Der Bodensatz des Glücks

 

I

 

Sollten Sie einmal in den Archiven alter Zeitschriften aus den ersten Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts blättern, würden Sie, eingeklemmt zwischen den Erzählungen von Richard Harding Davis, Frank Norris und anderen längst Verstorbenen, das Werk eines gewissen Jeffrey Curtain finden: ein, zwei Romane und vielleicht drei oder vier Dutzend Kurzgeschichten. Letztere könnten Sie, falls es Sie denn interessierte, ungefähr bis zum Jahr 1908 verfolgen; dann verschwinden sie plötzlich von der Bildfläche.

Wenn Sie sie alle gelesen hätten, wäre Ihnen ziemlich klar, dass hier keine Meisterwerke vorliegen, sondern mehr oder minder unterhaltsame Geschichten, inzwischen ein bisschen veraltet, aber damals zweifellos dazu geeignet, einem eine langweilige halbe Stunde im Wartezimmer eines Zahnarztes zu vertreiben. Der Autor war intelligent, würden Sie denken, begabt, wortgewandt, wahrscheinlich noch recht jung. In den Kostproben, die Sie von seinem Werk gefunden hätten, wäre nichts gewesen, was mehr als ein vages Interesse an den Kapriolen des Lebens in Ihnen ausgelöst hätte – kein tiefes inneres Lachen, kein Gefühl von Vergeblichkeit, keine Spur von Tragik.

Nach der Lektüre würden Sie gähnen, die Zeitschrift wieder ins Archiv zurücklegen und, falls Sie sich im Lesesaal einer Bibliothek befänden, vielleicht beschließen, zur Abwechslung einen Blick in eine Tageszeitung jener Epoche zu werfen, um in Erfahrung zu bringen, ob die Japaner zu der Zeit bereits Port Arthur erobert hatten. Wenn die von Ihnen gewählte Zeitung nun zufällig die richtige wäre und sich knisternd auf der Theaterseite geöffnet hätte, würden Ihre Augen gefesselt, und für mindestens eine Minute hätten Sie Port Arthur vergessen, ebenso schnell wie seinerzeit Château Thierry. Denn dank dieses glücklichen Zufalls hätten Sie nun das Porträt einer herrlichen Frau vor sich.

Es war die Zeit von Florodora und singenden Sextetts, von eingeschnürten Taillen und ausgepufften Ärmeln, von nicht ganz echten Turnüren und ganz und gar echten Tutus, doch hier, und sei es auch verborgen unter einem ungewohnt steifen und altmodischen Kostüm, hier war ohne Zweifel der Inbegriff eines Schmetterlings. Hier war die Ausgelassenheit der Zeit – der weiche Wein der Augen, die Lieder, die das Herz erschauern ließen, die Toasts und Buketts, die Bälle und Diners. Hier war eine Venus des Hansom Cab, das Gibson Girl in seiner schönsten Blüte. Hier war…

Hier war, wie Ihnen die Bildunterschrift verrät, eine gewisse Roxanne Milbank, einst Revuetänzerin und Zweitbesetzung in The Daisy Chain, bis sie dank eines fabelhaften Auftritts in Vertretung des indisponierten Stars eine Hauptrolle bekam.

Sie würden noch einmal hinsehen – und stutzen. Warum hatten Sie nie von ihr gehört? Warum hatte ihr Name nicht neben Lillian Russell und Stella Mayhew und Anna Held in Schlagern und Vaudeville-Witzen, auf Zigarrenbändern und in der Erinnerung Ihres lebenslustigen alten Onkels überdauert? Roxanne Milbank – wohin war sie verschwunden? Welche dunkle Falltür hatte sich da plötzlich aufgetan und sie verschluckt? Ihr Name stand jedenfalls nicht in der letzten Sonntagsbeilage auf jener Liste von Schauspielerinnen, die einen englischen Adligen geehelicht hatten. Bestimmt war sie tot – arme, schöne junge Dame – und schon so gut wie vergessen.

Ich erhoffe mir zu viel. Lasse Sie hier über Jeffrey Curtains Geschichten und Roxanne Milbanks Foto stolpern. Es wäre unglaublich, wenn Sie nun auch noch auf eine sechs Monate später erschienene Zeitungsnotiz stoßen würden, eine Kurzmeldung auf fünf mal zehn Zentimetern, die der Öffentlichkeit mitteilte, dass Miss Roxanne Milbank, die mit The Daisy Chain auf Tournee gewesen sei, in aller Stille den bekannten Schriftsteller Mr. Jeffrey Curtain geheiratet habe. »Mrs. Curtain«, hieß es nüchtern, »wird sich von der Bühne zurückziehen.«

Es war eine Liebesheirat. Er war verdorben genug, um charmant, sie naiv genug, um unwiderstehlich zu sein. Wie zwei Baumstämme im Fluss trieben sie aufeinander zu, verhakten sich und setzten ihren Weg gemeinsam fort. Doch selbst wenn Jeffrey Curtain noch weitere vierzig Jahre geschrieben hätte – eine seltsamere Kapriole, als sie sein Leben schlug, hätte er in keine seiner Geschichten einbauen können. Und wenn Roxanne Milbank in drei Dutzend Theaterstücken mitgespielt und fünftausend Häuser gefüllt hätte, so hätte sie doch keine mit mehr Glück und Verzweiflung verbundene Rolle besetzen können als jene, die das Schicksal für Roxanne Curtain vorgesehen hatte.

Ein Jahr lang lebten sie in Hotels, reisten nach Kalifornien, Alaska, Florida, Mexiko, liebten und stritten sich zärtlich und sonnten sich im goldenen Getändel seines Geistes mit ihrer Schönheit – sie waren jung und voll tief empfundener Leidenschaft; sie forderten alles, um es dann in Ekstasen der Selbstlosigkeit und des Stolzes wieder herzugeben. Sie liebte den flinken Ton seiner Stimme und seine rasende, unbegründete Eifersucht. Er liebte ihr dunkles Leuchten, die weiße Iris ihrer Augen, den warm schimmernden Enthusiasmus in ihrem Lächeln.

»Ist sie nicht herrlich?«, pflegte er die anderen aufgeregt und zugleich schüchtern zu fragen. »Ist sie nicht einfach wunderbar? Habt ihr je eine so…«

»Ja«, antworteten sie grinsend. »Sie ist ein Wunder. Du bist ein Glückspilz.«

Das Jahr verging. Irgendwann wurden sie der Hotels überdrüssig. Sie kauften sich ein altes Haus und zwanzig Morgen Land in der Nähe der Ortschaft Marlowe, eine halbe Stunde von Chicago entfernt; kauften sich ein kleines Auto und zogen voller Übermut aufs Land, mit Pioniersflausen im Kopf, über die sich selbst ein Abenteurer wie Balboa gewundert hätte.

»Dies wird dein Zimmer!«, riefen sie abwechselnd.

Und dann: »Und dies meins!«

»Und dies das Zimmer für die Kinder, wenn wir erst welche haben!«

»Und wir bauen eine überdachte Veranda an, auf der wir schlafen können – ach, vielleicht im nächsten Jahr!«

Im April zogen sie ein. Im Juli kam Jeffreys bester Freund Harry Cromwell für eine Woche zu Besuch – sie erwarteten ihn am Ende des langen Rasens und eilten stolz mit ihm zum Haus.

