Absolution
I
Es gab einmal einen Priester mit kalten, wässrigen Augen; der weinte in der Stille der Nacht kalte Tränen. Er weinte, weil die Nachmittage so heiß und lang waren und weil er sich unfähig fühlte, die mystische Vereinigung mit unserem Herrn ganz zu erreichen. Manchmal, gegen vier, hörte er, wie auf dem Weg vor seinem Fenster schwedische Mädchen raschelnd vorübergingen, und empfand ihr schrilles Lachen als einen schneidenden Missklang, der ihn laut beten und die Dämmerung herbeiflehen ließ. Gegen Abend dann beruhigten sich die lachenden Stimmen. Aber mehrere Male war er zur Dämmerstunde an Rombergs strahlend hell erleuchtetem Drugstore mit den blitzenden Hähnen der Limonadenbar vorbeigekommen, und dabei hatte er den schrecklich süßen Duft billiger Toilettenseife in der Luft wahrgenommen. Immer wenn er samstags abends vom Beichthören zurückkam, führte ihn sein Weg dort vorbei. Mit der Zeit hielt er sich tunlichst auf der anderen Straßenseite, so dass der Seifenduft ihn nicht erreichte, sondern drüben weihrauchähnlich zum sommerlichen Mond emporstieg.
Vor der wahnsinnigen Hitze des Nachmittags aber gab es kein Entrinnen. So weit er von seinem Fenster sehen konnte, drängten die Weizenfelder von Dakota in das Tal des Red River. Das war ein fürchterlicher Anblick, und wenn er die Augen gequält auf das Teppichmuster senkte, verirrten sich seine brütenden Gedanken in einem grotesken Labyrinth, dessen Gänge unweigerlich wieder in die grelle Sonne mündeten.
Als er eines Nachmittags an diesem Punkt angelangt war und sein Geist nur noch wie ein altes Uhrwerk abschnurrte, führte seine Haushälterin einen hübschen, ernsten Jungen von elf Jahren zu ihm herein, der Rudolph Miller hieß. Der Junge setzte sich auf einen Stuhl mitten in einem Sonnenfleck, und der Geistliche an seinem Nussbaumschreibtisch tat, als sei er sehr beschäftigt. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn der Besucher von dem Alpdruck seines Zimmers entlastete.
Nun wandte er sich um und starrte plötzlich in zwei große, flackernde Augen, die kobaltblau aufleuchteten. Zunächst war er über ihren Ausdruck erschrocken; dann erst bemerkte er, dass sein Besucher sich in einem Zustand elendster Angst befand.
»Deine Lippen zittern ja«, sagte Pater Schwartz bestürzt.
Der Junge bedeckte seinen zitternden Mund mit der Hand.
»Bist du in Nöten?«, fragte Pater Schwartz streng. »Nimm die Hand vom Mund und sag mir, was mit dir los ist.«
Der Junge – Pater Schwartz erkannte in ihm jetzt den Sohn des Spediteurs Miller, eines Pfarrmitglieds – zog widerstrebend die Hand von seinem Mund und ließ sich in ersterbendem Flüsterton vernehmen:
»Vater Schwartz – ich habe eine entsetzliche Sünde begangen.«
»Eine Sünde gegen die Keuschheit?«
»Nein Vater… schlimmer.«
Pater Schwartz fuhr jäh auf.
»Hast du jemand ermordet?«
»Nein – aber ich glaube…« Die Stimme hob sich zu einem Winseln.
»Möchtest du zur Beichte gehen?«
Der Junge schüttelte unglücklich den Kopf. Pater Schwartz räusperte sich, um seine Stimme für einen beruhigenden, freundlichen Zuspruch herabzumildern. Jetzt war der Augenblick, seine eigene Qual zu vergessen; er musste versuchen, als Stellvertreter Gottes zu handeln. Er sprach im Stillen eine fromme Anrufung und hoffte, Gott werde ihm helfen, das Richtige zu tun.
»Nun sag mal, was du getan hast«, mahnte er in dem neuen milden Tonfall.
Der Junge blickte ihn durch seine Tränen hindurch an und fühlte sich durch den Eindruck moralischer Wendigkeit, den der verstörte Priester vermittelte, ermutigt. Indem er so viel von sich preisgab, wie ihm möglich war, begann Rudolph Miller seine Geschichte zu erzählen.
»Am Sonnabend, vor drei Tagen, war’s – da sagte mein Vater, ich müsste zur Beichte, denn ich war einen Monat nicht gewesen, meine Familie nämlich, die gehen jede Woche, und ich war nicht mit. Und meinetwegen, es machte mir nichts aus. Ich wollte bis nach dem Abendessen warten, denn ich trieb mich gerade mit Kameraden rum, und Vater fragte mich, ob ich gegangen sei, und ich sagte ›nein‹, und da nahm er mich beim Kragen und sagte ›Jetzt gehst du aber‹, da sagte ich ›in Ordnung‹, und so ging ich rüber zur Kirche. Und er schrie hinter mir her: ›Untersteh dich, wiederzukommen, bevor du nicht da warst‹…«
II
»Am Sonnabend, vor drei Tagen…«
Der Samtvorhang des Beichtstuhls fiel wieder in seine trostlosen Falten zurück und ließ nur die abgewetzte Schuhsohle eines alten Mannes sehen. Hinter dem Vorhang war eine unsterbliche Seele allein mit Gott und dem Reverend Adolphus Schwartz, dem Priester der Pfarrei. Eine Stimme hob an, ein mühsames Flüstern mit verhaltenen Zischlauten, das von Zeit zu Zeit durch die vernehmbar fragende Stimme des Priesters unterbrochen wurde.
