Eher geht ein Kamel…
I
Der müde Blick des erschöpften Lesers, der kurz auf obigem Titel verweilt, wird diesen rein metaphorisch verstehen wollen. Geschichten über Lipp und Kelchesrand, falsche Fuffziger und neue Besen handeln in der Regel nicht von Kelchen, Geld oder Besen. Diese Geschichte ist eine Ausnahme. Sie handelt von einem echten, sichtbaren und lebensgroßen Kamel.
Wir wollen uns vom Hals zum Schwanz vorarbeiten. Ich möchte Ihnen Mr. Perry Parkhurst vorstellen, achtundzwanzig Jahre alt, Anwalt, Bürger von Toledo. Perry hat schöne Zähne, ein Harvard-Diplom und einen Mittelscheitel. Sie sind ihm schon begegnet, in Cleveland, Portland, St. Paul, Indianapolis, Kansas City und so weiter. Baker Brothers, New York, machen auf ihrer halbjährlichen Reise in den Westen halt, um ihn einzukleiden; Montmorency & Co. schicken alle drei Monate auf schnellstem Weg einen jungen Mann, der zu kontrollieren hat, ob seine Schuhe die richtige Anzahl kleiner Löcher aufweisen. Inzwischen besitzt er einen einheimischen Sportwagen, und wenn er lange genug lebt, wird er eines Tages einen französischen Sportwagen besitzen und zweifellos auch einen chinesischen Panzer, falls dergleichen je in Mode kommen sollte. Er sieht aus wie der junge Mann in der Reklame, der seine sonnenuntergangfarbene Brust eincremt, und jedes zweite Jahr fährt er in den Osten zum Klassentreffen.
Ich möchte Ihnen seine Angebetete vorstellen. Sie heißt Betty Medill, und sie würde sich gut auf der Leinwand machen. Ihr Vater gibt ihr dreihundert Dollar im Monat für Kleider, sie hat hellbraune Augen und Haare und Federfächer in fünf verschiedenen Farben. Ich möchten Ihnen auch ihren Vater vorstellen, Cyrus Medill. Obwohl er allem Anschein nach aus Fleisch und Blut besteht, gilt er in Toledo, so merkwürdig dies klingen mag, als der Aluminiummann. Wenn er allerdings in Gesellschaft von zwei oder drei Eisenmännern und dem Kiefernholzmann und dem Messingmann am Fenster seines Clubs sitzt, sehen sie allesamt weitgehend so aus wie Sie und ich, nur etwas mehr, falls Sie verstehen, was ich meine.
Während der Weihnachtsfeiertage des Jahres 1919 fanden in Toledo – und wir beschränken uns auf Gastgeber, deren Lettern in Großbuchstaben geschrieben werden – einundvierzig Abendessen, sechzehn Tanzabende, sechs Lunchpartys für Herren beziehungsweise Damen, zwölf Teegesellschaften, vier Herrenabende, zwei Hochzeiten und dreizehn Bridgeabende statt. Der geballte Effekt all dieser Veranstaltungen bewegte Perry Parkhurst am 29. Dezember zu einem Entschluss.
Die junge Medill wollte ihn zum einen heiraten und dann doch wieder nicht. Sie amüsierte sich so prächtig, dass sie keine Lust hatte, einen dermaßen endgültigen Schritt zu tun. Unterdessen währte ihre heimliche Verlobung schon so lange, dass es durchaus vorstellbar war, dass sie eines schönen Tages unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen würde. Ein kleiner Mann namens Warburton, der in alles eingeweiht war, überredete Perry dazu, sie zu überrumpeln, sich eine Heiratslizenz zu besorgen, zum Haus der Medills zu gehen und sie vor die Wahl zu stellen, ihn auf der Stelle zu heiraten oder die Sache ein für alle Mal zu beenden. Und so kam es, dass er sich mit Herz, Lizenz und Ultimatum bei ihr einfand, und keine fünf Minuten später war ein heftiger Streit zwischen ihnen entbrannt, ein überraschender offener Kampf, wie sie gegen Ende aller langen Kriege und Verlobungen aufzutreten pflegen. Er löste einen jener gespenstischen Momente aus, in denen zwei Verliebte jäh innehalten, einander kühl beäugen und sich fragen, ob nicht alles ein Missverständnis war. Danach tauschen sie für gewöhnlich herzhafte Küsse und versichern einander, dass die Schuld bei einem selbst liege. Sag mir, dass alles meine Schuld war! Sag es! Ich will hören, dass du es sagst!
Doch während die Versöhnung schon in der Luft lag, während beide sie noch ein wenig hinauszögerten, damit sie umso wollüstiger und gefühlsseliger in ihr schwelgen konnten, wenn es so weit war, machte ihnen der zwanzig Minuten währende Telefonanruf einer geschwätzigen Tante Bettys einen Strich durch die Rechnung. Angestachelt durch Stolz, Misstrauen und verletzte Würde zog Perry Parkhurst nach achtzehn Minuten seinen Pelzmantel an, nahm seinen hellbraunen weichen Hut und stolzierte zur Tür hinaus.
»Es ist vorbei, aus und vorbei«, murmelte er kummervoll, während er den ersten Gang einzulegen versuchte. »Aus und vorbei – und wenn du eine Stunde lang herumwürgst, du Miststück!« Letzteres an die Adresse des Wagens gerichtet, der eine Weile in der Kälte gestanden hatte und nicht sofort ansprang.
Er fuhr in die Stadt, anders gesagt: Er geriet auf eine glatte Schneespur, die ihn in die Stadt beförderte. Er hockte zusammengesunken auf seinem Sitz und war viel zu niedergeschlagen, um sich darum zu scheren, wohin er fuhr.
Vor dem Clarendon Hotel rief ein übles Subjekt namens Baily vom Gehsteig aus seinen Namen, ein Mann mit großen Zähnen, der im Hotel wohnte und noch nie verliebt gewesen war.
»Perry«, sagte das üble Subjekt einschmeichelnd, als der Sportwagen neben ihm anhielt, »ich habe sechs Liter des gottverdammtesten stillen Champagners, den Sie je zu trinken bekommen haben. Ein Drittel davon gehört Ihnen, Perry, wenn Sie mit hinaufkommen und Martin Macy und mir helfen, ihn zu vernichten.«
»Baily«, sagte Perry mit zusammengebissenen Zähnen, »ich trinke Ihren Champagner, und zwar bis auf den letzten Tropfen. Selbst wenn es mich umbringt.«
»Reden Sie keinen Quatsch!«, sagte das üble Subjekt liebenswürdig. »Champagner wird nicht mit Methylalkohol gebraut. Das ist der Wein, der beweist, dass die Welt seit mehr als sechstausend Jahren besteht. Er ist so alt, dass die Korken versteinert sind. Man muss sie mit einem Steinbohrer herausholen.«
»Nehmen Sie mich mit hinauf«, sagte Perry schwermütig. »Wenn diese Korken mein Herz sehen, rutschen sie vor Verlegenheit von allein aus den Flaschenhälsen.«
Das Hotelzimmer war freigebig mit den unschuldigen Hotelbildern dekoriert, auf denen kleine Mädchen in Äpfel beißen und auf Schaukeln sitzen und Hunden gut zureden. Als zusätzliche Dekoration gab es Krawatten und einen rosighäutigen Mann, der eine rosa Zeitschrift las, die sich mit Damen in rosa Strumpfhosen befasste.
»Die Ernte ist groß, der Arbeiter aber sind wenige«, sagte der rosige Mann und sah Baily und Perry vorwurfsvoll an.
»Hallo, Martin Macy«, sagte Perry ohne viel Umstände. »Wo ist der Champagner aus der Steinzeit?«
»Warum so eilig? Das ist keine militärische Operation, verstanden? Das ist eine Party.«
Perry setzte sich missmutig und bedachte die vielen Krawatten mit einem tadelnden Blick.
Baily öffnete langsam die Tür eines Kleiderschranks und förderte sechs ansehnliche Flaschen zutage.
»Ziehen Sie den verdammten Pelzmantel aus!«, sagte Martin Macy zu Perry. »Oder wollen Sie, dass wir die Fenster aufreißen?«
»Ich will Champagner«, sagte Perry.
»Heute für den Zirkusball der Townsends verabredet?«
»Nee!«
»Eingeladen?«
»Hmm.«
»Und warum dann nicht hingehen?«
»Ach, ich kann keine Partys mehr sehen«, rief Perry. »Ich kann sie nicht mehr ertragen. Ich war auf so vielen Partys, dass sie mir zum Hals raushängen.«
»Gehen Sie vielleicht zur Party von Howard Tate?«
»Nein, ich hab doch gesagt, dass ich sie alle leid bin.«
»Nun ja«, sagte Macy beruhigend, »die Tate-Party ist sowieso nur für Collegekinder.«
»Ich sagte doch –«
»Ich dachte, Sie wären auf dem Weg zu irgendeiner Party. In der Zeitung habe ich gelesen, dass Sie bisher keine Weihnachtseinladung ausgelassen haben.«
»Hm«, grunzte Perry missmutig.