Harry war ebenfalls verheiratet. Seine Frau hatte etwa sechs Monate zuvor ein Baby zur Welt gebracht und erholte sich noch bei ihrer Mutter in New York. Roxanne hatte Jeffreys Äußerungen entnommen, dass Harrys Frau nicht so attraktiv sei wie Harry; Jeffrey selbst war ihr einmal begegnet und hatte sie »seicht« gefunden. Aber Harry war seit fast zwei Jahren mit ihr verheiratet und schien glücklich zu sein, also nahm Jeffrey an, dass sie wohl in Ordnung sein musste…

»Ich backe gerade Biskuits«, plapperte Roxanne gewichtig drauflos. »Kann deine Frau Biskuits backen? Die Köchin zeigt mir, wie es geht. Ich finde, jede Frau sollte Biskuits backen können. Es klingt ganz einfach entwaffnend. Eine Frau, die Biskuits backen kann, wird bestimmt nichts Böses…«

»Du musst auch hierherziehen«, sagte Jeffrey. »Dir ein Haus auf dem Land suchen wie wir – ein Haus für dich und Kitty.«

»Du kennst Kitty nicht. Sie hasst das Landleben. Sie braucht ihre Theater und Vaudevilles.«

»Zieh mit ihr hierher«, wiederholte Jeffrey. »Dann haben wir eine Kolonie. Es sind schon ein paar wahnsinnig nette Leute hier. Zieh mit ihr hierher!«

Sie waren jetzt bei den Stufen zum Haus angelangt, und Roxanne wies mit einer schwungvollen Geste auf ein baufälliges Gebäude zu ihrer Rechten.

»Die Garage«, verkündete sie. »Außerdem wird Jeffrey sich dort noch in diesem Monat sein Schreibzimmer einrichten. Abendessen ist übrigens um sieben. Und bis es so weit ist, mixe ich noch einen Cocktail.«

Die beiden Männer stiegen zur ersten Etage hinauf – oder besser gesagt halb hinauf, denn auf dem ersten Absatz ließ Jeffrey den Koffer seines Gastes fallen und stieß eine Frage hervor, die fast ein Ausruf war:

»Herrgott noch mal, Harry, wie findest du sie?«

»Lass uns erst mal raufgehen«, antwortete sein Gast, »und die Tür hinter uns zumachen.«

Als sie eine halbe Stunde später zusammen in der Bibliothek saßen, kam Roxanne aus der Küche, ein Blech voller Biskuits in den Händen. Jeffrey und Harry standen auf.

»Sie sehen wunderschön aus, Liebes«, sagte ihr Ehemann inbrünstig.

»Herrlich«, murmelte Harry.

Roxanne strahlte.

»Probiert doch mal eins. Ich habe es nicht über mich gebracht, sie anzurühren, bevor ihr sie nicht alle gesehen habt, und nun will ich sie auf keinen Fall wieder mitnehmen, bevor ich nicht weiß, wie sie schmecken.«

»Wie Manna, Liebling.«

Gleichzeitig führten beide Männer ein Biskuit zum Mund, knabberten vorsichtig daran. Gleichzeitig versuchten sie, das Thema zu wechseln. Aber Roxanne ließ sich nicht täuschen, stellte das Blech ab und nahm sich selbst ein Biskuit. Eine Sekunde später erschallte ihr Urteil, das von düsterer Endgültigkeit war: »Absolut erbärmlich!«

»Also…«

»Mir ist nicht aufgefallen, dass…«

Roxanne brach in Gelächter aus.

»Ach, es ist zwecklos mit mir«, rief sie lachend. »Schick mich weg, Jeffrey – ich bin ein Parasit; ich bin zu nichts nütze…«

Jeffrey legte den Arm um sie.

»Liebling, ich esse deine Biskuits.«

»Wenigstens sehen sie schön aus«, behauptete Roxanne.

»Sie sind – sie sind dekorativ«, warf Harry ein.

Jeffrey stürzte sich auf sein Stichwort. »Genau das ist es. Sie sind dekorativ; es sind Meisterwerke. Wir werden etwas daraus machen.«

Er lief in die Küche und kam mit einem Hammer und einer Handvoll Nägel zurück.

»Natürlich, Roxanne, wir machen etwas daraus! Und zwar einen Fries!«

»Bitte nicht!«, jammerte Roxanne. »Unser schönes Haus.«

»Keine Sorge. Wir wollten die Bibliothek doch ohnehin im Oktober neu tapezieren lassen. Weißt du nicht mehr?«

»Nun ja…«

Zong! Das erste Biskuit war an die Wand gespießt, wo es einen Augenblick lang zitterte wie ein lebendiges Wesen.

Zong!…

Als Roxanne mit einer zweiten Runde Cocktails zurückkehrte, hingen die Biskuits, zwölf an der Zahl, wie eine Sammlung primitiver Speerspitzen in einer waagerechten Reihe.

»Roxanne«, rief Jeffrey, »du bist eine Künstlerin! Kochen und Backen? Was für ein Unsinn! Du wirst meine Bücher illustrieren!«

Während des Abendessens wich das Zwielicht der Dunkelheit, und später herrschte eine sternenklare Finsternis, erfüllt und durchdrungen von der zarten Pracht des weißen Kleids, das Roxanne trug, und ihrem bebenden, leisen Lachen.

›Was für ein kleines Mädchen sie doch ist‹, dachte Harry. ›Nicht so alt wie Kitty.‹

Er verglich die beiden miteinander. Kitty – nervös, ohne empfindsam zu sein, launenhaft und doch nie ausgelassener Laune, eine Frau, die Funken warf, aber nie Feuer zu fangen schien – und Roxanne, jung wie die Frühlingsnacht, die Quintessenz ihres eigenen jugendlichen Lachens.

›Sie passt gut zu Jeffrey‹, dachte er weiter. ›Zwei sehr junge Menschen, die sehr jung bleiben werden, bis sie mit einem Mal merken, dass sie alt geworden sind.‹

All das dachte Harry zwischen seinen ewigen Gedanken an Kitty. Er war niedergeschlagen ihretwegen. Seiner Meinung nach hätte sie inzwischen wieder kräftig genug sein müssen, um mit seinem kleinen Sohn nach Chicago zurückzukommen. Auch als er seinem Freund und dessen Frau am Fuß der Treppe eine gute Nacht wünschte, dachte er vage an Kitty.

»Du bist unser erster richtiger Hausgast«, rief Roxanne ihm nach. »Macht dich das nicht froh und stolz?«

Als er um die Treppenbiegung verschwunden war, wandte sie sich Jeffrey zu, der neben ihr stand und sich mit einer Hand auf das Geländer stützte.

»Bist du müde, mein Liebster?«

Jeffrey rieb sich mit den Fingern die Stirn.

»Ein wenig. Woher weißt du das?«

»Ach, wie könnte ich es nicht wissen!«

»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte er missgelaunt. »Rasende Kopfschmerzen. Ich werde ein paar Aspirin nehmen.«

Sie streckte sich und knipste das Licht aus, und gemeinsam, sein Arm fest um ihre Taille gelegt, stiegen sie die Treppe hinauf.

II

 

Die Woche mit Harry verging. Sie fuhren durch verträumte Gassen oder frönten auf Wiese oder See dem heiteren Müßiggang. Am Abend spielte Roxanne ihnen drinnen etwas vor, während die Asche an den glühenden Enden ihrer Zigarren weiß wurde. Dann traf ein Telegramm von Kitty ein, in dem sie Harry bat, er möge kommen und sie abholen, und so blieben Roxanne und Jeffrey allein in ihrer Zweisamkeit, deren sie nie müde zu werden schienen.

Dieses »allein« elektrisierte sie wieder. Wenn sie durchs Haus gingen, spürten sie mit jeder Faser die Gegenwart des anderen; wie ein frisch verheiratetes Paar saßen sie nebeneinander am Tisch, ganz ineinander versunken, vollkommen glücklich.

