot verlobt. Und bitte schneide dieses Thema mir gegenüber nie wieder an.«
Im November feierte Diana im Ballsaal des Ritz ihr Debüt. Dieser »Einführung ins Leben« war eine gewisse Ironie eigen, denn mit ihren neunzehn Jahren hatte Diana mehr von der Wirklichkeit, mehr Mut, Schrecken und Schmerz gesehen als all die wichtigtuerischen Matronen, die die künstliche Welt bevölkerten.
Doch sie war jung, und die künstliche Welt duftete nach Orchideen und freundlichem, heiterem Snobismus und Orchestern, die den Rhythmus des Jahres vorgaben und die Traurigkeit und Tiefgründigkeit des Lebens in neuen Melodien anklingen ließen. Nächtelang heulten die Saxophone den wehmutsvollen Beale Street Blues, während goldene und silberne Tanzschuhe zu Hunderten den schimmernden Staub umherschoben. Wenn die graue Teestunde anbrach, gab es immer Räume, die unentwegt in diesem leichten, süßen Fieber erschauerten, und frische Gesichter wurden hierhin und dorthin geweht wie von traurigen Hörnern über den Boden geblasene Rosenblüten.
Im Zwielicht dieser Welt bewegte sich Diana im Takt der Jahreszeit, hatte jeden Tag ein halbes Dutzend Rendezvous mit einem halben Dutzend Männern und schlummerte im Morgengrauen ein, auf dem Boden neben ihrem Bett die Perlen und Rüschen eines achtlos abgestreiften Abendkleids, das zwischen sterbenden Orchideen lag.
Das Jahr schmolz in den Sommer hinüber. New York wurde von der Flapper-Mode aufgeschreckt, die Rocksäume wanderten aberwitzig weit nach oben, und die traurigen Orchester spielten neue Melodien. Eine Zeitlang schien Dianas Schönheit diese neue Mode zu verkörpern, so wie sie einst die Erregung des Krieges verkörpert hatte; aber es war deutlich, dass sie keinem Verehrer Hoffnung machte, ja dass ihr Name, so begehrt sie auch war, nie mit dem eines einzelnen Mannes in Verbindung gebracht wurde. Sie hatte hundert »Chancen«, doch wenn sie merkte, dass ein Interesse an ihr zur Verliebtheit wurde, gab sie sich die größte Mühe, die Sache ein für alle Mal zu beenden.
Ein zweites Jahr ging mit langen Ballnächten und Badereisen in den warmen Süden dahin. Die Flapper-Bewegung wurde in alle Winde verweht und war vergessen; die Röcke fielen plötzlich bis auf den Boden hinab, und es gab neue Saxophonlieder für neue Mädchen. Die meisten, mit denen sie gemeinsam debütiert hatte, waren inzwischen verheiratet – manche von ihnen hatten Babys. Doch Diana tanzte in einer sich wandelnden Welt weiter zu neueren Melodien.
Im dritten Jahr konnte man sich, wenn man ihr frisches, hübsches Gesicht betrachtete, kaum noch vorstellen, dass sie einmal im Krieg gewesen war. Für die junge Generation war es bereits ein schattenhaftes Ereignis, das ihre älteren Brüder in grauer Vorzeit in Anspruch genommen hatte – vor einer Ewigkeit. Und wenn sein letztes Echo schließlich verhallen würde, dann, so glaubte Diana, wäre auch ihre Jugend vorbei. Jetzt kam es nur noch selten vor, dass jemand sie »Diamond Dick« nannte. Wenn es gelegentlich doch geschah, trat ein seltsamer, verwunderter Ausdruck in ihre Augen, als könne sie die beiden Teile ihres Lebens, das jäh entzweigebrochen war, gar nicht mehr miteinander verbinden.
Dann, nachdem fünf Jahre ins Land gegangen waren, machte ein Brokerhaus in Boston Bankrott, und Charley Abbot, der Kriegsheld, kehrte gebrochen, vom Alkohol zerstört und mit kaum einem Penny in der Tasche aus Paris zurück.
Diana sah ihn zum ersten Mal im Restaurant Mont Mihiel, wo er mit einer drallen, unscheinbaren Blondine aus der Halbwelt am Katzentisch saß. Sie entschuldigte sich ungeniert bei ihrem Begleiter und ging auf Charley zu. Er blickte auf, als sie näher kam, und sie verspürte eine plötzliche Schwäche, denn er war nur noch ein Schatten, und seine Augen, groß und dunkel wie die ihren, brannten inmitten roter Feuerringe.
»Charley…«
Er stand schwankend auf, und sie schüttelten sich benommen die Hand. Murmelnd stellte er die Frauen einander vor, doch seine Tischgenossin machte kein Hehl daraus, dass ihr diese Begegnung missfiel, und starrte Diana aus kalten blauen Augen an.
»Charley…«, sagte Diana erneut, »du bist also wieder da.«
»Ich werde bleiben.«
»Ich möchte dich sprechen, Charley. Ich – ich möchte dich so bald wie möglich sprechen. Kannst du morgen aufs Land kommen?«
»Morgen?« Er warf dem blonden Mädchen einen entschuldigenden Blick zu. »Da bin ich verabredet. Morgen ist wohl schlecht. Vielleicht später diese Woche…«
»Sag deine Verabredung ab.«
Seine Begleiterin hatte während dieses Austauschs mit den Fingern auf das Tischtuch getrommelt und nervös im Raum umhergeschaut. Bei dieser Bemerkung drehte sie sich abrupt wieder zum Tisch um.
»Charley«, stieß sie mit bedeutungsvoll gerunzelter Stirn hervor.
