Der Eispalast
I
Sonnenlicht tropfte am Haus herunter wie goldene Farbe an einem kunstvollen Gefäß, und die verstreuten Schattensprenkel ließen die Helligkeit, in die alles getaucht war, nur noch gewaltiger und gleißender erscheinen. Die Häuser, rechts das von den Butterworths und links das von den Larkins, hatten sich hinter dicken, massigen Bäumen verschanzt; nur das Haus der Happers kriegte die Sonne voll ab und schaute den lieben langen Tag nachsichtig, freundlich und geduldig auf die staubige Landstraße. Das war die Stadt Tarleton im südlichsten Winkel von Georgia an einem Nachmittag im September.
Oben in ihrem Zimmer stützte Sally Carrol Happer ihr neunzehnjähriges Kinn aufs zweiundfünfzigjährige Fensterbrett und sah zu, wie der alte Ford von Clark Darrow um die Ecke gebogen kam. Der Wagen glühte fast; er war größtenteils aus Metall, das die ganze teils absorbierte, teils selbsterzeugte Hitze speicherte, und Clark Darrow saß mit schmerzverzerrter, angestrengter Miene kerzengerade hinterm Lenkrad und schien zu glauben, er sei selbst ein Autoteil – eines, das jeden Augenblick den Geist aufgeben konnte. Mühsam überwand er zwei Sandhuckel, bei deren Berührung die Räder erzürnt aufkreischten, riss mit furchteinflößender Miene das Steuer krampfhaft ein letztes Mal herum und pflanzte sich mitsamt dem Auto mehr oder minder vor der Eingangstreppe des Happer’schen Hauses auf. Ein Klagelaut, ein Ächzen, ein Todesröcheln, dann Stille – dann ein gellender, die Luft zerfetzender Pfiff.
Sally Carrol guckte schläfrig runter. Sie wollte gähnen, merkte aber, dass sie dazu erst das Kinn vom Fensterbrett nehmen musste, und da ließ sie’s sein und guckte weiter stumm zum Wagen hin, dessen Eigentümer strahlend, wenn auch ein wenig gekünstelt, in Habachtstellung dasaß und offenkundig eine Antwort auf sein Signal erwartete. Eine Sekunde später zerriss ein zweiter Pfiff die staubgeladene Luft.
»Guuun Moooooogn.«
Mühsam drehte Clark sich in voller Länge um, verbog den Hals und sandte einen schiefen Blick hinauf zum Fenster.
»Issa gaanüsch Moooogn, Sally Carrol.«
»Ach, würklich?«
»Machst ’n grade?«
»Ess ’n Appel.«
»Kommste mit baden – haste Lust?«
»Glaub schon.«
»Na, vielleicht machste ma ’n bisschen dalli?«
»Geht in Ordnung.«
Sally Carrol seufzte ausgiebig und hievte sich mit abgrundtiefer Trägheit vom Fußboden hoch, wo sie immer abwechselnd stückchenweise einen grünen Apfel vertilgt und papierne Püppchen für ihre kleine Schwester bemalt hatte. Sie trat vor den Spiegel, betrachtete mit erfreut-erfreulicher Verträumtheit ihr Gesicht, tupfte sich zwei Kleckse Rouge auf die Lippen und eine Quaste Puder auf die Nase und setzte sich eine mit Streuröschen gemusterte Sonnenhaube aufs maisblonde Haar. Dann stieß sie mit dem Fuß das Malwasser um, sagte »Oh, verdammt!« und ging aus dem Zimmer, ohne sich um die Pfütze zu kümmern.
»Na, Clark, wie isses so?«, fragte sie, als sie eine Minute später geschmeidig über die Seite in den Wagen glitt.
»Prima, prima, Sally Carrol.«
»Wo fahren wir denn hin zum Baden?«
»Zu Walleys Teich. Ich hab Marylyn gesagt, wir komm’ vorbei und holn sie ab, sie und Joe Ewing.«
Clark war ein hagerer dunkler Bursche und neigte dazu, krumm zu stehen, wenn er stand. Sein Blick war unheilschwanger, seine Miene etwas störrisch, wenn nicht ein Lächeln sie zum Leuchten brachte, was aber oft geschah. Clark hatte »ein Einkommen« – gerade genug, um bequem davon zu leben und immer Benzin für sein Auto zu haben –, und er hatte nach seinem Studium am Technikum in Georgia zwei volle Jahre damit zugebracht, auf den verschlafenen Straßen seines Heimatstädtchens herumzudösen und den Leuten zu erklären, wie er sein Kapital anlegen müsste, um auf der Stelle reich zu werden.
Dieses Herumgebummel fiel ihm überhaupt nicht schwer; eine Schar von kleinen Mädchen war inzwischen groß und schön geworden, allen voran die wundervolle Sally Carrol, und alle ließen sich mit Freuden zum Baden abholen oder zum Tanz – oder auch zum Poussieren an den von Blumenduft erfüllten Sommerabenden –, und alle hatten Clark ganz schrecklich gern. War man der Weiber überdrüssig, gab’s noch ein Dutzend junger Burschen, die zwar immer gerade irgendwas vorhatten, aber gern bereit waren, ihn in der Zwischenzeit für ein paar Löcher auf den Golfplatz zu begleiten oder ihm bei einer Partie Billard Gesellschaft zu leisten oder mitzukommen auf ein Viertel vom »Harten Gelben«. Hin und wieder machte einer dieser Zeitgenossen seine Abschiedsrunde, bevor er nach New York ging oder auch nach Philadelphia oder Pittsburgh, um eine Stelle anzutreten, die meisten aber harrten einfach aus und blieben diesem trägen Paradies mit seinen traumverlorenen Himmeln, den Glühwürmchennächten und den lärmenden Niggerstraßenfesten treu – und ganz besonders den anmutigen Mädchen mit den sanften Stimmen, die mit Erinnerungen großgezogen worden waren statt mit Geld.
Sobald der Ford wieder zu gleichsam rastlos-missmutigem Leben erweckt war, rollten und ratterten Clark und Sally Carrol die Valley Avenue hinunter und weiter in die Jefferson Street, wo der Sandweg zur Pflasterstraße wurde, vorbei an dem wie betäubt daliegenden Millicent Place, wo es ein halbes Dutzend proper-protziger Villen gab, und dann ins Zentrum. Hier war das Fahren richtig gefährlich, denn es war Einkaufszeit; die Einwohner bummelten ziellos durch die Straßen, ein Gespann dunkel muhender Ochsen wurde vor einer geduldig wartenden Straßenbahn hergetrieben; selbst die Geschäfte sahen aus, als wären ihre Türen nur darum offen, weil sie gähnten, und blinzelten mit ihren Schaufenstern in die Sonne, bevor sie wieder zurückfielen in eine Art Koma, ein Koma im letzten, unweigerlich letalen Stadium.
»Du, Sally Carrol«, sagte Clark auf einmal, »stimmt das einklich, dass du verlobt bist?«
Sie schoss einen raschen Blick zu ihm rüber.
»Wo hast du das denn her?«
»Dann stimmt’s also, dass du verlobt bist?«
»Na, das is ja ’ne nette Frage!«
»Eins von den Mädels hat erzählt, du hast dich verlobt mit ’m Yankee, den du vergangnen Sommer oben in Asheville hast kenn’gelernt.«
Sally Carrol seufzte.
»Is das vielleicht ’n Nest hier – nix wie Klatsch und Tratsch.«
»Heirate bloß kein’ Yankee, Sally Carrol. Du wirst hier noch gebraucht.«
Sally Carrol schwieg einen Augenblick.
Dann fragte sie auf einmal: »Und wen zum Teufel soll ich sonst heiraten, Clark?«
»Stehe zu Diensten.«
»Ach, Schätzchen, wovon willst denn du ’ne Frau ernähren?«, fragte sie belustigt. »Und außerdem, dich kenn ich viel zu gut, als dass ich mich in dich verlieben könnte.«
»Na und, darum musste aba noch lange kein’ Yankee heiraten«, beharrte er.
»Und wenn ich ’n nu aba liebe?«
Er schüttelte den Kopf .
»Kannste gaanüsch. Dazu sind die doch viel zu viel anders als wie wir, in alle Sachen.«
Und damit schwieg er wieder und hielt vor einem windschiefen, ziemlich runtergewirtschafteten Haus. In der geöffneten Tür erschienen Marylyn Wade und Joe Ewing.
»He, Sally Carrol.«
»He ihr zwei!«
»Na, wie geht’s, wie steht’s?«
»Du, Sally Carrol«, fragte Marylyn, sobald der Wagen wieder angefahren war, »bist du würklich verlobt?«
»O Mann, wer hat denn diesen Quatsch bloß aufgebracht? Kann ich nichma ’n Mann ankucken, ohne dass gleich die ganze Stadt erzählt, ich wär mit ihm verlobt?«
Clark sah starr geradeaus, den Blick auf eine Schraube an der klappernden Windschutzscheibe geheftet.
»Wir sind dir wohl nich gut genug, was, Sally Carrol?«, fragte er in eigenartig bohrendem Ton.
