Winterträume

 

I

 

Manche Caddies waren arm wie die Sünde und wohnten in Einzimmerhäusern mit einer neurasthenischen Kuh im Vorgarten, doch Dexter Greens Vater gehörte das zweitbeste Lebensmittelgeschäft in Black Bear – das beste war The Hub mit seiner reichen Kundschaft aus Sherry Island –, und Dexter verdiente sich als Caddie nur sein Taschengeld.

Im Herbst, wenn die Tage frisch und grau wurden und der lange Winter Minnesotas sich wie der weiße Deckel einer Schachtel über dem Land schloss, glitten Dexters Skier über den Schnee, der die Fairways des Golfplatzes verbarg. In dieser Jahreszeit stimmte das Land ihn zutiefst melancholisch – es kränkte ihn, dass die Rasenflächen zum Brachliegen verurteilt und für lange Monate von zerzausten Spatzen heimgesucht wurden. Trostlos war es auch, dass dort, wo im Sommer fröhliche Farben flatterten, jetzt nur die tristen, knietief mit verharschtem Schnee gefüllten Bunker zu sehen waren. Auf den Hügeln blies der Wind kalt wie die Not, und wenn die Sonne herauskam, stapfte Dexter mit zusammengekniffenen Augen gegen den flachen grellen Schein an.

Im April ging der Winter jäh zu Ende. Der Schnee rann in den Black Bear Lake hinab und ließ den frühen Golfern kaum Zeit, dem Wetter mit roten und schwarzen Bällen zu trotzen. Ohne Jubel, ohne eine Zwischenphase feuchter Pracht war die Kälte vorüber.

Dexter wusste, dass dieser nordische Frühling etwas Trübseliges hatte, so wie dem Herbst etwas Herrliches eigen war. Der Herbst ließ ihn die Fäuste ballen, ließ ihn erbeben und immer dieselben blödsinnigen Sätze an sich selber richten und mit jäher, forscher Gebärde imaginären Zuschauern und Armeen Befehle erteilen. Der Oktober erfüllte ihn mit Hoffnung, die der November zu regelrecht ekstatischem Triumph steigerte, und in dieser Stimmung waren die flüchtigen Glanzpunkte des Sommers auf Sherry Island Wasser auf seine Mühlen. Er wurde Golfmeister und schlug Mr. T. A. Hedrick in einer fabelhaften Partie, die auf den Fairways seiner Einbildung an die hundert Mal nachgespielt wurde, eine Partie, deren Details er unermüdlich variierte – mal gewann er mit geradezu lachhafter Leichtigkeit, mal holte er einen anfänglichen Rückstand grandios wieder auf. Oder er stieg wie Mr. Mortimer Jones aus einem Pierce-Arrow-Automobil und schlenderte mit kühler Miene in die Lounge des Sherry Island Golfclubs, und vielleicht gab er sogar, von einer Gruppe Bewunderer umringt, eine extravagante Vorstellung vom Sprungbrett des Clubstegs aus… Im Publikum, das ihm mit offenem Mund zuschaute, befand sich auch Mr. Mortimer Jones.

Eines Tages geschah es, dass Mr. Jones – er selbst, nicht sein Geist – mit Tränen in den Augen vor Dexter hintrat und ihm sagte, er sei der… der beste Caddie im Club, und ob er sich nicht entschließen könne weiterzumachen, wenn Mr. Jones es ihm lohne, denn alle anderen… alle anderen Caddies im Club verlören regelmäßig einen Ball pro Loch.

»Nein, Sir«, sagte Dexter entschieden, »ich möchte kein Caddie mehr sein.« Und dann, nach einer Pause: »Ich bin zu alt dafür.«

»Du bist nicht älter als vierzehn. Warum zum Teufel hast du gerade heute Morgen beschlossen aufzuhören? Du hast mir versprochen, mich nächste Woche auf das staatliche Turnier zu begleiten.«

»Ich habe beschlossen, dass ich dafür zu alt bin.«

Dexter gab seine A-Klassen-Plakette ab, bat den Caddiemeister um das Geld, das ihm noch zustand, und ging zu Fuß heim nach Black Bear Village.

»Der beste… Caddie, der mir je begegnet ist«, rief Mr. Mortimer Jones am selben Nachmittag bei einem Drink. »Hat nie einen einzigen Ball verloren! Aufmerksam! Intelligent! Ruhig! Ehrlich! Dankbar!«

Das kleine Mädchen, das dies angerichtet hatte, war elf und so schön hässlich, wie es bei kleinen Mädchen häufig vorkommt, die dazu ausersehen sind, ein paar Jahre später unaussprechlich hübsch zu sein und eine große Anzahl Männer grenzenlos unglücklich zu machen. Aber den Funken trug sie schon in sich. In der Art und Weise, wie ihre Lippen sich beim Lächeln nach unten bogen, lag etwas Gottloses, ebenso wie – der Himmel stehe uns bei! – in dem fast leidenschaftlichen Ausdruck ihrer Augen. Das Temperament erwacht bei diesen Frauen früh zum Leben. Hier trat es bereits überdeutlich zutage, als eine Art Leuchten, das ihre zarte Gestalt durchglühte.

Sie war um neun Uhr früh mit einem weißleinenen Kindermädchen und fünf kleinen neuen Golfschlägern in einem weißen Segeltuchbag, den das Kindermädchen trug, eifrig auf dem Platz erschienen. Als Dexter auf sie aufmerksam wurde, stand sie beim Caddiehaus und fühlte sich sichtlich unwohl, was sie zu verbergen suchte, indem sie das Kindermädchen in ein offenkundig gekünsteltes Gespräch verwickelte und dabei verblüffende und unsinnige Grimassen schnitt, die sie noch reizvoller erscheinen ließen.

»Also, es ist wirklich ein schöner Tag heute, Hilda«, hörte er sie sagen. Sie bog die Mundwinkel nach unten, lächelte und schaute sich flüchtig um, so dass ihr Blick im Vorbeigleiten auch Dexter streifte.

Dann zum Kindermädchen: »Also, heute Morgen sind ja nicht gerade viele Leute unterwegs, oder?«

Erneut dieses Lächeln – strahlend, unverschämt künstlich – überzeugend.

»Ich weiß gar nicht, was wir jetzt tun sollen«, sagte das Kindermädchen, ohne in eine bestimmte Richtung zu schauen.

»Ach, das macht nichts. Ich kümmere mich schon darum.«

Dexter stand mit leicht geöffnetem Mund vollkommen reglos da. Hätte er nur einen Schritt nach vorn getan, so wäre er mit seinem neugierigen Blick in ihr Sichtfeld geraten – wäre er hingegen einen Schritt zurückgetreten, hätte er ihr Gesicht nicht mehr ganz sehen können. Im ersten Moment hatte er nicht erkannt, wie jung sie war. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er sie im Jahr zuvor ein paarmal gesehen hatte – im Spielanzug.

Er musste unwillkürlich lachen, ein kurzes, jähes Lachen – dann wandte er sich, von sich selber erschreckt, um und ging rasch davon.

»Boy!«

Dexter blieb stehen.

»Boy…!«

Zweifellos war er gemeint. Und nicht nur das, sondern ihm wurde auch jenes absurde, spöttische Lächeln zuteil – an welches sich mindestens ein Dutzend Männer bis ins mittlere Alter hinein erinnern sollten.

»Weißt du, wo der Golflehrer ist?«

»Er gibt gerade eine Stunde.«

»Und der Caddiemeister?«

»Er ist noch nicht da.«

»Oh.« Das verwirrte sie. Sie trat von einem Bein auf das andere.

»Wir hätten gerne einen Caddie«, sagte das Kindermädchen. »Mrs. Mortimer Jones hat uns zum Golfspielen geschickt, aber wir wissen gar nicht, wie, so ohne Caddie.«

Hier gebot ihr ein drohender Blick aus Miss Jones’ Augen, auf den sofort wieder jenes Lächeln folgte, Einhalt.