»Ja, ich weiß«, sagte er lächelnd zu ihr und wandte sich Diana zu. »Morgen kann ich nicht. Ich bin verabredet.«
»Ich muss dich aber unter allen Umständen morgen sprechen«, fuhr Diana unnachgiebig fort. »Hör auf, mich so dümmlich anzugucken, und sag schon, dass du morgen nach Greenwich kommst.«
»Was fällt Ihnen ein?«, rief das andere Mädchen mit leicht erhobener Stimme. »Warum bleiben Sie nicht an Ihrem Tisch? Sie müssen ja betrunken sein!«
»Bitte, Elaine!«, sagte Charley vorwurfsvoll.
»Ich warte an dem Zug, der um sechs in Greenwich ankommt«, fuhr Diana ungerührt fort. »Wenn du diese – diese Frau nicht loswirst« – sie deutete mit einer wegwerfenden Handbewegung auf seine Begleiterin –, »dann schick sie eben ins Kino.«
Mit einem Aufschrei sprang das andere Mädchen auf, und einen Moment lang drohte die Situation zu eskalieren. Aber Diana nickte Charley zu, wandte sich ab, gab ihrem Begleiter auf der anderen Seite des Raums ein Zeichen und verließ das Café.
»Ich mag diese Frau nicht«, rief Elaine in quengeligem Ton, sobald Diana außer Hörweite war. »Wer ist das überhaupt? Eine alte Flamme von dir?«
»Ja, genau«, antwortete er und runzelte die Stirn. »Eine alte Flamme von mir. Eigentlich meine einzige alte Flamme.«
»Du kennst sie also schon dein Leben lang.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin, hat sie in einer Feldküche gearbeitet, im Krieg.«
»Die?« Elaine hob erstaunt die Brauen. »So sieht sie aber gar nicht –«
»Sie ist ja inzwischen auch nicht mehr neunzehn – sondern fast fünfundzwanzig.« Er lachte. »Ich habe sie eines Tages in einem Munitionslager nahe Soisson auf einer Kiste sitzen sehen, von so vielen Offizieren umringt, dass man ein Regiment daraus hätte zusammenstellen können. Drei Wochen später waren wir verlobt!«
»Und dann?«, fragte Elaine scharf.
»Das Übliche«, antwortete er mit leicht bitterem Unterton. »Sie hat mir einen Korb gegeben. Das einzig Unübliche war, dass ich nie erfahren habe, warum. Habe mich eines Tages von ihr verabschiedet und mich zu meinem Geschwader begeben. Bei der Gelegenheit muss ich irgendwas gesagt oder getan haben, das die ganze Misere verursacht hat. Werd’s wohl nie erfahren. Ehrlich gesagt erinnere ich mich kaum noch daran, denn ein paar Stunden später bin ich abgestürzt, und von allem, was kurz davor passiert ist, habe ich nur eine verdammt verschwommene Vorstellung. Sobald es mir wieder gut genug ging, um mich für irgendwas zu interessieren, habe ich gemerkt, dass sich die Situation verändert hatte. Dachte zuerst, es müsse da wohl einen anderen Mann geben.«
»Hat sie die Verlobung gelöst?«
»Allerdings. Während ich mich erholte, saß sie oft stundenlang an meinem Bett und sah mich mit dem sonderbarsten Gesichtsausdruck an. Schließlich bat ich um einen Spiegel – ich dachte, ich müsse wohl völlig zerschnitten sein oder so etwas. Aber nichts dergleichen. Dann fing sie eines Tages an zu weinen. Sie sagte, sie habe nachgedacht, und vielleicht sei es ein Fehler, und all solche Sachen. Schien auf einen Streit anzuspielen, den wir gehabt hatten, als wir uns kurz vor meinem Unfall verabschiedeten. Aber ich war immer noch ziemlich schwach, und das Ganze schien mir keinen Sinn zu ergeben, wenn da nicht ein anderer Mann im Spiel war. Sie sagte, wir brauchten beide unsere Freiheit, und dann sah sie mich an, als erwarte sie eine Erklärung oder Entschuldigung von mir – aber mir war überhaupt nicht klar, was ich getan hatte. Ich weiß noch, dass ich mich im Bett zurücklehnte und mir wünschte, auf der Stelle zu sterben. Zwei Monate später hörte ich, sie habe sich nach Hause eingeschifft.«
Elaine beugte sich mit bangem Blick über den Tisch.
»Fahr nicht zur ihr aufs Land, Charley«, sagte sie. »Bitte fahr nicht. Sie will dich zurück – das sehe ich doch. Ich brauche sie bloß anzuschauen.«
Er schüttelte den Kopf und lachte.
»Doch«, sagte Elaine. »Ich sehe es. Ich hasse sie. Sie hat dich einmal gehabt, und jetzt will sie dich zurück. Ich sehe es in ihren Augen. Ich wünschte, du würdest bei mir in New York bleiben.«
»Nein«, sagte er dickköpfig. »Ich will sehen, was mit ihr los ist. Diamond Dick ist eine alte Flamme von mir.«
Am späten Nachmittag stand Diana, in goldenes Licht getaucht, auf dem Bahnsteig. Angesichts ihrer makellosen Frische fühlte sich Charley Abbot zerlumpt und alt. Er war erst neunundzwanzig, doch vier wilde Jahre hatten viele kleine Falten um seine dunklen, hübschen Augen hinterlassen. Selbst sein Gang war müde – kein Muster mehr an Haltung und Eleganz, nur eine Methode, um irgendwo hinzukommen, wenn es kein anderes Fortbewegungsmittel gab, mehr nicht.