Marlowe war zwar ein vergleichsweise alter Ort, doch eine »Gesellschaft« wies er erst seit kurzem auf. Vor fünf, sechs Jahren waren zwei oder drei junge Ehepaare, »Bungalow-Menschen«, vom qualmenden Anschwellen der Stadt beunruhigt, aus Chicago weggezogen; ihre Freunde waren ihnen gefolgt. Die Curtains fanden einen etablierten »Kreis« vor, der alle Voraussetzungen besaß, sie willkommen zu heißen: Countryclub, Ballsaal und Golfplatz, Bridgeabende und Pokerabende, Partys, auf denen Bier, und solche, auf denen gar nichts getrunken wurde.

Es war ein Pokerabend, an dem sie eine Woche nach Harrys Abreise teilnahmen. Gespielt wurde an zwei Tischen, und etliche der jungen Ehefrauen rauchten und riefen laut ihre Einsätze und benahmen sich für die damalige Zeit auf höchst verwegene Weise männlich.

Roxanne hatte sich schon bald vom Spiel zurückgezogen und spazierte umher; sie schlenderte in den Anrichteraum, wo sie sich ein wenig Traubensaft nahm – von Bier bekam sie Kopfschmerzen –, und wanderte dann zwischen den Tischen hin und her, wobei sie den Spielern über die Schulter ins Blatt schaute, Jeffrey im Auge behielt und sich angenehm unaufgeregt und wohl fühlte. Jeffrey häufte mit größter Konzentration Jetons in allen Farben an, und Roxanne sah an der tiefen Falte zwischen seinen Augen, dass er mit Interesse dabei war. Sie freute sich, wenn er bei kleinen Dingen Interesse zeigte.

Leise ging sie zu ihm hinüber und setzte sich auf die Armlehne seines Stuhls.

Dort saß sie fünf Minuten lang, lauschte den knappen Zwischenbemerkungen der Männer und dem Geplapper der Frauen, das wie weicher Rauch vom Tisch aufstieg – und hörte doch beides kaum. Dann streckte sie ganz arglos die Hand aus, um sie Jeffrey auf die Schulter zu legen – als sie ihn berührte, zuckte er zusammen, stieß ein barsches Grunzen aus und riss wütend den Arm nach hinten, wobei er ihren Ellbogen streifte.

Ein allgemeines Keuchen war zu hören. Roxanne erlangte ihr Gleichgewicht wieder, stieß einen kurzen Schrei aus und sprang von der Armlehne. Das war der größte Schock ihres Lebens gewesen: eine so instinktiv brutale Geste ausgerechnet von Jeffrey, dem Inbegriff der Gutherzigkeit und Rücksicht.

Auf das Keuchen folgte Stille. Ein Dutzend Augenpaare waren auf Jeffrey gerichtet, der seinerseits aufblickte, als sähe er Roxanne zum allerersten Mal. Ein verwirrter Ausdruck trat in sein Gesicht.

»Aber, Roxanne…«, sagte er stockend.

Blitzartig entstand in einem Dutzend Köpfen ein Verdacht, das Gerücht von einem Skandal. War es möglich, dass bei diesem so verliebt wirkenden Paar irgendeine sonderbare Feindseligkeit hinter den Kulissen lauerte? Woher sonst dieser Feuerstreif an einem so wolkenlosen Himmel?

»Jeffrey!«, bat Roxannes Stimme ihn inständig; bei allem Schreck und Entsetzen wusste sie doch, dass es ein Irrtum war. Keine Sekunde lang dachte sie daran, ihn zu beschuldigen oder ihm böse zu sein. Ihr Ausruf war ein banges Flehen – »Erklär’s mir, Jeffrey«, besagte es, »erklär es Roxanne, deiner Roxanne.«

»Aber Roxanne –«, begann Jeffrey erneut. Sein verwirrter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Schmerz. Er war ohne Frage genauso erschrocken wie sie. »Das wollte ich nicht«, sagte er. »Du hast mich erschreckt. Du – ich hatte das Gefühl, als würde mich jemand angreifen. Ich – was – Herrgott noch mal, wie idiotisch!«

»Jeffrey!« Erneut war ihr Ausruf ein Gebet, Weihrauch, der einer hohen Gottheit durch dieses neue, unergründliche Dunkel hindurch dargebracht wurde.

Schon waren sie auf den Beinen und verabschiedeten sich, stammelten, entschuldigten sich, lieferten Erklärungen. Keiner von beiden machte den Versuch, es leichthin abzutun. Das wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Jeffrey sei es in letzter Zeit nicht gutgegangen, sagten sie. Er sei nervöser geworden. Beiden saß der Schreck über den unerklärten Schlag noch in den Gliedern – das Erstaunen darüber, dass für einen Moment etwas zwischen sie gekommen war, nämlich seine Wut und ihre Angst, und nun eine Traurigkeit, die zwar gewiss vorübergehend war, aber überbrückt werden musste, sofort, solange noch Zeit war. War das reißende Wasser, das ihnen da um die Füße peitschte, das grimmige Aufblitzen eines nirgends verzeichneten Abgrunds?

Draußen im Wagen unter dem Herbstmond fing er stockend an zu reden. Es sei ihm einfach – unbegreiflich, sagte er. Er habe an das Pokerspiel gedacht – sei ganz darin versunken gewesen –, und die Berührung an seiner Schulter habe auf ihn wie ein Angriff gewirkt. Ein Angriff! Er klammerte sich an dieses Wort, riss es hoch wie einen Schild. Was ihn da berührt habe, sei ihm entsetzlich gewesen. Als seine Hand sie getroffen habe, sei es verschwunden – jenes nervöse Gefühl. Mehr wisse er auch nicht.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie flüsterten Liebesworte dort in der weiten Nacht, während die friedlichen Straßen von Marlowe an ihnen vorbeizogen. Später, beim Zubettgehen, waren sie ganz ruhig. Jeffrey solle sich eine Woche freinehmen – einfach mal nichts tun und schlafen und lange Spaziergänge machen, bis dieses nervöse Gefühl von ihm wich. Nachdem sie das beschlossen hatten, fühlte sich Roxanne allmählich sicherer. Die Kissen unter ihrem Kopf wurden weich und freundlich; das Bett, auf dem sie lagen, schien breit und weiß und sehr stabil unter den Strahlen, die zum Fenster hereinströmten.

Fünf Tage später, in den ersten kühlen Minuten des Spätnachmittags, packte Jeffrey einen Eichenstuhl und warf ihn mit aller Wucht durch das Fenster auf der Vorderseite seines eigenen Hauses. Danach legte er sich wie ein Kind aufs Sofa, weinte kläglich und wollte nur noch sterben. In seinem Gehirn hatte sich ein Blutgerinnsel von der Größe einer Murmel gebildet.

III

 

Es gibt eine Art Wach-Alptraum, der einen bisweilen heimsucht, wenn man ein oder zwei Nächte Schlaf versäumt hat, ein mit extremer Müdigkeit und einer neuen Sonne aufkommendes Gefühl, dass die Qualität des Lebens um einen herum sich verändert habe. Es ist die klare Überzeugung, dass das Dasein, welches man gerade führt, auf gewisse Art ein Seitentrieb des Lebens und mit diesem nur wie ein Film oder ein Spiegel verbunden ist – weswegen die Menschen und Straßen und Häuser also lediglich Projektionen aus einer sehr verschwommenen und chaotischen Vergangenheit sind. In einem solchen Zustand befand sich Roxanne in den ersten Monaten von Jeffreys Krankheit. Sie schlief nur, wenn sie vollkommen erschöpft war, und erwachte stets wie unter einer Wolke. Die langen, sachlich abgehaltenen Konsultationen, der leichte Dunst von Arzneimitteln in den Fluren, das plötzliche Herumschleichen auf Zehenspitzen in einem Haus, das früher von fröhlichen Schritten widergehallt hatte, und am allermeisten Jeffreys weißes Gesicht zwischen den Kissen des Bettes, das sie geteilt hatten – all dies überwältigte sie und machte sie unwiderruflich älter. Die Ärzte hatten Hoffnung, aber das war auch alles. Eine lange Erholungspause, sagten sie, und Ruhe. Und so trug jetzt Roxanne die Verantwortung. Sie war es, die die Rechnungen bezahlte, sich über seine Sparbücher beugte, mit seinen Verlegern korrespondierte. Sie stand unentwegt in der Küche. Von der Krankenschwester lernte sie, seine Mahlzeiten zuzubereiten, und nach einem Monat übernahm sie die gesamte Krankenpflege. Die Schwester hatte sie aus finanziellen Gründen entlassen müssen. Eins der beiden farbigen Mädchen ging zur selben Zeit. Roxanne wurde bewusst, dass sie von Kurzgeschichte zu Kurzgeschichte gelebt hatten.