»Es gibt hier außer mir keine Caddies«, sagte Dexter zu dem Kindermädchen, »und ich kann nicht weg – ich muss Aufsicht führen, bis der Caddiemeister kommt.«

»Oh.«

Miss Jones und ihr Gefolge zogen sich nun zurück und führten in angemessener Entfernung von Dexter ein hitziges Gespräch, das Miss Jones beendete, indem sie einen der Golfschläger ergriff und heftig damit auf den Boden schlug. Um ihrem Standpunkt weiteren Nachdruck zu verleihen, holte sie erneut aus und wollte dem Kindermädchen gerade einen tüchtigen Schlag über den Busen verpassen, als dieses den Schläger packte und ihn ihr entwand.

»Du dummes kleines gemeines altes Ding!«, rief Miss Jones außer sich.

Der Streit ging weiter. Dexter, der fand, dass die Szene einer gewissen Komik nicht entbehrte, fing ein paarmal an zu lachen, beherrschte sich jedoch stets, bevor das Lachen hörbar geworden wäre. Er konnte sich der grotesken Überzeugung nicht erwehren, dass die Kleine ihr Kindermädchen völlig zu Recht schlug.

Das Problem löste sich, als zufällig der Caddiemeister herbeikam, dem das Kindermädchen augenblicklich ihr Anliegen vortrug: »Miss Jones soll einen kleinen Caddie bekommen, und der hier sagt, er hat keine Zeit.«

»Mr. McKenna hat gesagt, ich soll hier warten, bis Sie kommen«, erklärte Dexter rasch.

»Nun ist er ja hier.« Miss Jones lächelte den Caddiemeister fröhlich an. Dann ließ sie ihren Golfbag fallen und trippelte hochmütig zum ersten Tee.

»Also?« Der Caddiemeister wandte sich Dexter zu. »Was stehst du hier rum wie ’ne Schaufensterpuppe? Geh schon los und heb die Schläger der jungen Dame auf.«

»Ich glaube, ich gehe heute nicht über den Platz«, sagte Dexter.

»Du gehst nicht…«

»Ich glaube, ich kündige.«

Die Ungeheuerlichkeit seines Entschlusses erschreckte ihn selbst. Er war ein begehrter Caddie, und die dreißig Dollar im Monat, die er den Sommer über verdiente, waren sonst rund um den See nirgends zu holen. Aber er hatte einen schweren emotionalen Schock erlitten und musste seiner Erschütterung heftig und unverzüglich Luft machen.

Ganz so einfach ist es allerdings auch nicht. Denn wie in Zukunft noch so oft, hörte Dexter unbewusst auf seine Winterträume.

II

 

Natürlich variierte die Art dieser Winterträume je nach Jahreszeit, doch ihr Stoff blieb sich immer gleich. Sie bewogen Dexter einige Jahre später, ein Wirtschaftsstudium an der State University abzulehnen – sein Vater, der inzwischen zu Wohlstand gelangt war, hätte es ihm bezahlt –, um einer älteren und berühmteren Universität im Osten, für die seine spärlichen Mittel kaum reichten, den zweifelhaften Vorzug zu geben. Doch gewinnen Sie daraus, dass seine Winterträume sich zuerst um die Reichen rankten, nicht den Eindruck, der Junge sei lediglich ein Snob gewesen. Er wollte nicht mit glänzenden Dingen und glänzenden Menschen in Verbindung sein – er wollte die glänzenden Dinge selbst. Oft strebte er nach dem Besten, ohne zu wissen, warum er das tat – und stieß sich bisweilen an den rätselhaften Versagungen und Verboten, die das Leben so liebt. Von einer dieser Versagungen, und nicht von seinem Werdegang insgesamt, handelt diese Geschichte.

Er machte Geld. Es war schon erstaunlich. Nach dem College ging er in die Stadt, aus der Black Bear seine vermögenden Stammgäste bezieht. Als er kaum dreiundzwanzig und noch nicht zwei Jahre dort war, sagten manche Leute bereits: »Na, das ist mal ein Kerl…« Wo er hinschaute, handelten die Söhne reicher Männer mit unsicheren Wertpapieren oder investierten in unsichere Immobilien oder ackerten sich durch die zwei Dutzend Bände von George Washingtons Wirtschaftslehre, doch Dexter borgte sich mit Hilfe seines Collegeabschlusses und seines selbstbewussten Mundwerks eintausend Dollar und erwarb einen Anteil an einer Wäscherei.

Es war eine kleine Wäscherei, als er sich dort einkaufte, doch Dexter spezialisierte sich auf die englische Kunst, feine wollene Golfkniestrümpfe zu waschen, ohne sie einlaufen zu lassen, und binnen Jahresfrist war er ganz auf die Zunft der Knickerbockerträger ausgerichtet. Männer bestanden darauf, dass ihre Shetlandstrümpfe und -pullover in seine Wäscherei gebracht wurden, wie sie auf jenem Caddie bestanden hatten, der Golfbälle finden konnte. Wenig später wusch er auch die Spitzenunterwäsche ihrer Ehefrauen – und betrieb fünf Geschäfte in verschiedenen Vierteln der Stadt. Noch nicht ganz siebenundzwanzig, besaß er die größte Wäschereikette der Region. Daraufhin verkaufte er seinen Anteil und zog nach New York. Doch die Geschichte, die uns interessiert, reicht in die Zeit zurück, als er seinen ersten großen Erfolg landete.

Mit dreiundzwanzig gab ihm Mr. Hart – einer jener grauhaarigen Männer, die gerne sagten: »Na, das ist mal ein Kerl« – für ein Wochenende eine Gästekarte des Sherry Island Golfclubs. Also setzte Dexter eines Tages seinen Namen auf die Liste und spielte noch am selben Nachmittag einen Vierer mit Mr. Hart, Mr. Sandwood und Mr. T. A. Hedrick. Er hielt es nicht für nötig anzumerken, dass er einst Mr. Harts Bag über ebendiese Bahnen getragen hatte und jeden Bunker und jeden Teich mit geschlossenen Augen wiedererkannte, ertappte sich jedoch dabei, wie er sich dann und wann nach den vier Caddies umschaute, in der Hoffnung, dass irgendein Schimmer oder eine Geste ihn an ihn selbst erinnern und die Kluft verkleinern würde, die seine Gegenwart von seiner Vergangenheit trennte.

Es war ein merkwürdiger Tag, von flüchtigen, vertrauten Eindrücken jäh zerschnitten. Eben noch fühlte er sich wie ein Eindringling – dann wieder überwog das Gefühl der ungeheuren Überlegenheit, die er Mr. T. A. Hedrick gegenüber empfand, einem Langweiler, der nicht einmal mehr gut Golf spielte.

Irgendwann geschah wegen eines Balles, den Mr. Hart in der Nähe des fünfzehnten Greens verlor, etwas Unglaubliches. Während sie das harte Gras des Roughs absuchten, ertönte jenseits eines Hügels hinter ihnen der deutliche Ruf »Vorsicht!«. Und als sie sich, die Ballsuche unterbrechend, allesamt ruckartig umdrehten, kam ein leuchtender neuer Ball leicht angeschnitten über den Hügel geflogen und traf Mr. T. A. Hedrick in den Unterleib.

»Herrje!«, rief der. »Ein paar von diesen verrückten Frauen gehören vom Platz geworfen. Das wird ja wirklich immer schlimmer!«

Ein Kopf und eine Stimme tauchten zusammen hinter dem Hügel auf. »Würden Sie uns wohl vorlassen?«

»Sie haben mich in den Bauch getroffen!«, vermeldete Mr. Hedrick wütend.

»Habe ich das?« Die junge Dame näherte sich der Gruppe von Männern. »Das tut mir leid. Ich habe doch laut ›Vorsicht!‹ gerufen.«

Ihr Blick fiel beiläufig auf jeden von ihnen – dann suchte sie den Fairway nach ihrem Ball ab.