»Charley«, rief Diana, »wo ist dein Gepäck?«
»Ich komme nur zum Abendessen – ich kann unmöglich über Nacht bleiben.«
Er war nüchtern, wie sie bemerkte, sah jedoch aus, als ob er dringend einen Drink gebrauchen könnte. Sie nahm ihn am Arm und führte ihn zu einem Coupé mit roten Rädern, das am Straßenrand parkte.
»Steig ein und setz dich«, befahl sie. »Du gehst ja, als würdest du gleich umfallen.«
»Habe mich noch nie im Leben besser gefühlt.«
Sie lachte spöttisch.
»Warum musst du heute Nacht noch zurück?«, wollte sie wissen.
»Ich hab’s versprochen – immerhin hatte ich eine Verabredung…«
»Ach, lass sie warten!«, rief Diana ungeduldig aus. »Sie sah nicht aus, als hätte sie viel anderes zu tun. Wer ist sie überhaupt?«
»Ich wüsste nicht, wieso dich das interessieren sollte, Diamond Dick.«
Sie errötete, als sie den vertrauten Namen hörte.
»Alles, was dich betrifft, interessiert mich. Wer ist das Mädchen?«
»Elaine Russel. Sie ist beim Film – gewissermaßen.«
»Sie sah schwammig aus«, sagte Diana bedächtig. »Ich muss dauernd an sie denken. Du siehst auch schwammig aus. Was treibst du so – wartest du auf den nächsten Krieg?«
Sie bogen in die Auffahrt eines großen, weitläufigen Hauses am Sund ein. Auf dem Rasen wurden gerade Segeltuchbahnen als Tanzfläche ausgebreitet.
»Schau mal!« Sie zeigte auf eine Gestalt in Knickerbockern auf einer Seitenveranda. »Das ist mein Bruder Breck. Du hast ihn nie kennengelernt. Er ist für die Osterferien aus New Haven gekommen und gibt heute ein Tanzfest.«
Ein gutaussehender junger Mann von vielleicht achtzehn Jahren kam die Verandastufen herunter und steuerte auf sie zu.
»Er hält dich für den großartigsten Mann der Welt«, flüsterte Diana. »Tu so, als wärst du fabelhaft.«
Befangen stellte man einander vor.
»In letzter Zeit mal wieder geflogen?«, fragte Breck sofort.
»Seit ein paar Jahren nicht mehr«, gab Charley zu.
»Ich war zu jung für den Krieg«, sagte Breck bedauernd, »aber diesen Sommer will ich versuchen, den Pilotenschein zu machen. Ist doch das einzig Wahre, oder – das Fliegen, meine ich.«
»Nun, kann schon sein«, sagte Charley ein wenig erstaunt. »Ich habe gehört, Sie geben heute ein Tanzfest.«
Breck winkte lässig ab.
»Ach, bloß einige Leute aus der Umgebung. So etwas langweilt Sie bestimmt zu Tode – nach allem, was Sie schon erlebt haben.«
Charley schaute hilfesuchend zu Diana.
»Kommt«, sagte sie lachend, »gehen wir rein.«
Mrs. Dickey kam ihnen in der Halle entgegen und unterwarf Charley einer höflichen, wenn auch ein wenig atemlosen Begutachtung. Die ganze Familie schien ihm mit ungewöhnlichem Respekt zu begegnen, und die Gespräche steuerten unverzüglich auf das Thema ›Krieg‹ zu.
»Und was machen Sie jetzt?«, fragte Mr. Dickey. »Treten Sie in das Unternehmen Ihres Vaters ein?«
»Es ist kein Unternehmen mehr da«, bekannte Charley freimütig. »Ich bin quasi auf mich allein gestellt.«
Mr. Dickey dachte einen Moment lang nach.
»Wenn Sie noch keine anderen Pläne haben, warum kommen Sie dann nicht irgendwann diese Woche mal zu mir ins Büro. Ich habe einen kleinen Vorschlag, der Sie interessieren könnte.«
Der Gedanke, dass Diana dies alles wahrscheinlich arrangiert hatte, ärgerte Charley. Er brauchte keine Almosen. Er war nicht verkrüppelt, und der Krieg war seit fünf Jahren vorbei. So redete heutzutage niemand mehr.
Im Erdgeschoss waren überall Tische für das Essen aufgestellt, das auf den Tanz folgen sollte, deswegen aßen Charley und Diana mit Mr. und Mrs. Dickey oben in der Bibliothek zu Abend. Es war eine ungemütliche Mahlzeit, bei der Mr. Dickey das Wort führte und Diana die Pausen mit nervöser Heiterkeit überspielte. Charley war froh, als es vorbei war und er mit Diana bei einbrechender Dunkelheit auf der Veranda stand.
»Charley –« Sie neigte sich zu ihm und berührte ihn sanft am Arm. »Fahr noch nicht nach New York zurück. Bleib ein paar Tage bei mir. Ich möchte mit dir reden, aber ich fürchte, solange hier eine Party gefeiert wird, geht das nicht so gut.«
»Ich kann ja wiederkommen – an einem der nächsten Tage«, sagte er ausweichend.
»Warum nicht bleiben?«
»Ich habe versprochen, um elf zurück zu sein.«
»Um elf?« Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Bist du diesem Mädchen Rechenschaft über deine Abende schuldig?«
»Ich mag sie«, erwiderte er trotzig. »Ich bin kein Kind, Diamond Dick, und ich finde dein Benehmen ziemlich dreist. Ich dachte, du hättest schon vor fünf Jahren aufgehört, dich für mein Leben zu interessieren.«
»Du bleibst also nicht?«
»Nein.«
»Na schön – dann haben wir nur eine Stunde Zeit. Lass uns hier weggehen und uns auf die Mauer am Sund setzen.«
Seite an Seite machten sie sich auf den Weg durch das dunkle Dämmerlicht und die von Salz und Rosenduft geschwängerte Luft.