Nie wieder würde er eine Party besuchen. Klassische Worte gingen ihm durch den Kopf – dieser Teil des Lebens war abgeschlossen, abgeschlossen. Sobald ein Mann diese Worte in diesem Ton sagt, kann man sich fast immer darauf verlassen, dass er von einer Frau an der Nase herumgeführt wurde, wenn man es so ausdrücken darf. Und auch einen weiteren klassischen Gedanken dachte Perry, den Gedanken, wie feige Selbstmord doch war. Ein edler Gedanke, wärmend und erbaulich. Wenn man bedachte, wie viele edle Männer verloren wären, wenn Selbstmord nicht so feige wäre!
Eine Stunde später war es sechs Uhr abends, und Perry hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann aus der Reklame. Er sah aus wie die flüchtige Skizze für eine zügellose Karikatur. Sie sangen ein Lied, das Baily aus dem Stegreif gedichtet hatte:
»Ein Mann mit Namen Perry, der Löwe der Salons,
Trinkt seinen Tee bekanntlich mit größter Elegance,
Er spielt mit seiner Tasse,
Doch Lärm, den macht er nie,
Dann hält er sie gelassen und friedlich auf dem Knie –«
»Problem iss nur«, sagte Perry, der sich mit Bailys Kamm die Haare in die Stirn gekämmt hatte und sich eine orangerote Krawatte um den Kopf band, um wie Julius Cäsar auszusehen, »dass ihr Brüder einfach nich sing könnt. Sobald ich Tenor sing, singt ihr auch Tenor.«
»Bin Tenor von Natur aus«, sagte Macy gewichtig. »Stimme iss blossnich ausgebildet. Aber Naturtalent, hat meine Tante immer gesagt. Zum Sing geborn.«
»Sänger, Sänger, lauter gute Sänger«, sagte Baily am Telefon. »Nein, nein, nix da Varieté! Will ’n Nachtgrog, äh, ’n gottverdammten Nachtservice – was zu essen! Ich will –«
»Julius Cäsar«, verkündete Perry, der sich vom Spiegel abwendete. »Eisernerwille und Unbeugsameschlosneit.«
»Ruhe!«, rief Baily. »Mr. Baily am Apparat. Riesiges Abendessen raufschicken. Entscheidense selbst. Aber pronto.«
Nicht ohne Schwierigkeiten bugsierte er den Hörer zurück auf die Gabel; dann ging er mit zusammengepressten Lippen und einem Ausdruck finsterer Entschlossenheit in den Augen zu seiner Kommode und riss die untere Schublade auf.
»Aufgepasst!«, befahl er. In Händen hielt er ein abgeschnittenes Kleidungsstück aus rosa Baumwolle.
»Hose«, sagte er feierlich. »Aufgepasst!«
Es folgten eine rosa Bluse, eine rote Krawatte und ein Tellerkragen.
»Aufgepasst!«, wiederholte er. »Kostüm fürn Zirkusball bein Townsends. Ich bin nämlich der kleine Junge, der den Elefanten Wasser bringt.«
Perry war unwillkürlich beeindruckt.
»Ich geh als Julius Cäsar«, erklärte er nach kurzem Nachdenken.
»Dachte, Sie gingen nicht hin!«, sagte Macy.
»Ich? Klar geh ich. Geh auf jede Party. Gut für die Nerven – wie Sellerie.«
»Cäsar!«, schnaufte Baily verächtlich. »Cäsar geht nicht. Hat nix mit Zirkus zu tun. Iss Shakespeare. Gehense als Clown.«
Perry schüttelte den Kopf.
»Nee; Cäsar.«
»Cäsar?«
»Klar. Streitwagen.«
Baily begann zu verstehen.
»Ach so. Gute Idee.«
Perry sah sich suchend um.
»Sie leihn mir ’n Bademantel und ’ne Krawatte«, sagte er dann.
Baily überlegte.
»Blödsinn.«
»Doch, mehr brauchich nich. Cäsar war ’n Wilder. Die könnmich nich rauswerfen, wenn ich als Cäsar komm, wenn Cäsar ’n Wilder war.«
»Nein«, sagte Baily und schüttelte bedächtig den Kopf. »Besorgense sich ’n Kostüm im Kostümverleih. Bei Nolak.«
»Hat zu.«
»Wollnwer doch mal sehn.«
Nach irritierenden fünf Minuten am Telefon konnte eine müde Fistelstimme Perry davon überzeugen, dass Mr. Nolak am Apparat war und dass sein Kostümverleih wegen des Balls der Townsends bis um acht Uhr geöffnet hatte. Solchermaßen beruhigt aß Perry eine gewaltige Menge Filet Mignon und trank sein Drittel der letzten Flasche Champagner. Um Viertel nach acht sah der Mann mit dem Zylinderhut, der vor dem Clarendon stand, wie Perry seinen Sportwagen zu starten versuchte.
»Vereist«, sagte Perry einsichtig. »Liegt an der Kälte. Kalte Luft.«
»Vereist, was?«
»Ja. Von der kalten Luft.«
»Springt nicht an?«
»So isses. Lass ihn hier bis zum Sommer. Im August taut er sicher auf, wenn’s erst richtig heiß iss.«
»Er soll hier stehen bleiben?«
»Klar. Soll stehn bleim. Wer den stehln will, braucht heiße Hände. Rufense Taxi.«
Der Mann mit dem Zylinder winkte ein Taxi heran.
»Wohin, Mister?«
»Fahrnse zu Nolak, dem Kostümfritzen.«
II
Mrs. Nolak war klein und wirkte verschüchtert; nach dem Ende des Weltkriegs war sie eine Zeitlang Angehörige einer der neuen Nationen gewesen, doch die unsicheren Zustände in Europa hatten es mit sich gebracht, dass sie seither nie mehr rechte Gewissheit über ihre Nationalität hatte erlangen können. Der Laden, in dem sie und ihr Ehemann ihrer täglichen Arbeit nachgingen, war dunkel und gespenstisch, bevölkert mit Ritterrüstungen und chinesischen Mandarinen und riesengroßen Vögeln aus Pappmaché, die von der Decke hingen. Aus einem schummerigen Hintergrund glotzten Reihen von Masken den Besucher augenlos an, und es gab Glaskästen voller Kronen und Szepter und Juwelen und gewaltiger Mieder und Theaterschminke und Haarkrepp und Perücken in allen Farben.
Als Perry in den Laden geschlendert kam, sperrte Mrs. Nolan gerade die letzten Mühen eines anstrengenden Tages in einer Schublade voller rosa Seidenstrümpfe weg, wie sie glaubte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie pessimistisch.
»Kostüm von Julius Hur, dem Wagenlenker.«
Mrs. Nolak bedauerte, aber jeder Fingerbreit Wagenlenker sei schon lange verliehen. Für den Zirkusball der Townsends?
Richtig.
»Bedaure«, sagte sie, »aber ich fürchte, es ist nichts mehr da, was wirklich zum Zirkus gehört.«
Das war ein Problem.
»Hm«, sagte Perry. Dann hatte er plötzlich eine Idee. »Wennse ’n Stück Segeltuch haben, kann ich als Zelt gehn.«
»Bedaure, aber so was führen wir nicht. Das müssten Sie sich in einem Haushaltswarengeschäft besorgen. Wir haben ein paar sehr hübsche Konföderierte.«
»Nee. Keine Soldaten.«
»Ich hätte auch einen sehr schönen König.«
Perry schüttelte den Kopf.
»Einige der Gentlemen«, fuhr sie hoffnungsvoll fort, »gehen als Zirkusdirektor mit Zylinderhut und Frack, aber unsere Zylinder sind aus. Ich könnte Ihnen etwas Haarkrepp für einen Schnurrbart geben.«
»Will was Besonderes.«
»Etwas – lassen Sie mich überlegen. Nun ja, wir hätten einen Löwenkopf, eine Gans und ein Kamel –«
»Kamel?« Der Gedanke ergriff von Perrys Phantasie Besitz und ließ sie nicht mehr los.
»Ja, aber dafür braucht man zwei Leute.«
»Kamel. Das isses. Zeigenses mir.«
Das Kamel wurde von seinem Ruhelager auf einem der oberen Regalböden geholt. Auf den ersten Blick schien es fast nur aus einem sehr eingefallenen, kadaverfarbenen Kopf und einem mächtigen Höcker zu bestehen, doch ausgebreitet wies es zudem ein dunkelbraunes, unappetitlich aussehendes Fell aus dickem Baumwollstoff auf.
»Sie sehen, dafür braucht man zwei Leute«, erklärte Mrs. Nolak, die Perry das Kamel mit ungeheuchelter Bewunderung entgegenhielt. »Wenn Sie einen Freund hätten, könnte er mitmachen. Sehen Sie, die Beine sind sozusagen Hosen für zwei Personen. Ein Paar für den Vordermann, ein Paar für den Hintermann. Der Vordermann besorgt das Sehen durch diese Augen hier, und der Hintermann muss sich bloß bücken und hinter dem Vordermann hergehen.«
»Ziehnses an«, befahl Perry.
Gehorsam steckte Mrs. Nolak ihr Katzengesicht in den Kopf des Kamels und schüttelte ihn wild hin und her.
Perry war fasziniert.