Rudolph Miller wartete auf Knien in der Bank neben dem Beichtstuhl und bemühte sich mit angespannten Nerven, zu hören und auch wieder nicht zu hören, was drinnen gesprochen wurde. Dass man den Priester hier draußen verstehen konnte, beunruhigte ihn. Als Nächster war er an der Reihe, und die drei oder vier anderen, die noch warteten, konnten in aller Ruhe zuhören, wie er seine Verstöße gegen das Sechste und Neunte Gebot eingestand.
Rudolph hatte weder je Ehebruch begangen noch seines Nächsten Weib begehrt – aber die Beichte der benachbarten Sünden fiel ihm besonders schwer. Im Vergleich damit tat er die weniger schändlichen Anfechtungen leicht ab – sie bildeten nur eine graue Folie, die das schwarze Mal der sexuellen Verfehlungen auf seiner Seele nicht so deutlich hervortreten ließ.
Er hatte seine Ohren mit den Händen bedeckt, in der Hoffnung, dass die anderen das bemerken und ihm mit gleichem Takt lohnen würden, als eine heftige Bewegung des Sünders im Beichtstuhl ihn das Gesicht fest auf den Arm pressen ließ. Seine Angst nahm körperliche Form an und trieb ihm einen Keil zwischen Herz und Lunge. Jetzt galt es, mit aller Macht zu versuchen, seine Sünden zu bereuen – nicht weil ihm die Angst im Halse saß, sondern weil er Gott beleidigt hatte. Er musste Gott von seiner Reue überzeugen, und dazu musste er zuerst einmal selbst davon überzeugt sein. Nach einem zähen Gewissenskampf brachte er sich zitternd dahin, sich selbst zu bemitleiden, und hielt sich damit für bußfertig. Wenn er keinem anderen Gedanken Raum gäbe und es ihm gelänge, diesen Gemütszustand unvermindert zu erhalten, bis er den großen, aufrecht stehenden Sarg beträte, dann hätte er wieder einmal eine Krise in seinem religiösen Leben heil überstanden.
Eine Zeitlang indessen ergriff eine teuflische Idee teilweise von ihm Besitz. Wenn er jetzt, ehe die Reihe an ihn kam, nach Hause ginge und seiner Mutter sagte, er sei zu spät gekommen und der Priester sei schon fort gewesen? Das barg aber leider die Gefahr in sich, beim Lügen ertappt zu werden. Als Alternative konnte er einfach behaupten, er sei zur Beichte gewesen, aber das würde bedeuten, dass er am nächsten Tag die Kommunion vermeiden musste, denn die Kommunion, mit ungeläuterter Seele empfangen, würde in seinem Munde zu Gift werden; er würde der Verdammnis anheimfallen und als Krüppel vom Altar hinken müssen.
Wieder ließ sich Pater Schwartz’ Stimme vernehmen:
»Und für deine…«
Die Worte verebbten in einem heiseren Gemurmel, und Rudolph sprang erregt auf. Er fühlte, dass es ihm unmöglich war, heute zu beichten. Noch zögerte er voller Anspannung. Dann knarrte der Beichtstuhl; ein Tappen und ein längeres Schurren waren zu hören. Der Schieber war herabgefallen, der Samtvorhang zitterte. Die Versuchung war zu spät über ihn gekommen…
»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt… Ich bekenne vor dem allmächtigen Gott und dir, Vater, dass ich gesündigt habe… Seit meiner letzten Beichte sind ein Monat und drei Tage vergangen… Ich bekenne mich schuldig… den Namen des Herrn missbraucht zu haben…«
Das war eine leichte Sünde. Seine Flüche waren purer Übermut gewesen – sie zu gestehen war eher eine Prahlerei.
»…mich niederträchtig gegen eine alte Dame benommen zu haben.«
Der schwache Schatten hinter dem Gitterfenster bewegte sich ein wenig.
»Wie, mein Kind?«
»Die alte Lady Swenson«, in Rudolphs Gemurmel kam ein frohlockender Unterton. »Sie hatte unseren Baseball, den wir ihr ins Fenster geworfen hatten, und wollte ihn nicht herausgeben; da brüllten wir ihr den ganzen Nachmittag die Ohren voll. So um fünf Uhr bekam sie einen Anfall, und der Arzt musste geholt werden.«
»Weiter, mein Kind.«
»Ich habe daran gezweifelt, dass… dass ich der Sohn meiner Eltern bin.«
»Was?« Die Frage klang entschieden fassungslos.
»Ich habe gezweifelt, dass ich der Sohn meiner Eltern bin.«
»Wieso?«
»Oh, nur so – aus Überheblichkeit«, antwortete der kleine Büßer leichthin.
»Du meinst, du warst dir zu gut, der Sohn deiner Eltern zu sein?«
»Ja, Vater.« Er frohlockte nun weniger.