»Wie bitte?«
»Wir hier unten?«
»Aber natürlich, Clark, das weißt du doch. Ich bete euch doch förmlich an, euch Jungs.«
»Und wieso verlobste dich denn mit ’m Yankee?«
»Clark, ich weiß es nicht. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich machen werde, aber – na ja, ich will was sehen von der Welt, will Leute kennenlernen. Ich will mich geistig weiterentwickeln. Ich will irgendwo leben, wo was los ist.«
»Wie meinste denn das?«
»Ach, Clark, ich liebe dich, und ich liebe Joe hier und Ben Arrot und euch alle, aber ihr – ihr –«
»Wir sind allesamt Versager, stümmt’s?«
»Ja. Ich meine nicht nur mit dem Geld, sondern irgendwie – na ja, ihr bringt’s doch zu nix, ihr seid halt traurige Gestalten und – ach Mann, wie soll ich euch das bloß erklären?«
»Du meinst, weil wir hier in Tarleton bleiben?«
»Ja, Clark; und weil’s euch hier gefällt und ihr nie was verändern oder euch was überlegen oder vorwärtskommen wollt.«
Er nickte, und sie langte rüber und drückte seine Hand.
»Clark«, sagte sie sanft, »um nichts in der Welt würde ich dich verändern wollen. Du bist ein lieber Kerl, so, wie du bist. Genau die Dinge, die dich zum Versager machen, werd ich immer lieben – dass du in der Vergangenheit lebst, wie du deine Tage und Nächte verbummelst, deine ganze Unbekümmertheit und Großzügigkeit.«
»Und trotzdem willst du weg?«
»Ja – weil ich dich nie und nimmer heiraten könnte. Du hast in meinem Herzen einen Platz, wie ihn kein andrer jemals haben wird, aber wenn ich hier unten angebunden bin, dann werd ich unruhig. Ich hätte das Gefühl, ich würde – ich würde mich verplempern. Verstehst du, ich hab zwei Seiten in mir. Das eine ist die alte verschlafene Seite, die du liebst, und dann ist da so eine Kraft – so ein Gefühl, das mich dazu treibt, irgendwelche verrückten Sachen zu machen. Und genau das ist der Teil von mir, der mir eines Tages noch mal nützlich sein könnte, der mir auch dann noch bleibt, wenn’s mit der Schönheit mal vorbei ist.«
Sie brach jäh ab – was mal wieder typisch war –, und dann schlug ihre Stimmung um, sie seufzte: »Ach Mensch, Süßerchen!«
Sie machte die Augen halb zu, legte den Kopf an die Rückenlehne und ließ sich vom würzigen Fahrtwind die Lider kühlen und den luftig gewellten Bubikopf zerstrubbeln. Die Stadt lag mittlerweile hinter ihnen, sie sausten dahin zwischen Dornengestrüpp und knallgrünen Büschen, Gras und hohen Bäumen, deren dichtbelaubte Zweige sich als schattiges Willkommen über die Straße neigten. Hin und wieder kamen sie an einer halbverfallenen Negerhütte vorbei, deren ältester Bewohner weißhaarig draußen vor der Tür saß und an seiner Maiskolbenpfeife nuckelte, während vorn auf dem ungemähten Rasen ein halbes Dutzend spärlich bekleideter kleiner Niggerkinder mit ihren arg zerlumpten Puppen auf und ab marschierten. Noch weiter draußen dösten Baumwollfelder vor sich hin, und selbst die Arbeiter darauf sahen aus wie körperlose Schatten, welche die Sonne an die Erde ausgeliehen hatte, doch nicht zum Schuften, nein, sondern damit sie auf den goldenen Septemberfeldern einem uralten Brauch nachhingen. Und rings um diese pittoreske Schläfrigkeit, über den Bäumen, den Schuppen, den schlammigen Flüssen, waberte die Hitze, nie feindselig, immer nur tröstlich, wie ein großer warmer Nährbusen für die kindliche Erde.
»Sally Carrol, wir sind da!«
»Die arme Kleine – eingepennt, die schläft ganz fest.«
»He, Süße, biste schon gestooorm vor Langeweile?«
»Wasser, Sally Carrol! Hier wartet kaltes Wasser auf dich!«
Sie öffnete verschlafen die Augen.
»Hallo!«, murmelte sie lächelnd.
II
Im November kam Harry Bellamy, groß, stark und voller Schwung, aus seiner Stadt im Norden für vier Tage herunter. Er hatte vor, eine Angelegenheit zu klären, die sich schon seit dem Sommer hinzog, seit er und Sally Carrol sich in Asheville, North Carolina, begegnet waren. Das Klären dauerte nur einen ruhigen Nachmittag und einen Abend am Kamin, denn Harry Bellamy hatte alles, was ihr fehlte; und außerdem liebte sie ihn – liebte ihn mit jener Seite ihres Wesens, die sie sich eigens für die Liebe hielt. Denn Sally Carrol hatte eine ganze Menge Seiten, und jede diente einem ganz bestimmten Zweck.
An seinem letzten Nachmittag, sie gingen gerade spazieren, merkte Sally Carrol plötzlich, wie ihre Schritte sie fast unwillkürlich zu einem ihrer Lieblingsorte führten – zum Friedhof. Als er in Sicht kam, grau-weiß und gold-grün im heiteren Schein der späten Sonne, blieb sie unentschlossen vor der schmiedeeisernen Pforte stehen.
»Du, Harry, neigst du eigentlich zur Schwermut?«, fragte sie mit einem zarten Lächeln.
»Schwermut? Ich doch nicht.«
»Dann lass uns hier hineingehen. Manch einen drückt’s ja nieder, aber ich bin gerne hier.«
Sie traten durch die Pforte und folgten dem Pfad durch ein wogendes Tal von Gräbern – erdgrau und modrig die aus den Fünfzigern, idyllisch die aus den Siebzigern mit ihren in Stein gehauenen Pflanzen und Amphoren; abscheulich überladen die der Neunziger mit ihren dicken, trunken auf steinernen Kissen schlummernden Marmoramoretten und riesengroß wuchernden, namenlosen granitenen Blumen. Bisweilen sahen sie eine kniende Gestalt mit einem Trauerstrauß, doch auf den meisten Gräbern lag Stille, Stille und welkes Laub, dessen würziger Duft allein in den Seelen der Lebenden dunkle Erinnerungen zu wecken vermag.
Dann stiegen sie auf einen Hügel, wo sie vor einem hohen, runden Grabstein stehen blieben, der halb von Efeu überwuchert war und übersät mit Schimmelflecken.
»Margery Lee«, las sie; »1844–1873. War sie nicht hübsch? Sie starb mit neunundzwanzig Jahren. Die liebe Margery Lee«, sagte sie leise. »Siehst du sie vor dir, Harry?«
»Ja, Sally Carrol.«
Er spürte, wie sich eine kleine Hand in seine schob.
»Ich glaube, sie war dunkel, und sie hat stets ein Band im Haar getragen, und herrliche Reifröcke in Alice-Blau und Altrosa.«
»Ja.«
»Ach, Harry, sie war ja so lieb! Und sie war eins von diesen Mädchen, die geradezu dafür geschaffen sind, auf einer großen Säulenveranda zu stehen und die Gäste hereinzubitten. Ich denk mir, eine Menge Männer, die in den Krieg gezogen sind, haben im Sinn gehabt, zu ihr zurückzukehren, aber vielleicht hat’s keiner je getan.«
Er trat näher an den Stein heran und beugte sich vor, um zu schauen, ob irgendwo ein Hinweis auf eine Heirat zu finden war.
»Hier steht nichts weiter.«
»Natürlich nicht. Wie könnte es auch etwas Besseres geben als einfach ›Margery Lee‹ und diese vielsagenden Jahreszahlen?«
Sie kam ganz nah an ihn heran, und als sie seine Wange streifte mit ihrem blonden Haar, da schnürte ihm auf einmal, völlig unerwartet, etwas die Kehle zu.
»Nicht wahr, Harry, du siehst doch, wie sie gewesen ist?«
»Ich sehe es«, gab er ihr zärtlich recht. »Ich sehe es durch deine teuren Augen. Du bist so schön, und darum weiß ich, dass sie es auch gewesen ist.«
Schweigend standen sie beieinander, und er spürte, dass ihre Schultern leise bebten. Eine sanfte Brise strich über den Hügel und zupfte an der breiten Krempe ihres Hutes.
»Komm, wir gehen da hinunter!«
Sie zeigte auf einen ebenen Streifen auf der anderen Seite des Hügels, wo entlang des grünen Rasens in endlosen, schnurgeraden Reihen tausend gräulich-weiße Kreuze standen, wie die präsentierten Gewehre eines Bataillons.
»Das sind die Toten der Konföderierten«, sagte Sally Carrol schlicht.
Sie gingen daran vorbei und lasen die Inschriften, immer nur ein Name und ein Datum, bisweilen kaum noch zu entziffern.
»Die letzte Reihe ist die traurigste – siehst du, da drüben. Da steht auf jedem Kreuz nichts als das Datum und das Wort ›Unbekannt‹.«
Sie sah ihn an; in ihren Augen standen Tränen.