»Was für Geräusche macht so ’n Kamel?«
»Was?«, fragte Mrs. Nolak, deren Gesicht wieder auftauchte und etwas verschmiert aussah. »Ach, was für Geräusche? Na ja, so eine Art Eselsgeschrei.«
»Ich seh’s mir im Spiegel an.«
Vor einem großen Spiegel setzte Perry sich den Kopf auf und drehte und wendete ihn zufrieden. In der funzeligen Beleuchtung war die Wirkung tadellos. Das Gesicht des Kamels war eine wahre Studie in Pessimismus, verziert mit zahlreichen Abschürfungen, und es war nicht zu leugnen, dass sein Fell sich in dem für Kamele typischen Zustand der Verwahrlosung befand – tatsächlich gehörte es dringend gereinigt und gebügelt –, doch eindrucksvoll war es ohne jede Frage. Es war majestätisch. Es hätte in jeder Gesellschaft Aufmerksamkeit erregt, allein durch die melancholische Ausstrahlung seiner Miene und den hungrigen Ausdruck, der seine schattigen Augen umringte.
»Sie sehen, dass man dafür zwei Leute braucht«, wiederholte Mrs. Nolak.
Perry hob versuchsweise Körper und Beine des Kostüms an und wickelte sie sich um den Leib, wobei er die Hinterbeine als Gürtel benutzte. Das Ergebnis war nicht befriedigend. Es war geradezu respektlos – ähnlich wie die mittelalterlichen Bilder, auf denen Satan durch seine Dienste einen Mönch in ein Untier verwandelt. Günstigstenfalls erinnerte das Ganze an eine Kuh mit Buckel, die inmitten von Decken auf den Hinterbeinen saß.
»Iss nich so überzeugend«, resümierte Perry finster.
»Nein«, sagte Mrs. Nolak. »Jetzt sehen Sie selbst, dass man zwei Leute dafür braucht.«
Blitzartig kam Perry eine Lösung in den Sinn.
»Sind Sie heute Abend schon verabredet?«
»Oh, ich könnte auf keinen Fall –«
»Ach, kommense«, sagte Perry aufmunternd. »Klar könnense! Hier! Seinse kein Spielverderber und kletternse in die Hinterbeine.«
Nicht ohne Schwierigkeiten fand er sie und hielt ihre gähnende Tiefe Mrs. Nolak einladend entgegen. Doch sie wirkte nicht sonderlich begeistert. Störrisch wich sie zurück.
»O nein –«
»Ach, kommense schon! Wennse wolln, dürfense die Vorderbeine nehmen. Oder wir losen.«
»O nein –«
»Sie werns nich bereun.«
Mrs. Nolak presste entschlossen die Lippen aufeinander.
»Schluss jetzt damit!«, sagte sie unverblümt. »So hat sich noch keiner der Gentlemen aufgeführt. Mein Mann –«
»Sie haben ’n Mann?«, fragte Perry. »Wo steckt er?«
»Zu Hause.«
»Wie’s die Telefonnummer?«
Nach umständlichem Hin und Her erlangte er die Nummer der Laren und Penaten des Nolak’schen Hausstandes und nahm Verbindung auf zu der müden Fistelstimme, die er schon früher an diesem Tag vernommen hatte. Mr. Nolak war von Perrys brillanter Beredsamkeit zwar überrumpelt und nicht wenig verwirrt, doch er blieb unverrückbar standhaft. Er weigerte sich rundheraus und durchaus würdevoll, Mr. Perry aus der Verlegenheit zu helfen, indem er die Rolle des Kamelhinterteils übernahm.
Nachdem er oder vielmehr Mr. Nolak aufgelegt hatte, setzte Perry sich auf einen dreibeinigen Hocker und überlegte. Er sagte sich die Namen jener Freunde auf, die er anrufen konnte, und dann hielten seine Gedanken inne, als Betty Medills Name sich undeutlich und trauerumflort in seinem Geist einstellte. Ein sentimentaler Einfall kam ihm. Er würde sie fragen. Ihre Liebschaft gehörte der Vergangenheit an, doch diese letzte Bitte konnte sie ihm nicht abschlagen. Es war weiß Gott nicht viel, was er verlangte; sie sollte ihm lediglich einen kurzen Abend lang helfen, seinen sozialen Verpflichtungen nachzukommen. Und wenn sie unbedingt darauf bestand, durfte sie das Vorderteil des Kamels abgeben, und er würde sich mit dem Hinterteil begnügen. Seine Großmut rührte ihn. In Gedanken malte er sich bereits rosenfarbene Träume von zarten Versöhnungsszenen im Inneren des Kamels aus, wo sie vor den Augen der Welt verborgen wären…
»Sie entscheiden sich besser langsam.«
Mrs. Nolaks spießbürgerliche Stimme riss ihn aus seinen süßen Träumen und spornte ihn zum Handeln an. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Medills. Miss Betty war ausgegangen; zum Abendessen ausgegangen.
Und da, als die Lage aussichtslos erschien, wanderte kurioserweise das Hinterteil des Kamels von ganz allein in den Laden. Es handelte sich um ein schäbiges Individuum mit einem Schnupfen, das generell den Eindruck eines Abwärtstrends vermittelte. Es hatte sich die Mütze tief über Augen und Ohren gezogen und hielt das Kinn tief auf die Brust gesenkt, der Mantel hing ihm auf die Schuhe, und es sah heruntergekommen und abgerissen aus, ja – Heilsarmee hin, Heilsarmee her – verwahrlost. Es gab sich als Fahrer des Taxis zu erkennen, das der Gentleman vor dem Clarendon Hotel angehalten hatte. Ihm war aufgetragen worden, draußen zu warten, doch es hatte eine ganze Weile gewartet und zu argwöhnen begonnen, der Gentleman habe möglicherweise den Hinterausgang gewählt, um sich vor der Bezahlung zu drücken – was Gentlemen ab und zu taten –, und deshalb war es hereingekommen. Es ließ sich auf den dreibeinigen Hocker sinken.
»Hättense Lust auf ’ne Party?«, fragte Perry streng.
»Muss arbeiten«, antwortete der Taxifahrer missmutig. »Will meinen Job nicht verlieren.«
»Iss ’ne prima Party.«
»Ist auch ein prima Job.«
»Kommense!«, drängte Perry. »Seinse kein Spielverderber. Sehense nur, wie hübsch!« Er hielt das Kamel hoch, und der Taxifahrer betrachtete es zynisch.
»Ha!«
Perry suchte fieberhaft in den Falten des Kostüms.
»Sehense nur!«, rief er begeistert und hielt einen Arm voller Falten hoch. »Das iss Ihr Teil. Sie müssen nich mal reden, sondern nur gehn – und ab und zu sitzen. Sitzen dürfen nämlich nur Sie allein. Das müssense mal bedenken. Ich muss die ganze Zeit stehn, während Sie ab und zu sitzen können. Ich kann nur sitzen, wenn wir uns hinlegen, aber Sie sitzen – na ja, soviel Sie wollen. Verstehense?«
»Was ist das für ein Ding?«, fragte das Individuum misstrauisch. »Ein Leichentuch?«
»Nich im Entferntesten«, sagte Perry empört. »Das iss ’n Kamel.«
»Häh?«
Nun brachte Perry einen Geldbetrag ins Spiel, und die Unterhaltung verließ den Bereich der Grunzlaute und nahm einen praktischen Charakter an. Perry und der Taxifahrer probierten das Kamel vor dem Spiegel an.
»Sie können’s zwar nich sehn«, erklärte Perry, der aufgeregt durch die Augenlöcher spähte, »aber Ehrenwort, alter Freund, Sie sehn einfach umwerfend aus! Umwerfend!«
Als Antwort auf dieses etwas fragwürdige Kompliment ertönte aus dem Hinterteil des Kamels ein Grunzlaut.
»Ehrenwort, Sie sehn umwerfend aus!«, wiederholte Perry voller Begeisterung. »Gehense mal ’n paar Schritte.«
Die Hinterbeine bewegten sich vorwärts, so dass es aussah, als setzte ein riesiges Katzenkamel mit gekrümmtem Rücken zum Sprung an.
»Nein, gehense zur Seite.«
Die Hüften des Kamels schoben sich geschmeidig auseinander; jeder Hulatänzer hätte sich vor Neid gewunden.
»Großartig, was?«, sagte Perry beifallheischend zu Mrs. Nolak.
»Sieht wundervoll aus«, pflichtete Mrs. Nolak ihm bei.
»Wir nehmen es«, sagte Perry.
Das Bündel wurde unter Perrys Arm verstaut, und die beiden verließen den Laden.
»Fahrnse zu der Party!«, befahl Perry, der im Fond des Wagens Platz nahm.
»Welche Party?«
»Kostümball.«
»Und wo ist das?«
Das stellte Perry vor ein neues Problem. Er versuchte sich zu erinnern, doch die Namen aller Familien, die während der Feiertage Partys gegeben hatten, tanzten verwirrend vor seinen Augen. Er konnte Mrs. Nolak fragen, doch als er aus dem Wagenfenster blickte, sah er, dass im Laden kein Licht mehr brannte. Mrs. Nolak war bereits entschwunden, ein kleiner dunkler Fleck am Ende der verschneiten Straße.
