Myra lernt seine Eltern kennen

 

I

 

Wahrscheinlich ist jeder junge Mann, der innerhalb der letzten zehn Jahre ein College an der Ostküste besucht hat, Myra ein halbes Dutzend Mal begegnet, denn eine Myra lebt von den Colleges an der Ostküste wie eine junge Katze von warmer Milch. Wenn Myra jung ist, so um die siebzehn, nennt man sie eine »prächtige Göre«; in der Blüte ihrer Jugend – sagen wir, so mit neunzehn – kommt sie in den Genuss des zarten Kompliments, dass ihr Name ohne schmückendes Beiwerk genannt wird; und danach ist sie ein »Studentenschwarm« oder »die berühmte transamerikanische Myra«.

Man kann sie praktisch an jedem Winternachmittag sehen, wenn man durch die Lobby des Biltmore Hotels schlendert. Sie steht dann in einer Gruppe von gerade aus Princeton oder New Haven angekommenen Drittsemestlern und versucht sich zu entscheiden, ob sie die frühen Abendstunden lieber im Club de Vingt oder im Plaza Rose Room vertanzen soll. Danach wird einer der Studenten sie ins Theater begleiten, sie zum Abschlussball einladen – und dann in ein Taxi springen, um den letzten Zug zurück zum College noch zu erwischen.

Ausnahmslos hat sie eine schlafsüchtige Mutter, mit der sie eine Suite in einem der oberen Stockwerke teilt.

Wenn Myra etwa vierundzwanzig ist, denkt sie zurück an all die netten Jungen, die sie irgendwann einmal hätte heiraten können, gibt einen kleinen Seufzer von sich und macht das Beste aus ihrer Situation. Aber bitte, keine Bemerkungen! Sie hat einem schließlich ihre Jugend geschenkt; sie ist duftig durch zahllose Ballsäle gewirbelt, andächtig angebetet von zahllosen Augen; sie hat einen nie gekannten Rausch von Romantik in hundert vergötternden jungen Herzen erweckt; und wer sollte sagen, sie hätte nicht gezählt?

Die spezielle Myra, von der diese Geschichte handelt, braucht etwas geschichtlichen Hintergrund. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.

Als sie sechzehn war, lebte sie in einem großen Haus in Cleveland und besuchte die Derby School in Connecticut, und noch während dieser Zeit begann sie, auf ihre ersten Schul- und Collegebälle zu gehen. Sie entschloss sich, den Krieg am Smith College zu verbringen, doch im Januar ihres ersten Studienjahres verliebte sie sich unsterblich in einen jungen Infanterieoffizier, fiel darauf bei allen Zwischenprüfungen durch und zog sich mit Schimpf und Schande nach Cleveland zurück. Der junge Infanterieoffizier kam etwa eine Woche später dort an.

Gerade als sie beinahe zu dem Schluss gekommen war, dass sie ihn doch nicht liebte, wurde er nach Übersee versetzt, worauf sie in einem großen Wiederaufwallen ihrer Gefühle gemeinsam mit ihrer Mutter zum Hafen eilte, um ihm vor dem Einschiffen Lebewohl zu sagen. Zwei Monate lang schrieb sie ihm täglich, dann zwei Monate lang wöchentlich, und dann noch einmal. Diesen letzten Brief hat er nie erhalten; an einem regnerischen Julimorgen durchschlug eine Maschinengewehrkugel seinen Kopf. Vielleicht war es auch besser so, denn der Brief teilte ihm mit, im Grunde sei alles ein Irrtum gewesen und irgendetwas sage ihr, dass sie niemals miteinander glücklich geworden wären, und so fort.

Dieses »irgendetwas« trug Stiefel und Leutnantsabzeichen der Luftwaffe und war groß und dunkelhaarig. Myra war ziemlich sicher, er sei nun der Richtige, doch da sich Mitte August auf dem Flugplatz Kelly Field ein Propeller in seine Brust bohrte, erhielt sie nie Gelegenheit, sich Gewissheit zu verschaffen.

Stattdessen kam sie wieder an die Ostküste; ein wenig schmaler, mit einer interessanten Blässe und neuen Schatten unter den Augen; das ganze Jahr des Waffenstillstands hindurch hinterließ sie überall in New York Zigarettenstummel auf kleinen Porzellanaschenbechern mit der Aufschrift Midnight Frolic oder Cocoanut Grove oder Palais Royal. Mittlerweile war sie einundzwanzig geworden, und in Cleveland meinten die Leute, ihre Mutter täte besser daran, sie nach Hause zu holen – sie würde in New York verdorben.

Das muss genügen. Die Geschichte hätte schon längst beginnen sollen.

Es war an einem Nachmittag im September, als sie eine Verabredung zu einem Theaterbesuch nicht einhielt, um mit der jungen Mrs. Arthur Elkins, die am College das Zimmer mit ihr geteilt hatte, Tee zu trinken.