»Weißt du noch, wie wir das letzte Mal zusammen spazieren gegangen sind?«, flüsterte sie
»Also – nein. Ich glaube nicht. Wo war das?«
»Das spielt keine Rolle – wenn du es vergessen hast.«
Als sie das Ufer erreicht hatten, schwang sie sich auf die niedrige Mauer, die das Wasser begrenzte.
»Es ist Frühling, Charley.«
»Wieder mal Frühling.«
»Nein – nur Frühling. Wenn du ›wieder mal Frühling‹ sagst, bedeutet das, dass du alt wirst.« Sie zögerte. »Charley –«
»Ja, Diamond Dick.«
»Ich habe fünf Jahre darauf gewartet, so mit dir reden zu können.«
Als sie aus dem Augenwinkel zu ihm hinüberblickte, sah sie, dass er die Stirn runzelte, und änderte ihren Tonfall.
»Was willst du denn jetzt tun, Charley?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ein bisschen Geld übrig und brauche noch eine Zeitlang gar nichts zu tun. In die Geschäftswelt scheine ich ja nicht besonders gut zu passen.«
»Nicht so wie in den Krieg, meinst du.«
»Ja.« Er wandte sich ihr mit plötzlich aufflackerndem Interesse zu. »Da habe ich hingehört – in den Krieg. Es mag seltsam klingen, so etwas zu sagen, aber ich glaube, ich werde diese Tage immer als die glücklichsten meines Lebens in Erinnerung behalten.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie langsam. »Etwas so Intensives, so Dramatisches wird unsere Generation wohl nicht noch einmal erleben.«
Sie schwiegen einen Augenblick. Als er wieder zu sprechen begann, zitterte seine Stimme ein wenig.
»Es ist etwas darin verlorengegangen – ein Teil von mir –, und das werde ich nie wiederfinden, egal wie sehr ich danach suche. Auf gewisse Weise war es mein Krieg, verstehst du, und man kann nicht recht hassen, was so zu einem gehört hat.« Unvermittelt wandte er sich ihr zu. »Lass uns ehrlich sein, Diamond Dick – wir haben uns einmal geliebt, und es kommt mir – es kommt mir töricht vor, nun so mit dir auf der Stelle zu treten.«
Sie holte tief Luft.
»Ja«, sagte sie matt, »lass uns ehrlich sein.«
»Ich weiß, was du vorhast, und ich weiß, dass du mir damit einen Gefallen tun willst. Aber das Leben fängt nicht wieder von vorne an, wenn ein Mann in einer Frühlingsnacht mit einer alten Liebe spricht.«
»Ich will dir keinen Gefallen tun.«
Er sah sie aufmerksam an.
»Du lügst, Diamond Dick. Aber – selbst wenn du mich heute liebtest, würde es keine Rolle spielen. Ich bin nicht mehr der, der ich vor fünf Jahren war – ich bin ein anderer Mensch, siehst du das nicht? Ich hätte in diesem Augenblick lieber einen Drink als alles Mondlicht der Welt. Ich glaube nicht mal, dass ich ein Mädchen wie dich heute noch lieben könnte.«
Sie nickte.
»Ich verstehe.«
»Warum wolltest du mich vor fünf Jahren nicht heiraten, Diamond Dick?«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Es war die falsche Entscheidung.«
»Die falsche Entscheidung!«, rief er bitter. »Du redest, als wäre es reine Glückssache gewesen, so wie man auf Weiß oder Rot setzt!«
»Nein, es war keine reine Glückssache.«
Eine Minute lang blieb es still – dann wandte sie sich ihm mit schimmernden Augen zu.
»Willst du mich nicht küssen, Charley?«, fragte sie schlicht.
Er schrak hoch.
»Wäre das so schwer?«, fuhr sie fort. »Ich habe noch nie einen Mann gefragt, ob er mich küssen will.«
Mit einem Ausruf sprang er von der Mauer.
»Ich fahre jetzt zurück in die Stadt«, sagte er.
»Ist denn – ist meine Gesellschaft so unangenehm?«
»Diana.« Er trat zu ihr, legte seine Arme um ihre Knie und schaute ihr in die Augen. »Wenn ich dich küsse, muss ich hierbleiben, das weißt du. Ich habe Angst vor dir – vor deinem guten Herz, davor, mich in irgendeiner Weise an dich zu erinnern. Und ich könnte dich nicht küssen und dann – zu einem anderen Mädchen gehen.«
»Leb wohl«, sagte sie plötzlich.
Er zögerte einen Moment; protestierte dann hilflos.
»Du bringst mich in eine schreckliche Lage.«
»Leb wohl.«
»Diana, hör doch…«
»Bitte geh.«
Er drehte sich um und ging rasch zum Haus zurück.
Diana blieb reglos sitzen, während die nächtliche Brise hier und da kühl ihr Chiffonkleid kräuselte und bauschte. Der Mond war höher geklettert, und auf dem Sund trieb ein Dreieck aus silbernen Schuppen und zitterte leise zu dem steifen, blechernen Getröpfel der Banjos, das von der Wiese herüberklang.
Endlich allein – sie war endlich allein. Jetzt war nicht einmal mehr ein Geist übrig, mit dem sie durch die Jahre hätte schweben können. Sie konnte die Arme ausstrecken, so weit sie in die Nacht hineinreichten, ohne fürchten zu müssen, dass sie vertrauten Stoff streifen würden. Die dünne Silberschicht war von allen Sternen abgeblättert.