»Fahre fort.«
»Ich bin ungezogen gegen meine Mutter gewesen und habe sie beschimpft. Ich habe Leute hinter ihrem Rücken verleumdet. Ich habe Zigaretten geraucht…«
Damit hatte Rudolph die harmloseren Vergehen hinter sich gebracht und näherte sich den Sünden, die zu beichten eine Qual war. Er hielt seine Finger wie Gitterstäbe vors Gesicht, als müsse er seine Herzensnot da hindurchpressen.
»…schmutzige Worte und unreine Gedanken und Begierden«, flüsterte er ganz leise.
»Wie oft?«
»Weiß nicht.«
»Einmal? Zweimal die Woche?«
»Zweimal in einer Woche.«
»Hast du diesen Begierden nachgegeben?«
»Nein, Vater.«
»Warst du allein, als sie dich überfielen?«
»Nein, Vater, ich war mit zwei Jungs und einem Mädel.«
»Weißt du nicht, mein Kind, dass du die Gelegenheit zur Sünde ebenso fliehen musst wie die Sünde selbst? Schlechte Gesellschaft führt zu bösen Wünschen, und böse Wünsche führen zu bösen Taten. Wo warst du, als das passierte?«
»In einer Scheune, hinter dem Haus von –«
»Ich will keine Namen hören«, unterbrach ihn der Priester scharf.
»Also es war oben in dieser Scheune, und das Mädchen und ein Junge, die redeten Sachen – unanständige Sachen, und ich blieb dabei.«
»Du hättest weggehen sollen – und auch dem Mädchen sagen, es solle gehen.«
Weggehen! Er konnte doch Pater Schwartz nicht erzählen, wie heiß sein Blut gepocht und welch seltsame abenteuerliche Erregung ihn beim Anhören dieser Dinge ergriffen hatte. Sind es nicht gerade die gefallenen Mädchen in den Frauengefängnissen, die unverbesserlichen mit dem harten, ausdruckslosen Blick, für die das hellste Feuer gebrannt hat?
»Hast du mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Ich glaube nicht, Vater.«
Rudolph fühlte sich sehr erleichtert. Seine fest gefalteten Hände waren feucht von Schweiß.
»Hast du vielleicht einmal gelogen?«
Die Frage erschreckte ihn. Wie alle gewohnheitsmäßigen und instinktiven Lügner hatte er einen gewaltigen, ehrfürchtigen Respekt vor der Wahrheit. Fast ohne sein Zutun kam ihm rasch eine beleidigte Antwort über die Lippen. »O nein, Vater, ich lüge nie.«
Einen Augenblick genoss er den Triumph, wie ein Untertan, der sich auf den Thron des Königs gesetzt hat. Als dann aber der Priester die üblichen Ermahnungen zu murmeln begann, kam ihm zum Bewusstsein, dass er gerade durch sein heroisches Ableugnen der Lüge eine fürchterliche Sünde begangen hatte – er hatte im Beichtstuhl gelogen.
Pater Schwartz’ Mahnung »Geh in dich, mein Sohn« beantwortete er mechanisch durch ein laut und ausdruckslos wiederholtes: »Oh, mein Gott, ich bin von Herzen betrübt, Dich beleidigt zu haben…«
Das musste er jetzt sofort bereinigen – es war eine böse Verfehlung; doch kaum hatte er das letzte Wort des Gebets ausgesprochen, gab es einen harten Laut, und das Fensterchen war geschlossen.
Eine Minute später trat er in die Dämmerung hinaus und spürte, wie unter dem offenen Himmel und in der Weite der Weizenfelder die Muffigkeit der Kirche von ihm wich. Die Erleichterung darüber drängte das Bewusstsein dessen, was er getan hatte, noch einmal zurück. Statt sich zu grämen, tat er einen tiefen Atemzug in der frischen Luft und sprach immer wieder die Worte »Blatchford Sarnemington, Blatchford Sarnemington« vor sich hin.
Blatchford Sarnemington – das war er selbst, und diese Worte waren für ihn ein Gedicht. Indem er Blatchford Sarnemington wurde, ging eine gewinnende Vornehmheit von ihm aus. Blatchford Sarnemingtons Leben war voller überwältigender Triumphe. Wenn Rudolph nur ein wenig die Augen schloss, so bedeutete das, dass Blatchford von ihm Besitz ergriffen hatte, und im Weitergehen vernahm er um sich ein Säuseln neidvoller Bewunderung: »Blatchford Sarnemington! Da geht Blatchford Sarnemington.«
Solange er auf dem holprigen Pfad heimwärts stolzierte, war er ganz Blatchford; doch als der Weg sich zur asphaltierten Hauptstraße verbreiterte, war es mit seiner heiteren Unbeschwertheit vorbei, sein Gemüt kühlte sich ab, und er wurde sich mit Schrecken seiner Lüge bewusst. Natürlich, Gott würde bereits davon wissen – aber Rudolph hatte in seinem Kopf ein kleines Reservat, wo er vor Gott sicher war und wo er sich die Ausflüchte zurechtlegte, mit denen er Gott oft ein Schnippchen schlug. In diesen Winkel zog er sich auch jetzt zurück und überlegte, wie er am besten die Folgen seiner falschen Aussage abwenden konnte.