Der häufigste Besucher war Harry Cromwell. Die Nachricht hatte ihn bestürzt und deprimiert, und obwohl seine Frau inzwischen wieder bei ihm in Chicago war, fand er Zeit, mehrmals im Monat aufs Land zu kommen. Roxanne war für seine Anteilnahme dankbar – der Mann besaß eine Art Leidensfähigkeit, ein angeborenes Mitgefühl, das ihr wohltat. Roxannes Wesen hatte plötzlich an Tiefe gewonnen. Ihr war manchmal, als ob sie mit Jeffrey auch ihre Kinder verlöre, jene Kinder, die sie gerade jetzt brauchte und hätte haben sollen.

Sechs Monate nach Jeffreys Zusammenbruch, als der Alptraum verblasst und an seine Stelle nicht die alte Welt, sondern eine neue, grauere und kältere getreten war, besuchte Roxanne Harrys Frau. Da sie ohnehin gerade in Chicago war und noch eine Stunde Zeit hatte, bis ihr Zug ging, beschloss sie, ihr der Höflichkeit halber einen Besuch abzustatten.

Als sie die Wohnung betrat, fühlte sie sich sofort an einen Ort erinnert, den sie kannte – und gleich darauf fiel ihr eine um die Ecke gelegene Bäckerei ihrer Kindheit ein, eine Bäckerei mit Reihen über Reihen von pink glasierten Torten – ein muffiges Pink, Pink als Nahrungsmittel, triumphales Pink, vulgär und abscheulich.

Und so war auch diese Wohnung. Sie war pink. Ja sie roch pink!

Mrs. Cromwell öffnete ihr in einem pink-schwarzen Morgenrock die Tür. Ihre Haare waren blond, mit einem wöchentlichen Spritzer Peroxid im Ausspülwasser aufgehellt, vermutete Roxanne. Ihre Augen hatten einen wächsern-bläulichen Farbton – eine hübsche Frau, die allzu vornehm tat. Ihre Herzlichkeit war schrill und plump-vertraulich: Der Wechsel von Feindseligkeit zu Gastfreundlichkeit vollzog sich so schnell, dass beides nur im Gesicht und in der Stimme zu liegen schien, ohne je den tieferen Kern des Egoismus zu berühren oder von ihm berührt zu werden.

Doch für Roxanne war all dies zweitrangig; ihr Blick war voll ungläubiger Faszination an dem Morgenrock hängengeblieben. Er war abscheulich unsauber. Vom Saum zehn Zentimeter aufwärts war er ganz und gar von dem blauen Staub des Bodens verschmutzt; die nächsten sieben Zentimeter waren grau – dann kam allmählich seine ursprüngliche Farbe zum Vorschein: Pink. Auch an den Ärmeln und am Kragen war er schmutzig – und als die Frau sich umdrehte, um ihr voran ins Wohnzimmer zu gehen, hätte Roxanne geschworen, dass selbst ihr Hals schmutzig war.

Ein einseitiges Geplapper begann. Mrs. Cromwell äußerte sich detailliert zu ihren Vorlieben und Abneigungen, ihrem Kopf, ihrem Magen, ihren Zähnen, ihrer Wohnung – und mied mit geradezu unverschämter Akribie alles, was Roxanne mit dem Leben zu tun haben mochte, als nehme sie an, dass diese nach dem Schlag, den sie hatte einstecken müssen, das Leben peinlichst zu umgehen wünschte.

Roxanne lächelte. Dieser Kimono! Dieser Hals!

Nach fünf Minuten kam ein kleiner Junge ins Wohnzimmer getapst – ein schmutziger kleiner Junge, der einen schmutzigen, pinkfarbenen Strampler trug. Sein Gesicht war verschmiert – Roxanne hätte ihn gern auf den Schoß genommen und ihm die Nase geputzt; auch andere Stellen im Bereich seines Kopfes bedurften der Aufmerksamkeit, und seine kleinen Schuhe waren an den Zehen ausgetreten. Entsetzlich!

»Was für ein süßer kleiner Junge!«, rief Roxanne mit strahlendem Lächeln aus. »Komm doch mal her zu mir.«

Mrs. Cromwell sah ihren Sohn kalt an.

»Wie schmutzig er sich immer macht. Schauen Sie sich nur sein Gesicht an!« Sie legten ihren Kopf schräg und betrachtete es kritisch.

»Ist er nicht süß?«, wiederholte Roxanne.

»Schauen Sie sich doch seinen Strampler an«, sagte Mrs. Cromwell missbilligend.

»Man müsste ihm mal was Sauberes anziehen, nicht wahr, George?«

George sah sie komisch an. Das Wort Strampler bezeichnete für ihn ein von außen verschmutztes Kleidungsstück, genau wie dieses.

»Ich habe heute Morgen versucht, ihn ordentlich anzuziehen«, klagte Mrs. Cromwell wie jemand, dessen Geduld schrecklich strapaziert worden ist, »und dabei festgestellt, dass er keinen Strampler mehr hat – und um ihn nicht nackt herumlaufen zu lassen, habe ich ihm lieber diesen wieder angezogen – und sein Gesicht –«

»Wie viele hat er denn?« Roxannes Stimme klang freundlich interessiert, als hätte sie gefragt: »Wie viele Federfächer haben Sie?«

»Oh –« Mrs. Cromwell legte ihre hübsche Stirn in Falten und dachte nach. »Fünf, glaube ich. Genügend, ich weiß.«

»Man bekommt sie für fünfzig Cent das Stück.«

In Mrs. Cromwells Augen zeigte sich Überraschung – und eine Spur von Überheblichkeit. Der Preis von Stramplern!

»Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Er sollte genügend Strampler haben, aber ich hatte die ganze Woche über keine Minute Zeit, die Wäsche wegbringen zu lassen.« Dann tat sie das Thema als unwichtig ab, indem sie sagte: »Ich muss Ihnen etwas zeigen –«

Sie standen auf, und Roxanne folgte ihr, an der offenen Tür eines Badezimmers vorbei, dessen mit Kleidungsstücken übersäter Boden bewies, dass die Wäsche tatsächlich schon eine Weile nicht weggebracht worden war, in ein anderes Zimmer, das sozusagen die Quintessenz der Pinkheit darstellte. Dies war Mrs. Cromwells Zimmer.

Hier öffnete die Hausherrin eine Schranktür und bot Roxannes Augen eine verblüffende Sammlung Damenunterwäsche dar. Es waren Dutzende hauchdünner Spitzen- und Seidenwunderwerke, allesamt sauber, glatt, dem Anschein nach unangetastet. Daneben hingen auf Bügeln drei neue Abendkleider.

»Ich habe ein paar wunderschöne Sachen«, sagte Mrs. Cromwell, »aber nicht viel Gelegenheit, sie zu tragen. Harry geht nicht gern aus.« Groll schlich sich in ihre Stimme. »Er ist voll und ganz zufrieden, wenn ich den ganzen Tag lang Kinderschwester und Haushälterin spiele und am Abend die liebende Ehefrau.«

Roxanne lächelte erneut.