Sie saß fast eine Stunde lang dort, den Blick auf die Lichtpunkte am anderen Ufer gerichtet. Dann fuhr ihr der Wind mit kalten Fingern über die Seidenstrümpfe, und sie sprang von der Mauer und landete weich zwischen den hellen Kieseln im Sand.
»Diana!«
Breck kam, von seiner Party erregt, herbeigeeilt.
»Diana! Ich möchte dir einen Freund aus meinem Jahrgang in New Haven vorstellen. Sein Bruder hat dich vor drei Jahren zu einem Schulball ausgeführt.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe Kopfschmerzen; ich gehe rauf.«
Als er näher kam, sah Breck Tränen in ihren Augen glitzern.
»Diana, was hast du denn?«
»Nichts.«
»Du hast doch irgendetwas.«
»Nichts, Breck. Aber nimm dich in Acht, bitte nimm dich in Acht! Pass gut auf, in wen du dich verliebst!«
»Bist du – in Charley Abbot verliebt?«
Sie stieß ein seltsames, hartes kleines Lachen aus.
»Ich? Um Himmels willen, nein, Breck! Ich liebe niemanden. Ich bin für so etwas wie die Liebe nicht gemacht. Ich liebe mich ja nicht einmal mehr selbst. Ich meinte dich. Es war ein guter Rat, verstehst du das denn nicht?«
Und unvermittelt rannte sie zum Haus, ihren Rock hochraffend, damit er den Tau nicht berührte. Oben in ihrem Zimmer schüttelte sie die Schuhe ab und warf sich in der Dunkelheit aufs Bett.
»Ich hätte vorsichtig sein müssen«, flüsterte sie. »Mein Leben lang werde ich dafür bestraft werden, dass ich nicht vorsichtiger gewesen bin. Ich habe meine ganze Liebe eingepackt wie eine Konfektschachtel und sie verschenkt.«
Ihr Fenster stand offen, und draußen auf dem Rasen erzählten die traurigen, misstönenden Hörner eine melancholische Geschichte. Ein Mohr hinterging die Dame, der er Treue geschworen hatte. Die Dame warnte ihn mit vielen Worten, er solle aufhören, sich mit Sweet Jelly-Roll herumzutreiben, auch wenn Sweet Jelly-Roll die Farbe hellen Zimts habe…
Das Telefon auf ihrem Nachttisch klingelte aufdringlich. Diana nahm den Hörer ab.
»Ja.«
»Einen Augenblick, bitte, New York ist am Apparat.«
Der Gedanke, es könne Charley sein, schoss Diana durch den Kopf – doch das war unmöglich. Er saß sicher noch im Zug.
»Hallo.« Es war eine Frauenstimme. »Ist dies der Anschluss der Dickeys?«
»Ja.«
»Ist Mr. Charles Abbot da?«
Diana glaubte, ihr Herz höre auf zu schlagen, als sie die Stimme erkannte – es war das blonde Mädchen aus dem Café.
»Was?«, fragte sie benommen.
»Ich möchte bitte auf der Stelle mit Mr. Abbot sprechen.«
»Sie – Sie können ihn nicht sprechen. Er ist gegangen.«
Eine Pause. Dann die argwöhnische Stimme des Mädchens: »Er ist nicht gegangen.«
Diana schloss die Hand fester um den Hörer.
»Ich weiß, wer da ist«, die Stimme wurde immer lauter und hysterischer, »und ich möchte mit Mr. Abbot sprechen. Wenn Sie nicht die Wahrheit sagen und er es herausfindet, können Sie was erleben.«
»Seien Sie still!«
»Wenn er gegangen ist, wo ist er denn dann jetzt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wenn er nicht in einer halben Stunde bei mir in der Wohnung auftaucht, weiß ich, dass Sie lügen, und ich –«
Diana legte den Hörer auf und ließ sich wieder aufs Bett fallen, des Lebens zu müde, um nachzudenken oder sich aufzuregen. Draußen auf dem Rasen sang das Orchester, und die Wörter wehten mit der Brise zum Fenster herein.
»Lis-sen while I – get you tole
Stop foolin’ ’round sweet – Jelly-Roll…«
Sie hörte zu. Die Negerstimmen waren wild und laut – diese Tonart hatte das Leben, eine sehr rauhe Tonart. Wie entsetzlich hilflos sie war! Ihr Bitten war blutleer, kraftlos, lächerlich im Vergleich zu der barbarischen Dringlichkeit des Verlangens, das jenes andere Mädchen zum Ausdruck brachte.
»Just treat me pretty, just treat me sweet
Cause I possess a fo’ty-fo’ that don’t repeat.«
Die Musik sank auf ein seltsames, bedrohliches Moll herab. Es erinnerte sie an etwas – eine Stimmung aus ihrer Kindheit –, und eine neue Atmosphäre schien um sie herum zu entstehen. Es war keine klare Erinnerung, sondern vielmehr ein Strom, eine Welle, die ihren ganzen Körper erfasste.
Diana sprang auf und tastete im Dunkeln nach ihren Schuhen. Den Rhythmus des Liedes im Kopf, biss sie mit einem klackenden Geräusch die kleinen Zähne zusammen. Sie spürte, wie in ihren Armen die festen Golfmuskeln zuckten und sich anspannten.