»Fahrnse stadtauswärts«, dirigierte Perry den Fahrer mit nobler Zuversicht. »Wennse ’ne Party sehn, haltense an. Und sonst sag ich Ihnen Bescheid, wenn wir da sind.«
Er verfiel in einen verschwommenen Tagtraum, und seine Gedanken wanderten wieder zu Betty – undeutlich kam es ihm vor, als hätten sie eine Auseinandersetzung gehabt, weil Betty sich geweigert hatte, als Hinterteil des Kamels auf die Party zu gehen. Gerade war er im Begriff, in einen kühlen Schlummer zu geraten, als der Taxifahrer ihn dadurch weckte, dass er die Wagentür aufriss und ihn am Arm schüttelte.
»Vielleicht ist es das hier.«
Perry blickte schläfrig hinaus. Eine gestreifte Markise führte vom Gehsteig zu einem ausladenden grauen Steingebäude, aus dem das leise, schlagzeuggesättigte Klagen teurer Jazzmusik ertönte. Er erkannte das Haus der Familie Howard Tate.
»Sicher«, sagte er voller Überzeugung, »das isses! Die Party der Tates heute Abend. Klar, da gehn alle hin.«
»Hören Sie«, sagte das Individuum besorgt, nachdem es einen Blick auf die Markise geworfen hatte, »sind Sie sicher, dass die Leute nicht auf mir rumtrampeln, wenn sie mich hier erwischen?«
Perry richtete sich würdevoll auf.
»Wenn Ihnen jemand frech kommt, brauchen Sie ihm nur zu sagen, dass Sie zu meinem Kostüm gehören.«
Die Vorstellung, eher ein Gegenstand als eine Person zu sein, schien das Individuum zu beruhigen.
»In Ordnung«, sagte es zögerlich.
Perry stieg aus und begann im Schutz der Markise das Kamel zu entfalten. »Auf geht’s«, befahl er.
Minuten später hätte man sehen können, wie ein melancholisches, hungrig aussehendes Kamel, dessen Maul und edler Höcker Rauchwolken absonderten, die Schwelle des Wohnsitzes der Familie Howard Tate überschritt, an einem Diener vorbeistapfte, dessen Verblüffung es nicht einmal mit einem Grunzen quittierte, und schnurstracks auf die Haupttreppe zusteuerte, die zum Ballsaal führte. Das Tier bewegte sich mit einer besonderen Gangart, die zwischen unstetem Gleichschritt und wildem Drauflosrennen schwankte und am ehesten als Hinken bezeichnet werden konnte. Das Kamel hatte einen leicht torkelnden Gang, und dabei zog es sich abwechselnd zusammen und dehnte sich aus, als wäre es eine riesige Ziehharmonika.
III
Die Familie Howard Tate gehört, wie jedermann in Toledo weiß, zu den ehrfurchtgebietendsten Leuten der Stadt. Mrs. Howard Tate war eine Todd aus Chicago, bevor sie eine Tate aus Toledo wurde, und die Familie gibt sich im Großen und Ganzen mit jener bewussten Schlichtheit, die zum Markenzeichen amerikanischer Aristokratie geworden ist. Die Tates haben das Stadium erreicht, in dem sie über Schweine und Farmen sprechen und den Zuhörer, der dies nicht zu goutieren weiß, mit einem eisigen Blick bedenken. Als Dinnergäste sind ihnen Vasallen inzwischen lieber als Freunde, sie geben eine Menge Geld auf unspektakuläre Weise aus und stehen im Begriff, ziemlich langweilig zu werden, da jeder Sinn für Konkurrenz ihnen abhandengekommen ist.
Die Tanzveranstaltung an besagtem Abend wurde für die kleine Millicent Tate gegeben, und obwohl alle Altersklassen vertreten waren, stammten die Tänzer hauptsächlich aus der Schule und vom College, während die jüngeren Ehepaare sich auf dem Zirkusball der Townsends im Tallyho Club befanden. Mrs. Tate stand neben der Tür des Ballsaals, ließ Millicent nicht aus den Augen und strahlte, wenn ihre Blicke sich begegneten. Neben ihr standen zwei Speichelleckerinnen mittleren Alters, die sagten, was für ein rundum bezauberndes Kind Millicent doch sei. In diesem Augenblick zerrte jemand an Mrs. Tates Rock, und Emily, ihre jüngste, elfjährige Tochter, warf sich mit einem lauten »Iih!« der Mutter in die Arme.
»Emily, was ist denn passiert?«
»Mama«, sagte Emily, der es trotz ihrer weit aufgerissenen Augen nicht die Sprache verschlagen hatte, »draußen auf der Treppe ist etwas.«
»Wie?«
»Draußen auf der Treppe ist so ein Ding, Mama. Ich glaube, es ist ein großer Hund, Mama, aber es sieht nicht wie ein Hund aus.«
»Was willst du damit sagen, Emily?«
Die Speichelleckerinnen wackelten mitfühlend mit dem Kopf.
»Mama, es sieht aus wie – wie ein Kamel.«
Mrs. Tate lachte.
»Schätzchen, du hast einen dummen alten Schatten gesehen, weiter nichts.«
»Nein, so war es nicht. Ein Ding, Mama, riesengroß. Ich war gerade auf dem Weg nach unten, weil ich nachsehen wollte, ob noch Leute kommen, und da kam dieser Hund oder was auch immer die Treppe herauf. Irgendwie komisch, Mama, als wäre es lahm. Und dann hat es mich gesehen und hat irgendwie geknurrt, und auf dem Treppenabsatz ist es ausgerutscht, und ich bin weggelaufen.«
Mrs. Tate lachte nicht mehr.
»Irgendetwas muss das Kind gesehen haben«, sagte sie.
Die Speichelleckerinnen stimmten ihr zu, dass das Kind irgendetwas gesehen haben müsse – und schnell traten alle drei Frauen instinktiv einen Schritt von der Tür weg, als draußen vor dem Zimmer gedämpfte Schritte vernehmbar wurden.
Dann ertönten drei unterdrückte Aufschreie, als eine dunkelbraune Gestalt um die Ecke kam und sie etwas erblickten, was offenbar ein riesiges Tier war, das sie mit hungrigem Blick betrachtete.
»Huch!«, rief Mrs. Tate.
»Ooh!«, riefen die Damen im Chor.
Das Kamel buckelte seinen Rücken unversehens zu einem Höcker, und aus den unterdrückten Schreien wurden laute Schreie.
»Oh, sehen Sie nur!«
»Was ist das?«
Der Tanz wurde unterbrochen, aber die Tänzer, die herbeigelaufen kamen, gewannen einen völlig anderen Eindruck von dem Eindringling; in der Tat vermuteten die jungen Leute sofort, dass es sich um eine Inszenierung handelte, einen Komiker, der bestellt worden war, um die Gäste zu amüsieren. Die Jungen in langen Hosen betrachteten das Kamel ziemlich geringschätzig und schlenderten mit den Händen in den Hosentaschen herbei in dem undeutlichen Gefühl, für dumm verkauft zu werden. Die Mädchen hingegen quietschten vor Begeisterung.
»Ein Kamel!«
»Sieht das nicht komisch aus!«
Das Kamel stand unschlüssig da, schwankte leicht hin und her und schien den Raum mit einem vorsichtigen Blick zu taxieren; als wäre es plötzlich zu einem Entschluss gelangt, drehte es sich dann um und zockelte eilig zur Tür hinaus.
Mr. Howard Tate war gerade aus der Bibliothek im Erdgeschoss gekommen und unterhielt sich im Eingangsraum mit einem jungen Mann. Plötzlich hörten sie von oben Rufe und fast gleichzeitig eine Abfolge dumpfer Erschütterungen, gefolgt vom überstürzten Auftauchen eines großen braunen Tiers am Fuß der Treppe, eines Tiers, das in Eile zu sein schien.
»Mich laust der Affe!«, sagte Mr. Tate verblüfft.
Das Tier richtete sich nicht ohne Würde auf, und mit gespielter Nonchalance, als hätte es sich gerade an eine wichtige Verabredung erinnert, machte es sich ungleichmäßigen Schritts zur Eingangstür auf. Die zwei Vorderbeine begannen unauffällig zu rennen.
»Hiergeblieben!«, sagte Mr. Tate streng. »Halt! Butterfield, packen Sie es am Schlafittchen! Halten Sie es fest!«
Der junge Mann schlang seine Arme bezwingend um das Hinterteil des Kamels, und als das Vorderteil merkte, dass jede weitere Bewegung aussichtslos war, fügte es sich in die Gefangenschaft und verharrte resigniert an Ort und Stelle, wenn auch beträchtlich aufgewühlt. Inzwischen strömten zahlreiche junge Leute die Treppe herunter, und Mr. Tate, der auf alles gefasst war, von einem einfallsreichen Einbrecher bis zu einem entflohenen Irrenhausinsassen, erteilte dem jungen Mann knappe Anweisungen: »Halten Sie ihn fest! Bringen Sie ihn hierher; gleich werden wir Bescheid wissen.«
Das Kamel wehrte sich nicht dagegen, in die Bibliothek geführt zu werden, und nachdem er die Tür abgesperrt hatte, nahm Mr. Tate einen Revolver aus der Schublade und wies den jungen Mann an, dem Ding den Kopf abzunehmen. Dann riss er sprachlos den Mund auf und legte den Revolver in sein Versteck zurück.