»Sie haben da ein paar wunderschöne Kleidungsstücke.«

»Ja, das stimmt. Ich zeige Ihnen noch –«

»Wunderschön«, unterbrach sie Roxanne, »aber wenn ich meinen Zug noch erreichen will, muss ich jetzt sofort aufbrechen.«

Sie merkte, dass ihre Hände zitterten. Sie wollte damit diese Frau packen und sie schütteln – richtig schütteln. Sie wollte, dass man sie irgendwo einsperrte und Böden schrubben ließ.

»Wunderschön«, wiederholte sie, »aber ich wollte nur kurz hereinschauen.«

»Es tut mir leid, dass Harry nicht hier ist.«

Sie gingen zur Tür.

»– und, ach ja«, sagte Roxanne mühsam – doch ihre Stimme war immer noch sanft, und ihre Lippen lächelten –, »ich glaube, Sie bekommen diese Strampler bei Argile’s. Auf Wiedersehen.«

Erst als sie am Bahnhof war und ihre Fahrkarte nach Marlowe gelöst hatte, merkte Roxanne, dass sie zum ersten Mal seit sechs Monaten für fünf Minuten nicht an Jeffrey gedacht hatte.

IV

 

Eine Woche später erschien Harry in Marlowe; er traf unerwartet um fünf Uhr am Nachmittag ein und sank, sobald er den Weg heraufgekommen war, erschöpft auf einen Verandastuhl. Roxanne hatte selbst einen anstrengenden Tag hinter sich und war todmüde. Um halb sechs wurden die Ärzte erwartet, die einen berühmten Nervenspezialisten aus New York mitbringen sollten. Sie war aufgeregt und zutiefst deprimiert, doch der Ausdruck in Harrys Augen bewog sie dazu, sich zu ihm zu setzen.

»Was ist los?«

»Nichts, Roxanne«, behauptete er. »Ich wollte nur sehen, wie es Jeff geht. Kümmere dich nicht um mich.«

»Harry – du hast doch irgendetwas.«

»Nein, nichts«, wiederholte er. »Wie geht es Jeff?«

Ihr Gesicht verdunkelte sich vor Sorge.

»Ein bisschen schlechter, Harry. Doktor Jewett aus New York ist auf dem Weg hierher. Sie meinen, er könne mir etwas Genaues sagen. Er wird versuchen herauszufinden, ob diese Lähmung etwas mit dem ursprünglichen Blutgerinnsel zu tun hat.«

Harry stand auf.

»Ach, das tut mir leid«, sagte er unbeholfen. »Ich wusste nicht, dass du einen Arztbesuch erwartest. Dann wäre ich nicht gekommen. Ich wollte nur mal ein Stündchen auf eurer Veranda im Schaukelstuhl sitzen –«

»Setz dich«, befahl sie ihm.

Harry zögerte.

»Setz dich, Harry, lieber Junge.« Ihre Freundlichkeit floss jetzt in Strömen – hüllte ihn ein. »Ich sehe doch, dass du irgendetwas hast. Du bist weiß wie ein Bettlaken. Ich hole dir eine kühle Flasche Bier.«

Unvermittelt sackte er auf seinem Stuhl zusammen und barg das Gesicht in den Händen.

»Ich kann sie einfach nicht glücklich machen«, sagte er langsam. »Ich habe es wieder und wieder versucht. Heute Morgen hatten wir einen kleinen Streit über das Frühstück – ich frühstücke seit einiger Zeit immer in der Stadt –,und – na ja, kurz nachdem ich ins Büro gegangen bin, hat sie das Haus verlassen und ist mit George und einem Koffer voller Spitzenunterwäsche zu ihrer Mutter an die Ostküste gefahren.«

»Harry!«

»Und ich weiß nicht –«

Jetzt knirschte es auf dem Kies, und ein Wagen bog in die Einfahrt ein. Roxanne stieß einen kleinen Schrei aus.

»Das ist Doktor Jewett.«

»Oh, ich –«

»Du wartest doch, ja?«, unterbrach sie ihn zerstreut. Er sah, dass sein Problem an der aufgewühlten Oberfläche ihres Bewusstseins schon nicht mehr existierte.

Eine peinliche Minute lang machte man sich unkonzentriert und flüchtig miteinander bekannt. Dann folgte Harry den anderen ins Haus und sah ihnen nach, bis sie im oberen Stockwerk verschwunden waren. Er ging in die Bibliothek und setzte sich auf das große Sofa.

Eine Stunde lang beobachtete er, wie die Sonne langsam an den gemusterten Faltenwürfen der Chintzvorhänge hinaufwanderte. In der tiefen Stille wuchs sich das Summen einer Wespe, die an der Innenseite der Fensterscheibe gefangen war, zu regelrechtem Lärm aus. Von Zeit zu Zeit drang aus dem oberen Stockwerk ebenfalls ein Summen wie von mehreren größeren, hinter größeren Fensterscheiben gefangenen Wespen. Er hörte leise Schritte, das Aneinanderstoßen von Flaschen, laut rauschendes Wasser.

Was hatten er und Roxanne getan, dass das Leben ihnen solche schweren Schläge versetzte? Oben bei seinem Freund fand gerade eine Seelenbeschau bei lebendigem Leibe statt; und er selbst saß hier in diesem stillen Zimmer und lauschte der Klage einer Wespe, so wie er als Junge von einer strengen Tante dazu verdonnert worden war, stundenlang auf einem Stuhl zu sitzen und für irgendein schlechtes Betragen zu büßen. Doch wer hatte ihn hierhergesetzt? Welche zornige Tante hatte sich aus dem Himmel heruntergebeugt, um ihn büßen zu lassen für – ja, wofür?

Was Kitty anging, empfand er große Hoffnungslosigkeit. Sie war zu teuer – das war das unabänderliche Problem. Auf einmal hasste er sie. Er wollte sie zu Boden werfen und nach ihr treten – ihr sagen, dass sie eine Betrügerin und ein Blutsauger war – dass sie schmutzig war. Außerdem sollte sie ihm seinen Jungen geben.

Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Da hörte er, dass oben im ersten Stock jemand im Flur genau im Gleichschritt mit ihm auf und ab zu gehen begann. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie so im Takt miteinander weitergehen würden, bis die andere Person das Ende des Flurs erreicht hatte.

Kitty war zu ihrer Mutter gefahren, um dort Trost zu suchen. Bei Gott, welcher Trost war von dieser Mutter zu erwarten! Er versuchte sich das Aufeinandertreffen vorzustellen: die geschmähte Ehefrau, die sich ihrer Mutter an die Brust warf. Es gelang ihm nicht. Dass Kitty imstande war, tiefe Trauer zu empfinden, konnte er einfach nicht glauben. Er betrachtete sie zunehmend als eine unnahbare und gefühllose Person. Gewiss würde sie sich von ihm scheiden lassen und irgendwann wieder heiraten. Er begann darüber nachzudenken. Wen würde sie heiraten? Er lachte bitter, verstummte dann. Ein Bild blitzte vor seinem geistigen Auge auf – Kitty, wie sie einen Mann umarmte, dessen Gesicht er nicht erkennen konnte; Kittys Lippen auf den Lippen eines anderen, ganz offenkundig voller Leidenschaft.

»Gott!«, rief er laut. »Gott! Gott! Gott!«

Dann überschlugen sich die Bilder. Die Kitty vom Morgen verblasste; der schmutzige Kimono rollte sich auf und verschwand; Schmollmünder, Wutausbrüche und Tränen waren allesamt wie weggewischt. Sie war wieder Kitty Carr – Kitty Carr mit den blonden Haaren und den großen Kulleraugen. Ach, sie hatte ihn doch geliebt; sie hatte ihn geliebt.

