Gretchens Nickerchen

 

I

 

Die Gehwege waren mit welken Blättern gesprenkelt, und dem kleinen Schlingel von nebenan gefror die Zunge am eisernen Briefkasten. Es würde noch vor dem Dunkelwerden schneien, das war sicher. Der Herbst war vorbei. Damit tauchte freilich das Problem mit der Kohle und mit Weihnachten auf; aber Roger Halsey, der auf der Veranda seines Hauses stand, versicherte dem verhangenen Vorstadthimmel, dass er keine Zeit habe, sich um das Wetter zu kümmern. Dann ging er eiligst ins Haus und verbannte das Thema nach draußen, in die kalte Dämmerung.

Im Flur war es dunkel, aber von oben hörte er die Stimmen seiner Frau, des Kindermädchens und des Kleinen in einer ihrer endlosen Unterhaltungen, die hauptsächlich aus Ausrufen wie »Lass das!« und »Pass auf, Maxy!« und »Oh, da geht er!« bestanden, unterbrochen von heftigen Mahnungen, undeutlichen Plumpsern und dem immer wiederkehrenden Laut kleiner tappender Füße.

Roger machte das Licht im Flur an, ging ins Wohnzimmer und knipste die Lampe mit dem roten Seidenschirm an. Er legte seine pralle Aktentasche auf den Tisch, setzte sich hin und ließ sein angespanntes junges Gesicht für ein paar Minuten in der Hand ruhen, wobei er seine Augen sorgsam gegen das Licht abschirmte. Dann zündete er sich eine Zigarette an, drückte sie wieder aus, ging an den Fuß der Treppe und rief nach seiner Frau.

»Gretchen!«

»Hallo, Liebling.« Ihre Stimme war voller Fröhlichkeit. »Komm und schau dir den Kleinen an.«

Er fluchte leise.

»Ich kann mir den Kleinen jetzt nicht ansehen«, sagte er laut. »Dauert’s noch lange, bis du runterkommst?«

Es gab eine mysteriöse Pause, und dann folgten rasch einige »Tu’s nicht!« und »Pass auf, Maxy!«, die offenbar eine drohende Katastrophe abwenden sollten.

»Dauert’s noch lange, bis du runterkommst?«, wiederholte Roger leicht ungehalten.

»Oh, ich bin gleich unten.«

»Wann gleich?«, brüllte er.

Jeden Tag um diese Zeit hatte er Mühe, seine Stimme von der hektischen Tonart der City auf die einem Musterhaushalt angemessene Beiläufigkeit umzustellen. Doch heute Abend war er mit Absicht ungeduldig. Es enttäuschte ihn fast, als Gretchen, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe heruntergerannt kam und recht überrascht »Was gibt’s denn?« rief.

Sie küssten sich und verharrten so ein paar Augenblicke. Sie waren schon drei Jahre verheiratet und liebten einander mehr, als diese Zeitspanne vermuten lässt. Es kam selten vor, dass sie sich mit jenem leidenschaftlichen Hass quälten, dessen nur junge Ehepaare fähig sind, denn Roger war immer noch lebhaft empfänglich für ihre Schönheit.

»Komm her«, sagte er hastig. »Ich muss mit dir reden.«

Seine Frau, von hellem Teint und tizianrotem Haar, so farbenfroh wie eine französische Flickenpuppe, folgte ihm ins Wohnzimmer.

»Hör zu, Gretchen« – er setzte sich ans eine Ende des Sofas –, »von heute Abend an werde ich … Was ist?«

»Nichts. Ich hole mir nur eine Zigarette. Sprich weiter.«

Sie huschte atemlos zum Sofa zurück und ließ sich am anderen Ende nieder.

»Gretchen –« Wieder unterbrach er sich. Ihre Hand, Handteller nach oben, war gegen ihn ausgestreckt. »Nun, was ist?«, fragte er ärgerlich.

»Zündhölzer.«

»Was?«

In seiner Gereiztheit kam es ihm unglaublich vor, dass sie um Zündhölzer bat, aber er wühlte automatisch in seiner Tasche.

»Danke dir«, wisperte sie. »Ich wollte dich nicht unterbrechen. Sprich weiter.«

»Gretchen –«

Ratsch! Das Zündholz flammte auf. Sie wechselten einen spannungsgeladenen Blick.

Jetzt baten ihre Rehaugen stumm um Verzeihung, und er musste lachen. Schließlich hatte sie nichts Schlimmeres getan, als sich eine Zigarette angezündet; aber wenn er so missgelaunt war, brachte ihn die kleinste selbständige Aktion von ihr in unmäßigen Zorn.

»Wenn du Zeit hast zuzuhören«, sagte er grob, »interessiert es dich vielleicht, die Sache mit dem Armenhaus mit mir zu besprechen.«

»Was für ein Armenhaus?« Ihre Augen weiteten sich erschrocken; sie saß mäuschenstill.

»Das war nur, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Aber mit dem heutigen Abend beginnen die wahrscheinlich wichtigsten sechs Wochen meines Lebens – die sechs Wochen, in denen es sich entscheidet, ob wir dauerhaft in diesem elenden alten Häuschen und in diesem elenden Vorstadtnest leben werden.«

Langeweile löste nun das Erschrecken in Gretchens schwarzen Augen ab. Sie stammte aus dem Süden, und jede Frage, die mit dem Vorwärtskommen in der Welt zu tun hatte, war dazu angetan, ihr Kopfweh zu bereiten.

»Vor sechs Monaten bin ich bei der New York Lithographic Company ausgeschieden und habe mich im Werbegeschäft selbständig gemacht«, verkündete Roger.

»Ich weiß«, unterbrach Gretchen vorwurfsvoll, »und statt sechshundert im Monat sicher zu haben, müssen wir jetzt mit unsicheren fünfhundert auskommen.«

»Gretchen«, sagte Roger bitter, »wenn du nur noch für weitere sechs Wochen so fest du kannst an mich glaubst, werden wir reich sein. Ich habe jetzt eine Chance, einige der dicksten Aufträge an Land zu ziehen.« Er zögerte. »Und in diesen sechs Wochen werden wir überhaupt nicht ausgehen und werden niemanden zu uns einladen. Ich werde jeden Abend Arbeit mit nach Hause bringen, und wir lassen alle Jalousien herunter, und wenn jemand an der Tür klingelt, machen wir nicht auf.«

Er lächelte übermütig, als wäre das ein neues Spiel, das sie spielen wollten. Dann, als Gretchen schwieg, schwand sein Lächeln, und er blickte sie unsicher an.