»Perry Parkhurst!«, rief er voller Erstaunen.
»Bin auf der falschen Party gelandet, Mr. Tate«, sagte Perry kleinlaut. »Hoffe, Sie haben sich nicht erschreckt.«
»Na, Sie haben uns vielleicht einen Schrecken eingejagt, Perry.« Dann begann es ihm zu dämmern: »Sie wollten zu dem Zirkusball der Townsends.«
»Das hatte ich vor.«
»Darf ich Sie miteinander bekannt machen? Mr. Butterfield – Mr. Parkhurst.« Dann wandte er sich an Perry: »Mr. Butterfield ist für einige Tage bei uns zu Gast.«
»Bin ein bisschen durcheinander«, murmelte Perry. »Tut mir furchtbar leid.«
»Das macht doch nichts; hätte jedem passieren können. Ich habe ein Clownskostüm, weil ich nachher auch hingehen will.« Er wandte sich an Butterfield. »Überlegen Sie es sich, kommen Sie doch mit uns.«
Der junge Mann machte Ausflüchte. Er wollte ins Bett gehen.
»Wie wär’s mit einem Drink, Perry?«, fragte Mr. Tate.
»Danke, gern.«
»Apropos«, fuhr Tate schnell fort, »Ihren – Ihren Freund hier habe ich ganz vergessen.« Er deutete auf das Hinterteil des Kamels. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Kenne ich ihn? Lassen Sie ihn rauskommen.«
»Er ist kein Freund«, erklärte Perry hastig. »Ich habe ihn nur geliehen.«
»Will er etwas trinken?«
»Wollen Sie?«, fragte Perry, wobei er sich umständlich verdrehte.
Ein leiser zustimmender Laut war zu hören.
»Natürlich will er!«, sagte Mr. Tate herzlich. »Ein ordentliches Kamel muss in der Lage sein, für drei Tage im Voraus zu trinken.«
»Wissen Sie«, sagte Perry besorgt, »er ist nicht gerade passend gekleidet, um sich blicken zu lassen. Wenn Sie mir eine Flasche geben, kann ich sie ihm nach hinten reichen, und er kann sich seinen Drink im Kostüm genehmigen.«
Aus dem Inneren des Kamels ertönte als Reaktion auf diesen Vorschlag ein freudig schmatzendes Geräusch. Als ein Butler mit Flaschen, Gläsern und einem Siphon erschien, wurde eine der Flaschen in das Kamel befördert, und danach konnte man hören, wie der stumme Partner fleißig seinem Getränk zusprach.
So verstrich eine geruhsame Stunde. Um zehn Uhr gelangte Mr. Tate zu der Ansicht, dass es an der Zeit sei aufzubrechen. Er zog sein Clownskostüm an; Perry setzte sich wieder den Kamelkopf auf, und Seite an Seite gingen sie zu Fuß den Häuserblock zwischen dem Haus der Tates und dem Tallyhoo Club entlang.
Der Zirkusball war in vollem Gang. Im Ballsaal war ein großes Zirkuszeltdach aufgebaut worden, und an den Wänden reihten sich Schaubuden aneinander, in denen alle möglichen Attraktionen gezeigt wurden, die als Beiwerk zu einem Zirkusprogramm gehören, doch nun waren sie verwaist, und auf dem Tanzparkett drängte sich eine fröhliche, lärmende, jugendliche und farbenfrohe Mischung: Clowns, bärtige Damen, Akrobaten, Kunstreiter, Zirkusdirektoren, Tätowierte und Wagenlenker. Da die Townsends wild entschlossen waren, ihre Party von Erfolg gekrönt zu sehen, war aus ihrem Haus heimlich Alkohol in rauhen Mengen herbeigeschafft worden, der nun in Strömen floss. Ringsum an den Wänden des Ballsaals war ein grünes Band angebracht, mit Pfeilen und mit Schildern versehen, die Unwissende anleiteten: »Folgen Sie der grünen Linie!« Das grüne Band führte zur Bar, wo einfacher Punsch und teuflischer Punsch und schlichte dunkelgrüne Flaschen warteten.
Über der Bar befand sich ein weiterer Pfeil an der Wand, rot und ziemlich wackelig, und darunter stand: »Folgen Sie diesem Zeichen!«
Doch selbst in diesem Überfluss an Kostümen und Übermut erregte das Erscheinen des Kamels ein gewisses Aufsehen, und Perry umringte alsbald eine neugierige, lachende Menge, die versuchte, die Identität des Tiers zu ergründen, das in der breiten Zimmertür stand und die Tanzenden mit seinem hungrigen, melancholischen Blick betrachtete.
Und dann sah Perry vor einer der Buden Betty stehen, im Gespräch mit einem als Polizist kostümierten Gast. Sie selbst war als ägyptische Schlangenbeschwörerin verkleidet: Ihr braunes Haar war zu Zöpfen geflochten und durch Messingringe gezogen, gekrönt von einer glitzernden orientalischen Tiara. Ihre helle Gesichtshaut war in einem warmen, schimmernden Olivton geschminkt, und auf ihren Armen und dem Halbmond ihres Rückens wanden sich aufgemalte Schlangen mit je einem einzelnen giftgrünen Auge. Ihre Füße steckten in Sandalen, und ihr Rock war bis zu den Knien geschlitzt, so dass man, wenn sie sich bewegte, weitere kleine Schlangen zu sehen bekam, die über ihren nackten Fesseln auf ihre Beine gemalt waren. Um ihren Hals wand sich eine glitzernde Kobra. Alles in allem ein bezauberndes Kostüm, das die nervöseren unter den älteren Damen dazu veranlasste, zurückzuweichen, wenn sie an ihnen vorbeiging, und die lästigeren dazu, sich lautstark darüber auszulassen, dass so etwas »nicht erlaubt« sein sollte und »völlig unerhört« sei.
Perry aber sah durch die trüben Augen des Kamels nur ihr strahlendes, lebhaftes, fröhliches Gesicht, das vor Erregung glänzte, und ihre Arme und Schultern, deren geschmeidige und ausdrucksvolle Bewegungen Betty zum Mittelpunkt einer jeden Gruppe machten. Er war fasziniert, und diese Faszination hatte eine ernüchternde Wirkung. Mit wachsender Klarheit kehrten die Ereignisse des Tages zurück, Zorn stieg in ihm auf, und in der undeutlichen Absicht, Betty aus dem Kreis der anderen zu entführen, bewegte er sich auf sie zu – besser gesagt, er zog sein Kostüm in die Länge, denn er hatte vergessen, seinem Kompagnon die für eine Bewegung unerlässliche Anweisung zu erteilen.
Doch in diesem Augenblick hatte das unbeständige Schicksal, das einen ganzen Tag lang boshaft und zynisch mit ihm gespielt hatte, den Entschluss gefasst, ihn großzügig für das Vergnügen zu belohnen, das er ihm verschafft hatte. Das Schicksal sorgte dafür, dass die braunen Augen der Schlangenbeschwörerin ihren Blick auf das Kamel richteten. Und es brachte sie dazu, sich zu dem Mann neben ihr hinüberzubeugen und ihn zu fragen: »Wer ist das? Dieses Kamel?«
»Keine Ahnung.«
Doch ein kleiner Mann namens Warburton, der über alles auf dem Laufenden war, konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Es ist mit Mr. Tate gekommen. Ein Teil von ihm ist wahrscheinlich Tates Gast Warren Butterfield, der New Yorker Architekt, der bei den Tates zu Besuch ist.«
Etwas regte sich in Betty Medill – das uralte Interesse eines Mädchens aus der Provinz an Besuchern aus der Großstadt.
»Oh«, sagte sie beiläufig nach einer kurzen Pause.
Nach dem nächsten Tanz befanden sich Betty und ihr Tanzpartner nur wenige Schritte von dem Kamel entfernt. Mit der zwanglosen Kühnheit, die für den Abend charakteristisch war, streckte sie die Hand aus und streichelte sanft die Schnauze des Kamels.
»Hallo, altes Kamel.«
Das Kamel regte sich unbehaglich.
»Hast du Angst vor mir?«, fragte Betty und hob vorwurfsvoll die Augenbrauen. »Das musst du nicht. Wie du siehst, bin ich Schlangenbeschwörerin, aber mit Kamelen kann ich auch gut umgehen.«
Das Kamel verbeugte sich sehr tief, und irgendjemand machte die unvermeidliche Bemerkung über die Schöne und das Untier.
Mrs. Townsend näherte sich ihnen.
»Also wirklich, Mr. Butterfield«, sagte sie ermutigend, »nie im Leben hätte ich Sie erkannt.«
Perry verbeugte sich wieder und schmunzelte vergnügt hinter seiner Maske.
»Und wer ist Ihr Freund?«, fragte Mrs. Townsend.
»Oh«, sagte Perry, dessen Stimme durch den dicken Stoff gedämpft und kaum wiederzuerkennen war, »er ist kein Freund, Mrs. Townsend. Er gehört zu meinem Kostüm.«
Mrs. Townsend lachte und entfernte sich. Perry wendete sich wieder zu Betty um.