Nach einer Weile nahm er wahr, dass etwas mit ihm nicht stimmte, etwas, das nichts mit Kitty oder Jeff zu tun hatte, sondern ganz anderer Art war. Dann plötzlich die überraschende Erkenntnis: Er hatte Hunger. So einfach war das! Er würde gleich in die Küche gehen und die farbige Köchin um ein Sandwich bitten. Danach musste er wieder in die Stadt zurück.

An der Wand hielt er inne, zerrte an etwas Rundem und steckte es sich, nachdem er es geistesabwesend betastet hatte, in den Mund wie ein Baby ein buntes Spielzeug. Dann biss er hinein – ah!

Sie hatte den verdammten Kimono dagelassen, diesen schmutzigen pinkfarbenen Kimono. Sie hätte wenigstens so viel Anstand besitzen können, ihn mitzunehmen, dachte er. Dieses Kleidungsstück würde im Haus hängen wie der Leichnam ihrer kranken Verbindung. Er würde versuchen, es wegzuwerfen, sich aber niemals dazu überwinden können. Wie Kitty würde es sein, weich und formbar, dabei undurchdringlich. Man konnte Kitty nicht bewegen; man konnte sie nicht erreichen. Da war nichts, was man hätte erreichen können. Das wusste er sehr gut – er hatte es schon immer gewusst.

Er griff nach einem weiteren Biskuit und riss es mit einiger Mühe mitsamt dem Nagel aus der Wand. Vorsichtig zog er den Nagel aus dem Biskuit und fragte sich träge, ob er den ersten mitgegessen hatte. Lächerlich! Daran würde er sich ja wohl erinnern – es war ein riesiger Nagel. Er spürte seinen Magen. Offenbar war er sehr hungrig. Er überlegte – erinnerte sich – richtig, gestern hatte er nicht zu Abend gegessen. Das Mädchen hatte seinen freien Tag gehabt, und Kitty hatte in ihrem Zimmer gelegen und Schokoladenplätzchen gegessen. Sie hatte gesagt, sie fühle sich »erdrückt« und könne seine Nähe nicht ertragen. Er hatte George gebadet, ihn zu Bett gebracht und sich dann auf die Couch gelegt, um sich einen Moment auszuruhen, bevor er selbst etwas zu Abend aß. Dort war er eingeschlafen und gegen elf wieder aufgewacht, um festzustellen, dass nichts im Eisschrank war außer einem Löffel Kartoffelsalat. Den hatte er gegessen, außerdem ein paar Schokoladenplätzchen, die er auf Kittys Kommode fand. Am Morgen hatte er eilig in der Stadt gefrühstückt, bevor er ins Büro gefahren war. Gegen Mittag jedoch hatte er begonnen, sich Kittys wegen Sorgen zu machen, und daher beschlossen, nach Hause zu fahren und sie zum Essen auszuführen. Das Nächste war dann die Nachricht auf seinem Kopfkissen gewesen. Der Stapel Unterwäsche in ihrem Schrank war weg – und sie hatte Anweisungen hinterlassen, die das Nachsenden ihres Schrankkoffers betrafen.

Er hatte noch nie solchen Hunger gehabt, dachte er.

Um fünf Uhr, als die Besuchskrankenschwester auf Zehenspitzen die Treppe herunterkam, saß er auf dem Sofa und starrte auf den Teppich.

»Mr. Cromwell?«

»Ja?«

»Mrs. Curtain kann heute nicht mit Ihnen zu Abend essen. Sie fühlt sich nicht wohl. Ich soll Ihnen sagen, dass die Köchin Ihnen etwas zubereiten wird und dass Sie im Gästezimmer schlafen können.«

»Ist sie denn krank?«

»Sie will sich oben in ihrem Zimmer hinlegen. Die Untersuchung ist gerade vorbei.«

»Haben sie – haben sie irgendetwas herausgefunden?«

»Ja«, sagte die Krankenschwester sanft. »Doktor Jewett meint, es gibt keine Hoffnung. Mr. Curtain kann noch ewig weiterleben, aber er wird nie mehr sehen oder sich bewegen oder denken können. Er wird nur noch atmen.«

»Nur noch atmen?«

»Ja.«

Erst jetzt fiel der Krankenschwester auf, dass neben dem Schreibtisch, wo ihrer Erinnerung nach ein Dutzend sonderbare runde Gegenstände in einer Reihe gehangen hatten, die sie für eine Art exotische Dekoration gehalten hatte, jetzt nur noch einer übrig war. Anstelle der anderen sah man nun eine Reihe kleiner Löcher in der Wand.

Harry folgte benommen ihrem Blick und stand dann auf.

»Ich denke, ich werde nicht bleiben. Ich glaube, es fährt bald ein Zug.«

Sie nickte. Harry nahm seinen Hut.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie freundlich.

»Auf Wiedersehen«, sagte er wie zu sich selbst, und als gehorche er einem inneren Zwang, blieb er auf dem Weg zur Tür stehen, und sie sah, wie er den letzten Gegenstand aus der Wand zog und ihn sich in die Tasche steckte.

Dann öffnete er die Fliegengittertür, ging die Verandastufen hinab und verschwand aus ihrem Blickfeld.

V

 

Nach einer Weile ging der saubere weiße Farbanstrich des Curtain’schen Hauses einen endgültigen Kompromiss mit vielen Julisonnen ein und bewies seinen guten Glauben, indem er grau wurde. Er blätterte ab – große Placken spröder alter Farbe bogen sich nach hinten wie alte Männer bei einer grotesken Gymnastikübung und fielen schließlich ins ungemähte Gras, um dort eines Schimmeltods zu sterben. Die Farbe an den Säulen vor dem Haus bekam Schlieren; die weiße Kugel am linken Türpfosten brach ab; die grünen Fensterläden wurden immer dunkler, ehe sie jeden Anschein von Farbigkeit verloren.

Es wandelte sich zu einem Haus, das von sensibleren Naturen gemieden wurde – eine Kirchengemeinde kaufte das Grundstück schräg gegenüber für einen Friedhof, und das genügte, zusammen mit »dem Haus, in dem Mrs. Curtain und der lebendige Leichnam wohnen«, um diesem Teil der Straße eine gespenstische Aura zu verleihen. Was nicht hieß, dass man Mrs. Curtain allein ließ. Männer und Frauen statteten ihr Besuche ab, trafen sie in der Stadt, wo sie ihre Einkäufe machte, brachten sie im Auto nach Hause – und kamen einen Augenblick mit hinein, um zu reden und sich in dem Glanz zu sonnen, der noch immer in ihrem Lächeln spielte. Männer jedoch, die sie nicht kannten, folgten ihr auf der Straße nicht mehr mit bewundernden Blicken; ein durchsichtiger Schleier hatte sich über ihre Schönheit gelegt und deren Lebendigkeit zerstört, wenn er auch weder Falten noch Fett mit sich brachte.

In der Stadt wurde sie zu einer Art Persönlichkeit, und man erzählte sich eine Reihe kleiner Geschichten über sie: Als zum Beispiel eines Winters der Boden auf dem Land gefroren war, so dass keine Droschken und Automobile mehr fahren konnten, hatte sie sich selbst das Schlittschuhlaufen beigebracht, damit sie das Lebensmittelgeschäft und die Apotheke schnell erreichen konnte und Jeffrey nicht lange allein lassen musste. Es hieß, seit er gelähmt sei, schlafe sie Nacht für Nacht in einem kleinen Bett neben dem seinen und halte seine Hand.