»Liebster, ich kann dir gar nicht sagen, wie wirklich das hier alles für mich ist – wenn du’s nicht selber weißt.«
»Für mich ist schön, was du dabei empfindest.«
»Nein, nein, das bin nicht ich, sie sind es – die alten Zeiten sind es, die ich in mir wachzuhalten suche. Das da sind einfache Männer gewesen, unbedeutend offenbar, sonst wären sie ja wohl nicht ›unbekannt‹; aber sie starben für die schönste Sache auf der Welt – dead South, den tiefsten Süden. Weißt du«, fuhr sie mit noch immer heiserer Stimme fort, derweil in ihren Augen Tränen glitzerten, »die Menschen haben ihre Träume, die knüpfen sie an Dinge, und ich, ich bin nun einmal damit großgeworden – mit diesem Traum. Das war so einfach, weil ja alles tot war und ich nicht zu befürchten brauchte, irgendwie enttäuscht zu werden. Auf eine Art habe ich mich bemüht, nach diesen alten Regeln des Noblesse oblige zu leben – ein kleiner Rest davon ist ja noch da, so wie die letzten Rosen in einem alten Garten, die sterben rings um uns herum – Spuren einer fremd anmutenden Höflichkeit und Ritterlichkeit bei manchen von den Jungs und in Geschichten, die ich erzählt bekommen hab von einem ehemaligen Nachbarn, der als Soldat bei den Konföderierten war, und auch von ein paar alten Darkies. Ach, Harry, das war wirklich was ganz Eigenes, ja, was ganz Eigenes! Ich werde dir das nie verständlich machen können, aber es war etwas ganz Eigenes.«
»Ich verstehe doch«, versicherte er ihr abermals in leisem Ton.
Sally Carrol lächelte und wischte sich die Tränen mit dem Zipfel des aus seiner Brusttasche hervorschauenden Kavaliertüchleins ab.
»Lieber, du bist doch nicht bedrückt, nicht wahr? Auch wenn ich weine – ich bin glücklich hier, und irgendwie gibt es mir Kraft.«
Hand in Hand kehrten sie um und gingen langsam weiter. Als sie an eine Stelle kamen, wo weiches Gras war, zog sie ihn hinunter, und sie setzten sich hin und lehnten sich mit dem Rücken an ein eingefallenes Mäuerchen.
»Wenn doch die drei alten Weiber dort endlich verschwinden wollten«, maulte er. »Ich will dich nämlich küssen, Sally Carrol.«
»Und ich dich.«
Ungeduldig warteten sie, bis die drei kauernden Gestalten sich entfernt hatten, und dann küsste sie ihn, bis der Himmel zu verblassen schien und all ihr Lächeln und all ihre Tränen gleichsam in einem Taumel nimmer endender Sekunden sich verloren.
Dann gingen sie gemächlich miteinander heim, der Tag neigte sich seinem Ende zu, und an den Straßenecken malte schläfrig schon die Dämmerung ihre schwarzweißen Schachbrettmuster auf das Pflaster.
Er sagte: »Mitte Januar kommst du dann hoch, und du musst mindestens vier Wochen bleiben. Das wird ganz prima. Um die Zeit ist Winterkarneval, und wenn du noch nie echten Schnee gesehen hast, wirst du dir wie im Märchenland vorkommen. Da wird Schlittschuh gelaufen, Ski gefahren und gerodelt, da gibt es Schlittenfahrten und allerlei Fackelzüge auf Schneeschuhen. Die letzten Jahre gab es keinen Karneval, da wird es dieses Mal bestimmt hoch hergehen.«
»Und werd ich frieren müssen, Harry?«, fragte sie ihn unvermittelt.
»Ganz sicher nicht. Ein kaltes Näschen holst du dir vielleicht, aber vor Kälte bibbern wirst du keinesfalls. Es ist ja alles fest und trocken, weißt du.«
»Ich glaub, ich bin ein Sommerkind. Die Kälte, die ich bisher so erlebt hab, hat mir nicht gefallen.«
Dann war sie wieder still, und beide schwiegen einen Augenblick.
»Sally Carrol«, sprach er schließlich zögernd, »was sagst du denn zu – März?«
»Ich sag, ich lieb dich.«
»Also März?«
»Ja, Harry, März.«
III
Im Pullmanwaggon war es die ganze Nacht lang furchtbar kalt. Sie schellte nach dem Schaffner und bat um eine zweite Decke, und weil er ihr keine geben konnte, stopfte sie die, die sie hatte, an den Seiten unter die Matratze und nahm die Laken doppelt, doch ihre Hoffnung, auf diese Art noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, war vergebens. Und dabei wollte sie am nächsten Morgen doch so schön sein wie nur irgend möglich.
Um sechs stand sie auf, schlüpfte unbeholfen in ihre Kleider und wankte in den Speisewagen, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Der Schnee war durch die Türritzen hindurch auf die Plattformen geweht und bedeckte den Boden als rutschiger Matsch. Die Kälte war wirklich gemein, sie kroch durch alles hindurch. Sally Carrol entdeckte, dass sie ihren Atem sehen konnte, und hauchte mit naiver Freude in die Luft. Als sie im Speisewagen saß und aus dem Fenster schaute, sah sie die Berge und die Täler vorüberziehen – alles weiß – und hier und da vereinzelt eine Tanne mit Zweigen, die aussahen wie grüne Platten für ein kaltes Schneebankett. Bisweilen huschte ein einsames Gehöft vorbei, das hässlich, trostlos und verlassen in der weißen Ödnis stand, und jedes Mal empfand sie dann fröstelndes Mitleid mit den Menschenseelen, die darin eingeschlossen waren und auf den Frühling warteten.
Auf dem schwankenden Rückweg vom Speisewagen in den Pullmanwaggon durchströmte sie auf einmal ein Schwall von Energie, und sie fragte sich, ob das etwa die erfrischende Wirkung der Luft sei, von der Harry gesprochen hatte. Dies hier, das war der Norden, der Norden – ihre neue Heimat!
»Then blow, ye winds, heigho!
A-roving I will go«
sang sie vor Freude leise vor sich hin.
»Wie meinen?«, fragte der Schaffner höflich.
»Ich sagte: ›Bürsten Sie mich bitte ab.‹«
Die langen Drähte an den Telegrafenmasten verdoppelten sich; neben dem Zug liefen zwei Gleise her – drei – vier; dann eine Reihe Häuser, allesamt mit weißen Dächern, ein rascher Blick auf eine Straßenbahn mit zugefrorenen Fensterscheiben, Straßen – noch mehr Straßen – die Stadt.
Einen Moment lang stand sie wie benommen auf dem eisigen Bahnsteig, doch dann sah sie die drei dick in Pelze eingemummelten Gestalten auf sich zukommen.
»Da ist sie ja!«
»Ah, Sally Carrol!«
Sally Carrol ließ die Reisetasche fallen.
»He, du!«
Ein eiskaltes, ihr nur noch mäßig vertrautes Gesicht gab ihr einen Kuss, und dann war sie umringt von Gesichtern, die aussahen, als stießen sie in einem fort dicke Wolken von schwerem Rauch aus; sie schüttelte Hände. Ein gewisser Gordon war da, ein ungeduldiger kleiner Mann von dreißig Jahren, der ihr wie das laienhaft gemachte, leicht ramponierte Ebenbild von Harry vorkam, dann Myra, seine Frau, eine etwas flaue Dame mit flachsblondem Haar, das unter einer Automobilistenkappe aus Pelz verborgen war. Für Sally Carrol stand fast augenblicklich fest, dass Myra mehr so in die skandinavische Richtung ging. Ein fröhlicher Chauffeur nahm sich ihrer Reisetasche an, halbe Sätze, laute Rufe flogen hin und her, bisweilen mischte sich mechanisch Myra mit einem flauen »meine Liebe« ein, und so verließen sie beschwingt den Bahnhof.
Dann saßen sie in einer Limousine, die auf dem Weg zu Harrys Heim durch zahllose verwinkelte und tief verschneite Straßen fuhr, in denen Dutzende von kleinen Jungen mit ihren Schlitten hinten an den Fuhrwerken und Autos hingen und sich ziehen ließen.
»Oh, das will ich auch!«, rief Sally Carrol. »Darf ich, Harry?«
»Das ist was für kleine Kinder. Aber wir könnten –«
»Schade, das macht bestimmt ganz riesig Spaß«, sagte sie traurig.
Harrys Heim war ein weitläufiges Holzhaus an einem weißverschneiten Hang; dort traf sie einen großen, kräftigen Mann mit grauen Haaren, der ihr gut gefiel, und eine Frau, die einem Ei glich und sie küsste – Harrys Eltern. Es folgte eine atemlose halbe Stunde, unmöglich zu beschreiben, vollgestopft mit halben Sätzen, heißem Wasser, Eiern mit Schinken und Konfusion, und dann war sie allein mit Harry in der Bibliothek und fragte ihn, ob sie wohl rauchen dürfe.