Sie lief hinunter in die Diele, öffnete die Tür zum Zimmer ihres Vaters, schloss sie vorsichtig hinter sich und trat an den Schreibtisch. Was sie suchte, lag in der obersten Schublade und hob sich schwarz und glänzend von den fahlen, bleichen Umschlägen ab. Ihre Hand legte sich um den Griff, und mit ruhigen Fingern nahm sie das Magazin heraus. Es waren fünf Kugeln darin.
Wieder in ihrem Zimmer, rief sie in der Garage an. »Bitte bringen Sie meinen Roadster zum Seiteneingang, sofort!«
Sie hörte die Verschlüsse reißen, als sie sich hastig aus ihrem Abendkleid wand, ließ es als weiches Knäuel auf den Boden fallen und zog stattdessen einen Golfpullover an, einen karierten Rock und einen alten blau-weißen Blazer, an dessen Kragen sie eine längliche Diamantbrosche befestigte. Dann setzte sie sich eine Schottenmütze auf das dunkle Haar und warf, bevor sie das Licht löschte, einen Blick in den Spiegel.
»Also los, Diamond Dick!«, flüsterte sie laut.
Mit einem leisen Aufschrei versenkte sie die Pistole in der Tasche ihres Blazers und eilte aus dem Zimmer.
Diamond Dick! Der Name war ihr einst von einem grellen Buchumschlag ins Auge gesprungen und versinnbildlichte ihr kindliches Aufbegehren gegen ihr weich gepolstertes Leben. Diamond Dick war sein eigenes Gesetz, er fällte seine Urteile mit dem Rücken zur Wand selbst. Wenn die Gerechtigkeit auf sich warten ließ, schwang er sich in den Sattel und galoppierte in Richtung Berge, denn dank der Unfehlbarkeit seiner Instinkte war er härter und höher als das Gesetz. Sie hatte in ihm eine Art Gottheit gesehen, grenzenlos erfinderisch, grenzenlos gerecht. Und das Gebot, das er auf den billigen, schlecht geschriebenen Seiten für sich aufstellte, lautete, zuerst und vor allem zu behalten, was ihm gehörte.
Anderthalb Stunden nachdem sie in Greenwich aufgebrochen war, parkte Diana ihren Roadster vor dem Restaurant Mont Mihiel. Die Theater luden bereits ihr Publikum auf dem Broadway ab, und ein halbes Dutzend Paare in Abendgarderobe sahen neugierig zu ihr hin, als sie durch die Tür geschlurft kam. Einen Augenblick später sprach sie mit dem Oberkellner.
»Kennen Sie ein Mädchen namens Elaine Russel?«
»Ja, Miss Dickey. Sie kommt recht oft hierher.«
»Könnten Sie mir wohl sagen, wo sie wohnt?«
Der Oberkellner überlegte.
»Finden Sie es heraus«, sagte sie scharf. »Ich bin in Eile.«
Er verbeugte sich. Diana war etliche Male mit etlichen Männern hier gewesen. Sie hatte ihn noch nie zuvor um einen Gefallen gebeten.
Er ließ den Blick hastig durch das Restaurant schweifen.
»Setzen Sie sich doch«, sagte er.
»Nicht nötig. Beeilen Sie sich.«
Er ging quer durch den Raum und sprach flüsternd mit einem Mann an einem der Tische – eine Minute später war er wieder bei ihr und nannte ihr die Adresse, eine Wohnung an der Forty-ninth Street.
Als sie wieder im Wagen saß, schaute sie auf ihre Armbanduhr – es war fast Mitternacht, genau die richtige Zeit. Ein Gefühl von Romantik ergriff sie, von Lust am verzweifelten, gefährlichen Abenteuer, das den elektrischen Reklametafeln und den vorbeirasenden Taxis und den Sternen hoch am Himmel zu entströmen schien. Vielleicht war sie nur einer von hundert Menschen, die heute Nacht ein solches Abenteuer vor sich hatten – doch sie hatte seit dem Krieg nichts Vergleichbares mehr erlebt.
Als sie in die East Forty-ninth Street eingebogen waren, suchte sie auf beiden Seiten die Häuser ab. Da war es – The Elkson –, ein breiter Schlund aus abweisend gelbem Licht. In der Eingangshalle fragte sie ein schwarzer Liftboy nach ihrem Namen.
»Sagen Sie ihr, ein Mädchen mit einem Paket von der Filmgesellschaft sei da.«
Geräuschvoll betätigte er einen Schalter.
»Miss Russel? Hier ist eine Dame, die sagt, sie hat ein Paket von der Filmgesellschaft für Sie.«
Eine Pause.
»Das hat sie gesagt… In Ordnung.« Er wandte sich Diana zu. »Sie erwartet zwar kein Paket, aber Sie können es raufbringen.« Er sah sie an und runzelte auf einmal die Stirn. »Aber Sie haben ja gar keins.«
Ohne zu antworten, ging sie zum Fahrstuhl, und er folgte ihr und schob mit zermürbender Langsamkeit das Gitter zu… »Erste Tür rechts.«
Sie wartete, bis der Fahrstuhl wieder auf dem Weg nach unten war. Dann klopfte sie, und ihre Finger schlossen sich fester um die Pistole in der Tasche ihres Blazers.
Schnelle Schritte, ein Lachen; die Tür schwang auf, und Diana trat rasch ein.
Es war eine kleine Wohnung, Schlafzimmer, Badezimmer und Kochnische, pink und weiß möbliert; der Zigarettenqualm der letzten Woche hing in der Luft. Elaine Russel selbst hatte die Tür geöffnet. Sie war zum Ausgehen gekleidet und trug ein grünes Abendcape über dem Arm. Charley Abbot, der an einem Highball nippte, hatte es sich in dem einzigen Polstersessel gemütlich gemacht.