Die Kommunion musste er um jeden Preis vermeiden. Das Risiko, Gott über die Maßen zu erzürnen, war zu groß. Er würde am nächsten Morgen »aus Versehen« ein Glas Wasser trinken und sich so, gemäß den Bestimmungen der Kirche, für den Empfang der Kommunion untauglich machen. Trotz seiner Fadenscheinigkeit war dieser Vorwand der praktischste, der ihm einfiel. Die damit verbundenen Gefahren nahm er auf sich, und während er bei Rombergs Drugstore um die Ecke bog und das väterliche Haus in Sichtweite kam, war er mit dem Gedanken beschäftigt, wie die Sache am besten in die Tat umzusetzen sei.
III
Rudolphs Vater, der Spediteur am Ort, war mit der zweiten Welle deutschen und irischen Blutes in das Gebiet von Minnesota und Dakota geschwemmt worden. Damals hatte ein energischer junger Mann in dieser Gegend an sich große Chancen, aber Carl Miller war es nicht gelungen, sich bei seinen Vorgesetzten oder seinen Untergebenen jenes Ansehen unwandelbarer Zuverlässigkeit zu geben, das für den Erfolg in einem hierarchischen Gewerbszweig entscheidend ist. Von Natur aus etwas grob veranlagt, war er doch in der Sache nicht hart genug und unfähig, die elementaren Dinge im kaufmännischen Leben als gegeben hinzunehmen, und das machte ihn argwöhnisch, nervös und dauerhaft missmutig.
Zweierlei verband ihn mit dem großen Strom des Lebens: sein Glaube an die römisch-katholische Kirche und seine mystische Verehrung für den Eisenbahnbaron James J. Hill. In Hill vergötterte er das, was ihm, Miller, abging: das feine Gefühl, den richtigen Riecher, die Vorahnung des Regens in dem Wind, der die Wange streift. Millers Geist bewegte sich in den ausgetretenen Pfaden anderer Männer; nie im Leben hatte er eine Sache aus eigener Kraft in Schwung gebracht. Mit seinem verbrauchten, zappligen, zu klein geratenen Körper alterte er in dem gigantischen Schatten des großen Hill. Seit zwanzig Jahren trug er nur Gott und den Namen Hills im Herzen.
Am Sonntagmorgen erwachte Carl Miller in der glasklaren Sechsuhrstille. Er kniete sich vor das Bett, neigte sein gelblich-graues Haupt und die Enden seines dichten melierten Schnurrbarts auf das Kissen und betete mehrere Minuten lang. Dann zog er sein Nachthemd aus – einen Pyjama hatte er, wie alle aus seiner Generation, nie auf seinem Leib geduldet – und kleidete seinen hageren, weißen und unbehaarten Körper in wollene Unterwäsche.
Er rasierte sich. Stille in dem anderen Schlafzimmer, wo seine Frau in nervösem Schlummer lag. Stille auch in dem abgeschirmten Winkel der Diele, wo die Koje seines Sohnes stand; er schlief dort zwischen seinen Jugendbüchern, seiner Sammlung von Zigarrenbauchbinden, seinen mottenzerfressenen Wimpeln – »Cornell«, »Hamlin« und »Grüße aus Pueblo, New Mexico« – und seinen sonstigen privaten Besitztümern. Von draußen hörte Miller die schrillen Vogelstimmen, das Flügelschlagen des Federviehs und – als Unterton – das dunkel anschwellende Dum-ta-dum des durchfahrenden 6-Uhr-15-Zuges auf dem Weg nach Montana und weiter zur grünen Küste. Während das kalte Wasser von dem Waschlappen in seiner Hand tropfte, hob er plötzlich den Kopf – er hatte einen zaghaften Laut unten aus der Küche gehört.
Er trocknete hastig sein Rasiermesser ab, zog die herabhängenden Hosenträger über die Schultern und lauschte. In der Küche ging jemand, und zwar, wie er aus den leichten Schritten entnehmen konnte, nicht seine Frau. Mit aufstehendem Mund lief er schnell die Treppe hinab und öffnete die Küchentür.
Am Ausguss stand, die eine Hand an dem noch tropfenden Hahn und mit der anderen ein Glas Wasser umklammernd, sein Sohn. Die schönen Augen des Jungen mit den noch schlaftrunkenen Lidern begegneten voller Schrecken und Vorwurf dem Blick des Vaters. Der Junge war barfuß, sein Schlafanzug über Knie und Ellbogen emporgerollt.
Einen Augenblick verharrten beide reglos – Carl Millers Braue senkte sich, und die seines Sohnes stieg, als wollten sie ihre auseinanderstrebenden Empfindungen ins Gleichgewicht bringen. Dann zogen sich die Schnurrbartwülste des Vaters unheildrohend zusammen, bis sie den Mund tief beschatteten, und er blickte kurz umher, ob irgendeine Unordnung festzustellen sei.
Die Küche erglänzte im Sonnenlicht, das auf die blanken Tiegel fiel und die glatten Dielen des Fußbodens und die Tischplatte zum reinen Gelb des Weizens aufhellte. Hier war der Mittelpunkt des Hauses, die Feuerstelle, wo die Töpfe wie Spielzeug ineinanderpassten und der Wasserkessel den ganzen Tag gleichsam mit einem Pastellton leise pfiff. Alles war an seinem gewohnten Platz, nichts angerührt – bis auf den Wasserhahn, an dem sich immer noch Tropfen bildeten und mit einem hellen Klick in den Ausguss tropften.