Die Bibliothek war ein großer Raum mit einer Madonna auf dem Kaminsims und reihenweise Büchern mit teils goldgelben, teils goldbraunen, teils leuchtend roten Einbänden. Die Sessel hatten alle oben, wo man den Kopf anlehnen soll, ein viereckiges Spitzendeckchen, die Couch war rechtschaffen bequem, die Bücher – manche jedenfalls – sahen gelesen aus, und plötzlich fühlte Sally Carrol sich zurückversetzt in die schäbige alte Bibliothek daheim in Tarleton mit den dicken medizinischen Fachbüchern ihres Vaters und den in Öl gemalten Konterfeis ihrer drei Großonkel und der alten Couch, die schon seit fünfundvierzig Jahren ein ums andere Mal geflickt wurde und auf der es sich trotzdem immer noch so herrlich träumen ließ. An diesem Raum hier aber, in dem sie gerade stand, fand sie nichts reizvoll oder irgendwie besonders. Es war einfach ein Raum mit einer Menge ziemlich teurer Dinge darin, von denen offensichtlich keines älter war als höchstens fünfzehn Jahre.
»Na, und wie findest du’s hier oben?«, fragte Harry eifrig. »Bist du überrascht? Ich meine, ist alles so, wie du es dir erwartet hast?«
»Du schon, Harry«, sagte sie leise und streckte ihre Arme nach ihm aus.
Er aber ließ sich nur zu einem kurzen Kuss herbei, denn offensichtlich drängte es ihn gar zu sehr, ihr ein paar Worte der Begeisterung zu entlocken.
»Ich meine, die Stadt. Gefällt sie dir? Spürst du den Schwung, der in der Luft liegt?«
»Ach, Harry«, erwiderte sie lachend, »lass mir ein bisschen Zeit. Du kannst mich doch nicht einfach so mit Fragen bombardieren.«
Zufrieden seufzend paffte sie an ihrer Zigarette.
»Eins würde ich dich gerne fragen«, begann er vorsichtig; »ihr Südstaatler legt doch so großen Wert auf die Familie und so weiter – nicht dass da was dagegenspräche, aber du wirst sehen, dass das hier ein bisschen anders ist. Ich meine – dir wird vieles auffallen, was dir zunächst vulgär und protzig vorkommen mag, Sally Carrol; aber du darfst nicht vergessen: Das hier ist eine Drei-Generationen-Stadt. Hier hat jeder einen Vater, und ungefähr die Hälfte von uns hat einen Großvater. Doch weiter geht es bei uns nicht zurück.«
»Ja, natürlich«, murmelte sie.
»Verstehst du, unsere Großväter haben die Stadt gegründet, und während dieser Gründerzeit mussten viele davon allerlei ziemlich eigenartigen Berufen nachgehen. Wir haben da zum Beispiel eine Frau, die heutzutage für die bessere Gesellschaft dieser Stadt praktisch das Vorbild ist; tja, und ihr Vater war der erste Straßenkehrer, den wir hatten – so was halt.«
»Ja, und?«, fragte Sally Carrol verwundert. »Hast du etwa Angst, ich mache unpassende Bemerkungen über wildfremde Leute?«
»Aber nicht doch«, fiel Harry ihr ins Wort; »und ich entschuldige mich auch für niemanden. Die Sache ist ganz einfach die – nun ja, also, vergangenen Sommer war eine aus dem Süden hier, die ein paar recht heikle Dinge gesagt hat, und – ach, ich hab mir halt gedacht, ich erzähle dir das mal.«
Plötzlich war Sally Carrol richtig aufgebracht – als hätte man sie ohne Grund gezüchtigt –, für Harry aber war das Thema damit offenbar erledigt, denn nun ließ er sich geradezu von einer Woge der Begeisterung forttragen.
»Weißt du, es ist Karneval. Der erste seit zehn Jahren. Und jetzt bauen sie einen Eispalast; den letzten hatten wir achtzehnfünfundachtzig. Sie nehmen nur die allerreinsten, allerklarsten Eisblöcke, die sie auftreiben konnten – und riesengroß soll er werden.«
Sally Carrol stand auf und ging ans Fenster, schob die schweren türkischen Vorhänge beiseite und schaute hinaus.
»Oh!«, rief sie plötzlich. »Da draußen sind zwei kleine Jungen, die bauen einen Schneemann! Was meinst du, Harry, ob ich rausgehen kann und ihnen helfen?«
»Du träumst wohl! Komm mal lieber her und küss mich.«
Widerwillig trat sie vom Fenster zurück.
»Das Klima hier regt wohl nicht grad zum Küssen an, nicht wahr? Es sorgt anscheinend eher dafür, dass man keine große Lust hat, drinnen herumzuhocken, was?«
»Das werden wir auch nicht. Die erste Woche, die du hier bist, hab ich Urlaub, und heute Abend gehen wir zu einer Dinnerparty, wo getanzt wird.«
»Ach, Harry«, gestand sie, während sie, halb auf seinem Schoß, halb auf den Kissen, in sich zusammensank, »ich bin tatsächlich ganz schön durcheinander. Ich hab nicht die leiseste Ahnung, ob ich mich hier wohl fühlen werde oder nicht, und ich weiß auch gar nicht, was die Leute hier von mir erwarten und so weiter. Du musst mir’s einfach sagen, Schatz.«
»Ich sag dir alles«, erwiderte er sanft, »wenn du mir sagst, dass du froh bist, hier zu sein.«
»Froh – ganz schrecklich froh!«, flüsterte sie und schmiegte sich auf ihre sehr spezielle Art in seine Arme. »Wo du bist, Harry, ist für mich zu Hause.«
Und als sie diese Worte aussprach, hatte sie – vielleicht ziemlich zum ersten Mal im Leben – das Gefühl, eine Rolle zu spielen.
Am Abend bei der Dinnerparty dann, im Lichterglanz der Kerzen, war die Unterhaltung, wie ihr schien, größtenteils Männersache, indes die Mädchen hochmütig und spröde in ihren teuren Kleidern herumsaßen; sie fühlte sich nicht wohl in diesem Kreis, und nicht mal Harrys Nähe konnte daran etwas ändern.
»Lauter gutaussehende Burschen, findest du nicht auch?«, fragte er sie. »Schau dich ruhig um. Das da ist Spud Hubbard, der war letztes Jahr in Princeton Stürmer, und Junie Morton da – der und der Rotschopf neben ihm, die waren beide Hockeykapitäne in Yale; Junie war in meiner Klasse. Tja, aus unsrer Gegend kommen halt die besten Sportler der Welt. Du kannst mir glauben, das hier ist ein Land für Männer. Brauchst dir doch bloß John J. Fishburn anzusehen!«
»Welcher ist denn das?«, fragte Sally Carol ahnungslos.
»Wie – den kennst du nicht?«
»Bloß dem Namen nach.«
»Der größte Weizenhändler im ganzen Nordwesten, und einer der größten Finanzmagnaten des Landes.«
Dann hörte sie zu ihrer Rechten eine Stimme und drehte sich rasch um.
»Wie’s aussieht, hat man vergessen, uns miteinander bekannt zu machen. Roger Patton mein Name.«
»Angenehm, Sally Carol Happer«, sagte sie freundlich.
»Ja, weiß ich. Harry hat mir gesagt, dass Sie kommen.«
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein, ich bin Professor.«
»Oh.« Sie lachte.
»An der Universität. Sie sind aus dem Süden, nicht wahr?«
»Ja; Tarleton, Georgia.«
Sie mochte ihn sofort – ein rötlich brauner Schnurrbart unter wasserblauen Augen, die etwas an sich hatten, das den anderen hier fehlte, etwas wie Aufgeschlossenheit. Beim Essen wechselten sie hin und wieder ein paar Worte, und sie kam zu dem Schluss, dass sie ihn gerne öfter sehen würde.
Nach dem Kaffee wurde sie zahlreichen gutaussehenden jungen Männern vorgestellt, die gewissenhaft und sehr präzise tanzten und für die es eine Selbstverständlichkeit war, dass Sally Carrol über weiter nichts als über Harry sprechen wollte.
›Du lieber Himmel‹, dachte sie, ›die reden ja hier alle so, als ob ich älter wär als sie, und bloß weil ich verlobt bin – als ob ich mich mit ihren Müttern über ihr Betragen unterhalten würde!‹
Im Süden durfte man als verlobtes Mädchen und selbst noch als jungverheiratete Frau mit den gleichen fast schon zärtlichen Neckereien und Schmeicheleien rechnen wie eine Debütantin, hier aber schien so etwas vollkommen tabu zu sein. Ein junger Mann, der Sally Carrol anfangs mit einem wirklich netten Kompliment für ihre Augen gekommen war, die ihn angeblich faszinierten, seit er den Raum betreten hatte, war furchtbar verwirrt, als er erfuhr, dass sie bei den Bellamys zu Besuch war – als Harrys Verlobte. Er fürchtete offenbar, einen gefährlichen und unentschuldbaren Schnitzer gemacht zu haben, denn er wurde auf der Stelle förmlich und zog sich bei der erstbesten Gelegenheit zurück.
Sie war richtig froh, als Roger Patton kam und sie fragte, ob sie sich nicht ein wenig mit ihm draußen hinsetzen wolle.
»Na«, fragte er mit einem Augenzwinkern, »wie geht’s denn der Carmen aus dem Süden?«
»Riesig gut. Und wie geht’s – wie geht’s dem Gefährlichen Dan McGrew? Entschuldigung, aber das ist der einzige Nordstaatler, über den ich ein bisschen Bescheid weiß.«
Das schien ihm zu gefallen.