»Bin ich im Rough gelandet?«

Es war unmöglich festzustellen, ob das eine arglose oder eine boshafte Frage war. Einen Moment später jedoch räumte die junge Dame alle Zweifel aus, indem sie ihrer Partnerin, die gerade über den Hügel kam, fröhlich zurief: »Hier bin ich! Ich wäre auf dem Green gelandet, wenn ich nicht etwas anderes getroffen hätte.«

Während sie in Position ging, um einen kurzen Schlag mit Eisen fünf zu machen, betrachtete Dexter sie genauer. Sie trug ein Kleid aus blauem Gingan mit einem weißen Saum an Hals und Schultern, der ihre Bräune hervorhob. Was an ihr vordem so übertrieben und dünn gewirkt und ihren leidenschaftlichen Augen und herabgezogenen Mundwinkeln mit elf etwas Albernes verliehen hatte, war fort. Sie war atemberaubend schön. Die Farbe ihrer Wangen irisierte wie die Farbe auf einem Bild – es war keine ›tiefe‹ Röte, sondern eine Art changierender, fiebriger Wärme, so abgedämpft, dass es schien, als würde sie jeden Augenblick weichen und ganz verschwinden. Diese Röte und ihr Mund, der ständig in Bewegung war, vermittelten den Eindruck von Wechselhaftigkeit, von höchster Lebendigkeit und leidenschaftlicher Vitalität – ein Eindruck, dem die traurige Pracht ihrer Augen nur teilweise entgegenwirkte.

Jetzt schwang sie ungeduldig und desinteressiert ihr Eisen fünf und beförderte den Ball in einen Bunker jenseits des Greens. Mit einem raschen, unaufrichtigen Lächeln und einem unbekümmerten »Danke schön!« folgte sie ihm.

»Diese Judy Jones!«, bemerkte Mr. Hedrick beim nächsten Tee, während sie – ein paar Augenblicke – warteten, bis sie weitergespielt hatte. »Sie müsste sechs Monate lang übers Knie gelegt und dann mit einem altmodischen Hauptmann der Kavallerie verheiratet werden.«

»Mein Gott, sieht sie gut aus!«, sagte Mr. Sandwood, der knapp über dreißig war.

»Gut?«, rief Mr. Hedrick verächtlich. »Sie sieht immer aus, als wollte sie geküsst werden! So wie sie ihre großen Kuhaugen auf jedes Kalb in der Stadt richtet!«

Es war zweifelhaft, ob Mr. Hedrick damit auf mütterliche Instinkte anzuspielen beabsichtigte.

»Sie könnte ziemlich gut Golf spielen, wenn sie sich Mühe geben würde«, meinte Mr. Sandwood.

»Sie hat keinen Stil«, sagte Mr. Hedrick feierlich.

»Sie hat eine gute Figur«, sagte Mr. Sandwood.

»Danken wir Gott, dass sie keinen härteren Schlag hat«, sagte Mr. Hart und zwinkerte Dexter zu.

Später ging in einem turbulenten Wirbel aus Gold und wechselnden Blau- und Scharlachrottönen die Sonne unter, und zurück blieb der trockene, knisternde Abend eines Sommers im Mittleren Westen. Dexter schaute von der Veranda des Golfclubs aus zu, schaute zu, wie die Wellen im sachten Wind gleichmäßig eine über die andere schwappten, silberne Melasse unter dem Erntemond. Dann legte der Mond einen Finger auf den Mund, und der See wurde zu einem klaren Teich, bleich und still. Dexter zog sich einen Badeanzug an, schwamm weit hinaus bis zum letzten Floß und streckte sich auf der nassen Segeltuchbespannung des Sprungbretts aus.

Ein Fisch sprang hoch, und ein Stern funkelte, und die Lichter um den See herum glitzerten. Drüben auf einer dunklen Halbinsel wurden auf einem Klavier die Schlager des letzten Sommers und der Sommer davor intoniert – Schlager aus Chin-Chin und Der Graf von Luxemburg und Der Schokoladensoldat –, und weil Dexter Klaviermusik über dem Wasser schon immer wunderschön gefunden hatte, lag er vollkommen ruhig da und lauschte.

Die Melodie, die gerade erklang, war fünf Jahre zuvor, in Dexters zweitem Jahr auf dem College, neu und populär gewesen. Sie war damals auf einem Collegeball gespielt worden, als er sich den Luxus solcher Bälle nicht leisten konnte, und er hatte draußen vor der Aula gestanden und gelauscht. Der Klang der Melodie versetzte ihn in eine Art Taumel, und in diesem Taumel erlebte er, was jetzt geschah. Es war eine Stimmung tiefer Dankbarkeit, ein Gefühl, dass er sich ausnahmsweise einmal in schönstem Einklang mit der Welt befand und alles um ihn herum eine Helligkeit und einen Glanz verströmte, wie er es vielleicht nie wieder erleben würde.

Ein blasses Rechteck löste sich plötzlich aus der Dunkelheit der Insel und spuckte das widerhallende Knattern eines über den See rasenden Motorboots aus. Zwei weiße Banner geteilten Wassers entrollten sich hinter ihm, und kaum einen Moment später war das Boot bei Dexter und übertönte das heiße Klaviergeklimper mit dem Donner seiner Gischt. Als Dexter sich auf seine Ellbogen stützte, konnte er hinter dem Steuer eine Gestalt ausmachen, zwei dunkle Augen, die ihn über das schon wieder länger werdende Stück Wasser hinweg anschauten – dann war das Boot an ihm vorbei und sauste in einem großen, völlig beliebigen Gischtkreis auf dem See herum. Einer der Kreise verflachte schließlich genauso willkürlich, und das Boot kehrte zum Floß zurück.

»Wer ist da?«, rief sie, während sie den Motor ausschaltete. Sie war jetzt so dicht bei ihm, dass Dexter ihre Badebekleidung sehen konnte, die aus einem pinkfarbenen Einteiler zu bestehen schien.

Die Bootsschnauze stieß gegen das Floß, und als Letzteres sich abenteuerlich neigte, wurde er zu ihr hingeworfen. Mit unterschiedlich starkem Interesse erkannten sie einander wieder.

»Sind Sie nicht einer von den Männern, an denen wir heute Nachmittag vorbeigespielt haben?«, erkundigte sie sich.

O ja.

»Können Sie Motorboot fahren? Also, falls ja, dann tun Sie mir doch den Gefallen und fahren Sie dieses hier, damit ich mich auf dem Surfbrett hinterherziehen lassen kann. Ich heiße Judy Jones« – sie schenkte ihm ein albernes Grinsen, oder etwas, das wohl ein Grinsen sein sollte, denn sosehr sie ihren Mund auch verzog, es sah nicht fratzenhaft, sondern einfach wunderschön aus –, »und ich wohne in einem Haus drüben auf der Insel, und dort wartet ein Mann auf mich. Als er vorne vor der Tür hielt, bin ich hinten vom Steg weggefahren, weil er behauptet hat, ich sei sein Ideal.«

Ein Fisch sprang hoch, und ein Stern funkelte, und die Lichter um den See herum glitzerten. Dexter setzte sich neben Judy Jones, und sie erklärte ihm, wie man ihr Boot fuhr. Dann war sie im Wasser und schwamm mit geschmeidigen Kraulzügen zu ihrem Surfbrett. Das Auge folgte ihr mühelos, wie einem schaukelnden Ast oder dem Flug einer Möwe. Ihre butternussbraunen Arme glitten wendig durch die kleinen platingrauen Wellen – zuerst tauchte der Ellbogen auf, dann holte in einem weiten Bogen, eine wasserfallartige Kadenz erzeugend, der Unterarm aus, schnellte vor, stach hinein und bahnte sich einen Weg.

Sie fuhren mitten auf den See hinaus; Dexter drehte sich um und sah, dass sie auf dem tiefen hinteren Ende des Surfbretts kniete, das jetzt schräg aus dem Wasser ragte.