›Aha!‹, dachte er. ›So wenig macht sie sich also aus mir! Am Tag unserer endgültigen Trennung flirtet sie sofort mit einem anderen, einem völlig Fremden!‹
Ohne zu überlegen, stieß er sie leicht mit der Schulter an und deutete mit dem Kopf zum Flur, zum Zeichen, dass sie ihren Partner verlassen und ihn begleiten solle.
»Adieu, Rus«, rief sie ihrem Tanzpartner zu. »Das alte Kamel hat mich eingefangen. Wohin gehen wir, Fürst der Tiere?«
Das edle Tier erwiderte nichts, sondern stolzierte gravitätisch auf einen abgelegenen Winkel neben der Hintertreppe zu.
Dort ließ Betty sich nieder, und nach einigem Durcheinander, verbunden mit schroffen Befehlen und den Geräuschen einer hitzigen Auseinandersetzung im Inneren des Kamels, nahm das Tier neben ihr Platz, die Hinterbeine unbequem über zwei Treppenstufen ausgebreitet.
»He, altes Haus«, sagte Betty munter, »wie gefällt dir unsere fröhliche Party?«
Das alte Haus gab sein Wohlgefallen an der Party zu erkennen, indem es verzückt den Kopf rollte und freudig die Hufe schüttelte.
»Es ist das erste Mal, dass ich ein Tête-à-Tête mit dem Hinterteil eines Kamels habe« – sie deutete auf die Hinterbeine –, »oder wie auch immer man es nennt.«
»Oh«, flüsterte Perry, »er ist taubstumm.«
»Fühlst du dich nicht ziemlich eingeschränkt? Du kannst ja nicht herumlaufen, selbst wenn du es wolltest.«
Das Kamel ließ traurig den Kopf hängen.
»Sag doch etwas«, fuhr Betty aufmunternd fort. »Sag, dass du mich magst, Kamel. Sag, dass du mich schön findest. Sag, dass du gerne einer wunderschönen Schlangenbeschwörerin gehören würdest.«
Das wollte das Kamel.
»Willst du mit mir tanzen, Kamel?«
Das Kamel wollte es versuchen.
Betty widmete sich eine halbe Stunde lang dem Kamel. Sie widmete allen männlichen Gästen der Stadt mindestens eine halbe Stunde. In der Regel genügte das. Wenn sie sich einem Neuling näherte, stoben die Debütantinnen des Jahres nach rechts und links auseinander wie eine Kolonne Soldaten, die vor Maschinengewehrfeuer die Flucht ergreift. Und so wurde Perry Parkhurst das seltene Privileg zuteil, seine Geliebte so zu sehen, wie sie sich anderen präsentierte. Sie flirtete mit ihm, was das Zeug hielt.
IV
Dieses brüchig begründete Paradies wurde durch Geräusche unterbrochen, die bekundeten, dass man in den Ballsaal zurückkehrte; der Kotillon stand bevor. Betty und das Kamel gesellten sich zu den anderen, wobei Bettys braune Hand auf der Schulter des Kamels geradezu herausfordernd signalisierte, dass sie sich ganz und gar seiner angenommen hatte.
Als sie den Saal erreichten, nahmen die Paare bereits an den Tischen vor den Wänden Platz, und Mrs. Townsend, im prachtvollen Kostüm einer Kunstreiterin mit vielleicht etwas zu üppigen Waden, stand mit dem zum Tanzmeister ernannten Zirkusdirektor in der Mitte des Raums. Auf ein Zeichen begann die Kapelle zu spielen, und alle Paare standen auf und tanzten.
»Ist das nicht famos!«, seufzte Betty. »Meinst du, du könntest vielleicht tanzen?«
Perry nickte enthusiastisch. Er fühlte sich plötzlich voller Tatendrang. Schließlich war er inkognito hier und sprach mit seiner Liebsten, da konnte er die übrige Welt mit gönnerhafter Miene ignorieren.
Und so kam es, dass Perry den Kotillon tanzte. Wenn ich »tanzen« sage, wage ich mich mit diesem Wort weit über die verwegensten Träume der kühnsten Jünger Terpsichores hinaus. Er ließ zu, dass seine Partnerin ihre Hände auf seine wehrlosen Schultern legte und ihn auf dem Parkett hin und her manövrierte, während er seinen großen Kopf fügsam über ihre Schulter hängen ließ und mit den Füßen sinnlose tappende Bewegungen machte. Seine Hinterbeine tanzten nach ganz eigener Fasson, hauptsächlich indem sie abwechselnd mit dem einen und dem anderen Fuß hopsten. Da sie nie sicher sein konnten, ob getanzt wurde oder nicht, vollführten die Hinterbeine sicherheitshalber jedes Mal, wenn Musik erklang, eine Reihe von Sprüngen. So kam es wiederholt zu dem Schauspiel, dass das Vorderteil des Kamels ruhig dastand, während das Hinterteil in heftiger Bewegung begriffen war, die bei jedem weichherzigen Zuschauer einen Schweißausbruch des Mitgefühls auslösen musste.
Das Kamel wurde von vielen Damen favorisiert. Zuerst tanzte es mit einer großgewachsenen Dame, die mit Stroh bedeckt war, ihm frohgemut erklärte, sie sei ein Strohballen, und das Kamel kokett bat, sie nicht zu fressen.
»Das würde ich zu gern tun; Sie sind so süß«, sagte das Kamel ritterlich.
Jedes Mal wenn der Zirkusdirektor die Herren aufforderte, eine Dame zu wählen, torkelte das Kamel um die Wette mit dem Wienerwürstchen aus Pappmaché oder dem Foto der bärtigen Dame oder mit wem auch immer auf Betty zu. Manchmal erreichte es sie zuerst, aber meistens waren seine Mühen vergebens und führten zu erbitterten internen Streitigkeiten.
»Zum Kuckuck!«, stieß Perry zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »Sie lahme Ente! Diesmal hätte ich sie bekommen, wenn Sie rechtzeitig Ihre Füße in Bewegung gesetzt hätten!«
»Dann geben Sie mir rechtzeitig Bescheid!«
»Habe ich doch, zum Kuckuck!«
»Hier drinnen ist es stockfinster.«
»Sie müssen mir bloß folgen. Mit Ihnen kommt man sich vor wie mit einem Sandsack im Schlepptau.«
»Wollen Sie vielleicht mit mir tauschen?«
»Seien Sie still! Wenn Sie hier entdeckt werden, bekommen Sie die größte Tracht Prügel Ihres Lebens. Man würde Ihnen Ihre Lizenz als Taxifahrer wegnehmen!«
Perry war selbst überrascht, wie leicht ihm diese finstere Drohung über die Lippen kam, doch auf seinen Begleiter hatte sie offenbar eine narkotische Wirkung, denn nach einem Brummen verfiel er in verlegenes Schweigen.
Der Zirkusdirektor erklomm das Klavier und gebot mit einer Handbewegung Stille.
»Die Preisverleihung!«, rief er. »Treten Sie näher!«
»Juchhu, Preise!«
Aufgeregt scharte sich die Menge um ihn. Das hübsche Mädchen, das die Tollkühnheit besessen hatte, als bärtige Dame zu kommen, zitterte vor Aufregung bei dem Gedanken, dass es vielleicht dafür belohnt werden würde, einen ganzen Abend lang hässlich gewesen zu sein. Der Mann, der den Nachmittag damit verbracht hatte, sich mit Tätowierungen bemalen zu lassen, drückte sich am Rand der Gesellschaft herum und errötete schrecklich, wenn jemand zu ihm sagte, man werde ihn gewiss auszeichnen.
»Meine Damen und Herren Artisten unseres Zirkusetablissements«, verkündete der Zirkusdirektor gutgelaunt, »sicher werden Sie mir zustimmen, dass wir uns alle prächtig amüsiert haben. Wir wollen nun Ehre erweisen, wem Ehre gebührt, indem wir die Preise verleihen. Mrs. Townsend hat mich gebeten, die Preisverleihung vorzunehmen. Liebe Mitwirkende, den ersten Preis erhält diejenige der Damen, die heute Abend in dem aufsehenerregendsten, kleidsamsten« – an dieser Stelle seufzte die bärtige Dame resigniert – »und originellsten Kostüm erschienen ist.« An dieser Stelle spitzte das Strohbündel die Ohren. »Ich bin mir sicher, dass die Entscheidung, die wir gefällt haben, Ihrer aller uneingeschränkte Zustimmung finden wird. Der erste Preis geht an Miss Betty Medill, die bezaubernde ägyptische Schlangenbeschwörerin.«
Beifall brandete auf, hauptsächlich von Seiten der männlichen Zuschauer, und Miss Betty Medill, die unter ihrer olivbraunen Schminke reizend errötete, wurde hinaufgereicht, um den Preis entgegenzunehmen. Mit einem zärtlichen Blick überreichte der Zirkusdirektor ihr einen riesigen Strauß Orchideen.