»Von mir als Literaturprofessor«, vertraute er ihr an, »würde natürlich niemand erwarten, dass ich die Ballade vom Gefährlichen Dan McGrew gelesen habe.«
»Kommen Sie hier aus der Gegend?«
»Nein, ich bin aus Philadelphia. Import aus Harvard, ich lehre Französisch. Aber ich bin schon seit zehn Jahren hier.«
»Neun Jahre und dreihundertvierundsechzig Tage länger als ich.«
»Und gefällt’s Ihnen hier?«
»Hm-hm. Klar doch!«
»Wirklich?«
»Aber ja, warum denn nicht? Seh ich etwa so aus, als ob ich mich nicht wohl fühle?«
»Ich sah Sie gerade aus dem Fenster schauen – und frösteln.«
»Ach, das ist bloß meine Phantasie«, lachte Sally Carrol. »Ich bin’s gewohnt, dass draußen alles still ist, und manchmal schau ich raus und seh den Flockenwirbel, und das ist so, als ob was Totes da vorüberfliegt.«
Er nickte verständnisvoll.
»Schon mal im Norden gewesen?«
»Hab zweimal den Juli in Asheville, North Carolina, verbracht.«
»Lauter gutaussehende Leute hier, nicht wahr?«, sagte Patton und zeigte auf das wimmelnde Parkett.
Sally Carrol zuckte zusammen. Genau das Gleiche hatte Harry gesagt.
»Doch, doch natürlich! Lauter – Hunde.«
»Wie bitte?«
Sie wurde rot.
»Entschuldigung; das hört sich schlimmer an, als es gemeint ist. Wissen Sie, ich unterteile die Menschen immer in solche, die eher katzenartig sind, und eher hundeartige, und zwar unabhängig vom Geschlecht.«
»Und was sind Sie?«
»Ich bin eine Katze. Sie übrigens auch. Und die meisten Männer im Süden und die meisten Mädchen hier im Saal.«
»Und was ist Harry?«
»Harry ist auf jeden Fall ein Hund. Die Männer, denen ich heut Abend hier begegnet bin, sind anscheinend alles Hunde.«
»Und was genau bedeutet für Sie ›Hunde‹? Eine gewisse bewusst hervorgekehrte Männlichkeit, im Unterschied zu Takt und Feingefühl?«
»Vermutlich. Ich hab das ja nie analysiert – ich schau mir die Leute einfach bloß an und sehe auf einen Blick, ob sie eher ›Hunde‹ oder eher ›Katzen‹ sind. Ganz schön albern, oder?«
»Überhaupt nicht. Ich finde das sehr interessant. Ich hab meine eigene Theorie über diese Leute. Für mich sind sie im Begriff zu vereisen.«
»Was?«
»Ich glaube, die werden wie die Schweden – im Ibsen’schen Sinne, verstehen Sie? Die werden ganz allmählich immer trübsinniger und melancholischer. Das machen diese langen Winter. Schon mal was von Ibsen gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun ja, seine Figuren zeichnen sich durch so einen gewissen grüblerischen Starrsinn aus. Sie sind selbstgerecht, engstirnig und freudlos, ohne die uneingeschränkte Fähigkeit, wirklich großes Leid oder wirklich großes Glück zu empfinden.«
»Ohne Lächeln und ohne Tränen?«
»Genau. Das ist meine Theorie. Hier oben gibt es Tausende von Schweden, wissen Sie. Ich nehme an, sie kommen her, weil das Klima hier so ähnlich ist wie das, was sie zu Hause haben, und mit der Zeit vermischt sich das hier alles. Heute Abend sind wahrscheinlich nicht mal ein halbes Dutzend unter uns, aber wir hatten vier schwedische Gouverneure. – Langweile ich Sie?«
»Ich find das riesig interessant.«
»Ihre Schwägerin in spe ist auch eine halbe Schwedin. Ich finde sie persönlich ja sehr nett, aber meine Theorie ist, dass uns die Schweden insgesamt nicht guttun. Wussten Sie schon, dass die Skandinavier weltweit die höchste Selbstmordrate haben?«
»Und warum leben Sie dann hier, wenn’s doch so deprimierend ist?«
»Ach, ich lass das alles nicht an mich heran. Ich schotte mich ziemlich gut ab, und wahrscheinlich bedeuten mir Bücher ohnehin mehr als Menschen.«
»Aber die Schriftsteller sagen alle, der Süden sei tragisch. Sie wissen schon – spanische Señoritas, schwarze Haare, Dolche, schaurige Musik.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, die tragischen Rassen, das sind die nordischen – die gönnen sich nicht den beglückenden Luxus der Tränen.«
Sally Carrol musste an ihren Friedhof denken. Ungefähr dasselbe hatte sie wohl damals gemeint, als sie sagte, sie fühle sich dort nicht bedrückt.
»Das heiterste Volk der Welt sind wahrscheinlich die Italiener – aber das ist ein fades Thema«, unterbrach er sich. »Sie werden jedenfalls einen wirklich guten Mann heiraten, das wollte ich Ihnen noch sagen.«
Plötzlich hatte Sally Carrol den Impuls, sich diesem Menschen anzuvertrauen.
»Ich weiß. Ich gehöre zu den Leuten, die ab einem gewissen Punkt behütet sein möchten, und ich spüre ganz deutlich, dass ich das sein werde.«
»Wollen wir tanzen? Wissen Sie«, fuhr er, während sie aufstanden, fort, »es ist eine wahre Freude, mal einem Mädchen zu begegnen, das genau weiß, warum es heiratet. Neun Zehntel glauben nämlich, Heiraten bedeutet, dass man, wie im Kino, Hand in Hand in einen wunderschönen Sonnenuntergang spaziert.«
Sie musste lachen, und sie fand ihn ungeheuer nett.
Zwei Stunden später saß sie mit Harry auf dem Rücksitz und kuschelte sich an ihn.
»Ach, Harry«, flüsterte sie, »ist das ka-halt!«
»Aber wieso denn, meine Kleine, hier drinnen ist es doch schön warm.«
»Aber draußen ist es kalt, und wie der Wind heult!«
Sie verkroch sich mit dem Gesicht ganz tief in ihrem Pelzmantel und musste unwillkürlich zittern, als er sie mit seinen kalten Lippen aufs Ohr küsste.
IV
Die erste Woche ihres Besuchs war ein einziger Wirbel. An einem eisigen Januartag, kurz nach Tagesanbruch, bekam sie die versprochene Schlittenfahrt im Schlepptau eines Automobils. Dick in Felle eingemummelt, rodelte sie einen Morgen lang auf dem Hügel des Countryclubs, ja, sie versuchte sogar, Ski zu fahren, segelte einen herrlichen Moment lang durch die Luft und landete schließlich als lachendes, verheddertes Bündel auf einer weichen Schneewehe. Sie liebte all die Wintersportarten, bis sie einmal im blassgelben Sonnenschein auf Schneeschuhen auf einer glitzernden Ebene dahinsauste und ihr plötzlich klar wurde, dass diese Dinge eigentlich etwas für Kinder waren und man sie lediglich gewähren ließ und die allgemeine Freude um sie herum in Wahrheit nur der Spiegel ihrer eigenen Freude war.
Die Familie Bellamy verwirrte sie anfangs. Auf die Männer war Verlass; sie mochte sie; besonders zu Mr. Bellamy mit seinem eisgrauen Haar und seinem energischen, würdevollen Wesen, fasste sie schnell Zuneigung, zumal, als sie erfuhr, dass er in Kentucky geboren war, was ihn für sie gleichsam zu einem Bindeglied zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben machte. Jedoch den Frauen gegenüber empfand sie vom ersten Moment an eine ganz entschiedene Abneigung. Myra, ihre zukünftige Schwägerin, war für sie der Inbegriff geistloser Konventionalität. Ihre Gespräche entbehrten so durch und durch jeglicher persönlichen Note, dass Sally Carrol, die aus einem Land kam, in dem man bei einer Frau immerhin ein gewisses Maß an Charme und Selbstvertrauen voraussetzen durfte, sie beinah schon verachtete.
›Wenn diese Frauen hier nicht schön sind‹, dachte sie, ›dann sind sie gar nichts. Du schaust sie an, und sie verblassen unter deinen Augen. Sie sind nichts weiter als Hausangestellte, die man mit einem Glorienschein versehen hat. In jeder gemischten Gesellschaft stehen immer nur die Männer im Mittelpunkt.‹
Und schließlich war da noch Mrs. Bellamy, die Sally Carrol richtiggehend hasste. Ihr erster Eindruck – dieser Vergleich mit einem Ei – hatte sich bestätigt: ein Ei mit brüchiger, geäderter Stimme und derart plumpen, ungraziösen Umgangsformen, dass Sally Carrol immer dachte, wenn diese Frau einmal hinfallen sollte, dann würde sie wohl in der Tat als Rührei enden. Überdies verkörperte Mrs. Bellamy gleichsam den Geist dieser Stadt, in der man jedem Fremden mit eingefleischter Abneigung begegnete. Zu Sally Carrol sagte sie einfach nur »Sally«, und es war ihr einfach nicht beizubringen, dass der zweite Name nicht nur ein lästiger und obendrein lächerlicher Spitzname war. Diese Verkürzung ihres Namens war für Sally Carrol so, als würde man sie halbnackt ans Licht der Öffentlichkeit zerren. »Sally Carrol« fand sie wunderschön, aber »Sally« allein fand sie widerwärtig. Sie wusste auch, dass Harrys Mutter ihr Bubikopf missfiel, und nachdem Mrs. Bellamy damals, am ersten Tag, mit schnüffelnd hochgestellter Nase in die Bibliothek gekommen war, hatte sie sich auch nie wieder getraut, unten zu rauchen.