»Fahren Sie schneller«, rief sie, »so schnell, wie’s geht.«

Gehorsam drückte er den Gashebel nach vorn, und am Bug stieg die weiße Gischt hoch. Als er sich erneut umdrehte, stand das Mädchen aufrecht auf dem dahinrasenden Brett, die Arme weit ausgebreitet, die Augen zum Mond gerichtet.

»Es ist ganz schön kalt«, rief sie. »Wie heißen Sie?«

Er sagte es ihr.

»Wollen Sie nicht morgen zum Abendessen kommen?«

Sein Herz wirbelte herum wie das Schwungrad des Boots, und zum zweiten Mal gab ihre zufällige Laune seinem Leben eine neue Richtung.

III

 

Während Dexter am folgenden Abend darauf wartete, dass sie herunterkam, bevölkerte er den von weichem Sommerlicht erfüllten Raum und die Glasveranda davor mit den Männern, die Judy Jones schon geliebt hatten. Er wusste, welche Sorte Männer das waren – die Männer, die bei seinem Eintritt ins College mit eleganter Kleidung und tiefer, gesunder Sommerbräune von den großen Privatschulen kamen. In einer Hinsicht war er ihnen offensichtlich überlegen. Er war frischer und stärker als sie. Indem er sich jedoch zu dem Wunsch bekannte, seine Kinder möchten werden wie sie, gab er zu, dass er nur der gleiche grobe, starke Stoff war, aus dem sie zu allen Zeiten entstanden.

Als er selbst es sich schließlich leisten konnte, gute Kleider zu tragen, hatte er gewusst, wer die besten Schneider in Amerika waren, und die besten Schneider in Amerika hatten ihm auch den Anzug gemacht, den er an diesem Abend trug. Er hatte sich jene besondere Zurückhaltung angeeignet, die für seine Universität charakteristisch war und sie von anderen Universitäten abhob. Er begriff, von welchem Wert ein solcher Manierismus für ihn war, deshalb hatte er ihn angenommen; Sorglosigkeit in puncto Kleidung und Manieren, das wusste er, setzte größeres Selbstvertrauen voraus als Sorgfalt. Doch Sorglosigkeit sollte seinen Kindern vorbehalten bleiben. Seine Mutter hatte Krimslich geheißen. Sie stammte aus einer böhmischen Bauernfamilie und hatte bis zum Ende ihrer Tage nur gebrochen Englisch gesprochen. Ihr Sohn musste sich darum an die althergebrachten Formen halten.

Kurz nach sieben kam Judy Jones herunter. Sie trug ein Nachmittagskleid aus blauer Seide, und zuerst war er ein wenig enttäuscht, weil sie nichts Aufwendigeres gewählt hatte. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie nach knapper Begrüßung zur Tür des Anrichteraums ging, sie aufstieß und rief: »Sie können das Essen servieren, Martha.« Er hatte eigentlich erwartet, dass ein Butler zum Essen bitten, dass es einen Cocktail geben würde. All diese Gedanken ließ er jedoch hinter sich, als sie sich Seite an Seite auf ein Sofa setzten und einander anschauten.

»Vater und Mutter sind nicht da«, sagte sie versonnen.

Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er ihren Vater gesehen hatte, und war froh, dass die Eltern an diesem Abend nicht anwesend sein würden – sie hätten sich womöglich gefragt, wer er sei. Er war in Keeble geboren, einer Kleinstadt in Minnesota fünfzig Meilen nördlich von hier, und wenn er gefragt wurde, woher er komme, nannte er stets Keeble und nicht Black Bear Village. Kleinstädte auf dem Land taugten ganz gut als Herkunftsort, solange sie einen nicht mit ihrem Anblick behelligten und als Fußschemel für schicke Badeseen herhielten.

Sie sprachen über seine Universität, die sie in den letzten zwei Jahren häufig besucht hatte, und über die nahe gelegene Stadt, die Sherry Island mit seinen Stammgästen versorgte, und darüber, ob Dexter am nächsten Tag zu seinen florierenden Wäschereien zurückkehren würde.

Während des Essens glitt sie in eine düstere Stimmung ab, und Dexter wurde unbehaglich zumute. Jede Nörgelei, die sie in ihrer kehligen Stimme vorbrachte, beunruhigte ihn. Was sie auch anlächelte – ihn, ein Stück Hühnerleber, nichts –, es irritierte ihn, dass ihr Lächeln nicht der Fröhlichkeit, ja nicht einmal der Belustigung entsprang. Wenn ihre scharlachroten Mundwinkel nach unten wanderten, war es weniger ein Lächeln als eine Einladung zum Kuss.

Dann, nach dem Essen, führte sie ihn auf die dunkle Glasveranda und änderte bewusst die Atmosphäre. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ein bisschen weine?«, fragte sie.

»Ich scheine Sie zu langweilen«, antwortete er rasch.

»O nein, ich mag Sie. Aber ich habe einen scheußlichen Nachmittag hinter mir. Es gab da einen Mann, der mir etwas bedeutet hat, und heute Nachmittag hat er mir aus heiterem Himmel eröffnet, er sei arm wie eine Kirchenmaus. Er hatte nie auch nur die leiseste Andeutung gemacht. Klingt das schrecklich prosaisch?«

»Vielleicht hatte er Angst, es Ihnen zu sagen.«

»Mag sein«, antwortete sie. »Er hat es falsch angefangen. Wissen Sie, wenn ich ihn für arm gehalten hätte – also, ich war schon nach Unmengen armer Männer verrückt und wild entschlossen, sie alle zu heiraten. Doch ihn hatte ich nicht so angesehen, und mein Interesse reichte nicht aus, um den Schock zu verwinden. Als würde ein Mädchen ihrem Verlobten seelenruhig mitteilen, sie sei Witwe. Vielleicht hat er nichts gegen Witwen, aber – fangen wir es richtig an«, unterbrach sie sich auf einmal selbst. »Wer sind Sie eigentlich?«

Einen Moment lang zögerte Dexter. »Ich bin niemand«, antwortete er dann. »Meine Karriere ist im wesentlichen Zukunftsmusik.«

»Sind Sie arm?«

»Nein«, antwortete er freimütig. »Ich verdiene wahrscheinlich mehr Geld als sonst irgendein Mann meines Alters im gesamten Nordwesten. Das ist eine geschmacklose Bemerkung, ich weiß, aber Sie haben mir ja geraten, es richtig anzufangen.«

Eine Pause trat ein. Dann lächelte sie, ihre Mundwinkel fielen herab, und mit einem fast unmerklichen Schwanken war sie näher bei ihm und schaute zu ihm auf. Ein Kloß wuchs in Dexters Hals, und er wartete atemlos auf das Experiment, auf jene unvorhersehbare Verbindung, welche die Elemente ihrer Lippen gleich auf geheimnisvolle Weise eingehen würden. Dann geschah es – sie teilte ihm ihre Erregung mit, verschwenderisch, leidenschaftlich, mit Küssen, die nicht bloß Verheißung, sondern Erfüllung waren. Sie weckten in ihm keinen Hunger, der erneuert werden wollte, vielmehr eine Übersättigung, die nach immer mehr Übersättigung heischte… Küsse wie Almosen, die Verlangen erzeugten, indem sie nicht das Geringste zurückhielten.

Er brauchte nicht lange, um zu der Auffassung zu gelangen, dass er Judy Jones schon begehrt hatte, als er noch ein stolzer, lebenshungriger kleiner Junge gewesen war.