»Und nun«, fuhr er fort und blickte in die Runde, »kommen wir zu dem Preis, der für denjenigen der Herren bestimmt ist, der das amüsanteste und originellste Kostüm trägt. Um diesen Preis hat sich unzweifelhaft ein Mann in unseren Reihen verdient gemacht, ein Gentleman, der in unserer Stadt nur zu Besuch weilt, dessen Aufenthalt bei uns aber noch lange und fröhlich sein möge – kurzum, dieser Preis geht an das edle Kamel, das mit seinem hungrigen Aussehen und seinen herausragenden Tanzleistungen den ganzen Abend für Unterhaltung gesorgt hat.«
Er hielt inne, und heftiges Klatschen und laute Hurrarufe folgten, denn diese Entscheidung traf auf allgemeine Zustimmung. Der Preis in Form einer großen Kiste Zigarren wurde für das Kamel beiseitegelegt, das ihn aus anatomischen Gründen nicht persönlich entgegennehmen konnte.
»Und jetzt«, fuhr der Zirkusdirektor fort, »beenden wir den Kotillon mit der Vermählung von Frohsinn und Narrheit! Treten Sie an zum großen Hochzeitsmarsch mit der wunderschönen Schlangenbeschwörerin und dem edlen Kamel an der Spitze!«
Betty hüpfte fröhlich herbei und legte dem Kamel einen olivbraunen Arm um den Hals. Hinter ihnen formierte sich die Parade aus kleinen Jungen, kleinen Mädchen, Bauernlümmeln, dicken Damen, dünnen Männern, Schwertschluckern, wilden Männern aus Borneo und armlosen Wunderwesen, nicht wenige darunter alles andere als nüchtern und alle erregt und fröhlich und geblendet vom gleißenden Licht und den Farben und den vertrauten Gesichtern, die unter den absonderlichen Perücken und der barbarischen Schminke seltsam unvertraut aussahen. In blasphemischer Synkopierung stimmten Posaunen und Saxophone die wollüstigen Klänge des Hochzeitsmarschs als aberwitziges Gemisch an.
»Freust du dich, Kamel?«, fragte Betty zutraulich, als sie die Prozession eröffneten. »Freust du dich, dass wir heiraten und dass du für alle Zeiten der netten Schlangenbeschwörerin angehören wirst?«
Die Vorderbeine des Kamels tänzelten zum Ausdruck seiner unbändigen Freude.
»Geistlicher! Geistlicher! Wo steckt der Geistliche?«, riefen Stimmen aus der Menge. »Wer soll als Geistlicher amtieren?«
In der halbgeöffneten Tür eines Nebenraums wurde der Kopf Jumbos sichtbar, eines fettleibigen Negers und langjährigen Kellners des Tallyho Club.
»Oh, Jumbo!«
»Holt den alten Jumbo. Er ist unser Mann!«
»Komm her, Jumbo. Hättest du Lust, ein Paar zu trauen?«
»Jassöh!«
Jumbo wurde von vier Scherzbolden ergriffen, die ihm seine Schürze auszogen und ihn zu einem Podium am Kopf der Prozession führten. Dort nahmen sie ihm seinen Kragen ab und legten ihn ihm falsch herum an, um einen Priesterkragen anzudeuten. Die Parade teilte sich in zwei Reihen, zwischen denen Braut und Bräutigam hindurchzuschreiten hatten.
»Jassöh«, dröhnte Jumbo, »hab meine alte Bibel dabei, ehrlich wahr.«
Aus einer Innentasche förderte er eine zerlesene Bibel zutage.
»Ha! Jumbo hat eine Bibel!«
»Ich wette, er hat sogar ein Rasiermesser!«
Schlangenbeschwörerin und Kamel schritten die hurrarufenden Reihen entlang und blieben vor Jumbo stehen.
»Wo issen deine Heiratslizenz, Kamel?«
Ein Zuschauer stupste Perry in die Seite.
»Geben Sie ihm ein Blatt Papier, egal was.«
Perry kramte nervös in seiner Hosentasche, fand einen zusammengefalteten Zettel und schob ihn durch das Maul des Kamels hinaus. Jumbo hielt den Zettel falsch herum und tat so, als studiere er ihn eingehend.
»Das iss dem Kamel seine echte Lizenz«, sagte er. »Und jetzt her mit deinem Ring, Kamel.«
Im Inneren des Kamels drehte Perry sich um und wandte sich an seine schlechtere Hälfte.
»Geben Sie mir einen Ring, zum Kuckuck!«
»Ich hab keinen«, protestierte eine schwache Stimme.
»Doch, ich habe ihn gesehen.«
»Den kriegen Sie nicht in die Finger.«
»Dann bringe ich Sie um.«
Ein leises Keuchen ertönte, und Perry spürte, wie ihm ein unförmiges Gebilde aus Strass und Messing in die Hand gedrückt wurde.
Wieder stupste man ihn an.
»Sagen Sie endlich was!«
»Ja!«, rief Perry schnell.
Er hörte Betty heiter ihr Jawort geben, und sogar in dieser Posse ging ihm der Ton ihrer Stimme durch Mark und Bein.
Dann hatte er den Strassring durch ein Loch im Fell des Kamels hinausbugsiert und streifte ihn ihr über den Finger, wobei er Jumbos altehrwürdige Worte murmelnd nachsprach. Niemals sollte jemand von seiner Rolle in dieser Maskerade erfahren. Er hatte nur den Wunsch, sich davonzustehlen, ohne sich zu erkennen geben zu müssen, denn bislang hatte Mr. Tate sein Geheimnis für sich behalten. Perry war ein ehrenwerter junger Mann, und er wollte keinesfalls seiner Anwaltspraxis schaden, die noch in den Kinderschuhen steckte.
»Küssen Sie die Braut!«
»Demaskier dich, Kamel, und küsse sie!«
Instinktiv klopfte ihm das Herz bis zum Hals, als Betty sich lachend zu ihm umdrehte und die Pappschnauze des Kamels streichelte. Er merkte, dass die Selbstbeherrschung ihn im Stich ließ, er sehnte sich danach, Betty in die Arme zu schließen, seine Identität zu offenbaren und die Lippen zu küssen, die nur eine Armeslänge von ihm entfernt lächelten – als auf einmal Gelächter und Beifall um sie herum erstarben und eine seltsame Stille sich auf die Versammlung senkte. Perry und Betty blickten überrascht auf. Jumbo hatte mit so erschrockener Stimme und so laut »Hoppla!« gerufen, dass alle Augen sich auf ihn richteten.
»Hoppla!«, wiederholte er. Er hatte die Heiratslizenz des Kamels, die er falsch herum gehalten hatte, richtig herum gedreht, hatte eine Brille aus der Tasche gezogen und betrachtete den Zettel wie vom Donner gerührt.
»He!«, rief er, und in der tiefen Stille konnte jeder im Raum seine Worte deutlich hören. »Dem Kamel seine Lizenz iss eine ehrlich echte Heiratslizenz!«
»Wie?«
»Was?«
»Sag das noch mal, Jumbo!«
»Kannst du überhaupt lesen?«
Jumbo gebot mit einer Handbewegung Schweigen, und Perry brauste das Blut in den Adern, als er begriff, welchen Patzer er sich da erlaubt hatte.
»Jassöh!«, wiederholte Jumbo. »Das iss eine ehrlich echte Heiratslizenz, und die betrefflichen Personen sind die junge Dame hier, Miss Betty Medill, und Massah Perry Parkhurst.«
Alle schnappten nach Luft, und leises Gemurmel brach aus, während alle Blicke sich auf das Kamel richteten. Betty schrak zurück, und ihre hellbraunen Augen sprühten Funken des Zorns.
»Kamel, biss du Massah Parkhurst?«
Perry schwieg. Die Leute rückten näher und gafften ihn an. Er war wie erstarrt vor Verlegenheit, während seine Pappmaske den unheilvollen Jumbo noch immer mit hungrigem und spöttischem Blick ansah.
»Sie sagen jetzt besser was«, sagte Jumbo langsam. »Das iss nämlich eine mächtig ernste Sache. Nebens meine Tätigkeit im Club bin ich nämlich zufällig ein ehrlich echter Priester von der Ersten Farbigen Baptistengemeinde. Sieht nämlich ganz so aus, als hätten Sie beide gerade ehrlich echt geheiratet.«
V
Die darauffolgende Szene wird für alle Zeiten in die Annalen des Tallyho Club eingehen. Stattliche Matronen wurden ohnmächtig, hundertprozentige Amerikaner stießen Verwünschungen aus, Debütantinnen plapperten mit aufgerissenen Augen in Grüppchen miteinander, die sich blitzschnell bildeten und wieder auflösten, und ein hörbares und zugleich seltsam unterdrücktes Stimmengewirr erfüllte wie ein Summen den Ballsaal, der in Auflösung begriffen war. Junge Draufgänger äußerten die Drohung, Perry, Jumbo oder sich selbst zu entleiben, und den Baptistenpriester bestürmte eine lärmende Schar von Amateuranwälten mit Fragen, Drohungen, Erkundigungen nach Präzedenzfällen, Forderungen, die Ehe zu annullieren, und vor allem mit inquisitorischen Bemühungen, um in Erfahrung zu bringen, ob es sich bei dem, was soeben geschehen war, um ein abgekartetes Spiel handelte.