Von den Männern, die sie bis jetzt getroffen hatte, gefiel ihr am besten Roger Patton, der ein häufiger Gast im Hause Bellamy war. Zwar kam er nie mehr auf die an Ibsen gemahnenden Anlagen der Bevölkerung zu sprechen, doch als er sie bei einem seiner Besuche Peer Gynt lesend auf dem Sofa antraf, erklärte er ihr lachend, sie solle getrost vergessen, was er ihr gesagt habe, das sei alles Unfug.
Und dann, in der zweiten Woche ihres Aufenthalts, gerieten Harry und sie eines Nachmittags plötzlich in Streit – in einen Streit, der gefährlich nahe daran war, in einen regelrechten Krieg auszuarten. Aus Sally Carrols Sicht hatte Harry die Sache heraufbeschworen, obwohl ihr Serbien in Gestalt eines Unbekannten mit ungebügelten Hosen dahergekommen war.
Sie waren auf dem Heimweg gewesen, flankiert von hoch aufgetürmten Schneewällen und unter einer Sonne, die Sally Carrol kaum als solche wahrnahm. Unterwegs begegneten sie einem kleinen Mädchen, das in dickes graues Wollzeug eingemummelt war und beinah wie ein kleiner Teddybär aussah, und Sally Carrol konnte sich nicht eines von beinah schon mütterlichem Entzücken geschwängerten Seufzers enthalten.
»Harry! Schau doch mal!«
»Was denn?«
»Das kleine Mädchen da – hast du ihr Gesicht gesehen?«
»Ja, wieso?«
»So rot wie eine Erdbeere. War sie nicht süß, die Kleine?«
»Aber dein Gesicht ist ja fast schon genauso rot! Hier sind eben alle Leute gesund. Sobald wir laufen können, sind wir draußen in der Kälte. Ein wundervolles Klima!«
Sie sah ihn an und musste ihm zustimmen. Er sah enorm gesund aus und sein Bruder ebenfalls. Und heute Morgen erst war ihr das ungewohnte Rot auf ihren eigenen Wangen aufgefallen.
Plötzlich aber nahm etwas anderes ihrer beider Blick gefangen, wie auf Kommando starrten sie nach vorn zur Straßenecke. Denn dort stand ein Mann mit eingeknickten Knien und einer Miene, die so angespannt war, als sei er eben im Begriff, mit einem Satz hinaufzuspringen in den frostigen Himmel. Und da mussten sie auf einmal beide lauthals lachen, denn als sie näher kamen, sahen sie, dass das Ganze nur eine kurze, aber sehr lustige, durch die außerordentlich ausgebeulten Hosen des Mannes hervorgerufene Sinnestäuschung gewesen war.
»Ist sicher einer von den unseren«, sagte sie lachend.
»Ja, ja, das ist bestimmt ein Südstaatler – bei diesen Hosen«, meinte Harry in boshaftem Ton.
»Wie bitte, Harry?«
Ihr erstaunter Blick schien ihn zu ärgern.
»Diese verdammten Südstaatler!«
Sally Carrols Augen funkelten.
»Nenn sie nie wieder so!«
»Verzeih mir, meine Liebe«, entschuldigte sich Harry scheinheilig, »aber du weißt ja, was ich von diesen Leute halte. Die sind doch alle irgendwie – irgendwie degeneriert, gar nicht mehr so wie die alten Südstaatler. Die leben schon so lange da unten bei dem ganzen farbigen Gesindel, dass sie faul geworden sind und träge.«
»Halt den Mund, Harry!«, rief sie wütend. »Das stimmt nicht! Mag sein, dass sie träge sind – das wird jeder bei dem Klima, das dort unten herrscht –, aber das sind meine besten Freunde, ich will nicht, dass du sie in Bausch und Bogen runtermachst. Ein paar davon sind großartige Menschen, wie’s auf der Welt nicht viele gibt.«
»Oh ja, ich weiß schon. Wenn sie zu uns in den Norden aufs College kommen, sind sie ganz in Ordnung, und ich hab in meinem Leben schon so manchen schlecht gekleideten, verlotterten Galgenvogel gesehen, aber diese Provinzler aus den Südstaaten, das sind die Schlimmsten!«
Sally Carrol ballte die Fäuste in ihren Handschuhen und biss sich vor Zorn auf die Unterlippe.
»Na ja«, fuhr Harry fort, »in New Haven hatte ich einen in der Klasse, bei dem dachten wir alle, wir hätten endlich einen waschechten Südstaatenaristokraten gefunden, und dann stellt sich heraus, der Kerl ist gar kein Aristokrat, sondern einfach bloß der Sohn von einem schnöden Spekulanten, dem sämtliche Baumwollfelder im Umkreis von Mobile gehörten.«
»So wie du hier redest«, sagte sie in ruhigem Ton, »so würde ein Südstaatler niemals reden.«
»Denen fehlt eben die nötige Energie!«
»Oder etwas anderes.«
»Entschuldige bitte, Sally Carrol, aber ich hab doch selbst gehört, wie du gesagt hast, du würdest nie und nimmer einen Südstaatler hei–«
»Aber das ist doch ganz was anderes. Ich hab dir gesagt, dass ich mich nicht fürs ganze Leben an einen von den Jungs da unten aus der Gegend rund um Tarleton binden möchte, aber die Dinge derart in Bausch und Bogen zu verallgemeinern, das hab ich nie getan.«
Sie gingen schweigend nebeneinanderher.
»Ich hab vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragen, Sally Carrol. Entschuldige bitte.«
Sie nickte, sagte aber nichts. Fünf Minuten später, als sie daheim im Flur standen, fiel sie ihm plötzlich um den Hals.
»Ach, Harry«, rief sie, und in ihren Augen standen Tränen, »lass uns nächste Woche heiraten. Ich hab Angst vor solchen Streitereien wie jetzt eben. Harry, so was macht mir Angst. Wenn wir verheiratet wären, würde so was nicht passieren.«
Doch Harry, wohl wissend, dass er im Unrecht war, war immer noch gereizt.
»Das wäre ja idiotisch. Wir haben doch beschlossen, im März.«
Da verschwanden die Tränen in Sally Carrols Augen; in ihre Miene trat ein Anflug von Härte.
»Schon gut – ich hätte das wohl besser nicht gesagt.«
Da wurde Harry endlich weich.
»Ach, du liebes kleines Dummchen!«, rief er. »Nun komm schon her und gib mir einen Kuss, und dann vergessen wir das Ganze.«
Am selben Abend, nach einer Vaudeville-Vorstellung, spielte das Orchester Dixie, und plötzlich spürte Sally Carrol etwas in ihrem Innern aufwallen, das stärker und hartnäckiger war als die Tränen und das Lächeln dieses Tages. Sie beugte sich vor und hielt die Armlehnen ihres Sessels umklammert, bis ihr Gesicht feuerrot war.
»Nimmt dich wohl ganz schön mit, was, Liebes?«, flüsterte Harry.
Doch sie konnte ihn nicht hören. Zum lebhaft pulsenden Vibrato der Geigen und zum mitreißenden Takt der Kesselpauken zogen die Geister ihrer Vergangenheit an ihr vorüber in die Dunkelheit, und als die Querpfeifen die Weise leise seufzend wiederholten, da kam’s ihr vor, als wären sie schon beinah außer Sicht, die Geister, als könnte sie ihnen gerade noch zum Abschied winken.
Away, away,
Away down South in Dixie!
Away, away,
Away down South in Dixie!
V
Es war ein besonders kalter Abend. Tags zuvor hatte es plötzlich getaut, so dass die Straßen beinah frei gewesen waren, doch mittlerweile waren sie schon wieder übersiebt von einer hauchdünnen Schicht aus schräg fallendem Pulverschnee, der in Wellenlinien vor dem Wind hertrieb und die unteren Luftschichten mit fein zerstäubtem Dunst erfüllte. Der Himmel war nicht da – nur ein finsteres, unheimliches Zelt, das sich über die Dächer der Stadt breitete und in Wahrheit aus Heerscharen herannahender Schneeflocken bestand, und über allem toste unablässig der Nordwind, der das tröstliche braun-grüne Glimmen der erhellten Fenster gefrieren und den steten Trab der Schlittenpferde in seinem Tosen untergehen ließ. Eben doch eine düstere Stadt, ging es ihr durch den Kopf – ja, eine düstere Stadt.
Manchmal bei Nacht war es ihr vorgekommen, als lebte hier kein Mensch – als wären alle längst davongegangen, als hätten sie ihre erleuchteten Häuser einfach zurückgelassen, auf dass sie mit der Zeit unter Bergen von Schneegraupel begraben würden. Ach, und auch ihr Grab würde dereinst von Schnee bedeckt sein! Den ganzen Winter lang würde sie unter dicken Bergen von Schnee liegen müssen, und selbst ihr Grabstein höbe nur als lichter Schemen sich ab von so viel anderen lichten Schemen. Ihr Grab – ein Grab, das doch mit Blumen übersät sein sollte, von Sonne überflutet und umspült vom Regen.