IV

 

So fing es an – und in derselben Tonart ging es, mit wechselnden Schattierungen der Intensität, bis zur Auflösung weiter. Dexter lieferte einen Teil seiner selbst dem direktesten und prinzipienlosesten Wesen aus, mit dem er jemals in Berührung gekommen war. Was immer Judy wollte, sie verfolgte es mit dem gesamten Nachdruck ihres Charmes. Es gab keine Variation der Methoden, kein Positionsgerangel und kein Kalkül – überhaupt lag in all ihrem Tun nur wenig Vernunft. Sie machte den Männern bloß in höchstem Maße ihren körperlichen Liebreiz bewusst. Dexter hätte nichts an ihr ändern wollen. Die leidenschaftliche Energie, die in ihre Mängel hineingewebt war, transzendierte und rechtfertigte sie. Als Judys Kopf an jenem ersten Abend an seiner Schulter ruhte, flüsterte sie: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Gestern Abend dachte ich noch, ich sei in einen anderen Mann verliebt, und heute denke ich, ich bin in dich verliebt…«, und das schien ihm eine wunderschöne, romantische Bemerkung zu sein. Es war ihre köstliche Erregbarkeit, über die er für den Moment gebot, ja die sein war. Eine Woche später jedoch war er gezwungen, dieselbe Qualität in einem anderen Licht zu sehen. Judy nahm ihn in ihrem Roadster mit zu einem Abendpicknick, und nach dem Essen verschwand sie, ebenfalls in dem Roadster, mit einem anderen Mann. Dexter war außer sich und kaum in der Lage, den anderen Anwesenden gegenüber einigermaßen höflich zu bleiben. Als sie ihm versicherte, sie habe den anderen Mann nicht geküsst, wusste er, dass sie log – und war doch froh, dass sie sich wenigstens die Mühe gemacht hatte, ihn zu belügen.

Er gehörte, wie er noch vor dem Ende des Sommers herausfand, zu einer wechselnden Schar von Männern, die sie umkreisten. Jeden hatte sie einmal allen anderen vorgezogen; ungefähr die Hälfte schwelgte noch im Trost gelegentlicher sentimentaler Wiederbelebungen. Sooft einer aufgrund längerer Vernachlässigung Anstalten machte auszusteigen, gewährte sie ihm eine kurze, honigsüße Stunde – die ihn ermutigte, vielleicht noch ein weiteres Jahr am Ball zu bleiben. Judy unternahm diese Überfälle auf die Hilflosen und Besiegten ohne Arglist, ja sie war sich kaum bewusst, dass in ihrem Verhalten etwas Niederträchtiges lag.

Sobald ein neuer Mann in die Stadt kam, stiegen alle aus – jedes Rendezvous galt automatisch als abgesagt.

Wer etwas dagegen zu tun versuchte, musste sich machtlos vorkommen, weil alles immer nur von ihr ausging. Sie war kein Mädchen, das im eigentlichen Sinne ›erobert‹ werden konnte – sie war immun gegen Cleverness, immun gegen Charme; wenn eins von beidem sie zu stark bestürmte, löste sie die Affäre sofort ins Körperliche auf, und unter dem Zauber ihrer körperlichen Schönheit spielten die Starken wie die Klugen nicht mehr das eigene, sondern Judys Spiel. Einzig die Erfüllung ihrer Wünsche und die direkte Ausübung ihres eigenen Charmes vermochten sie bei Laune zu halten. Vielleicht hatte sie durch so viel jugendliche Liebe, so viele jugendliche Liebhaber gelernt, sich – aus Notwehr – ganz und gar von innen zu nähren.

Auf Dexters anfängliches Hochgefühl folgten Unruhe und Unzufriedenheit. Die hilflose Verzückung, mit der er sich in ihr verlor, war eher ein Opiat als ein Tonikum. Für seine Arbeit in jenem Winter war es ein Glück, dass diese Momente selten waren. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte es eine Weile den Anschein gehabt, als gebe es eine tiefe und spontane gegenseitige Anziehung – zu Beginn des Monats August, zum Beispiel: drei Tage mit ausgedehnten Abenden auf ihrer dämmerigen Veranda, ganzen Spätnachmittagen voll seltsamer, matter Küsse in schattigen Alkoven oder hinter den schützenden Spalieren der Gartenlauben, und Morgenstunden, in denen sie frisch wie ein Traum war und ihm in der Klarheit des erwachenden Tages beinahe schüchtern begegnete. Es lag die ganze köstliche Erregung eines Heiratsversprechens darin, umso mehr, als er begriff, dass es keines gab. Irgendwann während dieser drei Tage bat er sie auch zum ersten Mal, ihn zu heiraten. Sie sagte: »Eines Tages vielleicht«, sie sagte: »Küss mich«, sie sagte: »Ich möchte dich heiraten«, sie sagte: »Ich liebe dich«, sie sagte – nichts.

Die Gemeinsamkeit dieser drei Tage brach jäh ab, als ein Mann aus New York eintraf, der den halben September über bei ihr wohnte. Dexter litt Qualen, weil von Verlobung gemunkelt wurde. Der Mann war der Sohn des Direktors einer großen Treuhandgesellschaft. Doch gegen Ende des Monats hörte man, Judy langweile sich. Auf einem Tanzfest saß sie den ganzen Abend mit einem lokalen Verehrer im Motorboot, während der New Yorker panisch den ganzen Club nach ihr absuchte. Dem lokalen Verehrer erklärte sie, ihr Besucher öde sie an; zwei Tage später reiste er ab. Sie wurde mit ihm am Bahnhof gesehen, und es hieß, er habe ausgesprochen betrübt gewirkt.

Damit endete der Sommer. Dexter war vierundzwanzig und zunehmend in der Lage, zu tun, was ihm beliebte. Er trat zwei Clubs in der Stadt bei und wohnte in einem davon. Obwohl er keinesfalls zum harten Kern der Junggesellenriege dieser Clubs gehörte, gelang es ihm doch, bei Tanzfesten, wo Judy Jones mit einiger Wahrscheinlichkeit auftauchen würde, verfügbar zu sein. Er hätte so viele Rendezvous haben können, wie er wollte – er war jetzt ein ungebundener, von den Vätern der Stadt geschätzter junger Mann. Seine Verehrung für Judy Jones, zu der er sich offen bekannte, hatte seine Position noch gestärkt. Doch er hegte keinerlei gesellschaftliche Ambitionen und verachtete im Grunde jene tanzenden Männer, die für alle Donnerstags- oder Samstagspartys bereitstanden und sich bei Tischgesellschaften zwischen die jüngeren verheirateten Paare setzten. Schon spielte er mit dem Gedanken, an die Ostküste zu ziehen, nach New York. Und Judy Jones wollte er mitnehmen. Sosehr die Welt, aus der sie stammte, ihn auch desillusionieren mochte – von seiner Illusion, die sie ihm so überaus begehrenswert erscheinen ließ, konnte ihn nichts heilen.

Behalten wir diese Tatsache im Gedächtnis – denn nur in ihrem Licht lässt sich verstehen, was er für sie tat.

Achtzehn Monate nachdem er Judy Jones kennengelernt hatte, verlobte er sich mit einem anderen Mädchen. Ihr Name war Irene Scheerer, und ihr Vater gehörte zu jenen Männern, die stets an Dexter geglaubt hatten. Irene war hellhaarig, lieb und ehrenwert, auch ein bisschen mollig, und sie hatte zwei Verehrer, von denen sie sich freundlich verabschiedete, als Dexter sie offiziell bat, seine Frau zu werden.

Sommer, Herbst, Winter, Frühling, noch ein Sommer, noch ein Herbst – so viel von seinem tätigen Leben hatte er Judy Jones’ unfügsamen Lippen gewidmet. Sie hatte ihn mit Interesse, mit Ermutigung, mit Boshaftigkeit, mit Gleichgültigkeit, mit Verachtung traktiert, ihn den unzähligen kleinen Kränkungen und Demütigungen ausgesetzt, die in einem solchen Fall möglich sind – wie zur Rache dafür, dass sie überhaupt je etwas für ihn empfunden hatte. Sie hatte ihn herbeigewunken, ihn angegähnt, ihn erneut herbeigewunken, und oft hatte er mit Bitterkeit und Unmut darauf reagiert. Er verdankte ihr allerhöchstes Glück und unerträgliche Seelenpein. Sie hatte ihm unsägliche Unannehmlichkeiten und nicht wenig Ärger bereitet. Sie hatte ihn beleidigt und mit Füßen getreten, hatte sein Interesse an ihr gegen sein Interesse an seiner Arbeit ausgespielt – aus Spaß. Sie hatte ihm alles Mögliche angetan, außer Kritik an ihm zu üben – darauf hatte sie verzichtet, aber nur, so schien ihm, weil es die vollkommene Gleichgültigkeit befleckt hätte, die sie ihm gegenüber an den Tag legte und aufrichtig empfand.