»Also was ist?«, platzte sie schließlich los. »Erwartest du, dass ich jubelnd aufspringe? Du arbeitest schon jetzt mehr als genug. Wenn du dich noch weiter verausgabst, wirst du mit einem Nervenzusammenbruch enden. Ich habe da etwas gelesen von einem –«

»Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, unterbrach er sie. »Ich bin ganz in Ordnung. Aber du wirst dich zu Tode langweilen, wenn du jeden Abend hier sitzen musst.«

»Nein, gar nicht«, sagte sie ohne rechte Überzeugung, »nur heute Abend.«

»Wieso heute Abend?«

»George Tompkins hat uns zum Essen eingeladen.«

»Und du hast zugesagt?«

»Natürlich«, sagte sie ungeduldig. »Warum nicht? Du redest immer davon, in was für einer grässlichen Nachbarschaft wir hier leben, und ich dachte, du würdest vielleicht zur Abwechslung gerne mal in einer netteren Umgebung sein.«

»Wenn ich mir eine nettere Umgebung suchen will, dann für immer«, sagte er grimmig.

»Nun, gehen wir also hin?«

»Das müssen wir wohl, da du ja zugesagt hast.«

Zu seinem vagen Missbehagen kam das Gespräch jäh zu einem Ende. Gretchen sprang auf, gab ihm einen flüchtigen Kuss und eilte in die Küche, um den Boiler für ein warmes Bad einzuschalten. Mit einem Seufzer verstaute er sorgfältig seine Mappe hinter dem Bücherbord – sie enthielt nur Skizzen und Entwürfe für eine Schaufensterreklame, aber sie schien ihm das Erste, wonach ein Einbrecher suchen würde. Dann ging er geistesabwesend nach oben, schaute kurz auf einen feuchten Gutenachtkuss ins Kinderzimmer hinein und begann sich für das Abendessen umzukleiden.

Sie besaßen kein Auto, und so kam George Tompkins sie um halb sieben abholen. Tompkins war ein erfolgreicher Innenarchitekt, ein stämmiger, rosiger Mann, der ein hübsches Schnurrbärtchen trug und immer stark nach Jasmin duftete. Er und Roger hatten einmal als Zimmernachbarn in einer New Yorker Pension gewohnt, sich aber in den letzten fünf Jahren nur gelegentlich getroffen.

»Wir sollten uns öfter sehen«, sagte er an diesem Abend zu Roger. »Du solltest mehr ausgehen, alter Junge. Cocktail?«

»Nein, danke.«

»Nein? Aber deine reizende Frau nimmt doch einen – nicht wahr, Gretchen?«

»Ich finde dieses Haus herrlich«, rief sie, indem sie das Glas nahm und einen bewundernden Blick über Schiffsmodelle, Whiskeyflaschen im Kolonialstil und andere modische Nippsachen von 1925 schweifen ließ.

»Ich mag es auch«, sagte Tompkins mit Genugtuung. »Ich wollte mir damit etwas Gutes tun, und das ist mir gelungen.«

Roger blickte missmutig in dem ungemütlichen, kahlen Raum umher und fragte sich, ob sie wohl irrtümlich in die Küche geraten sein könnten.

»Du siehst verdammt schlecht aus, Roger«, sagte sein Gastgeber. »Nimm einen Drink und entspann dich.«

»Ja, tu das«, drängte Gretchen.

»Was?« Roger wandte sich zerstreut um. »O nein, vielen Dank. Ich habe noch zu arbeiten, wenn ich nach Hause komme.«

»Arbeiten!« Tompkins lächelte. »Hör zu, Roger, du wirst dich mit deiner Arbeit noch umbringen. Warum schaffst du dir nicht einen kleinen Ausgleich in deinem Leben – ein bisschen arbeiten, dann ein bisschen Nichtstun?«

»Das rate ich ihm schon immer«, sagte Gretchen.

»Wisst ihr, wie der Tag eines typischen Geschäftsmannes aussieht?«, fragte Tompkins, während sie ins Speisezimmer hinübergingen. »Kaffee am Morgen, dann acht Stunden Arbeit mit nur einem hastigen Lunch dazwischen und schließlich wieder zu Hause mit Verdauungsstörungen und zu schlecht gelaunt, um der eigenen Frau einen netten Abend zu bereiten.«

Roger lachte kurz auf.

»Du gehst zu viel ins Kino«, sagte er trocken.

»Was?« Tompkins blickte ihn leicht verärgert an. »Kino? Ich bin kaum je in meinem Leben im Kino gewesen. Ich finde Filme fürchterlich. Meine Lebensansichten habe ich mir selbst gebildet. Ich glaube einfach an ein ausgewogenes Leben.«

»Was soll das sein?«, fragte Roger.

»Nun«, er zögerte, »vielleicht erkläre ich es euch am besten, indem ich euch meinen Tagesablauf beschreibe. Oder wäre das allzu selbstgefällig?«

»O nein!« Gretchen sah ihn voller Interesse an. »Ich würde gern etwas darüber hören.«

»Nun, am Morgen stehe ich auf und absolviere eine Reihe von Übungen. Ich habe mir einen der Räume wie einen kleinen Turnsaal eingerichtet, und dort arbeite ich am Punchingball, mache Schattenboxen und hebe Gewichte, eine Stunde lang. Danach ein kaltes Bad – ja, das ist so ein Punkt. Nimmst du täglich ein kaltes Bad?«

»Nein«, gab Roger zu, »ich nehme drei- oder viermal in der Woche ein heißes Bad am Abend.«

Entsetztes Schweigen breitete sich aus. Tompkins und Gretchen tauschten einen Blick, als hätte jemand etwas Unanständiges gesagt.

»Was ist los?«, fuhr Roger auf und blickte verärgert von ihm zu ihr. »Ihr wisst, dass ich nicht täglich bade – ich habe dazu keine Zeit.«

Tompkins gab einen langgezogenen Seufzer von sich. »Nach meinem Bad«, fuhr er fort, indem er gnädig einen Schleier des Schweigens über die Sache breitete, »frühstücke ich und fahre in mein Büro in New York, wo ich bis vier arbeite. Dann mache ich Schluss, und wenn es Sommer ist, fahre ich gleich hierher auf den Golfplatz zu einer Partie über neun Loch, und wenn es Winter ist, spiele ich eine Stunde Squash in meinem Club. Danach bis zum Dinner eine flotte Bridgepartie. Das Dinner hat meistens irgendetwas mit dem Geschäft zu tun, aber nur im angenehmen Sinne. Nehmen wir an, ich habe gerade ein Haus für einen Kunden fertig eingerichtet, und er wünscht, dass ich bei seiner ersten Party zugegen bin, um zu sehen, ob die Beleuchtung auch weich genug ist, und dergleichen mehr. Oder aber ich setze mich mit einem guten Gedichtband hin und verbringe den Abend allein. Auf alle Fälle tue ich jeden Abend etwas, um mich zu zerstreuen.«

»Das muss wunderbar sein«, sagte Gretchen begeistert. »Ich wünschte, wir lebten auch so.«

Tompkins beugte sich ernst über den Tisch.