»Ich wünschte«, begann Myra, während sie formvollendet Platz nahmen, »ich wäre eine Señorita oder eine Mademoiselle oder irgend so was. Mein Gott! Was bleibt einem denn hierzulande noch zu tun, wenn man erst mal draußen ist, außer zu heiraten und sich zurückzuziehen?!«

Lilah Elkins hatte diese Form von ennui schon früher erlebt.

»Nichts«, erwiderte sie kühl, »mach’s halt.«

»Irgendwie reizt mich der Gedanke nicht, Lilah.« Myra beugte sich mit ernster Miene vor. »Ich habe so viel herumgeflirtet, ich frage mich sogar schon während ich einen Mann küsse, wie schnell ich ihn wohl wieder satthaben werde. Es packt mich einfach nicht mehr so wie früher.«

»Wie alt bist du, Myra?«

»Einundzwanzig, seit letztem Frühjahr.«

»Also«, sagte Lilah selbstgefällig, »glaub mir, heirate erst, wenn du wirklich genug hast vom Flirten. Man muss nämlich eine Menge aufgeben, weißt du.«

»Wenn ich genug habe? Meine ganze sinnlose Existenz hängt mir zum Hals heraus. Es ist komisch, Lilah, aber ich fühle mich uralt. Im letzten Frühjahr, in New Haven, haben Männer mit mir getanzt, die kamen mir vor wie kleine Jungs – und einmal habe ich zufällig gehört, wie im Ankleideraum ein Mädchen sagte: ›Da ist Myra Harper! Die kommt schon seit acht Jahren hierher.‹ Natürlich hat sie sich um etwa drei Jahre geirrt, aber es hat mich schon niedergedrückt, wie die Zeit vergeht.«

»Du und ich, wir sind mit sechzehn auf unseren ersten Ball gegangen – das ist fünf Jahre her.«

»Meine Güte!«, seufzte Myra. »Und jetzt haben einige Männer schon Angst vor mir. Ist das nicht eigenartig? Einige der nettesten Jungs. Einer hat mich fallenlassen wie eine heiße Kartoffel, nachdem er drei Wochenenden hintereinander extra von Morristown nach New York gekommen war. Irgendein guter Freund hatte ihm gesteckt, ich wollte mir in diesem Jahr unbedingt einen Ehemann schnappen, und da bekam er Angst, zu tief in die Sache hineinzugeraten.«

»Na ja, aber du willst dir doch tatsächlich einen schnappen, oder?«

»Ich denke schon… in gewissem Sinn.« Myra hielt inne und sah sich betont vorsichtig um. »Kennst du eigentlich Knowleton Whitney? Du weißt doch, wie toll er aussieht, und sein Vater soll millionenschwer sein, sagt man. Jedenfalls, bei unserer ersten Begegnung fiel mir auf, dass er nervös wurde, als er meinen Namen hörte, und sich sofort zurückzog – und, Lilah, Darling, so uralt und hausbacken bin ich doch auch wieder nicht, oder?«

»Selbstverständlich nicht!«, lachte Lilah. »Aber lass dir einen Rat geben: Such dir das beste Angebot aus – den Mann, der all die geistigen, körperlichen, gesellschaftlichen und finanziellen Qualitäten besitzt, die du dir wünschst –, und dann leg dich ins Zeug – so wie wir’s früher gemacht haben. Und wenn du ihn einmal hast, sag dir nicht: ›Na ja, so singen wie Billy kann er nicht‹ oder ›Ich wünschte, er würde besser Golf spielen‹. Man kann eben nicht alles haben. Mach die Augen zu und vergiss deinen Sinn für Humor, und dann, wenn du erst mal verheiratet bist, ist alles ganz anders, und du bist ausgesprochen froh darüber.«

»Ja«, meinte Myra abwesend, »diesen Rat kenne ich schon.«

»Romantische Gefühle zu entwickeln ist leicht, wenn man achtzehn ist«, fuhr Lilah mit Nachdruck fort, »aber nach fünf Jahren Romantik ist dein Vorrat ganz einfach erschöpft.«

»Ich hab so schöne Stunden erlebt«, seufzte Myra, »und so süße Männer. Um dir die Wahrheit zu sagen: Ich habe es auf jemanden abgesehen.«

»Auf wen?«

»Auf Knowleton Whitney. Glaub mir, das hört sich vielleicht ein bisschen blasiert an, aber ich kann immer noch jeden haben, den ich will.«

»Und du willst ihn wirklich?«

»Ja – sosehr ich das überhaupt kann. Er ist geistreich und schüchtern – ganz süß schüchtern –, und es heißt, seine Familie besitze das schönste Haus in ganz Westchester County.«

Lilah nippte an ihrem letzten Rest Tee und schaute auf ihre Armbanduhr.

»Es wird höchste Zeit für mich, Liebes.«

Sie erhoben sich, schlenderten auf die Park Avenue hinaus und riefen sich Taxis.

»Ich bin wirklich froh, Myra; und ich weiß, du wirst es auch sein.«

Myra übersprang eine kleine Pfütze und balancierte, als sie ihr Taxi erreicht hatte, auf dem Trittbrett wie eine Balletttänzerin.