Nachdem der Herbst gekommen und wieder gegangen war, dämmerte ihm, dass er Judy Jones nicht haben konnte. Er musste es seinem Verstand regelrecht einbleuen, doch am Ende schaffte er es, sich selbst davon zu überzeugen. Nachts lag er wach und dachte darüber nach. Er vergegenwärtigte sich, wie viel Ärger und Schmerz sie ihm bereitet hatte, er zählte ihre eklatanten Mängel als Ehefrau auf. Dann sagte er sich, dass er sie trotzdem liebe, und kurz darauf schlief er ein. Damit er sich nicht ihre heisere Stimme am Telefon oder ihre Augen beim gemeinsamen Mittagessen vorstellte, arbeitete er eine Woche lang hart und viel, und abends ging er in sein Büro und plante seine Zukunft.

Am Ende dieser Woche ging er auf ein Clubfest und forderte sie zum Tanzen auf. Vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich kannten, bat er sie nicht, sich draußen mit ihm hinzusetzen, und sagte ihr nicht, wie hübsch sie sei. Es schmerzte ihn, dass sie es nicht vermisste – mehr nicht. Er war nicht eifersüchtig, als er sah, dass es an diesem Abend einen neuen Mann gab. Gegen Eifersucht war er längst gefeit.

Er blieb lange. Eine Stunde saß er mit Irene Scheerer zusammen und unterhielt sich mit ihr über Bücher und Musik. Von beidem verstand er wenig. Doch er konnte zunehmend frei über seine Zeit verfügen und hegte die etwas dünkelhafte Vorstellung, dass er – der junge, bereits sagenhaft erfolgreiche Dexter Green – mehr von solchen Dingen verstehen sollte.

Das war im Oktober, als er fünfundzwanzig war. Im Januar verlobten sich Dexter und Irene. Die Verlobung sollte im Juni bekanntgegeben werden, die Hochzeit drei Monate später stattfinden.

Der Winter zog sich endlos in die Länge, und es war schon fast Mai in Minnesota, als die Winde mild wurden und der Schnee endlich in den Black Bear Lake floss. Zum ersten Mal seit über einem Jahr empfand Dexter eine gewisse Gemütsruhe. Judy Jones war in Florida gewesen und danach in Hot Springs, irgendwo hatte sie sich verlobt und irgendwo die Verlobung wieder gelöst. Nachdem Dexter sie endgültig aufgegeben hatte, stimmte es ihn zuerst noch traurig, wenn die Leute sie weiterhin für ein Paar hielten und ihn nach ihr fragten, doch als er bei Tisch immer häufiger neben Irene Scheerer platziert wurde, fragten sie ihn nicht mehr nach Judy, sondern erzählten ihm von ihr. Er war keine Autorität mehr, was ihre Person betraf.

Endlich Mai. Am Abend, wenn die Dunkelheit feucht war wie Regen, lief Dexter durch die Straßen und wunderte sich, dass ihm so schnell mit so wenig eigenem Zutun so viel rauschhaftes Glücksgefühl abhandengekommen war. Der letzte Mai hatte ganz im Zeichen von Judys mitreißendem, unverzeihlichem und doch verziehenem Übermut gestanden – es war einer jener seltenen, kurzen Momente gewesen, in denen er sich eingebildet hatte, sie empfinde etwas für ihn. Er hatte seinen Glückspfennig für einen Scheffel Zufriedenheit ausgegeben. Irene, das wusste er, würde nicht mehr sein als ein Vorhang, der sich hinter ihm ausbreitete, eine Hand zwischen glänzenden Teetassen, eine Stimme, die nach Kindern rief… Feuer und Schönheit waren vergangen, der Zauber der Nächte und das Wunder der wechselnden Tages- und Jahreszeiten… zarte Lippen, die sich nach unten bogen, auf seine Lippen niederfielen und ihn in einen Himmel aus Augen emporhoben… Es saß tief. Er war zu stark und lebendig, als dass es einfach so vergangen wäre.

Eines Tages Mitte Mai, als das Wetter ein paar Tage lang auf jener schmalen Brücke balancierte, die in den Sommer hineinführte, begab er sich zu Irenes Haus. Ihre Verlobung sollte nun in einer Woche bekanntgegeben werden – niemand würde überrascht sein. Und heute Abend wollten sie zusammen auf dem Sofa im University Club sitzen und eine Stunde lang den Tanzenden zuschauen. Er fühlte sich solide, wenn er mit ihr zusammen war – sie war so unverwüstlich beliebt, so ganz und gar ›großartig‹.

Er stieg die Stufen zu ihrem Backsteinhaus hinauf und trat ein. »Irene«, rief er.

Mrs. Scheerer kam aus dem Wohnzimmer und begrüßte ihn. »Dexter«, sagte sie. »Irene ist nach oben gegangen, sie hat rasende Kopfschmerzen. Sie wollte mit Ihnen kommen, aber ich habe sie ins Bett geschickt.«

»Nichts Ernstes, hoff–«

»O nein. Morgen früh wird sie mit Ihnen Golf spielen. Sie kommen doch einen Abend ohne sie aus, nicht wahr, Dexter?«

Ihr Lächeln war freundlich. Sie und Dexter mochten einander. Er unterhielt sich eine Weile mit ihr im Wohnzimmer, ehe er sich verabschiedete.

Als er in den University Club zurückkehrte, wo er zur Miete wohnte, stellte er sich einen Augenblick in die Tür und schaute den Tanzenden zu. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, nickte dem einen oder anderen Mann zu – und gähnte.

»Hallo, Liebster.«

Die vertraute Stimme neben ihm schreckte ihn auf. Judy Jones hatte auf der anderen Seite des Raumes einen Mann stehen lassen und war zu ihm gekommen – Judy Jones, eine schlanke, goldgewandete Emaillepuppe; Gold im Band an ihrer Stirn, Gold in zwei Slipperspitzen unter dem Kleidersaum. Das fragile Leuchten ihres Gesichts schien zu erblühen, als sie ihn anlächelte. Eine Brise Wärme und Licht wehte durch den Raum. Seine Hände verkrampften sich in den Taschen seiner Smokingjacke. Er war von jäher Freude erfüllt.

»Seit wann bist du wieder da?«, fragte er beiläufig.

»Komm mit, und ich erzähl’s dir.«

Sie wandte sich um, und er folgte ihr. Sie war fort gewesen – er hätte weinen können über das Wunder ihrer Wiederkehr. Sie war durch verzauberte Straßen gelaufen und hatte Dinge getan, die wie kühne Musik waren. Alles geheimnisvolle Geschehen, alle jungen und belebenden Hoffnungen waren mit ihr verschwunden gewesen und kamen jetzt mit ihr zurück.

In der Tür drehte sie sich um.

»Hast du einen Wagen hier? Falls nicht, können wir meinen nehmen.«

»Ich habe ein Coupé.«

Also hinein, mit einem Geraschel goldenen Stoffs. Er schlug die Tür zu. In wie viele Wagen war sie schon eingestiegen – so – oder so – hatte sich mit dem Rücken ans Leder gelehnt, so – den Ellbogen auf die Tür gestützt – gewartet. Sie wäre längst beschmutzt gewesen, hätte irgendetwas sie beschmutzen können – außer sie selbst –, doch hier verströmte sie ihr innerstes Wesen.

Er schaffte es mit Mühe, den Wagen anzulassen und auf die Straße zurückzusetzen. Dies hatte nichts zu sagen, ermahnte er sich. Sie hatte sich schon oft so benommen, und er hatte sie aus seinem Leben gestrichen wie einen faulen Posten aus seinen Büchern.