Von Jeffrey Curtain sprachen die Leute, als wäre er schon tot. Diejenigen, die ihn gekannt hatten, starben im Laufe der Jahre oder zogen weg – aus dem alten Kreis derer, die zusammen Cocktails getrunken, die Ehefrauen der anderen beim Vornamen genannt und Jeff für den geistreichsten und begabtesten Mann gehalten hatten, der je in Marlowe lebte, war nur noch ein halbes Dutzend übrig. Jetzt war er für den gelegentlichen Besucher höchstens noch der Grund, aus dem Mrs. Curtain sich manchmal entschuldigte und die Treppe hinaufeilte; er war ein Stöhnen oder ein Aufschrei, der von der Gewitterluft eines Sonntagnachmittags ins stille Wohnzimmer getragen wurde.

Er konnte sich nicht bewegen, war stockblind, taub und vollkommen ohne Bewusstsein. Den ganzen Tag lang lag er in seinem Bett, bis auf die kurze Zeit jeden Morgen, wenn sie ihn in den Rollstuhl setzte, um sein Zimmer herzurichten. Die Lähmung kroch langsam auf sein Herz zu. Anfangs – im ersten Jahr – hatte Roxanne, wenn sie seine Hand hielt, bisweilen noch den Hauch einer Reaktion, einen leisen Druck, gespürt – eines Abends jedoch nicht mehr und von da an nie wieder, und zwei Nächte lang lag sie mit offenen Augen da, starrte ins Dunkel und fragte sich, was da verschwunden war, welcher Teil seiner Seele die Flucht ergriffen hatte und welchen letzten Gran Verstehen die zerrütteten, kaputten Nerven seinem Gehirn wohl noch zutrugen.

Danach starb die Hoffnung. Ohne ihre unermüdliche Pflege wäre der letzte Funken längst erloschen. Jeden Morgen rasierte und wusch sie ihn, verfrachtete ihn eigenhändig vom Bett in den Stuhl und wieder ins Bett. Sie war unentwegt bei ihm im Zimmer, brachte ihm Medizin, strich sein Kissen glatt, redete mit ihm beinahe so, wie man mit einem fast menschlichen Hund redet, ohne Hoffnung auf Antwort oder Dank, doch mit der diffusen Überzeugung der Gewohnheit – ein Gebet, wenn der Glaube nicht mehr da ist.

Nicht wenige Menschen, darunter ein berühmter Nervenspezialist, sagten ihr unmissverständlich, dass es zwecklos sei, ihm so viel Pflege angedeihen zu lassen; dass Jeffrey, wäre er bei Bewusstsein, sich wünschen würde zu sterben; dass er, falls sein Geist irgendwo in höheren Gefilden schwebte, mit keiner solchen Aufopferung ihrerseits einverstanden wäre, sondern nur ungeduldig darauf warten würde, dass das Gefängnis seines Körpers ihn endlich ganz freigab.

»Aber verstehen Sie«, antwortete sie und schüttelte nachsichtig den Kopf, »als ich Jeffrey mein Jawort gegeben habe, sollte das gelten, bis ich aufhören würde, ihn zu lieben.«

»Aber«, wurde tatsächlich eingewandt, »das hier können Sie doch nicht lieben.«

»Ich kann lieben, was es einmal war. Was bleibt mir sonst übrig?«

Der Spezialist zuckte mit den Schultern und ging fort, um zu berichten, dass Mrs. Curtain eine bemerkenswerte Frau sei, geradezu engelsgleich – aber, fügte er hinzu, es sei auch ein Jammer.

»Bestimmt gibt es irgendeinen Mann, oder ein Dutzend Männer, die ganz wild darauf sind, sich ihrer anzunehmen…«

Die gab es – gelegentlich. Hier und da keimte Hoffnung in jemandem auf – die schließlich in Verehrung mündete. Diese Frau trug keine Liebe in sich außer, seltsamerweise, der Liebe zum Leben, zu den Menschen auf der Welt, angefangen beim Landstreicher, dem sie Essen gab, das sie selbst nur schwer entbehren konnte, bis hin zum Schlachter, der ihr über die fleischige Theke hinweg ein billiges Steak verkaufte. Der Rest war irgendwo in jener ausdruckslosen Mumie verschlossen, die, das Gesicht mechanisch wie eine Kompassnadel stets zum Licht gewandt, stumm darauf wartete, dass die letzte Welle ihr Herz überschwemmte.

Nach elf Jahren starb er mitten in einer Nacht im Mai, als der Fliederduft über dem Fenstersims hing und draußen eine sanfte Brise durch das Gekreisch der Frösche und Zikaden wehte. Roxanne wachte um zwei Uhr auf und merkte erschrocken, dass sie zu guter Letzt allein im Haus war.

VI

 

Danach saß sie viele Nachmittage lang auf ihrer verwitterten Veranda und schaute über die Felder, die in sanften Wellen zur weiß-grünen Stadt hin abfielen. Sie fragte sich, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie war sechsunddreißig – gutaussehend, stark und frei. Die Jahre hatten das Geld aus Jeffreys Versicherung aufgezehrt; widerstrebend hatte sie sich von dem Land links und rechts von ihr getrennt und sogar eine kleine Hypothek auf das Haus aufgenommen.

Seit dem Tod ihres Mannes war sie von einer großen körperlichen Unruhe ergriffen. Sie vermisste es, sich morgens um ihn zu kümmern, sie vermisste die eiligen Fahrten in die Stadt, die kurzen und dadurch umso intensiveren nachbarschaftlichen Begegnungen beim Schlachter oder im Lebensmittelgeschäft; sie vermisste das Kochen für zwei, die Zubereitung feiner flüssiger Speisen für ihn. Eines Tages, als sie nicht wusste, wohin mit ihrer Energie, ging sie hinaus und grub den ganzen Garten um, eine Arbeit, die seit Jahren nicht getan worden war.

Und nachts war sie allein in dem Zimmer, das die Herrlichkeit ihrer Ehe miterlebt hatte und später den Schmerz. Um Jeff wiederzutreffen, ging sie im Geist lieber zu jenem wunderbaren Jahr zurück, jener starken, leidenschaftlichen Hingabe und Zweisamkeit, anstatt sich auf eine problematische zukünftige Begegnung zu freuen; oft wachte sie auf und sehnte sich nach jenem Körper neben ihr – leblos und doch atmend – immer noch Jeff.

Eines Nachmittags, sechs Monate nach seinem Tod, saß sie in einem schwarzen Kleid, das ihrer Figur die leiseste Andeutung von Rundlichkeit nahm, auf der Veranda. Es war Altweibersommer, alles um sie herum goldbraun; vom Seufzen der Blätter durchbrochene Stille; im Westen eine Vier-Uhr-Sonne, die rote und gelbe Schlieren über einen flammenden Himmel träufelte. Die meisten Vögel waren schon fort – nur ein Spatz, der sich auf dem Sims einer Säule sein Nest gebaut hatte, ließ immer wieder sein Piepsen hören und flatterte zur Abwechslung bisweilen ein wenig in der Luft herum. Roxanne rückte ihren Stuhl so hin, dass sie ihn beobachten konnte, und hing im Schoß des Nachmittags schläfrig ihren Gedanken nach.

Harry Cromwell würde aus Chicago zum Abendessen kommen. Seit seiner Scheidung vor über acht Jahren war er häufig zu Besuch gewesen. Sie hatten eine Art Tradition daraus gemacht – sobald er eingetroffen war, hatten sie gemeinsam nach Jeff gesehen; Harry hatte sich auf die Bettkante gesetzt und mit kerniger Stimme gefragt:

»Na, Jeff, alter Junge, wie geht’s dir denn heute?«

Roxanne stand stets dabei, beobachtete Jeff genau und träumte davon, dass ein schattenhaftes Wiedererkennen des früheren Freundes über die zerstörte Seele huschte – doch der Kopf, bleich, gemeißelt, drehte sich mit der einzigen Bewegung, deren er fähig war, nur langsam zum Licht, als tastete irgendetwas hinter den blinden Augen nach einem anderen Licht, das längst erloschen war.