»Das könnt ihr«, sagte er gewichtig. »Warum solltet ihr auch nicht? Hört zu – wenn Roger täglich neun Loch Golf spielte, würde das Wunder wirken. Er würde sich nicht wiedererkennen. Seine Arbeit würde ihm leichter fallen, er würde nicht so erschöpft sein und mit den Nerven herunter – aber was ist denn?«

Er brach ab. Roger hatte unverhohlen gegähnt.

»Roger«, rief Gretchen scharf, »es gibt keinen Grund, so unhöflich zu sein. Es wäre wesentlich besser für dich, wenn du tätest, was George sagt.« Sie wandte sich entrüstet an ihren Gastgeber. »Das Neuste ist, dass er die nächsten sechs Wochen auch abends arbeiten will. Er sagt, er will die Jalousien herunterlassen und uns wie Einsiedler in einer Höhle einschließen. Das letzte Jahr hat er das schon jeden Sonntag gemacht; jetzt will er es sechs Wochen lang jeden Abend tun.«

Tompkins schüttelte bekümmert den Kopf.

»Am Ende dieser sechs Wochen«, bemerkte er, »wird er reif fürs Sanatorium sein. Ich kann euch sagen, dass jedes Privatkrankenhaus in New York voll von solchen Fällen ist. Da braucht man nur das menschliche Nervensystem ein bisschen überzustrapazieren, und – peng! – schon hat man etwas kaputtgemacht. Und während man sechzig Stunden für die Arbeit herausschlagen wollte, hat man sich sechzig Wochen Krankenhaus eingehandelt.« Er brach ab, wechselte den Ton und wandte sich mit einem Lächeln Gretchen zu. »Ganz zu schweigen von dem, was Ihnen bevorsteht. Wie mir scheint, leidet eine Frau noch mehr als ihr Mann unter solchen verrückten Phasen der Überarbeitung.«

»Mir macht es nichts aus«, beteuerte Gretchen loyal.

»Doch, es macht ihr etwas aus«, sagte Roger grimmig, »es macht ihr verdammt viel aus. Sie ist ein kurzsichtiges kleines Ding und glaubt, es dauere ewig, bis ich Erfolg habe und sie ein paar neue Kleider bekommt. Aber was will man machen. Betrüblicherweise ist alles, was die Frauen letztlich können, dasitzen und die Hände im Schoß falten.«

»Deine Vorstellung von Frauen ist seit etwa zwanzig Jahren nicht mehr zeitgemäß«, sagte Tompkins bedauernd. »Frauen sitzen nicht mehr nur da und warten.«

»Dann sollten sie besser Männer von vierzig heiraten«, beharrte Roger eigensinnig. »Wenn ein Mädchen einen jungen Mann aus Liebe heiratet, sollte sie bereit sein, jedes vernünftige Opfer zu bringen, solange nur ihr Ehemann vorankommt.«

»Reden wir von etwas anderem«, sagte Gretchen ungeduldig. »Bitte, Roger, lass uns wenigstens heute einen gemütlichen Abend haben.«

Als Tompkins sie gegen elf vor ihrem Haus absetzte, blieben Roger und Gretchen für einen Augenblick auf dem Gehsteig stehen und sahen zum Wintermond empor. Es fiel ein feiner, feuchter, pudriger Schnee, und Roger atmete tief ein und legte mit einem Glücksgefühl seinen Arm um Gretchen.

»Ich kann mehr Geld machen als er«, sagte er erregt. »Und das werde ich in nur vierzig Tagen schaffen.«

»Vierzig Tage«, seufzte sie. »Das kommt mir so lange vor – wo doch alle andern Spaß haben. Wenn ich nur diese vierzig Tage lang durchschlafen könnte.«

»Warum nicht, Liebling? Tu’s doch, und wenn du wieder aufwachst, steht alles zum Besten.«

Sie schwieg einen Augenblick.

»Roger«, fragte sie dann nachdenklich, »glaubst du, dass George es ernst gemeint hat, als er davon sprach, mich am Sonntag zum Reiten mitzunehmen?«

Roger runzelte die Stirn.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht – ich hoffe bei Gott, dass er’s nicht so gemeint hat.« Er zögerte. »Offen gesagt, er hat mich ganz schön aufgeregt heute Abend – all dies dumme Geschwätz über sein kaltes Bad.«

Eng umschlungen machten sie sich auf den Weg ins Haus.

»Ich möchte wetten, dass er nicht jeden Morgen ein kaltes Bad nimmt«, grübelte Roger weiter, »auch nicht dreimal die Woche.« Er fummelte in seiner Tasche nach dem Hausschlüssel und stieß ihn mit wütender Präzision ins Schloss. Dann wandte er sich trotzig um. »Ich wette, dass er seit einem Monat überhaupt nicht gebadet hat.«

II

 

Nach zwei Wochen intensiver Arbeit flossen Roger Halseys Tage ineinander und wurden zu Blocks von zwei, drei oder vier Tagen. Von acht bis siebzehn Uhr dreißig war er in seinem Büro. Dann eine halbe Stunde im Vorortzug, wo er sich in dem trüben gelben Licht auf der Rückseite von Briefumschlägen Notizen machte. Um neunzehn Uhr dreißig lagen dann Bleistifte, Schere und weißes Kartonpapier auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet, und er arbeitete unter reichlichem Knurren und Stöhnen bis Mitternacht, während Gretchen mit einem Buch auf dem Sofa lag und hinter den geschlossenen Jalousien von Zeit zu Zeit die Türklingel gedrückt wurde. Um zwölf gab es immer ein Geplänkel, ob er jetzt wohl zu Bett komme. Er versprach jedes Mal zu kommen, sobald er alles weggeräumt hätte; aber da er sich unweigerlich in ein halbes Dutzend neuer Ideen verrannte, fand er Gretchen gewöhnlich in tiefem Schlaf, wenn er auf Zehenspitzen nach oben ging.

Manchmal wurde es drei Uhr, ehe Roger seine letzte Zigarette in dem übervollen Aschenbecher ausdrückte, und dann pflegte er sich im Dunkeln auszuziehen, völlig übermüdet, aber mit einem Gefühl des Triumphs, dass er wieder einen Tag durchgehalten hatte.