Er fuhr langsam in Richtung Innenstadt, tat, als sei er in Gedanken versunken, während er die menschenleeren Straßen des Geschäftsviertels durchquerte, nur ein paar Leute hier und da, wo ein Kino gerade seine Besucher entließ oder teils schwindsüchtige, teils streitlustige Jugendliche vor Billardhallen herumlungerten. Aus den Kneipen, Klöstern gleich mit beschlagenen Scheiben und schmutzigem, gelbem Licht, drang das Geklirr von Gläsern, und manchmal hörte man, wie jemand mit der flachen Hand auf den Tresen schlug.

Sie beobachtete ihn die ganze Zeit, und das Schweigen war peinlich, doch ihm wollte in diesem kritischen Moment kein beiläufiges Wort einfallen, das die Stunde entweiht hätte. Bei der nächsten Gelegenheit wendete er und fuhr im Zickzackkurs zum University Club zurück.

»Hast du mich vermisst?«, fragte sie plötzlich.

»Alle haben dich vermisst.«

Er fragte sich, ob sie von Irene Scheerer wusste. Sie war erst seit einem Tag zurück – war ungefähr so lange fort gewesen, wie seine Verlobung andauerte.

»Was für eine Bemerkung!«, lachte Judy traurig – ohne Traurigkeit. Sie schaute ihn forschend an. Er konzentrierte sich ganz auf das Armaturenbrett.

»Du siehst besser aus als früher«, sagte sie versonnen. »Dexter, du hast die allerunvergesslichsten Augen.«

Er hätte darüber lachen können, doch er tat es nicht. So etwas wurde normalerweise zu Collegestudenten gesagt. Aber es gab ihm einen Stich.

»Ich habe alles so schrecklich satt, Liebster.« Sie nannte jeden Liebster, so dass in dem Kosewort etwas unbedacht und eigenwillig Kameradschaftliches mitschwang.

»Ich wünschte, du würdest mich heiraten.«

Die Unverblümtheit, mit der sie das sagte, verwirrte ihn. Er hätte ihr jetzt erzählen sollen, dass er im Begriff war, ein anderes Mädchen zu heiraten, doch das konnte er nicht. Genauso gut hätte er schwören können, er habe sie nie geliebt.

»Ich glaube, wir würden miteinander auskommen«, fuhr sie im selben Ton fort, »es sei denn, du hättest mich vielleicht vergessen und dich in ein anderes Mädchen verliebt.«

Ihr Selbstvertrauen war ganz offensichtlich enorm. Im Grunde hatte sie gesagt, etwas Derartiges könne sie unmöglich glauben, und wenn es doch wahr sei, habe er lediglich eine kindische Unbesonnenheit begangen – vermutlich, um aufzuschneiden. Sie würde ihm verzeihen, weil es nicht von Bedeutung war, sondern leicht beiseitegewischt werden konnte.

»Natürlich könntest du nie eine andere Frau lieben als mich«, fuhr sie fort. »Ich mag die Art, wie du mich liebst. Ach, Dexter, hast du letztes Jahr vergessen?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Ich auch nicht!«

War sie aufrichtig bewegt – oder ließ sie sich nur von der Woge ihrer eigenen Schauspielkunst davontragen?

»Ich wünschte, so könnte es wieder mit uns sein«, sagte sie, und er zwang sich zu antworten: »Ich glaube, das geht nicht.«

»Anscheinend nicht… Ich habe gehört, du bist ganz wild hinter Irene Scheerer her.«

Sie legte keinerlei Betonung auf den Namen, und doch schämte Dexter sich auf einmal.

»Oh, bitte bring mich nach Hause!«, rief Judy plötzlich. »Ich möchte nicht zu dem idiotischen Ball zurück – mit all diesen Kindern.«

Und als er in die Straße einbog, die zum Villenviertel führte, begann Judy still vor sich hinzuweinen. Er hatte sie noch nie weinen sehen.

Die dunkle Straße wurde heller, die Anwesen der Reichen ragten links und rechts von ihnen auf, und er parkte das Coupé vor dem großen weißen Klotz des Hauses der Familie Mortimer Jones, das verschlafen, majestätisch, in den Glanz des feuchten Mondlichts getränkt dastand. Die Solidität des Hauses erschreckte ihn. Die starken Mauern, der Stahl seiner Träger, seine Breite und Wucht und Pracht dienten nur dazu, den Kontrast zu der jungen Schönheit an seiner Seite zu betonen. Es war robust, um ihre Zartheit hervorzuheben – als wolle es zeigen, was für eine Brise ein Schmetterlingsflügel erzeugen konnte.

Seine Nerven waren in wildem Aufruhr, doch er saß ganz und gar reglos da, voller Angst, sie bei der geringsten Bewegung unweigerlich in seinen Armen wiederzufinden. Zwei Tränen waren ihr über das nasse Gesicht gerollt und zitterten auf ihrer Oberlippe.

»Ich bin schöner als irgendwer sonst«, sagte sie mit brüchiger Stimme, »warum kann ich nicht glücklich sein?« Ihre feuchten Augen zerrten an seiner Standhaftigkeit – ihr Mund bog sich, wunderbar traurig, langsam nach unten: »Ich heirate dich gerne, wenn du mich haben willst, Dexter. Wahrscheinlich denkst du, ich sei es nicht wert, aber ich werde dir all meine Schönheit schenken, Dexter.«

Eine Million Antworten, wütende, stolze, leidenschaftliche, hasserfüllte, zärtliche, rangen miteinander auf seinen Lippen. Dann wurde er von einer wahren Welle des Gefühls überschwemmt, die den Bodensatz aus Klugheit, Konvention, Zweifel und Ehre mit sich forttrug. Es war sein Mädchen, das da sprach, sein Eigen, seine Schöne, sein Stolz.

»Willst du nicht mit hineinkommen?« Er hörte sie scharf die Luft einziehen.

Warten.

»Gut.« Seine Stimme zitterte. »Ich komme mit.«

V

 

Es war merkwürdig, doch weder, als es vorbei war, noch lange Zeit danach bereute er diese Nacht. Als er zehn Jahre später darauf zurückblickte, schien die Tatsache, dass Judys wieder aufflackernde Leidenschaft für ihn nur einen Monat gewährt hatte, kaum von Belang. Es machte auch nichts, dass er sich, indem er ihr nachgab, letztlich noch tieferen Qualen aussetzte und Irene Scheerer sowie ihren Eltern, die ihm gewogen waren, ernsthafte Schmerzen zufügte. Irenes Kummer war einfach nicht bildhaft genug, um sich seiner Seele einzuprägen.

Dexter war im Grunde hart im Nehmen. Wie die Stadt über sein Verhalten dachte, spielte keine Rolle für ihn, nicht weil er sie ohnehin verlassen wollte, sondern weil ihm alles, was Außenstehende über die Situation denken mochten, oberflächlich schien. Die öffentliche Meinung war ihm vollkommen gleichgültig. Und als er begriff, dass es keinen Sinn hatte, dass er einfach nicht die Kraft besaß, Judy Jones im Innersten zu berühren oder sie zu halten, hegte er auch keinen Groll gegen sie. Er liebte sie, und er würde sie lieben, bis er zum Lieben zu alt wäre – nur haben konnte er sie nicht. Und so kostete er den tiefen Schmerz, den die Liebe den Starken vorbehält, so wie er eine Weile das tiefe Glück gekostet hatte.

Selbst die gänzlich unaufrichtigen Gründe, aus denen Judy die Verbindung beendete: sie wolle ihn Irene nicht ›wegnehmen‹ – Judy, die nichts anderes gewollt hatte als das –, weckten keinen Abscheu in ihm. Er war über allen Abscheu und alle Belustigung hinaus.

Im Februar zog er an die Ostküste, um seine Wäschereien zu verkaufen und sich in New York niederzulassen – doch im März kam der Krieg nach Amerika und änderte seine Pläne. Er kehrte in den Mittleren Westen zurück, übertrug seinem Partner die Leitung der Geschäfte und meldete sich Ende April zur Offiziersausbildung. Er gehörte zu jenen Tausenden junger Männer, die den Krieg mit einem gewissen Grad der Erleichterung willkommen hießen, weil er sie aus einem Gespinst verworrener Gefühle befreite.