Sie musste wieder an die vereinzelten Gehöfte denken, an denen sie mit dem Zug vorbeigefahren war, und an das Leben dort während des langen Winters – ständig das grellweiße Geflimmer vor den Fenstern, die Kruste, die sich auf den weichen Schneewällen bildete, und schließlich das langsame, trostlose Tauen, und dann der rauhe Frühling, den Roger Patton ihr beschrieben hatte. Ihr eigener Frühling – ach, dass der ihr nun für alle Zeit verloren wäre – mit seinem Flieder, seiner trägen Süße, er regte sich in ihrem Herzen. Sie war dabei, ihn von sich abzustreifen, diesen Frühling – und eines Tages würde sie auch diese Süße von sich abstreifen.
Allmählich, aber unerbittlich kam das Schneegestöber. Sally Carrol spürte, wie die Flocken sich auf ihren Wimpern niederließen und immer gleich zerrannen, und Harry langte mit dem pelzgeschützten Arm herüber, um ihr die komplizierte Kappe aus Flanell tief ins Gesicht zu ziehen. Dann kamen die kleinen Flocken in Schlachtreihen heran, und das Pferd neigte geduldig den Hals, als sich auf seinem Fell flugs ein weißer Schleier bildete.
»Oh, Harry, ihm ist kalt«, stieß sie hervor.
»Wem? Dem Pferd? Nein, nein, dem ist nicht kalt. Der hat das gerne!«
Nach weiteren zehn Minuten bogen sie um eine Ecke, und nun war ihr Ziel bereits in Sicht. Auf einem hohen Hügel hob sich in gleißend hellem Grün der Eispalast vom Winterhimmel ab. Drei Stockwerke hoch, mit Zinnen, Schießscharten und schmalen, eiszapfenverhangenen Fenstern, und die unzähligen elektrischen Lichter in seinem Inneren ließen den großen Festsaal in der Mitte herrlich durchsichtig erscheinen. Unter der großen Reisedecke aus Pelz hielt Sally Carrol Harrys Hand umklammert.
»Ist der aber schön!«, rief Harry aufgeregt. »Meine Güte, ist der aber schön geworden! Seit achtzehnfünfundachtzig gab’s hier keinen mehr!«
Indes fand Sally Carrol den Gedanken, dass es seit achtzehnfünfundachtzig keinen mehr gegeben hatte, irgendwie eher niederschmetternd. Das Eis war ein Gespenst, und dort, in diesem Schloss aus Eis, hausten gewiss die Schatten aus den Achtzigern mit ihren aschfahlen Gesichtern und Schnee in dem zerzausten Haar.
»Nun komm schon, mein Liebling«, sagte Harry.
Sie stieg mit ihm aus dem Schlitten und wartete, bis er das Pferd angebunden hatte. Neben ihnen hielt mit mächtigem Glockengeläute ein Viererschlitten, in dem Gordon, Myra, Roger Patton und ein weiteres Mädchen saßen. Es waren schon recht viele Leute da; in Pelze oder Schaffelle gehüllt, stapften sie rufend und lärmend durch den Schnee, der unterdessen so dicht fiel, dass man kaum noch jemanden erkennen konnte, nicht mal, wenn er nur ein paar Schritte vor einem stand.
»Er ist fünfzig Meter hoch«, sagte Harry zu einer dick vermummten Gestalt, die sich neben ihnen auf den Eingang zuschob, »nimmt eine Fläche von über fünftausend Quadratmetern ein.«
Sally Carrol schnappte hier und da ein paar Gesprächsfetzen auf: »Ein großer Saal« – »Wände einen halben bis einen Meter dick« – »und die Kuppel ist fast anderthalbtausend Meter –« – »dieser Kanucke, der ihn gebaut hat –«
Endlich hatten sie es geschafft, in den Palast hineinzukommen, und Sally Carrol, ganz geblendet vom Zauber der hohen kristallenen Wände, ertappte sich dabei, wie sie ein ums andere Mal die folgenden zwei Verse aus Kubla Khan vor sich hin sprach:
»Ein Wunderwerk, wie man kein zweites weiß,
Durchsonntes Lustschloss mit Gewölb aus Eis!«
In dem großen, glitzernden Gewölbe, aus dem die Dunkelheit vollkommen ausgeschlossen war, nahm sie auf einer Holzbank Platz, und allmählich ließ die abendliche Niedergeschlagenheit nach. Harry hatte recht – es war wirklich schön hier; sie ließ den Blick über die glatten Oberflächen der Wände gleiten, für die man eigens die reinsten und klarsten Eisblöcke ausgesucht hatte, um diese opalisierende, durchscheinende Wirkung zu erreichen.
»Schau! Es geht los! Mein lieber Mann!«, rief Harry.
Nun spielte, weit entfernt, in einer Ecke, eine Kapelle Hail, Hail, the Gang’s All Here!, was als wirrer Wust von Klängen zu ihnen herüberhallte, und dann gingen auf einmal alle Lichter aus; es war, als würde ringsum Stille von den vereisten Wänden strömen und sie unter sich begraben. Sally Carrol sah noch ihren weißen Atem in der Dunkelheit und drüben auf der anderen Seite undeutlich eine Reihe von bleichen Gesichtern.
Die Musik verklang in einem Klageseufzer, indes von draußen der sonore, volltönende, anschwellende Gesang der Chorvereine hereinwehte, der an das Kriegsgeheul eines die Wildnis durchstreifenden Wikingerstammes erinnerte und immer lauter wurde, je näher die Kolonnen kamen; dann eine Reihe Fackeln, und noch eine und noch eine, und dann kam ein langer Zug in grauwollene Joppen gehüllter, im Gleichschritt gehender Gestalten mit Mokassins an den Füßen, die Schneeschuhe über der Schulter trugen und deren Stimmen im flackernden Schein ihrer lodernden Fackeln an den mächtigen Wänden emporstiegen.
Dann war der Zug der Grauen zu Ende, es folgte ein nächster, und gespenstisch fahl strömte diesmal das Licht über rote Rodelkappen und Wolljoppen in Karmesin, und als sie alle drinnen waren, fielen sie ein in den Refrain, und dann kam eine lange Marschsäule in Blau und Weiß, in Grün, in Weiß, in Braun und Gelb.
»Die Weißen dort, das sind die vom Wacouta Club«, flüsterte Harry beflissen. »Das sind die Männer, die du schon reihum auf den Tanzabenden kennengelernt hast.«
Die Stimmen wurden immer lauter; das große Gewölbe war eine einzige Phantasmagorie gewaltiger Feuerblöcke aus schwankenden Fackeln, aus Farben und dem Takt der weichen Lederschuhe. Die vordere Kolonne schwenkte ein und machte halt, der Zug dahinter setzte sich vor sie, und einer nach dem anderen folgte, bis die ganze Prozession ein einziges Flammenbanner bildete, und dann erscholl aus Tausenden von Kehlen ein Ruf wie Donnerhall und schallte durch die Luft und ließ die Flammen der Fackeln flackern. Es war großartig, es war überwältigend! Sally Carrol kam das alles vor, als brächte der Norden der grauen heidnischen Gottheit des Schnees auf einem riesigen Altar ein Opfer dar. Endlich erstarb der Ruf, die Kapelle begann wieder zu spielen, es folgten weitere Gesänge und dann das lang anhaltende, widerhallende Jubelgeschrei der einzelnen Vereine. Reglos saß sie da und lauschte dem Staccato der Rufe, die die Luft zerfetzten; doch plötzlich zuckte sie zusammen, denn es gab eine Salve von Explosionen, und vereinzelt stiegen dicke Rauchwolken im Gewölbe auf – das Werk der Blitzlichtfotografen – und dann war das Konzilium vorbei. Die Kapelle an der Spitze, formierten die Vereine sich abermals zu einer langen Marschkolonne, nahmen ihre Gesänge wieder auf und verließen nach und nach das Gewölbe.
»Nun kommt!«, rief Harry. »Wir wollen doch noch runter und uns die Labyrinthe ansehen, eh sie das Licht ausmachen!«
Daraufhin standen alle auf und eilten hinüber zu der hinabführenden Schräge – vorneweg Harry und Sally Carrol, die sich mit ihrem kleinen Fäustling in seinem großen Pelzhandschuh verkroch. Unten war eine lange, leere Eishalle, in die ein halbes Dutzend Gänge mündete und deren Decke so niedrig war, dass sie gebückt gehen mussten – und einander loslassen. Ehe sie noch begriff, was er vorhatte, war Harry schon in einer der glitzernden Passagen verschwunden und war nur mehr als verschwommener, immer weiter sich entfernender Schemen vorm grünlich gleißenden Geflimmer zu erkennen.
»Harry!«, rief sie.
»Na los, komm mit!«, rief er zurück.
Sie sah sich in der leeren Halle um; die anderen hatten offenbar beschlossen, wieder heimzugehen, und tappten schon irgendwo da draußen im Schneegestöber herum. Sie zögerte, doch dann stürzte sie sich in den Gang und rannte hinter Harry her.