Weihnachten kam und ging, und er bemerkte kaum, als es vorbei war. Er erinnerte sich später daran als an den Tag, an dem er die Schaufensterplakate für Garrod’s-Schuhe entworfen hatte. Dies war einer der acht großen Aufträge, die er im Januar zu ergattern hoffte – und wenn er nur die Hälfte davon bekam, waren ihm für das Jahr Einnahmen von einer Viertelmillion Dollar sicher.

Aber die Welt außerhalb seiner Arbeit wurde ihm zu einem chaotischen Traum. Er war sich bewusst, dass George Tompkins Gretchen an zwei kalten Dezembersonntagen mit zum Reiten genommen hatte und ein anderes Mal mit ihr in seinem Auto zum Country Club hinausgefahren war, um dort einen Nachmittag lang auf dem Hügel Ski zu fahren. Eines Morgens hing plötzlich ein Bild von Tompkins, kostbar gerahmt, an der Wand ihres gemeinsamen Schlafzimmers. Und eines Abends sah er sich zu einem erschrockenen Protest genötigt, als Gretchen mit Tompkins in der Stadt ins Theater ging.

Aber mit seiner Arbeit war er nahezu fertig. Täglich kamen jetzt seine Layouts von den Druckern, und schon sieben lagen gestapelt und etikettiert im Safe seines Büros. Er wusste, wie gut sie waren. Mit Geld allein war solche Arbeit nicht aufzuwiegen; es war – mehr als er sich klarmachte – eine Arbeit aus Passion.

Der Dezember flatterte wie ein welkes Blatt vom Kalender. Eine Woche lang quälte er sich sehr, als er das Kaffeetrinken aufgeben musste, weil es seinem Herzen nicht bekam. Wenn er nur noch vier Tage aushielt … drei Tage …

Am Donnerstagnachmittag sollte H. G. Garrod in New York eintreffen. Am Mittwochabend kam Roger um sieben nach Hause und traf Gretchen dabei an, wie sie mit sonderbarem Gesichtsausdruck über den Dezemberrechnungen brütete.

»Was gibt’s?«

Sie wies mit einem Kopfnicken auf die Rechnungen. Er sah sie flüchtig durch, stirnrunzelnd.

»Donnerwetter!«

»Ich kann nichts dafür«, brach es aus ihr heraus. »Sie sind erschreckend hoch.«

»Na ja, ich habe dich auch nicht geheiratet, weil du eine fabelhafte Haushälterin wärest. Ich werde das mit den Rechnungen irgendwie in Ordnung bringen. Zerbrich dir darüber nicht dein kleines Köpfchen.«

Sie sah ihn kühl an.

»Du redest mit mir, als wäre ich ein Kind.«

»Das muss ich auch«, sagte er mit plötzlicher Erbitterung.

»Nun, wenigstens bin ich keine Nippfigur, die du irgendwo hinstellen und vergessen kannst.«

Er kniete rasch vor ihr nieder und nahm ihre Arme in seine Hände.

»Gretchen, hör zu!«, sagte er atemlos. »Um Gottes willen, verlier jetzt nicht die Nerven! Wir haben beide Groll und Vorwürfe angestaut bis obenhin, und wenn wir in Streit gerieten, wäre das fürchterlich. Ich liebe dich, Gretchen. Sag, dass du mich liebst – schnell!«

»Du weißt, dass ich dich liebe.«

Der Streit war abgewendet, aber es herrschte eine unnatürliche Gespanntheit während des ganzen Abendessens. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als er sein Arbeitsmaterial auf dem Tisch auszubreiten begann.

»Oh, Roger«, protestierte sie, »ich dachte, du brauchtest heute Abend nicht mehr zu arbeiten.«

»Das dachte ich auch, aber es hat sich noch etwas ergeben.«

»Ich habe George Tompkins eingeladen.«

»Oh, verdammt!«, rief er aus. »Tut mir leid, Liebling, aber du wirst ihn anrufen müssen, dass er nicht kommen kann.«

»Er ist schon unterwegs«, sagte sie. »Er kommt direkt aus der Stadt. Er kann jede Minute hier sein.«

Roger stöhnte. Er kam auf den Gedanken, sie beide ins Kino zu schicken, aber irgendwie brachte er den Vorschlag nicht über die Lippen. Er wollte Gretchen nicht im Kino haben; er wollte sie hier haben, wo er aufblicken konnte und sie an seiner Seite wusste.

Um acht Uhr erschien George Tompkins, frisch und munter. »Aha!«, rief er tadelnd, als er ins Zimmer trat. »Immer noch zugange.«

Roger bestätigte kühl, dass er noch am Arbeiten war.

»Du solltest besser aufhören – es ist besser aufzuhören, ehe man aufhören muss.« Er setzte sich mit einem langen Seufzer körperlichen Wohlbehagens hin und zündete sich eine Zigarette an. »Lass es dir von einem sagen, der sich wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt hat. Wir können so viel aushalten, und dann auf einmal – peng!«

»Wenn du mich freundlichst entschuldigen willst« – Roger sagte es so höflich, wie er nur irgend konnte –, »dann gehe ich nach oben, um diese Arbeit fertigzumachen.«

»Ganz wie du willst, Roger.« George machte eine lässige Handbewegung. »Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Ich bin Freund der Familie, und ich kann ebenso gut die Dame des Hauses wie den Hausherrn besuchen.« Er lächelte scherzhaft. »Aber wenn ich du wäre, alter Junge, würde ich meine Arbeit wegschieben und mal eine ganze Nacht durchschlafen.«

Als Roger oben sein Material auf dem Bett ausgebreitet hatte, merkte er, dass er immer noch durch den dünnen Fußboden hindurch das Rauschen und Murmeln ihrer Stimmen hören konnte. Er fragte sich, worüber sie wohl so viel miteinander zu reden hatten. Während er sich tiefer in seine Arbeit versenkte, kehrte sein Geist unwillkürlich immer wieder zu dieser Frage zurück, und er stand mehrmals auf und ging nervös im Zimmer auf und ab.

Das Bett war für seine Arbeit denkbar ungeeignet. Mehrere Male rutschte das Papier von dem Brett, auf das er es gelegt hatte, und der Bleistift drückte sich durch. Alles war verkehrt heute Abend. Buchstaben und Zahlen verschwammen vor seinen Augen, und als Begleitung zu dem Pochen in seinen Schläfen waren diese unablässig murmelnden Stimmen zu hören.

Um zehn wurde ihm klar, dass er seit über einer Stunde nichts geschafft hatte, und mit einem plötzlichen Ausruf des Unmuts sammelte er seine Papiere ein, verstaute sie wieder in der Zeichenmappe und ging hinunter. Sie saßen zusammen auf dem Sofa, als er hereinkam.