»Was soll das?«, rief Elaine schnell.
Mit einer heftigen Bewegung knallte Diana die Tür hinter sich zu, und Elaine wich mit offenem Mund zurück.
»Guten Abend«, sagte Diana kalt. Plötzlich schoss ihr ein Satz aus einem lang vergessenen Groschenroman durch den Sinn. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Was wollen Sie?«, herrschte Elaine sie an. »Sie haben die Stirn, hier einfach so hereinzuplatzen!«
Charley, der noch kein Wort gesagt hatte, stellte jetzt sein Glas schwerfällig auf der Armlehne des Sessels ab. Die beiden Frauen starrten einander an.
»Entschuldigen Sie«, sagte Diana langsam, »aber ich glaube, Sie haben meinen Mann.«
»Und Sie wollen eine Dame sein!«, rief Elaine mit wachsendem Zorn. »Verschaffen sich hier gewaltsam Zutritt – was erlauben Sie sich!«
»Ich erlaube mir, Klartext zu reden. Ich bin gekommen, um Charley Abbot abzuholen.«
Elaine keuchte.
»Aber Sie müssen ja verrückt sein!«
»Im Gegenteil, ich war noch nie im Leben bei so klarem Verstand. Ich bin gekommen, um mir etwas zu holen, was mir gehört.«
Charley rief etwas aus, doch beide Frauen brachten ihn gleichzeitig mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Na schön«, rief Elaine, »dann klären wir das jetzt sofort.«
»Ich kläre das ganz allein«, sagte Diana scharf. »Es gibt keine Diskussion. Unter anderen Umständen würde ich vielleicht eine Spur Mitleid für Sie empfinden – in diesem Fall sind Sie mir einfach nur im Weg. Was ist da zwischen euch beiden? Hat er Ihnen die Ehe versprochen?«
»Das geht Sie nichts an!«
»Sie sollten besser antworten«, warnte Diana.
»Das werde ich nicht tun.«
Diana trat plötzlich einen Schritt vor, holte aus und schlug Elaine mit der ganzen Kraft ihres schlanken, muskulösen Arms klatschend die flache Hand ins Gesicht.
Elaine stolperte rückwärts gegen die Wand. Charley stieß einen Schrei aus und sprang hinzu, worauf er in die Mündung einer Vierundvierziger blickte, die von einer kleinen, entschlossenen Hand gehalten wurde.
»Hilfe!«, schrie Elaine außer sich. »Oh, sie hat mich verletzt! Sie hat mich verletzt!«
»Seien Sie still!« Dianas Stimme war hart wie Stahl. »Sie sind nicht verletzt. Sie sind bloß schwammig und weich. Aber wenn Sie jetzt Krach schlagen, pumpe ich Sie mit Blei voll, so wahr Sie leben. Setzen Sie sich hin! Alle beide – setzt euch hin!«
Elaine, deren Gesicht unter dem Rouge bleich geworden war, gehorchte schnell. Nach kurzem Zögern sank auch Charley wieder in seinen Stuhl.
»Also«, fuhr Diana fort, mit der Pistole einen steten Bogen beschreibend, der sie beide einschloss. »Ihr seht wohl, dass ich nicht zum Scherzen aufgelegt bin. Das solltet ihr vor allem erst mal begreifen. Aus meiner Sicht hat keiner von euch hier irgendwas zu sagen, und eher bringe ich euch beide um, als dass ich diesen Raum verlasse, ohne bekommen zu haben, was ich will. Ich hatte gefragt, ob er Ihnen die Ehe versprochen hat.«
»Ja«, sagte Elaine trotzig.
Die Pistole wanderte zu Charley.
»Ist das wahr?«
Er leckte sich die Lippen, nickte.
»Mein Gott!«, stieß Diana verächtlich hervor. »Und du gibst es auch noch zu. Wie komisch das ist, wie absurd – wenn es mir nicht so ernst wäre, müsste ich lachen!«
»Jetzt pass mal auf!«, murmelte Charley.« Ich sehe mir das nicht mehr allzu lange an, verstehst du.«
»O doch, das tust du! Du bist verweichlicht genug, um dir alles Mögliche anzusehen.« Sie wandte sich der zitternden Elaine zu. »Haben Sie Briefe von ihm?«
Elaine schüttelte den Kopf.
»Sie lügen«, sagte Diana. »Gehen Sie und holen Sie sie! Ich zähle bis drei. Eins –«
Elaine stand auf und ging in das andere Zimmer. Diana schob sich am Tisch entlang, um sie die ganze Zeit im Auge zu behalten.
»Machen Sie schon!«
Elaine kehrte mit einem kleinen Päckchen in der Hand zurück, das Diana ihr abnahm und in die Tasche ihres Blazers steckte.
»Danke. Sie haben sie alle sorgfältig aufbewahrt, wie ich sehe. Setzen Sie sich hin, und dann werden wir uns ein wenig unterhalten.«
Elaine nahm wieder Platz. Charley trank seinen Whiskey Soda bis auf den letzten Tropfen aus und lehnte sich mit dumpfem Gesichtsausdruck zurück.
»Also«, sagte Diana. »Ich erzähle euch jetzt eine kleine Geschichte. Sie handelt von einer jungen Frau, die einst in den Krieg ging und einen Mann kennenlernte, den besten und mutigsten Mann, dem sie je begegnet war. Sie verliebte sich in ihn und er sich in sie, und all die anderen Männer, die sie kannte, wurden zu fahlen Schatten im Vergleich zu diesem einen. Doch eines Tages wurde sein Flugzeug abgeschossen, und als er wieder aufwachte, hatte er sich verändert. Er merkte es selbst nicht, aber er hatte vieles vergessen und war ein anderer geworden. Die junge Frau war traurig darüber – sie sah, dass er sie nicht mehr brauchte, und so blieb ihr nichts übrig, als ihm Lebewohl zu sagen.