Diese Besuche erstreckten sich über acht Jahre – zu Ostern, Weihnachten, Thanksgiving und an etlichen Sonntagen war Harry erschienen, hatte Jeff seinen Besuch abgestattet und danach auf der Veranda lange Gespräche mit Roxanne geführt. Er liebte sie hingebungsvoll. Er machte kein Hehl daraus, versuchte aber auch nicht, die Beziehung zu vertiefen. Sie war seine beste Freundin, so wie die Masse Fleisch dort auf dem Bett sein bester Freund gewesen war. Sie war der Frieden, sie war die Ruhe; sie war die Vergangenheit. Von seiner eigenen Tragödie wusste nur sie allein.

Er war auf der Beerdigung gewesen, doch dann hatte ihn die Firma, für die er arbeitete, an die Ostküste versetzt, und erst eine Geschäftsreise hatte ihn nun in die Nähe von Chicago geführt. Roxanne hatte ihm geschrieben, er solle kommen, wann immer er könne – nach einer Nacht in der Stadt war er in den Zug gestiegen.

Sie gaben sich die Hand, und er half ihr, zwei Schaukelstühle zusammenzurücken.

»Wie geht es George?«

»Gut, Roxanne. Geht anscheinend gern zur Schule.«

»Es war bestimmt das einzig Richtige, ihn dorthin zu schicken.«

»Bestimmt –«

»Vermisst du ihn so sehr, Harry?«

»Ja – schon. Er ist ein lustiger Bursche –«

Er erzählte viel von George. Roxanne hörte interessiert zu. Harry solle ihn doch in den nächsten Ferien einmal mitbringen. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen – ein Kind in einem schmutzigen Strampler.

Sie ließ ihn mit der Zeitung allein, während sie das Essen zubereitete – vier Koteletts hatte sie und ein bisschen spätes Gemüse aus ihrem eigenen Garten. Sie richtete alles an und rief ihn zu Tisch, und als sie sich hingesetzt hatten, unterhielten sie sich weiter über George.

»Wenn ich ein Kind hätte –«, sagte sie.

Später, nachdem Harry ihr die wenigen Ratschläge erteilt hatte, die er zum Thema Kapitalanlagen geben konnte, schlenderten sie durch den Garten, hielten ab und zu inne und riefen sich ins Gedächtnis, dass hier eine Zementbank gestanden habe und dort der Tennisplatz gewesen sei…

»Weißt du noch –«

Dann überließen sie sich einer Flut von Erinnerungen: der Tag, an dem sie all die Schnappschüsse gemacht hatten und Jeff rittlings auf dem Kalb abgelichtet worden war; und die Skizze, die Harry von Jeff und Roxanne gezeichnet hatte, beide der Länge nach auf dem Gras ausgestreckt, die Köpfe dicht beieinander. Es hatte einen Laubengang als Verbindung zwischen dem Scheunen-Schreibzimmer und dem Haus geben sollen, damit Jeff auch an regnerischen Tagen dorthin gelangen konnte – mit dem Gitter war schon begonnen worden, doch jetzt war nichts mehr davon übrig als ein am Haus befestigtes, zerbrochenes dreieckiges Stück, das einem ramponierten Hühnerstall glich.

»Und die Mint Juleps!«

»Und Jeffs Notizbuch! Weißt du noch, wie wir gelacht haben, wenn wir es ihm aus der Tasche zogen und laut daraus vorlasen? Und wie wild er dann wurde?«

»Rasend! Er war so kindisch, was sein Schreiben anging.«

Einen Moment lang schwiegen sie beide, dann sagte Harry:

»Wir wollten uns hier auch ein Haus kaufen, weißt du noch? Die zwanzig Morgen gleich nebenan. Und was für Partys wir dann gefeiert hätten!«

Erneut entstand eine Pause, die diesmal Roxanne mit einer leisen Frage beendete.

»Hörst du manchmal von ihr, Harry?«

»Ja«, gestand er ganz ruhig. »Sie lebt in Seattle. Hat wieder geheiratet, einen Mann namens Horton, so eine Art Bauholz-Magnat. Er ist um einiges älter als sie.«

»Und benimmt sie sich auch gut?«

»Ja – ich meine, soweit ich weiß. Sie hat ja alles. Nicht viel zu tun außer sich zum Abendessen für diesen Burschen hübsch zu machen.«

»Verstehe.«

Mühelos wechselte er das Thema.

»Wirst du das Haus behalten?«

Sie nickte. »Ich denke schon. Ich wohne schon so lange hier, Harry; wegzuziehen ist eine schreckliche Vorstellung für mich. Ich hatte erst überlegt, eine Ausbildung zur Krankenpflegerin zu machen, aber dann müsste ich natürlich von hier weggehen. Ich bin so gut wie entschlossen, Pensionsdame zu werden.«

»In einer Pension zu wohnen?«

»Nein. Eine zu führen. Gibt es etwas Absonderlicheres als eine Pensionsdame? Jedenfalls hätte ich ein schwarzes Mädchen und würde im Sommer ungefähr acht und im Winter wenn möglich zwei oder drei Gäste beherbergen. Natürlich muss ich das Haus vorher neu streichen und von innen renovieren lassen.«

Harry dachte nach.

»Roxanne, also – natürlich weißt du am besten, was gut für dich ist, aber es ist doch erschreckend, Roxanne. Du bist einmal als Braut hierhergekommen.«

»Vielleicht«, sagte sie, »ist das der Grund, weshalb es mir nichts ausmacht, als Pensionsdame hierzubleiben.«

»Ich erinnere mich da an gewisse Biskuits.«

»Ach, die Biskuits«, rief sie. »Na, so wie du sie angeblich in dich hineingestopft hast, können sie ja nicht ganz und gar schlecht gewesen sein. Ich war so deprimiert an dem Tag, aber als die Krankenschwester mir von den Biskuits erzählte, musste ich trotzdem lachen.«

»Ich habe gesehen, dass die zwölf Löcher von den Nägeln, die Jeff damals in die Wand der Bibliothek geschlagen hat, immer noch da sind.«

»Ja.«

Es wurde jetzt sehr dunkel und die Luft allmählich kühl und frisch; ein kleiner Windstoß ließ einen letzten Blätterregen sprühen. Roxanne zitterte ein wenig.

»Lass uns lieber reingehen.«

Er sah auf die Uhr.

»Es ist spät. Ich muss aufbrechen. Ich fahre morgen wieder nach Osten.«

»Musst du?«

Sie verharrten eine Weile direkt unterhalb der Veranda und sahen zu, wie aus der Ferne, vom See her, ein Mond herbeischwebte, der voller Schnee zu sein schien. Der Sommer war vorbei und nun auch der Altweibersommer. Das Gras war kalt, und weder Nebel noch Tau lag darauf. Sobald Harry sich verabschiedet hätte, würde sie hineingehen und das Gas anzünden und die Fensterläden schließen, und er würde den kleinen Pfad hinuntergehen und dann weiter in die Stadt. Für diese beiden war das Leben schnell gekommen und gegangen, und geblieben war keine Bitterkeit, sondern Bedauern; keine Enttäuschung, sondern nur Schmerz. Als sie sich die Hand gaben, war das Mondlicht schon so hell, dass jeder in den Augen des anderen die Güte sah, die sich dort gesammelt hatte.

Winterträume
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_000.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_001.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_002.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_003.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_004.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_005.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_006.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_007.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_008.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_009.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_010.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_011.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_012.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_013.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_014.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_015.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_016.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_017.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_018.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_019.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_020.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_021.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_022.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_023.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_024.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_025.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_026.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_027.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_028.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_029.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_030.html