»Oh, hallo!«, rief Gretchen laut, ziemlich unnötigerweise, wie er fand. »Wir haben gerade über dich gesprochen.«

»Vielen Dank«, entgegnete er ironisch. »Welcher Teil meiner Anatomie war denn unter dem Skalpell?«

»Deine Gesundheit«, sagte Tompkins heiter.

»Meine Gesundheit ist in Ordnung«, erwiderte Roger kurz.

»Aber du gehst mit ihr so selbstsüchtig um, mein Freund«, rief Tompkins. »Du denkst dabei nur an dich. Meinst du nicht, Gretchen hätte auch einige Rechte? Wenn du an einem wunderbaren Sonett arbeiten würdest, an einem Madonnenbild oder dergleichen« – er warf einen Blick auf Gretchens tizianfarbenes Haar –, »ja, dann würde ich sagen, mach weiter. Aber das ist es ja nicht. Nur eine alberne Reklame für Nobald-Haarwasser, und wenn alle Haarwässer, die es je gab, morgen ins Meer gekippt würden, sähe die Welt auch nicht schlechter aus.«

»Einen Moment«, sagte Roger erregt. »Das ist nicht ganz fair. Über die Wichtigkeit meiner Arbeit mache ich mir nichts vor – sie ist ebenso unnütz wie das, was du machst. Aber für Gretchen und mich ist es so ungefähr die wichtigste Sache der Welt.«

»Willst du damit sagen, dass meine Arbeit unnütz ist?«, fragte Tompkins ungläubig.

»Nein, nicht wenn sie irgendeinen armen Trottel von Hosenfabrikanten glücklich macht, der nicht weiß, wie er sein Geld ausgeben soll.«

Tompkins und Gretchen wechselten einen Blick.

»Ooooh!«, rief Tompkins ironisch aus. »Ich wusste gar nicht, dass ich all die Jahre nur meine Zeit verschwendet habe.«

»Du bist ein Müßiggänger«, sagte Roger grob.

»Ich?«, rief Tompkins wütend. »Du nennst mich einen Müßiggänger, weil ich einen kleinen Ausgleich in meinem Leben habe und Zeit für Dinge finde, die mich interessieren? Weil ich ebenso eifrig Sport treibe, wie ich arbeite, und weil ich mich sträube, nur ein stumpfsinniger, langweiliger Arbeitssklave zu sein?«

Beide Männer waren jetzt erregt, und ihre Stimmen waren lauter geworden, obwohl auf Tompkins’ Gesicht immer noch der Anflug eines Lächelns blieb.

»Wogegen ich etwas einzuwenden habe«, sagte Roger langsam, »das ist, dass du in den letzten sechs Wochen dein ganzes Sporttreiben anscheinend hierherverlegt hast.«

»Roger!«, rief Gretchen. »Was willst du damit sagen?«

»Genau das, was ich gesagt habe.«

»Er hat nur gerade die Beherrschung verloren.« Tompkins zündete sich mit ostentativem Gleichmut eine Zigarette an. »Du bist dermaßen überarbeitet, dass du nicht mehr weißt, was du sagst. Du bist am Rande eines Nervenzusammenbruchs …«

»Du verschwindest jetzt von hier!«, schrie Roger wütend. »Du verschwindest jetzt, bevor ich dich hinauswerfe!«

Tompkins sprang wütend auf.

»Du – du willst mich hinauswerfen?«, rief er ungläubig.

Sie wollten tatsächlich aufeinander los, doch Gretchen ging gerade noch dazwischen, und indem sie Tompkins beim Arm nahm, nötigte sie ihn sanft zur Tür.

»Er benimmt sich wie ein Irrer, George, aber es ist besser, Sie gehen«, schluchzte sie und suchte im Flur nach seinem Hut.

»Er hat mich beleidigt!«, schrie Tompkins. »Er hat mir mit Hinauswurf gedroht!«

»Schon gut, George«, flehte Gretchen. »Er weiß nicht, was er sagt. Bitte, gehen Sie! Wir sehen uns morgen früh um zehn.«

Sie öffnete die Haustür.

»Du wirst ihn nicht morgen um zehn sehen«, sagte Roger ruhig. »Er wird dieses Haus nie mehr betreten.«

Tompkins wandte sich an Gretchen.

»Es ist sein Haus«, gab er zu bedenken. »Vielleicht treffen wir uns besser bei mir.«

Damit ging er, und Gretchen schloss die Tür hinter ihm. In ihren Augen standen zornige Tränen.

»Sieh nur, was du angerichtet hast!«, schluchzte sie. »Der einzige Freund, den ich hatte, der einzige Mensch auf der Welt, der mich genügend mochte, um mich auch zu achten, wird von meinem Gatten in meinem eigenen Haus beleidigt.«

Sie warf sich auf das Sofa und weinte hemmungslos in die Kissen.

»Er hat es sich selbst zuzuschreiben«, sagte Roger verstockt. »Ich habe so viel hingenommen, wie meine Selbstachtung zuließ. Ich möchte nicht, dass du je wieder mit ihm ausgehst.«

»Ich werde mit ihm ausgehen!«, rief Gretchen in wildem Trotz. »Ich werde so viel mit ihm ausgehen, wie es mir passt. Glaubst du etwa, es ist besonders lustig, hier mit dir zu leben?«

»Gretchen«, sagte er kalt, »steh auf, nimm deinen Hut und Mantel, geh zur Tür hinaus und komm niemals zurück!«

Ihr Unterkiefer senkte sich leicht.

»Ich will aber gar nicht weggehen«, sagte sie beklommen.

»Nun, dann nimm dich auch zusammen.« Und in etwas sanfterem Ton fügte er hinzu: »Ich dachte, du wolltest diese vierzig Tage lang schlafen.«

»O ja«, rief sie bitter, »das sagt sich so leicht! Aber ich habe das Schlafen satt.« Sie stand auf und blickte ihn trotzig an. »Und mehr noch, ich werde morgen mit George Tompkins reiten gehen.«

»Das wirst du nicht, und wenn ich dich mit nach New York nehmen und in meinem Büro einsperren muss, bis ich mit der Arbeit fertig bin.«

Sie blickte ihn voller Zorn an.

»Ich hasse dich«, sagte sie ruhig. »Und ich würde gern alles, was du gemacht hast, nehmen, es zerreißen und ins Feuer werfen. Und nur, damit du morgen etwas zum Nachdenken hast: Ich werde wahrscheinlich nicht da sein, wenn du zurückkommst.«

Sie stand vom Sofa auf und betrachtete ausführlich ihr zorngerötetes, tränenverschmiertes Gesicht im Spiegel. Dann lief sie nach oben und schlug die Schlafzimmertür hinter sich zu.