»Was machst du hier?«
»Ich bekam auf einmal furchtbaren Durst, und da wollte ich…«
»Ich dachte, du gehst zur Kommunion.«
Der Blick des Sohnes schlug in heftiges Erstaunen um.
»Das hab ich ganz vergessen.«
»Hast du schon Wasser getrunken?«
»Nein…«
Im selben Moment wusste Rudolph, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte, aber die blassen, entrüstet blickenden Augen, die ihn fixierten, hatten ihm die Wahrheit entlockt, ehe er noch einen Entschluss fassen konnte. Auch wurde ihm jetzt klar, dass er nicht hätte hinuntergehen sollen; aus einem vagen Drang, die Sache möglichst glaubhaft zu machen, hatte er ein benutztes Glas beim Spülstein zurücklassen wollen. Die Ehrbarkeit seiner Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt.
»Gieß das Wasser aus«, befahl der Vater.
Rudolph tat es voll Verzweiflung.
»Was ist überhaupt mit dir los?«, fragte Miller ärgerlich.
»Nichts.«
»Warst du gestern zur Beichte?«
»Ja.«
»Wie konntest du dann jetzt Wasser trinken wollen?«
»Weiß nicht – ich hatte es vergessen.«
»Ein bisschen Durst ist dir wohl wichtiger als deine Religion!«
»Ich hab es einfach vergessen.« Rudolph fühlte, wie ihm Tränen in die Augen kamen.
»Das ist keine Antwort.«
»Es war aber so.«
»Du solltest dich mehr zusammennehmen!« Der Vater blieb bei seinem hochgeschraubten inquisitorischen Ton. »Wenn du so vergesslich bist, dass du nicht mal an deine Religion denkst, müssen andere Maßnahmen ergriffen werden.«
In die gespannte Pause hinein sagte Rudolph: »Ich denke schon daran.«
»Erst vernachlässigst du deine Religion«, rief der Vater und steigerte sich in Wut, »dann fängst du vielleicht mit Lügen und Stehlen an, und das Nächste ist dann die Erziehungsanstalt!«
Nicht einmal diese bekannte Drohung konnte den Abgrund vertiefen, den Rudolph vor sich sah. Entweder musste er jetzt alles gestehen und die unvermeidliche heftige Tracht Prügel in Kauf nehmen oder den Blitz des göttlichen Zornes herausfordern, indem er Leib und Blut Christi mit einem Sakrileg auf der Seele empfing. Ersteres schien ihm von beidem das schlimmere Übel – er fürchtete nicht so sehr die Prügel als vielmehr die grausame Wildheit, die dabei aus dem schwächlichen Mann hervorbrach.
»Stell das Glas hin und geh nach oben dich anziehen!«, befahl sein Vater. »Und wenn wir in der Kirche sind, tust du gut daran, vor der Kommunion niederzuknien und Gott für deine Leichtfertigkeit um Vergebung zu bitten.«
Irgendeine zufällige Nuance in diesem Befehl wirkte auf Rudolphs verwirrtes und erschrecktes Gemüt wie ein Katalysator. Ein wilder, stolzer Zorn packte ihn, und er schmetterte das Glas heftig in den Ausguss.
Sein Vater stieß einen gequälten heiseren Laut aus und sprang auf ihn los. Rudolph duckte sich zur Seite, warf einen Stuhl um und versuchte sich hinter den Küchentisch zu retten. Er schrie auf, als eine Hand seine Schulter ergriff, und dann fühlte er den dumpfen Anprall einer Faust gegen seine Schläfe und einen Hagel von Schlägen auf seinem Oberkörper. Während er im festen Griff des Vaters hierhin und dorthin taumelte, von dem Arm, an den er sich klammerte, geschleift und wieder hochgezogen wurde und der Schmerz ihn peinigte, gab er keinen Laut von sich – nur dass er mehrmals hysterisch auflachte. Nach kaum einer Minute hörten die Schläge plötzlich auf. Eine Ruhepause trat ein, aber der väterliche Griff lockerte sich nicht; beide zitterten heftig und stießen seltsam verstümmelte Worte hervor. Dann beförderte Carl Miller seinen Sohn halb mit Stößen, halb mit Drohungen nach oben.
»Los, zieh dich an!«
Rudolph war fast von Sinnen und fror entsetzlich. Der Kopf schmerzte ihn; auf seinem Nacken hatte er einen langen, flachen Kratzer von den Fingernägeln des Vaters. Beim Ankleiden schluchzte und zitterte er. Er bemerkte seine Mutter, die in einem Morgenrock auf der Türschwelle stand. Ihr runzliges Gesicht zog sich noch mehr zusammen, weitete sich dann, um sich alsbald in ein neues Gewirr von Fältchen zu legen, die sich vom Hals bis zur Stirn hinaufzogen. Er verabscheute ihre schwächlichen Bemühungen, entzog sich ihr grob, als sie seinen Hals mit Zaubernussblättern bestreichen wollte, und wusch und kämmte sich mit hastigen, zuckenden Bewegungen. Dann folgte er seinem Vater zum Hause hinaus und weiter die Straße entlang zur katholischen Kirche.
IV
Auf dem Weg sprachen sie kein Wort, außer wenn Carl Miller, automatisch grüßend, von den Vorübergehenden Notiz nahm. Nur Rudolphs unregelmäßige Atemzüge störten die heiße Sonntagsstille.