»Harry!«, rief sie wieder.
Zehn Meter weiter gelangte sie an einen Scheideweg; weiter vorn, zu ihrer Linken, hörte sie eine undeutliche Antwort und lief mit einem Anflug von Panik in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie geriet an eine weitere Gabelung, und wieder klafften vor ihr zwei Wege.
»Harry!«
Keine Antwort. Sie rannte los, einfach immer geradeaus, kehrte dann blitzschnell um und rannte, plötzlich von eiskaltem Entsetzen gepackt, denselben Weg zurück, den sie gekommen war.
Und wieder stand sie an einer Gabelung – war es hier gewesen? –, wandte sich nach links und kam zu einer Art Durchgang, der eigentlich wieder in diesen langen, niedrigen Raum hätte führen müssen, sich indes bloß als ein weiterer glitzernder Korridor erwies, der in die Finsternis mündete. Abermals rief sie nach Harry, doch von den Wänden kam nur ein stumpfes, totes Echo ohne Widerhall. Sie kehrte um, ging auf demselben Weg zurück, bog um eine andere Ecke und befand sich in einem breiten Korridor, ähnlich einer grünen Schneise durch die Wasser des Roten Meeres – ein nasskaltes Gewölbe, von dem überall leere Grüfte abzweigten.
Nun rutschte sie ein wenig aus im Laufen, denn an den Sohlen ihrer Überschuhe hatte sich eine Eisschicht gebildet; sie musste sich mit den Handschuhen an den halb glatten, halb klebrigen Wänden abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Harry!«
Noch immer keine Antwort. Stattdessen pflanzte sich ihr Ruf nur höhnisch bis zum Ende der Passage fort.
Dann gingen plötzlich, wie mit einem Schlage, alle Lichter aus, und um sie war vollkommene Finsternis. Vor Angst schrie sie auf und brach dann wie ein Häufchen Unglück auf dem Eis zusammen. Im Fallen spürte sie, dass irgendwas mit ihrem linken Knie geschah, doch sie beachtete es kaum, denn ein Entsetzen, viel, viel tiefer als die schlichte Angst vorm Sich-Verirren, ergriff von ihr Besitz. Sie war allein mit jenem Geist, der aus dem Norden kam, der tristen Einsamkeit, die ausging von den Walfängern im Packeis des Polarmeers, von Wüsteneien ohne Rauch und ohne Fährten, in denen, weit verstreut, die ausgeblichenen Gebeine der Abenteurer lagen. Es war der eisige Hauch des Todes, der auf sie zugekrochen kam, um sie zu packen.
Mit einer wilden, verzweifelten Kraftanstrengung stand sie wieder auf und tappte blindlings in die Finsternis. Sie musste unbedingt hinaus. Sonst würde sie womöglich tagelang hier drinnen durch die Gänge irren, bis sie erfroren wäre, und dann einfach liegen bleiben, wie manche Leichen, davon hatte sie gelesen, die man im Eis gefunden hatte – vollständig erhalten, bis der Gletscher schmolz. Harry dachte wahrscheinlich, sie sei mit den anderen nach draußen gegangen – er war unterdessen auch schon fort, und erst spät am nächsten Tag würde man wissen, was passiert war. Kleinmütig streckte sie die Hand aus nach der Wand. Einen Meter dick, hatten sie gesagt – einen Meter dick!
»Oh!«
Sally Carrol spürte etwas über die Wände kriechen, rechts und links von ihr, feuchtkalte Seelen, die spukten hier in diesem Eispalast, in dieser Stadt, im Norden überhaupt.
»Oh, mach, dass irgendjemand kommt – dass irgendjemand kommen möge!«, rief sie laut.
Clark Darrow – ja, der würde sie verstehen; oder auch Joe Ewing; die konnten sie doch nicht ewig so hier herumirren lassen – bis sie erfroren war am Herzen und an Leib und Seele. Dieses Geschöpf hier – diese Sally Carrol! Dabei war sie doch so ein Glückspilz. So ein glückliches kleines Mädchen. Sie liebte die Wärme, den Sommer und Dixie – den Süden. Das hier, das war ihr fremd – von Grund auf fremd.
»Du musst nicht weinen«, sagte etwas in ihr laut. »Du wirst nie wieder weinen. Deine Tränen würden ohnehin sofort gefrieren; alles gefriert hier sofort!«
Sie lag ausgestreckt auf dem Eis.
»Oh, Gott!«, stammelte sie.
In langer Reihe defilierten die Minuten vorbei, und Sally Carrol spürte, von ungeheurer Müdigkeit erfasst, wie ihr die Augen zufielen. Dann war es ihr, als sitze jemand neben ihr und nehme ihr Gesicht in seine warmen, weichen Hände. Sie blickte dankbar auf. »Ach, das ist ja Margery Lee«, murmelte sie leise vor sich hin. »Ich hab gewusst, du würdest kommen.« Es war tatsächlich Margery Lee, und sie war genau so, wie Sally Carrol sie sich immer vorgestellt hatte, mit junger, weißer Stirn, großen, freundlich-warmen Augen und einem Reifrock aus weichem Stoff, auf dem sich recht behaglich ruhen ließ.
»Margery Lee.«
Inzwischen wurde es immer dunkler und dunkler – all diese Grabsteine brauchten unbedingt einen neuen Anstrich, unbedingt – nur wären sie natürlich dann verhunzt. Trotzdem, man musste sie doch sehen können.
Und dann, nach einer Reihe von Momenten, die erst schnell und dann langsam vorübergingen, sich aber zu guter Letzt in eine unendliche Vielzahl von verschwommenen Strahlen aufzulösen schienen, aus denen sich eine blassgelbe Sonne formte, hörte sie ein mächtiges Knacken, das einbrach in die Ruhe, die sie gerade erst gefunden hatte.
Es war die Sonne, es war ein Licht; eine Fackel, und dahinter noch eine Fackel, und noch eine, und Stimmen; unter der Fackel nahm ein Gesicht Gestalt an, schwere Arme hoben sie hoch, und sie spürte etwas auf ihrer Wange – es fühlte sich nass an. Jemand hatte sie gepackt und rieb ihr das Gesicht mit Schnee ein. Wie lächerlich – mit Schnee!
»Sally Carrol! Sally Carrol!«
Das war der Gefährliche Dan McGrew; die beiden anderen Gesichter kannte sie nicht.
»Kind, Kind! Wir suchen Sie schon seit zwei Stunden! Harry ist schon halb wahnsinnig!«
Rasch kehrte alles wieder zurück an seinen Platz – das Singen, die Fackeln, der große Ruf der Chorvereine. Zuckend lag sie in Pattons Armen und weinte aus tiefstem Herzen.
»Oh, ich will hier raus! Ich will wieder nach Hause. Bringt mich nach Hause« – ihre Stimme schwoll zu einem Schrei, der Harry, der im Nebengang herbeigelaufen kam, das Herz gefrieren ließ. »Morgen!«, schrie sie im Fieberwahn mit zügelloser Leidenschaft. »Morgen! Morgen! Morgen!«
VI
Goldener Sonnenschein in Hülle und Fülle überschüttete das Haus, das den lieben langen Tag auf ein Stück staubige Straße blickte, mit einer Hitze, die zwar kaum noch zu ertragen war, aber trotz allem etwas merkwürdig Trostspendendes hatte. An einem kühlen Plätzchen im Geäst eines Baumes auf dem Nachbargrundstück machten zwei Vögel einen Heidenspektakel, und ein Stück weiter die Straße hinunter verkündete mit melodiösem Singsang eine schwarze Frau, sie habe Erdbeeren zu verkaufen. Es war ein Nachmittag im April.
Sally Carrol Happer, das Kinn auf ihren Arm gestützt, den Arm hinwiederum auf eine alte Fensterbank, guckte verschlafen durch den flirrenden Staub, aus dem zum ersten Mal in diesem Frühjahr die Hitze wellenförmig aufstieg, hinunter auf die Straße. Sie beobachtete mit Interesse, wie ein sehr alter Ford gefährlich knatternd und ächzend um die Kurve bog und unmittelbar vor ihrer Hofmauer mit einem Ruck zum Stehen kam. Sie machte keinen Mucks, und im nächsten Augenblick zerfetzte ein gellender, ihr wohlvertrauter Pfiff die Luft. Sally Carrol zwinkerte lächelnd.
»Guuun Moooooogn.«
Unten reckte sich ein Kopf schildkrötenartig unterm Autodach hervor.
»Issa gaanüsch Moooogn.«
»Ach neee, wüüüürklich?!«, rief sie mit gespielter Überraschung. »Na ja, kannst recht ham.«
»Machst ’n grade?«
»Ess ’n gritzegrüünen Fürsich. Wer’ bestümmt glei’ stääärm.«
Clarke verrenkte sich noch eine letzte, kaum mehr menschenmögliche Umdrehung weiter, damit er ihr Gesicht sehen konnte.
»Wasser is warm wie ’n Dampfkessel – haste nich Lust zum Baden?«
»Igitt, Bewegung, ich hasse Bewegung«, seufzte Sally Carrol träge. »Na gut, ich glaub schon.«