Automatisch breitete Roger seine Arbeit auf dem Wohnzimmertisch aus. Die leuchtenden Farben der Zeichnungen, die lebensechten eleganten Damen – für eine von ihnen hatte Gretchen Modell gestanden –, ein Glas Ginger-Ale mit Orange oder eine seidenglänzende Strumpfgarnitur haltend, das lullte ihn in eine Art Dämmerzustand ein. Sein rastloser Stift fuhr hier und da über die Blätter, schob einen Schriftblock um einen Zentimeter nach rechts, probierte ein Dutzend Nuancen für ein kühles Blau aus und tilgte ein Wort, wenn es einen Slogan blutleer und blass erscheinen ließ. Eine halbe Stunde verging – er steckte jetzt tief in seiner Arbeit; kein Laut war im Zimmer zu hören, nur das samtige Kratzgeräusch des Bleistifts auf der glatten Tischplatte.

Nach einer ganzen Weile sah er auf die Uhr – es war nach drei. Draußen war ein Wind aufgekommen und fuhr in heftigen, unheimlichen Stößen um das Haus, es klang wie ein schwerer fallender Körper. Er unterbrach seine Arbeit und horchte. Er war jetzt nicht mehr müde, aber sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit vorquellenden Adern bedeckt wie auf jenen Abbildungen, die in Arztzimmern hängen und auf denen man einen von seiner Haut entblößten Körper sieht. Er fasste sich mit den Händen an den Kopf und betastete ihn überall. Es schien ihm, als fühlten sich seine Schläfenadern rings um eine alte Narbe knotig und spröde an.

Plötzlich wurde ihm angst und bange. An die hundert Warnungen, die er gehört hatte, fuhren ihm durch den Sinn. Menschen konnten sich durch Überarbeitung kaputtmachen, und sein Leib und Hirn waren aus dem gleichen verletzlichen und vergänglichen Stoff. Zum ersten Mal ertappte er sich dabei, dass er George Tompkins um seine ruhigen Nerven und seine gesunde Lebensführung beneidete. Er stand auf und rannte panikartig im Zimmer umher.

»Ich sollte schlafen gehen«, flüsterte er sich eindringlich zu. »Sonst werde ich noch verrückt.«

Er rieb sich die Augen und ging zum Tisch zurück, um seine Arbeiten einzupacken, aber seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum die Tischplatte fassen konnte. Als ein kahler Ast gegen das Fenster schwang, fuhr er mit einem Aufschrei zusammen. Er setzte sich auf das Sofa und versuchte nachzudenken.

»Stopp! Stopp! Stopp!«, tickte die Uhr. »Stopp! Stopp! Stopp!«

»Ich kann nicht aufhören«, sagte er laut. »Ich kann mir nicht leisten aufzuhören.«

Was war das für ein Geräusch? Ja, jetzt war der Wolf an der Tür! Er konnte seine scharfen Krallen auf dem Lackanstrich kratzen hören. Er sprang auf, rannte zur Vordertür und riss sie auf; dann fuhr er mit einem grässlichen Schrei zurück. Ein riesiger Wolf stand auf der Veranda und starrte ihn aus roten Augen bösartig an. Das Haar in seinem Nacken sträubte sich, als Roger ihn ansah; dann knurrte der Wolf leise und verschwand in der Dunkelheit. Da erkannte Roger mit einem tonlosen, freudlosen Lachen, dass es der Polizeihund von gegenüber war.

Mühsam schleppte er sich in die Küche, holte den Wecker ins Wohnzimmer und stellte ihn auf sieben. Dann hüllte er sich in seinen Mantel, legte sich auf das Sofa und fiel sogleich in einen schweren, traumlosen Schlaf.

Als er erwachte, gab die Lampe noch einen blassen Schein, aber der Raum hatte das Grau eines Wintermorgens. Er stand auf, sah ängstlich auf seine Hände und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sie nicht mehr zitterten. Er fühlte sich viel besser. Dann erinnerte er sich im Einzelnen an die Ereignisse des vergangenen Abends, und wieder zog er die Stirn in drei flache Falten. Ihn erwartete Arbeit, vierundzwanzig Stunden Arbeit, und Gretchen, ob sie wollte oder nicht, musste einen weiteren Tag durchschlafen.

Plötzlich hatte Roger eine Erleuchtung, als ob ihm soeben eine neue Idee für eine Reklame eingefallen wäre. Wenige Minuten später eilte er durch die schneidend kalte Morgenluft zu Kingsleys Drugstore.

»Ist Mr. Kingsley schon da?«

Der Kopf des Apothekers schaute um die Ecke der Rezeptur.

»Könnte ich Sie wohl allein sprechen?«

Als Roger um sieben Uhr dreißig wieder nach Hause kam, ging er gleich in die Küche. Die Haushälterin war eben gekommen und nahm gerade ihren Hut ab.

»Bebé« – er war nicht besonders vertraut mit ihr, sondern sie hieß wirklich so –, »ich möchte, dass Sie sofort Mrs. Halseys Frühstück zubereiten. Ich werde es dann selbst hinaufbringen.«

Bebé kam es ungewöhnlich vor, dass ein so schwerbeschäftigter Mann seiner Frau diesen Dienst erwies, doch hätte sie sein Verhalten gesehen, nachdem er das Tablett aus der Küche getragen hatte, wäre sie noch überraschter gewesen. Er stellte das Tablett nämlich auf dem Esszimmertisch ab und tat in den Kaffee einen halben Teelöffel eines weißen Pulvers, das keineswegs Puderzucker war. Dann stieg er die Treppe hinauf und öffnete die Tür des Schlafzimmers.

Gretchen wachte mit einem Ruck auf, warf einen Blick auf das unberührte andere Bett und sah Roger erst erstaunt an, dann voller Verachtung, als sie das Frühstückstablett in seinen Händen sah. Sie dachte, er bringe es zum Zeichen der Kapitulation.

»Ich will gar kein Frühstück«, sagte sie kühl, und ihm sank das Herz in die Hose, »nur etwas Kaffee.«

»Kein Frühstück?« Rogers Stimme klang enttäuscht.

»Ich sagte, ich nehme nur etwas Kaffee.«

Roger stellte das Tablett diskret auf ein Tischchen neben dem Bett und eilte wieder in die Küche hinunter.