VI

 

Dies ist nicht seine Lebensgeschichte, vergessen wir das nicht, auch wenn sich hier und da etwas in die Erzählung hineinschleicht, das mit den Träumen seiner jungen Jahre nichts zu tun hat. Wir sind mit ihnen und ihm jetzt beinahe durch. Es gibt nur noch einen Vorfall, von dem hier zu berichten ist, und der trug sich sieben Jahre später zu.

Der Schauplatz war New York, wo er es inzwischen weit gebracht hatte – so weit, dass keine Hürde ihm zu hoch erschien. Er war zweiunddreißig, und abgesehen von einem kurzen Abstecher unmittelbar nach dem Krieg war er sieben Jahre nicht mehr im Mittleren Westen gewesen. Ein Mann namens Devlin aus Detroit kam zu ihm ins Büro, um etwas Geschäftliches mit ihm zu besprechen, und bei der Gelegenheit ereignete sich besagter Vorfall und blendete, wenn man so will, diese spezielle Seite seines Lebens endgültig aus.

»Sie sind also aus dem Mittelwesten«, sagte der Mann, Devlin, mit unbekümmerter Neugier. »Das ist komisch – ich dachte, Männer wie Sie müssten an der Wall Street geboren und aufgewachsen sein. Wissen Sie – die Frau eines meiner besten Freunde in Detroit stammt aus Ihrer Heimatstadt. Ich war Brautführer auf ihrer Hochzeit.«

Dexter saß da, ohne eine Ahnung, was nun kam.

»Judy Simms«, sagte Devlin beiläufig. »Judy Jones hieß sie früher.«

»Ja, ich kannte sie.« Dumpfer Unmut breitete sich in ihm aus. Er hatte natürlich gehört, dass sie geheiratet hatte – vielleicht hatte er absichtlich nicht weiter hingehört.

»Ausgesprochen nettes Mädchen«, sinnierte Devlin nichtssagend. »Tut mir irgendwie leid.«

»Wieso das?« Etwas in Dexter wurde sofort aufmerksam, hellwach.

»Ach, Lud Simms scheint vor die Hunde zu gehen. Ich will nicht sagen, dass er sie misshandelt, aber er trinkt und treibt sich ständig herum…«

»Treibt sie sich denn nicht auch herum?«

»Nein. Sie bleibt zu Hause bei den Kindern.«

»Oh.«

»Sie ist ein bisschen zu alt für ihn«, sagte Devlin.

»Zu alt!«, rief Dexter. »Du meine Güte, sie ist doch erst siebenundzwanzig.«

Er war plötzlich von der verrückten Idee besessen, sofort auf die Straße zu laufen und einen Zug nach Detroit zu nehmen. Ruckartig stand er auf.

»Ich nehme an, Sie haben viel zu tun«, entschuldigte Devlin sich rasch. »Ich wusste ja nicht…«

»Nein, ich habe nicht viel zu tun«, sagte Dexter und bezwang seine Stimme. »Ich habe überhaupt nicht viel zu tun. Überhaupt nicht viel. Haben Sie gerade gesagt, sie sei – siebenundzwanzig? Ach nein, ich habe das gesagt.«

»Richtig«, antwortete Devlin trocken.

»Dann erzählen Sie weiter. Erzählen Sie.«

»Was meinen Sie denn?«

»Von Judy Jones.«

Devlin schaute ihn ratlos an.

»Nun ja, das ist – ich habe Ihnen schon alles erzählt. Er behandelt sie miserabel. Oh, sie werden sich nicht scheiden lassen oder dergleichen. Wenn er sich besonders abscheulich benimmt, verzeiht sie ihm. Ja, ich glaube beinahe, dass sie ihn liebt. Sie war ein hübsches Mädchen, als sie nach Detroit kam.«

Ein hübsches Mädchen! Die Formulierung erschien Dexter lächerlich.

»Ist sie denn kein – hübsches Mädchen mehr?«

»Na ja, sie sieht ganz passabel aus.«

»Hören Sie«, sagte Dexter und setzte sich plötzlich wieder hin. »Ich verstehe das nicht. Erst sagen Sie, sie war ein ›hübsches Mädchen‹, und dann, sie sehe ›ganz passabel‹ aus. Ich weiß nicht, wovon Sie reden – Judy Jones war keineswegs ein hübsches Mädchen. Sie war eine große Schönheit. Ich kannte sie, ich kannte sie gut. Sie war…«

Devlin lachte gutmütig.

»Ich möchte keinen Streit anfangen«, sagte er. »Ich finde, Judy ist ein nettes Mädchen, und ich mag sie. Ich verstehe zwar nicht, wie ein Mann wie Lud Simms sich so rasend in sie verlieben konnte, aber so war es nun einmal.« Dann fügte er hinzu: »Die meisten Frauen haben sie gern.«

Dexter musterte Devlin genau und dachte erregt, dass es irgendeinen Grund geben musste, warum der Mann so redete, einen Mangel an Sensibilität vielleicht oder einen geheimen Groll.

»Viele Frauen verblühen im Handumdrehen.« Devlin schnippte mit den Fingern. »Das müssen Sie doch auch schon beobachtet haben. Vielleicht habe ich ja vergessen, wie hübsch sie auf ihrer Hochzeit war. Ich habe sie seitdem so oft gesehen, wissen Sie. Sie hat nette Augen.«

Eine Art Dumpfheit kam über Dexter. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Lust, sich richtig zu betrinken. Er merkte, dass er laut über eine Bemerkung von Devlin lachte, wusste jedoch weder, was dieser gesagt, noch, warum er es komisch gefunden hatte. Als Devlin ein paar Minuten später gegangen war, legte Dexter sich aufs Sofa, blickte aus dem Fenster auf die New Yorker Skyline und sah die Sonne in matten, schönen Rosarot- und Goldtönen darin versinken.

Er hatte geglaubt, er sei endlich unverletzbar geworden, weil es für ihn nichts mehr zu verlieren gab – doch nun wusste er, dass er noch mehr verloren hatte, wusste es so genau, als hätte er Judy Jones geheiratet und ihre Schönheit vor seinen Augen dahinwelken sehen.

Der Traum war vorbei. Etwas war ihm genommen worden. In einer Art Panik drückte er sich die Handflächen in die Augenhöhlen und versuchte, ein Bild von dem Wasser heraufzubeschwören, das ans Ufer von Sherry Island schwappte, und von der mondbeschienenen Veranda, vom Gingan auf den Golfbahnen, von der trockenen Sonne, der goldenen Farbe des weichen Flaums an ihrem Hals. Und von ihrem Mund, feucht unter seinen Küssen, dem elegischen Blick ihrer traurigen Augen und ihrer Frische, die wie neues, feines Leinen am Morgen war. All diese Dinge existierten nun nirgends mehr auf der Welt! Es hatte sie gegeben und gab sie nicht mehr.

Zum ersten Mal seit Jahren strömten ihm die Tränen über das Gesicht. Doch er weinte um sich selbst. Für Mund und Augen und Hände, die sich hier- und dorthin bewegten, empfand er nichts mehr. Er wollte etwas empfinden, aber er konnte es nicht. Denn er war fortgegangen, und es gab keinen Weg zurück. Das Tor war verschlossen und die Sonne untergegangen, und es gab keine Schönheit mehr außer der grauen Schönheit des Stahls, die aller Zeit widersteht. Selbst die Trauer, die er hätte tragen können, blieb im Land der Illusion, der Jugend und der Fülle des Lebens zurück, in dem seine Winterträume geblüht hatten.

»Vor langer Zeit«, sagte er, »vor langer Zeit war etwas in mir, doch jetzt ist es nicht mehr da. Es ist nicht mehr da, es ist einfach nicht mehr da. Ich kann nicht weinen. Ich kann nichts empfinden. Es wird nie mehr wiederkommen.«

Winterträume
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