In einer Ecke weinte Mrs. Townsend leise an der Schulter Mr. Howard Tates, der sie vergeblich zu trösten versuchte; beide ergingen sich in ausführlichen und umfangreichen Selbstvorwürfen. Auf dem schneebedeckten Gehsteig vor dem Haus tigerte Mr. Cyrus Medill, der Aluminiummann, langsam auf und ab, von zwei kräftigen Wagenlenkern gebändigt, und stieß abwechselnd Unflätigkeiten aus und den inständigen Wunsch, man möge ihn loslassen, damit er Jumbo an die Kehle gehen könne. Er hatte sich für den Ball als wilder Mann von Borneo verkleidet, und selbst der anspruchsvollste Spielleiter hätte zugeben müssen, dass diese Rolle nicht besser zu besetzen gewesen wäre.
Unterdessen standen die zwei Hauptakteure im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Betty Medill – oder Betty Parkhurst? –, die fürchterlich tobte, war von den weniger hübschen Mädchen umringt, denn die hübscheren waren zu sehr damit beschäftigt, über sie zu reden, als dass sie Zeit gehabt hätten, sich mit ihr abzugeben, und am anderen Ende des Raums stand das Kamel, unverändert bis auf seinen Kopf, der traurig vor seiner Brust baumelte. Perry war damit beschäftigt, einem Kreis zorniger und ratloser Männer um ihn herum seine Unschuld zu beteuern. Sobald es den Anschein hatte, als hätte er sie überzeugt, brachte jemand wieder die Heiratslizenz zur Sprache, und das Fragengewitter begann aufs Neue.
Ein Mädchen namens Marion Cloud, das als die zweitschönste junge Dame Toledos galt, veränderte die Situation grundlegend durch eine Bemerkung an Bettys Adresse.
»Nun ja«, sagte Marion boshaft, »das wird sich schon alles geben, meine Liebe. Das Gericht wird die Sache zweifellos annullieren.«
Bettys Zornestränen versiegten wie durch ein Wunder, ihre Lippen pressten sich fest aufeinander, und sie bedachte Marion mit einem vernichtenden Blick. Dann erhob sie sich, scheuchte ihre Klageweiber nach links und rechts aus dem Weg und marschierte geradewegs auf Perry zu, der sie mit schreckgeweiteten Augen anstarrte. Wieder senkte sich Stille auf den Raum.
»Hättest du den Anstand, mir fünf Minuten lang zuzuhören – oder war das in deinen Plänen nicht vorgesehen?«
Er nickte, außerstande, etwas zu sagen.
Sie bedeutete ihm kühl, dass er ihr folgen solle, und marschierte mit hochgerecktem Kinn in den Flur und von dort in eines der kleinen Kartenzimmer, wo sie ungestört wären.
Perry wollte ihr folgen, doch seine Hinterbeine versagten ihm den Dienst und zwangen ihn stehenzubleiben.
»Sie bleiben hier«, befahl er grimmig.
»Kann ich nicht«, winselte eine Stimme aus dem Höcker, »wenn Sie nicht zuerst raussteigen und mich rauslassen.«
Perry zögerte, doch da die Blicke der neugierigen Menge ihm unerträglich wurden, murmelte er einen Befehl, und das Kamel entfernte sich auf seinen vier Beinen vorsichtig aus dem Ballsaal.
Betty erwartete ihn bereits.
»So!«, rief sie zornentbrannt. »Siehst du, was du angerichtet hast? Du mit deiner dämlichen Lizenz! Ich habe dir ja gesagt, dass es falsch war, sie zu besorgen!«
»Mein liebes Mädchen, ich –«
»Ich bin nicht dein liebes Mädchen! Spar dir diese Anrede für deine echte Ehefrau auf, falls du nach diesem entwürdigenden Schauspiel jemals eine finden solltest. Und behaupte bloß nicht, es wäre nicht alles von dir so eingefädelt worden. Gib zu, dass du diesen Kellner bestochen hast! Gib es endlich zu! Oder willst du etwa behaupten, du hättest nicht vorgehabt, mich zu heiraten?«
»Nein – natürlich –«
»Ja, gib es lieber zu! Du hast es versucht, und was willst du jetzt anfangen? Weißt du, dass du meinen Vater fast in den Wahnsinn getrieben hast? Wenn er dich umzubringen versucht, würde dir das ganz recht geschehen. Er nimmt sein Gewehr und pustet dir ein bisschen kaltes Blei in den Leib. Selbst wenn diese Hei–, diese Sache annulliert werden kann, wird sie für den Rest meines Lebens an mir kleben bleiben!«
Perry konnte sich nicht verbeißen, leise zu zitieren: »O Kamel, freust du dich, dass du für alle Zeiten der netten Schlangenbeschwörerin angehören wirst –«
»Hör auf!«, rief Betty.
Schweigen.
»Betty«, sagte Perry schließlich, »wir haben nur eine einzige Möglichkeit, unbeschadet aus der Sache rauszukommen. Du musst mich heiraten.«
»Dich heiraten!«
»Ja. Das ist wirklich die einzige –«
»Sei still! Ich würde dich nicht einmal heiraten, wenn du – wenn –«
»Ich weiß. Wenn ich der letzte Mensch auf der Erde wäre. Aber wenn du etwas auf deinen Ruf gibst –«
»Meinen Ruf!«, rief sie. »Das ist ja großartig, dass du dir jetzt Gedanken über meinen Ruf machst! Warum hast du nicht vorher an meinen Ruf gedacht, als du diesen abscheulichen Jumbo bestochen hast, um – um –«
Perry hielt hilflos die Hände.
»Na gut. Ich werde tun, was du verlangst. Gott ist mein Zeuge, dass ich von jedem Anspruch auf dich zurücktrete!«
»Aber ich«, sagte eine unbekannte Stimme, »nicht.«
Perry und Betty zuckten zusammen, und Betty legte eine Hand auf ihr Herz.
»Um Himmels willen, was war das?«
»Das war ich«, sagte das Hinterteil des Kamels.
Keine Minute später hatte Perry das Fell des Kamels heruntergezogen, und ein schlaffes, zerlumptes Individuum, an dem die Kleidung feucht klebte und dessen Hand eine fast leere Flasche umklammerte, stand herausfordernd vor ihnen.
»Oh«, rief Betty, »dieses Subjekt hast du mitgebracht, um mir Angst einzujagen! Du hast behauptet, er wäre taub, dieser – dieser abscheuliche Landstreicher!«
Das Hinterteil des Kamels setzte sich mit einem Seufzer der Befriedigung auf einen Stuhl.
»Sprechen Sie nicht in diesem Ton über mich, Lady. Ich bin kein Landstreicher. Ich bin Ihr Ehemann.«
»Ehemann!«
Dieser Aufschrei entrang sich Betty und Perry wie aus einem Mund.
»Aber sicher. Ich bin genauso gut Ihr Mann wie dieser Bursche da. Der Rußkäfer hat Sie nicht mit dem Vorderteil von dem Kamel verheiratet, sondern mit dem ganzen Kamel. He, das da an Ihrem Finger ist schließlich mein Ring!«
Mit einem leisen Aufschrei riss sie sich den Ring vom Finger und warf ihn erbittert auf den Boden.
»Was soll das alles?«, fragte Perry verwirrt.
»Das bedeutet, dass Sie sich schnellstens mit mir einigen sollten, und zwar großzügig. Wenn nicht, dann bestehe ich darauf, genauso mit ihr verheiratet zu sein wie Sie!«
»Das ist Bigamie«, sagte Perry mit ernster Miene zu Betty.
Und dann kam der Höhepunkt von Perrys Abend, die Chance, für die er alles riskierte. Er erhob sich und sah zuerst Betty an, die angesichts dieser neuen Komplikation hilflos und entsetzt dasaß, und dann das Individuum, das auf seinem Stuhl unsicher und bedrohlich hin und her schwankte.
»In Ordnung«, sagte Perry bedächtig zu dem Individuum, »Sie können sie haben. Betty, ich werde dir beweisen, dass unsere Heirat, was mich betrifft, ein reines Zufallsergebnis war. Ich verzichte auf alle Rechte als dein Ehemann und überlasse dich hiermit dem – dem Mann, dessen Ring du trägst, als deinem rechtmäßigen Ehemann.«
Eine Pause entstand, und vier furchtgeweitete Augen blickten ihn an.
»Adieu, Betty«, sagte er mit belegter Stimme. »Vergiss mich nicht in deinem neuen Glück. Ich werde mit dem ersten Morgenzug weit in den Westen fahren. Denk ohne Hass an mich, Betty.«
Mit einem letzten Blick auf die beiden wendete er sich ab und neigte den Kopf auf die Brust, als seine Hand den Türknauf berührte.
»Auf Wiedersehen«, wiederholte er. Er drehte den Türknauf.
Doch bei diesem Geräusch stürzten die Schlangen und die Seide und das hellbraune Haar eilig hinter ihm her.
»O Perry, verlass mich nicht! Perry, Perry, nimm mich mit!«
Ihre Tränen benetzten seinen Hals. Ruhig schloss er sie in seine Arme.
»Es ist mir alles egal«, rief sie. »Ich liebe dich, und wenn du zu dieser späten Stunde einen Geistlichen wecken kannst und alles wiederholen lässt, fahre ich mit dir in den Westen.«
Über ihre Schulter hinweg blickte das Vorderteil des Kamels zum Hinterteil des Kamels – und sie wechselten ein besonders raffiniertes, vertrauliches Zwinkern, das nur wahre Kamele verstehen können.