Am Kirchenportal machte sein Vater entschlossen halt.
»Ich denke, es ist besser, du beichtest noch einmal. Sage Pater Schwartz, was du getan hast, und bitte Gott um Verzeihung.«
»Du hast aber auch die Beherrschung verloren!«, sagte Rudolph schnell.
Carl Miller tat einen Schritt auf seinen Sohn zu, der ängstlich zurückwich.
»Gut, ich gehe ja schon.«
»Wirst du tun, was ich sage?«, rief sein Vater mit unterdrückter, heiserer Stimme.
»Ja.«
Rudolph schritt in die Kirche, betrat zum zweiten Mal seit dem Vortag den Beichtstuhl und kniete nieder. Das Fensterchen öffnete sich sogleich.
»Ich bekenne mich schuldig, mein Morgengebet unterlassen zu haben.«
»Ist das alles?«
»Ja, alles.«
Eine wehmütige Genugtuung überkam ihn. So leicht würde er nie wieder die Bedürfnisse seines freien Selbstgefühls auf eine abstrakte Formel bringen können. Eine unsichtbare Grenze war überschritten; er war sich seiner Isolierung bewusst geworden – und das galt nun nicht mehr nur für die Augenblicke, in denen er Blatchford Sarnemington war, sondern für sein gesamtes Innenleben. Bisher waren Phänomene wie »überspannter« Ehrgeiz oder kleinliche Ängste und Hemmungen nur ganz persönliche Anwandlungen gewesen, die vor dem Thron seiner offiziellen Seele nicht anerkannt worden waren. Jetzt spürte er unbewusst, dass diese privaten Dinge sein eigenes Selbst waren – und alles Übrige nur eine Schmuckfassade, ein konventionelles Aushängeschild. Der Druck von außen hatte ihn auf den verschwiegenen, einsamen Pfad des Jünglings gedrängt.
Er kniete in der Bank neben seinem Vater. Die Messe begann. Rudolph kniete sehr aufrecht (wenn er allein war, pflegte er sich mit dem Hinterteil gegen die Bank zu stützen) und genoss das Bewusstsein eines subtilen Racheakts. Sein Vater neben ihm betete, Gott möge Rudolph verzeihen und auch ihm seinen Zornesausbruch vergeben. Dabei schielte er seitwärts auf seinen Sohn und bemerkte erleichtert, dass der gequälte, wilde Ausdruck von dessen Gesicht verschwunden war und das Schluchzen aufgehört hatte. Gottes Gnade im Sakrament würde ein Übriges tun, und nach der Messe wäre vielleicht alles wieder gut. Insgeheim war er stolz auf Rudolph und bereute allmählich ebenso aufrichtig wie auch in aller Form, was er getan hatte.
Das Weiterreichen der Kollekte war im Allgemeinen für Rudolph ein kritischer Moment beim Gottesdienst. Wenn er, was oft vorkam, kein Geld dafür bei sich hatte, beugte er in tiefer Scham den Kopf und übersah die Kollekte geflissentlich, damit nicht Jeanne Brady in der Bank hinter ihm auf den Gedanken käme, seine Familie sei plötzlich arm geworden. Heute jedoch blickte er kalt darauf nieder, als der Teller in seinem Gesichtskreis erschien, und bemerkte mit beiläufigem Interesse die vielen Centstücke, die darauf lagen. Als aber das Glöckchen zur Kommunion rief, erschauerte er. Was sollte Gott davon abhalten, sein Herz stillstehen zu lassen! In den letzten zwölf Stunden hatte er eine Reihe von Todsünden begangen, eine immer schwerer als die andere, und er war im Begriff, dem allen mit einem Sakrileg die Krone aufzusetzen.
»Domine, non sum dignus; ut intres sub tectum meum; sed tantum dic verbo, et sanabitur anima mea…«
Ein Schurren erhob sich in den Bänken, und die Kommunikanten bahnten sich mit niedergeschlagenen Augen und gefalteten Händen ihren Weg zu den Altarstufen. Die besonders Frommen legten die Finger so aneinander, dass sie einen Kirchturm bildeten. Zu ihnen gehörte auch Carl Miller. Rudolph folgte ihm zum Altargitter und kniete nieder, wobei er mechanisch die Serviette unters Kinn nahm. Schrill erklang die Glocke. Die weiße Hostie über dem Kelch haltend, kam der Priester vom Altar:
»Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam.«
Als die Kommunion begann, brach Rudolph auf der Stirn der kalte Schweiß aus. Pater Schwartz bewegte sich an der Reihe entlang. Mit wachsender Übelkeit fühlte Rudolph seine Herzmuskeln unter dem Willen Gottes erschlaffen. Die Kirche erschien ihm jetzt dunkler und von einem großen Schweigen erfüllt, das nur durch das unartikulierte Gemurmel unterbrochen wurde, mit dem sich das Nahen des Schöpfers von Himmel und Erde ankündigte. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und erwartete den vernichtenden Schlag.
Da bekam er einen harten Rippenstoß. Sein Vater stieß ihn an, sich aufzurichten und nicht gegen das Gitter zu fallen. Der Priester war nur noch zwei Schritte entfernt.
»Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam.«
Rudolph öffnete den Mund. Er fühlte die muffig und wächsern schmeckende Oblate auf der Zunge. So verharrte er eine, wie ihm schien, unendlich lange Zeit unbeweglich, den Kopf immer noch erhoben, die Oblate ungelöst in seinem Mund. Wieder stieß ihn sein Vater mit dem Ellbogen, und er sah, dass die Leute sich gleich fallenden Blättern vom Altar lösten und blind mit gesenkten Augen zu ihrer Bank zurückkehrten, jeder allein mit seinem Gott.
Rudolph war allein mit sich selbst, in Schweiß gebadet und tief in seine Todsünde verstrickt. Als er zu seiner Bank zurückging, hallte sein Pferdefuß laut auf den Steinfliesen, und er wurde sich bewusst, dass er ein dunkles Gift im Herzen trug.
V
»Sagitta Volante in Dei«
Der hübsche Knabe mit den saphirblauen Augen im blütenblättergleichen Strahlenkranz der langen Wimpern war mit seinem Sündenbekenntnis vor Pater Schwartz zu Ende gekommen. Der Sonnenfleck, in dem er gesessen hatte, war um eine halbe Stunde im Raum weitergewandert. Rudolph war jetzt nicht mehr so verstört; nachdem er erst einmal sein Herz erleichtert hatte, hatte sich etwas verändert. Solange er mit diesem Priester im Zimmer war – das wusste er –, würde Gott seinen Herzschlag nicht anhalten. Er seufzte und wartete still, was der Priester sagen würde.
Pater Schwartz starrte mit seinen kalten wässrigen Augen auf das Teppichmuster, dessen Mäander, flache blattlose Ranken und schwache Andeutungen von Blumen, in der Sonne aufleuchteten. Die Standuhr tickte beharrlich dem Sonnenuntergang entgegen; drinnen in dem hässlichen Zimmer und draußen vor dem Fenster breitete sich eine strenge Monotonie aus, die nur hin und wieder von dem Nachhall ferner Hammerschläge in der Luft unterbrochen wurde. Die Nerven des Priesters waren zum Zerreißen gespannt; die Perlenschnur des Rosenkranzes kroch und wand sich schlangengleich auf dem grünen Tuch der Tischplatte. Die Worte, die er jetzt hätte sagen müssen, wollten ihm nicht einfallen.
Von allem, was es in diesem weltverlorenen Schwedenstädtchen gab, waren ihm nur die Augen dieses Jungen gegenwärtig – diese wundervollen Augen mit den Wimpern, die sich nur widerstrebend auftaten und sich gleichsam sehnsüchtig wieder zurückbogen.
Das Schweigen währte noch länger, und Rudolph wartete; der Priester versuchte sich angestrengt an etwas zu erinnern, das ihm immer weiter entglitt, und die Uhr tickte unentwegt in dem morschen Haus. Dann blickte Pater Schwartz den Jungen fest an und sagte mit merkwürdig veränderter Stimme:
»Wenn viele Leute sich festlich versammeln, bekommen die Dinge einen schimmernden Glanz.«
Rudolph erschrak und tat einen raschen Blick in Pater Schwartz’ Gesicht.
»Ich sagte…«, begann der Priester wieder und zögerte, lauschend. »Hörst du die Hammerschläge und die tickende Uhr und die Bienen? Das taugt alles nichts. Die wahre Sache ist: viele Menschen im Mittelpunkt der Welt, wo immer dieser ist. Dann…«, seine wässrigen Augen weiteten sich zu einem wissenden Blick, »dann bekommen die Dinge den schimmernden Glanz.«
»Ja, Vater«, pflichtete Rudolph ein wenig ängstlich bei.
»Was willst du werden, wenn du erwachsen bist?«
»Eine Zeitlang wollte ich Baseballspieler werden«, antwortete Rudolph nervös, »aber ich glaube, das ist kein so gutes Ziel, so möchte ich denn wohl Schauspieler oder Seeoffizier werden.«
Wieder sah ihn der Priester starr an.
»Ich sehe genau, was du meinst«, sagte er mit grimmigem Ausdruck.
Rudolph hatte nichts Bestimmtes gemeint, und bei dieser Festlegung wurde ihm noch unbehaglicher.
›Der Mann ist verrückt‹, dachte er, ›und ich habe Angst vor ihm. Er will, dass ich ihm irgendwie weiterhelfen, aber ich will nicht.‹
»Du siehst aus, als wenn die Dinge jenen Glanz bekämen«, rief Pater Schwartz unbeherrscht aus. »Warst du jemals auf einem Fest?«
»Ja, Vater.«
»Und hast du bemerkt, dass alle sich feingemacht hatten? Das ist’s, was ich meine. Gerade als du auf das Fest kamst, gab es einen Augenblick, da sahen alle Leute extrafein aus. Vielleicht standen gerade zwei kleine Mädchen an der Tür, und ein paar Jungen beugten sich über das Treppengeländer, und überall ringsum standen Vasen voll frischer Blumen.«
»Ich bin auf vielen Festen gewesen«, sagte Rudolph und fühlte sich durch diese Wendung, die das Gespräch genommen hatte, erleichtert.
»Natürlich«, fuhr Pater Schwartz triumphierend fort, »ich wusste doch, dass du mir beistimmen würdest, aber meine Theorie ist, dass immer, wenn viele Menschen festlich versammelt sind, die Dinge die ganze Zeit schimmern und strahlen.«
Rudolph ertappte sich bei dem Gedanken an Blatchford Sarnemington.