»Wir werden ausgehen und bis morgen Nachmittag fort sein«, sagte er zu Bebé, »und ich möchte das Haus jetzt gleich abschließen. Also setzen Sie ruhig Ihren Hut wieder auf, und gehen Sie nach Hause.«

Er sah auf seine Uhr. Es war zehn vor acht, und er wollte den 8-Uhr-10-Zug erreichen. Er wartete fünf Minuten und schlich dann leise nach oben und in Gretchens Zimmer. Sie schlief tief und fest. Die Kaffeetasse war leer bis auf ein paar schwarze Spuren am Rand und einen dünnen braunen Bodensatz. Er betrachtete sie etwas besorgt, aber ihr Atem ging glatt und regelmäßig.

Er nahm einen Koffer aus dem Wandschrank und packte in aller Eile ihre Schuhe hinein – Straßenschuhe, Sandaletten, Schnürschuhe mit Kreppsohlen –, er hatte gar nicht gewusst, dass sie so viele Schuhe besaß. Als er den Koffer schloss, platzte der fast.

Er überlegte eine Minute, nahm eine Schneiderschere aus einer Schachtel, folgte dem Telefonkabel bis dort, wo es hinter dem Frisiertisch verschwand, und trennte es mit einem raschen Schnitt durch. Er fuhr auf, als er ein leises Klopfen an der Tür hörte. Es war das Kindermädchen. Das hatte er ganz vergessen.

»Mrs. Halsey und ich fahren bis morgen in die Stadt«, sagte er geistesgegenwärtig. »Nehmen Sie Maxy mit an den Strand, und essen Sie dort zu Mittag. Bleiben Sie den ganzen Tag.«

Wieder im Zimmer, wurde er von einer Welle von Mitleid erfasst. Gretchen wirkte plötzlich so liebenswert und hilflos, wie sie dort schlief. Es war irgendwie grausam, ihr junges Leben eines ganzen Tages zu berauben. Er berührte ihr Haar mit den Fingern, und als sie in ihrem Traum irgendetwas murmelte, beugte er sich hinunter und küsste sie auf ihre rosige Wange. Dann nahm er den mit Schuhen vollgepackten Koffer, schloss die Tür und lief rasch die Treppe hinunter.

III

 

Gegen fünf Uhr an diesem Nachmittag war der letzte Packen Schaufensterplakate für Garrod’s-Schuhe per Boten an H. G. Garrod im Biltmore Hotel überbracht worden. Es hieß, er wolle bis zum nächsten Morgen eine Entscheidung treffen. Um halb sechs tippte Rogers Stenotypistin ihm auf die Schulter.

»Mr. Golden, der Verwalter des Hauses, möchte Sie sprechen.«

Roger wandte sich verwirrt um.

»Oh, grüße Sie.«

Mr. Golden kam gleich zur Sache. Falls Mr. Halsey die Absicht habe, das Büro noch länger zu behalten, sei es wohl besser, das kleine Versäumnis bezüglich der Miete sogleich zu beheben.

»Mr. Golden«, sagte Roger erschöpft, »morgen wird alles in Ordnung kommen. Aber wenn Sie mich jetzt länger aufhalten, kommen Sie nie zu Ihrem Geld. Übermorgen spielt das alles keine Rolle mehr.«

Mr. Golden sah seinen Mieter mit Unbehagen an. Junge Männer setzten bei geschäftlichen Fehlschlägen manchmal einfach ihrem Leben ein Ende. Da fiel sein argwöhnischer Blick auf den mit Initialen versehenen Koffer neben dem Schreibtisch.

»Haben Sie eine kleine Reise vor?«, fragte er spitz.

»Was? O nein. Darin sind nur ein paar Anziehsachen.«

»Anziehsachen, so? Nun, Mr. Halsey, würden Sie – nur zum Beweis, dass Sie es ehrlich meinen – mir diesen Koffer bis morgen Mittag überlassen?«

»Nehmen Sie ihn schon.«

Mr. Golden nahm den Koffer mit einer entschuldigenden Geste.

»Eine reine Formsache«, bemerkte er.

»Ich verstehe«, sagte Roger und schwang sich zu seinem Schreibtisch herum. »Auf Wiedersehen.«

Anscheinend wollte Mr. Golden die Unterhaltung auf einem etwas freundlicheren Ton abschließen.

»Und arbeiten Sie nicht zu hart, Mr. Halsey. Sie wollen doch keinen Nervenzusammenbruch –«

»Nein«, brüllte Roger, »will ich nicht. Aber ich bekomme einen, wenn Sie mich jetzt nicht freundlichst in Ruhe lassen wollen.«

Als die Tür sich hinter Mr. Golden geschlossen hatte, wandte sich Rogers Stenotypistin mitfühlend zu ihm um.

»Sie hätten ihm das nicht durchgehen lassen sollen«, sagte sie. »Was ist denn in dem Koffer? Kleider?«

»Nein«, antwortete Roger geistesabwesend. »Nur sämtliche Schuhe meiner Frau.«

Diese Nacht schlief er im Büro auf einem Sofa neben dem Schreibtisch. Bei Morgengrauen fuhr er erschreckt auf, rannte hinaus auf die Straße, um sich einen Kaffee zu holen, und kam zehn Minuten später in Panik zurück – er fürchtete, womöglich Mr. Garrods Anruf verpasst zu haben. Da war es sechs Uhr dreißig.

Um acht Uhr war ihm, als liefe ein Feuer über seinen ganzen Körper. Als seine beiden Zeichner kamen, lag er mit fast leibhaftigen Schmerzen auf der Couch. Um halb zehn klingelte gebieterisch das Telefon, und er nahm mit zitternden Händen den Hörer ab.

»Hallo.«

»Ist dort die Agentur Halsey?«

»Ja, ich bin selbst am Apparat.«

»Hier spricht Mr. H. G. Garrod.«

Rogers Herzschlag stockte.

»Ich rufe an, junger Mann, um Ihnen zu sagen: Die Arbeiten, die Sie uns geschickt haben, sind fabelhaft. Wir wollen sie alle haben und noch mehr davon, so viel Ihr Büro schaffen kann.«

»Oh, mein Gott!«, schrie Roger in den Apparat.

»Was?« Mr. H. G. Garrod war nicht wenig überrascht. »Hören Sie, bleiben Sie noch am Apparat!«

Aber er sprach ins Leere. Das Telefon war auf den Boden gepoltert, und Roger, lang hingestreckt auf der Couch, schluchzte, als würde es sein Herz zerreißen.

IV

 

Drei Stunden später, etwas blass im Gesicht, aber mit dem friedlichen Blick eines Kindes, öffnete Roger, die Morgenzeitung unterm Arm, die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau. Beim Geräusch seiner Schritte wurde sie mit einem Mal hellwach.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte sie.