Also ging sie fort. Eine Zeitlang weinte sie sich jede Nacht in den Schlaf, doch er kam nie wieder zu ihr zurück, und so vergingen fünf Jahre. Irgendwann wurde ihr zugetragen, dass dieselbe Verwundung, die sie und ihn auseinandergebracht hatte, sein Leben zu zerstören drohte. Er erinnerte sich an nichts Wichtiges mehr – daran, wie stolz und anständig er einmal gewesen war, welche Träume er einmal gehabt hatte. Und da wusste die Frau, dass sie versuchen musste, zu retten, was von seinem Leben noch übrig war. Sie hatte das Recht dazu, denn sie war die Einzige, die sich an all das, was er vergessen hatte, noch erinnerte. Aber es war zu spät. Sie konnte nicht mehr zu ihm durchdringen – sie war nicht grob genug, nicht rauh genug dafür – er hatte so vieles vergessen.
Also griff sie sich einen Revolver, diesem hier ganz ähnlich, und folgte dem Mann in die Wohnung einer armen, harmlosen Ratte von einem Mädchen, die ihn sich geangelt hatte. Sie wollte ihn entweder zur Besinnung bringen – oder mit ihm zusammen zu dem Staub zurückkehren, wo nichts mehr von Bedeutung ist.«
Sie hielt inne. Elaine rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Charley beugte sich vor, das Gesicht in den Händen.
»Charley!«
Das Wort, scharf und deutlich ausgesprochen, schreckte ihn auf. Er ließ die Hände fallen und blickte zu ihr auf.
»Charley!«, wiederholte sie mit dünner, klarer Stimme. »Erinnerst du dich an Fontenay im späten Herbst?«
Ein verwirrter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Hör zu, Charley. Pass auf. Hör auf jedes Wort. Erinnerst du dich an die Pappeln in der Abenddämmerung und an eine lange Kolonne französischer Infanteristen, die durch die Stadt marschierten? Du hast deine blaue Uniform getragen, Charley, mit den kleinen Zahlen am Kragenspiegel. Du solltest eine Stunde später an die Front aufbrechen. Versuch dich zu erinnern, Charley!«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und stieß einen seltsamen kleinen Seufzer aus. Elaine saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und schaute mit weit aufgerissenen Augen von ihm zu ihr und wieder zu ihm.
»Erinnerst du dich an die Pappeln?«, fuhr Diana fort. »Die Sonne ging gerade unter, die Blätter waren silbern, und eine Glocke läutete. Erinnerst du dich, Charley? Erinnerst du dich?«
Erneut Schweigen. Charley gab ein sonderbares leises Stöhnen von sich und hob den Kopf.
»Ich kann das alles nicht – verstehen«, murmelte er heiser. »Es ist so merkwürdig.«
»Erinnerst du dich nicht mehr?«, rief Diana. Die Tränen strömten ihr aus den Augen. »O Gott! Erinnerst du dich nicht? Der braune Weg und die Pappeln und der gelbe Himmel.« Plötzlich sprang sie auf. »Erinnerst du dich nicht?«, rief sie ungestüm. »Denk nach, denk nach – denk an die Zeit. Die Glocken läuten, Charley, die Glocken läuten! Und dir bleibt nur noch eine Stunde!«
Jetzt stand er, taumelnd und schwankend, auf.
»A-a-a-ah!«, rief er.
»Charley«, schluchzte Diana, »erinnere dich, erinnere dich, erinnere dich!«
»Ja!«, sagte er heftig erregt. »Jetzt weiß ich es – ich erinnere mich, ja, ich erinnere mich!«
Mit einem erstickten Schluchzer schien sein ganzer Körper unter ihm zu erschlaffen, und er sackte bewusstlos auf seinen Stuhl.
Augenblicklich waren beide Frauen bei ihm.
»Er ist ohnmächtig geworden!«, rief Diana. »Schnell, holen Sie Wasser!«
»Sie teuflisches Weib!«, schrie Elaine mit verzerrtem Gesicht. »Sehen Sie, was passiert ist! Welches Recht haben Sie dazu? Welches Recht? Welches Recht?«
»Welches Recht?« Diana wandte sich mit schwarzen, schimmernden Augen zu ihr um. »Alles Recht der Welt. Ich bin seit fünf Jahren mit Charley Abbot verheiratet.«
Anfang Juni heirateten Charley und Diana in Greenwich ein zweites Mal. Nach der Hochzeit hörten ihre ältesten Freunde endgültig auf, sie Diamond Dick zu nennen – es sei schon seit einigen Jahren ein äußerst unpassender Name, sagten sie, und auf ihre Kinder würde er eine beunruhigende, wenn nicht regelrecht schädliche Wirkung haben.
Doch vielleicht, sollte sich einst die Gelegenheit dazu ergeben, würde Diamond Dick von dem grellbunten Buchumschlag erneut zum Leben erwachen und mit glitzernden Sporen und im Wind flatternden Wildlederfransen in die gesetzlosen Berge reiten, um ihr Eigentum zu schützen. Denn unter all ihrer Sanftheit war Diamond Dick immer schon hart wie Stahl – so hart, dass die Jahre darum wussten und für sie stillstanden, und die Wolken sich auseinanderschoben, und ein kranker Mann, der des Nachts jene unermüdlichen Hufschläge hörte, aufstand und die dunkle Last des Krieges von seinen Schultern warf.