»Hör gefälligst zu!«, befahl der Priester ungeduldig. »Mach dir keine Gedanken mehr über letzten Sonnabend. Apostasie zieht nur die absolute Verdammnis nach sich, wenn zuvor ein vollkommen aufrichtiger Glaube bestand. Ist das klar?«
Rudolph hatte keine blasse Ahnung, wovon Pater Schwartz sprach, aber er nickte, und der Priester nickte zurück und griff dann seine seltsamen Ideen wieder auf.
»Ja«, rief er aus, »es gibt jetzt schon Lichter so groß wie Sterne – kannst du dir das vorstellen? Ich habe von einem Licht gehört in Paris oder irgendwo anders, das war so riesig wie ein Stern. Und viele Menschen hatten es – lauter heitere, glückliche Menschen. Sie haben jetzt alles Mögliche, das man sich nie hätte träumen lassen.«
»Sieh mal her…« Er näherte sich Rudolph, aber der Junge wich zurück, so dass Pater Schwartz sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ, mit trockenen, brennenden Augen. »Hast du schon mal einen Vergnügungspark gesehen?«
»Nein, Vater.«
»Nun, dann geh hin und sieh dir einen an.« Der Priester beschrieb eine vage Geste mit der Hand. »Das ist so etwas wie ein Jahrmarkt, nur viel, viel glänzender. Geh einmal abends hin, und halte dich ein wenig abseits an einer dunklen Stelle, unter dunklen Bäumen. Dann siehst du ein riesiges Rad ganz aus Lichtern, die in der Luft kreisen, und eine lange Rutschbahn, über die Boote ins Wasser schießen. Irgendwo spielt eine Musikkapelle, dazu ein Geruch von Erdnüssen – und alles glitzert. Aber es gemahnt dich an nichts, weißt du. Es schwebt nur so da in der Nacht, wie ein bunter Luftballon – wie eine riesige gelbe Laterne an einem Mast.«
Pater Schwartz runzelte die Stirn; plötzlich fiel ihm noch etwas ein. »Aber geh nicht zu dicht heran«, warnte er Rudolph, »denn dann fühlst du nichts weiter als Hitze und Schweiß und das Leben.«
Diese ganze Rede berührte Rudolph umso merkwürdiger und peinlicher, als der Mann ein Priester war. Halb erschreckt saß er da, seine schönen Augen weit aufgerissen, und starrte Pater Schwartz an. Doch auf dem Grunde seines Entsetzens fühlte er sich in seinen innersten Überzeugungen bestätigt. Irgendwo gab es etwas unaussprechlich Herrliches, das nichts mit Gott zu tun hatte. Er glaubte nicht mehr, dass Gott ihm wegen seiner Lüge zürne; denn Er hatte wohl verstanden, dass Rudolph das nur getan hatte, um der Sache im Beichtstuhl einen schöneren Anstrich zu geben, seine unbedeutenden Geständnisse herauszuputzen, indem er etwas Stolzes, Eindrucksvolles sagte. In dem Augenblick, da er sich in der Reinheit seiner Ehre bestätigt sah, hatte sich ein silberweißes Fähnlein irgendwo im Wind entfaltet, er hörte das Knirschen von ledernem Sattelzeug, sah silberne Sporen blitzen und einen Reitertrupp auf grüner Anhöhe die Dämmerung erwarten. Die Sonne besternte leuchtend ihre Brustpanzer, wie zu Hause auf dem Bild der deutschen Kürassiere bei Sedan.
Aber jetzt stammelte der Priester unartikulierte Worte voller Herzensqual, und den Jungen packte wildes Entsetzen. Vom offenen Fenster her schien sich ein Schrecken auszubreiten, und die Atmosphäre im Zimmer war mit einem Schlage verändert. Pater Schwartz brach vornüber in die Knie und ließ sich gegen einen Stuhl zurückfallen.
»Oh, mein Gott!«, schrie er mit entstellter Stimme und sank zu Boden.
Dem abgewetzten Gewand des Priesters entstieg eine Ausdünstung menschlicher Beklemmung und mischte sich mit dem schwachen Geruch von Speiseresten in den Falten. Rudolph stieß einen schneidenden Schrei aus und rannte in panischer Angst aus dem Haus. Indessen lag der zusammengebrochene Mann still, und der Raum um ihn füllte sich an mit Stimmen und Gesichtern, bis sich alles zu einer Phantasmagorie zusammendrängte und laut widerhallte von einem langgezogenen, schrillen Gelächter.
Draußen vor dem Fenster zitterte der blaue Scirocco über den Weizenfeldern, und Mädchen mit gelbem Haar bewegten sich mit sinnlichem Gang auf den Wegen zwischen den Feldern und riefen den jungen Männern, die in den Ackerfurchen arbeiteten, unschuldige, erregende Dinge zu. Beine zeichneten sich unter weich fallendem Baumwollstoff ab, und am Halsausschnitt wurden die Kleider heiß und feucht. Fünf Stunden lang hatte jetzt das heiße, üppige Leben in der Nachmittagssonne geglüht. In drei Stunden würde es Nacht sein, und überall verstreut im Gefilde am Rande des Weizens würden diese blonden Mädchen des Nordens mit den hochgewachsenen jungen Männern von den Farmen liegen, über ihnen der Mond.