Er sah auf seine Uhr.

»Zwölf.«

Plötzlich brach sie in Tränen aus.

»Roger«, brachte sie stockend hervor, »verzeih, ich war so schlecht zu dir gestern Abend.«

Er nickte gelassen.

»Es ist jetzt alles gut«, antwortete er. Dann nach einer Pause: »Ich habe den Auftrag bekommen – den dicksten Auftrag.«

Sie wandte sich ihm rasch zu.

»Du hast ihn bekommen?« Dann nach kurzem Schweigen: »Kriege ich vielleicht ein neues Kleid?«

»Ein Kleid?« Er lachte kurz auf. »Du kannst ein Dutzend bekommen. Dieser Auftrag allein bringt uns vierzigtausend im Jahr ein. Einer der dicksten Brocken im ganzen Westen.«

Sie sah ihn erschrocken an.

»Vierzigtausend im Jahr?«

»Ja.«

»Großer Gott.« Und dann zaghaft: »Ich wusste ja gar nicht, dass es um so viel geht.« Wieder dachte sie einen Moment nach. »Wir könnten also ein Haus wie das von George Tompkins haben.«

»Ich mag nicht so einen Ausstellungsladen für Innendekoration.«

»Vierzigtausend im Jahr!«, wiederholte sie noch einmal und fügte dann weich hinzu: »Oh, Roger …«

»Ja?«

»Ich werde nicht mit George Tompkins ausgehen.«

»Ich würde dich auch nicht lassen, selbst wenn du es wolltest«, sagte er knapp.

Sie spielte die Entrüstete.

»Nun, ich bin schon seit Wochen für diesen Donnerstag mit ihm verabredet.«

»Es ist aber nicht Donnerstag.«

»Doch.«

»Es ist Freitag.«

»Aber Roger, du bist wohl verrückt! Meinst du, ich weiß nicht, welchen Tag wir heute haben?«

»Es ist nicht Donnerstag«, beharrte er. »Schau her!« Und er hielt ihr die Morgenzeitung hin.

»Freitag!«, rief sie aus. »Nein, das ist ein Irrtum. Das muss die Zeitung von voriger Woche sein. Heute ist Donnerstag.«

Sie schloss die Augen und überlegte einen Moment.

»Gestern war Mittwoch«, sagte sie mit Entschiedenheit. »Gestern war die Waschfrau da. Das werde ich ja wohl wissen.«

»Nun«, sagte er selbstgefällig, »guck dir die Zeitung an. Da steht es schwarz auf weiß.«

Mit einem verdutzten Blick stieg sie aus dem Bett und begann nach ihren Kleidern zu suchen. Roger ging zum Rasieren ins Badezimmer. Eine Minute darauf hörte er wieder die Sprungfedern des Bettes. Gretchen war dabei, zurück ins Bett zu gehen.

»Was ist denn?«, fragte er, während er den Kopf aus der Tür des Badezimmers streckte.

»Ich habe Angst«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich glaube, meine Nerven versagen. Ich kann meine Schuhe überhaupt nicht finden.«

»Deine Schuhe? Der Schrank ist doch voll davon.«

»Ich weiß, aber ich sehe keine.« Ihr Gesicht war blass vor Angst. »Oh, Roger!«

Roger kam an ihr Bett und legte den Arm um sie.

»Oh, Roger«, jammerte sie, »was ist nur mit mir los? Erst das mit der Zeitung, und jetzt alle meine Schuhe. Gib auf mich acht, Roger.«

»Ich werde den Arzt kommen lassen«, sagte er.

Er ging ungerührt zum Telefon und nahm den Hörer auf.

»Das Telefon scheint nicht in Ordnung zu sein«, bemerkte er nach einer Minute. »Ich werde Bebé hinschicken.«

Der Arzt kam nach zehn Minuten.

»Ich glaube, ich stehe kurz vor einem Kollaps«, sagte Gretchen mit gepresster Stimme.

Doktor Gregory setzte sich auf die Bettkante und nahm ihr Handgelenk.

»Das scheint heute Morgen in der Luft zu liegen.«

»Ich bin aufgestanden«, sagte Gretchen eingeschüchtert, »und habe entdeckt, dass ich einen ganzen Tag verloren habe. Ich hatte eine Verabredung zum Reiten mit George Tompkins –«

»Was?«, rief der Doktor überrascht aus. Dann lachte er. »George Tompkins wird auf längere Sicht mit niemandem zum Reiten gehen.«

»Ist er verreist?«, fragte Gretchen neugierig.

»Er ist auf dem Weg nach Westen.«

»Wieso?«, fragte Roger. »Brennt er mit der Frau eines anderen durch?«

»Nein«, sagte Doktor Gregory. »Er hatte einen Nervenzusammenbruch.«

»Was?«, riefen beide im Chor.

»Er ist einfach unter seiner kalten Dusche zusammengeklappt wie ein Chapeau claque.«

»Aber er redete doch andauernd von seinem … seinem ausgewogenen Leben«, hauchte Gretchen. »Das lag ihm doch am Herzen.«

»Ich weiß«, sagte der Doktor. »Er hat den ganzen Morgen davon geschwätzt. Ich glaube, das hat ihn ein bisschen verrückt gemacht. Wissen Sie, er hat hart daran gearbeitet.«

»Woran?«, fragte Roger verblüfft.

»Daran, sein Leben auszubalancieren.« Er wandte sich Gretchen zu. »Nun, dieser Dame hier kann ich nur ausgiebige Ruhe verschreiben. Wenn sie einfach ein paar Tage zu Hause bleibt und ein bisschen schläft, wird sie wieder auf dem Posten sein. Sie hat sich irgendwie überanstrengt.«

»Doktor«, rief Roger mit heiserer Stimme, »meinen Sie nicht, ich hätte etwas Ruhe oder dergleichen nötig? Ich habe in letzter Zeit ganz schön hart gearbeitet.«

»Sie!« Doktor Gregory lachte und klopfte ihm kräftig auf den Rücken. »Junge, ich hab Sie nie im Leben in besserer Verfassung gesehen.«

Roger wandte sich rasch ab, um sein Lächeln zu verbergen. – Dann nickte er ein paarmal dem handsignierten Bild von Mr. George Tompkins zu, das etwas schief an der Wand des Schlafzimmers hing.

Winterträume
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_000.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_001.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_002.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_003.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_004.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_005.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_006.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_007.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_008.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_009.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_010.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_011.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_012.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_013.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_014.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_015.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_016.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_017.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_018.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_019.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_020.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_021.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_022.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_023.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_024.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_025.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_026.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_027.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_028.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_029.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_030.html