»Wiedersehn, Lilah, bis bald.«

»Auf Wiedersehen, Myra. Viel Glück!«

Und so wie sie Myra kannte, hatte sie das Gefühl, dass ihre letzte Bemerkung absolut überflüssig war.

II

 

Das war auch der wesentliche Grund dafür, dass Knowleton Whitney eines schönen Freitagabends sechs Wochen später sieben Dollar und zehn Cent für ein Taxi ausgab und für einen Moment mit gemischten Gefühlen an Myras Seite auf den Stufen des Biltmore stehenblieb.

Die äußere Oberfläche seines Gemüts war wahnsinnig vor Glück, aber direkt darunter verdichtete sich langsam das Erschrecken über das, was er getan hatte. Er, den man seit seinem ersten Studienjahr in Harvard vor den Fängen bezaubernder Mitgiftjägerinnen bewahrt, den man an seinem fügsamen Genick gepackt und von mehreren süßen kleinen Dingern weggezerrt hatte, nutzte die Abwesenheit seiner Familie, die sich gerade im Westen aufhielt, um sich so tief in Fangnetzen zu verstricken, dass sich nur schwer sagen ließ, wo die Netze aufhörten und er anfing.

Der Tag war wie ein Traum gewesen: Novemberdämmerung auf der Fifth Avenue nach der Nachmittagsvorstellung, er und Myra, die aus der romantischen Ungestörtheit einer Hansom-Droschke – ein malerisches Gefährt! – auf die wimmelnden Massen blickten, dann Tee im Ritz, ihre schimmernde Hand neben ihm auf einer Sessellehne; und plötzlich hastige, abgerissene Worte. Danach die Fahrt zum Juwelier und ein verrücktes Essen in einem kleinen italienischen Restaurant, wo er »Ja oder nein?« auf die Rückseite des Fahrscheines geschrieben und ihn zu ihr hinübergeschoben hatte, damit sie das ewig wunderbare »Das weißt Du doch!« hinzufügen konnte. Und jetzt, am Ende des Tages, blieben sie auf den Stufen des Biltmore stehen.

»Sag es«, atmete Myra dicht an seinem Ohr.

Er sagte es. Ach, Myra, wie viele Geister müssen in diesem Augenblick durch deine Erinnerung gehuscht sein!

»Du hast mich so glücklich gemacht, Liebster«, sagte sie sanft.

»Nein – du hast mich glücklich gemacht. Weißt du denn nicht… Myra…«

»Ich weiß.«

»Ganz sicher?«

»Ganz sicher. Ich habe doch das hier.« Und sie hob den Solitär an ihre Lippen. Myra wusste, wie man so etwas machte, ganz genau.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht. Gute Nacht.«

Wie eine zerbrechliche Fee in schillerndem Rosa lief sie die breite Treppe hinauf, und ihre Wangen glühten erregt, als sie die Fahrstuhlglocke läutete.

Nach Ablauf weiterer zwei Wochen erhielt sie ein Telegramm von ihm, seine Eltern seien aus dem Westen zurückgekehrt und würden sie zu einem einwöchigen Besuch in Westchester County erwarten. Myra telegrafierte ihre Ankunftszeit, kaufte sich drei neue Abendkleider und packte ihren Koffer.

Es war ein kühler Novemberabend, als sie dort ankam; beim Aussteigen aus dem Zug in der späten Abenddämmerung fröstelte sie ein wenig und hielt ungeduldig Ausschau nach Knowleton. Eine Zeitlang wimmelte der Bahnsteig von Männern, die aus der Stadt zurückgekehrt waren; man hörte das laute Durcheinander der Stimmen von Ehefrauen und Fahrern, das Dröhnen von Autos, die zurücksetzten, wendeten und davonglitten. Noch ehe sie recht wusste, was geschah, war der Bahnsteig völlig verlassen, und nicht ein einziger der luxuriösen Wagen blieb zurück. Knowleton musste sie mit einem anderen Zug erwartet haben.

Mit einem fast unhörbaren »Verdammt!« ging sie auf das elisabethanische Bahnhofsgebäude zu, um zu telefonieren. Plötzlich wurde sie von einem sehr schmutzigen, schäbigen Mann angesprochen, der sie mit einem Finger an seiner bejahrten Mütze grüßte und sich mit brüchiger, nörgeliger Stimme an sie wandte.

»Sie Miss Harper?«

»Ja«, gab sie ziemlich verblüfft zu. Dieser unmögliche Mensch war doch nicht etwa der Chauffeur?

»Der Chauffeur ist krank«, fuhr er mit schrill wimmernder Stimme fort. »Ich bin sein Sohn.«

Myra schnappte nach Luft.

»Sie meinen Mr. Whitneys Chauffeur?«

»Ja; seit Kriegsende hat er nur noch einen. Ganz groß im Sparen – der reinste Hoover.« Er stampfte nervös mit den Füßen auf und klatschte riesige Handschuhe zusammen. »Nja, kein Zweck, hier in der Kälte herumzuquasseln. Nehm’ Ihre Tasche.«

Viel zu erstaunt für Worte und nicht wenig schockiert folgte sie ihrem Führer zum Ende des Bahnsteigs, wo sie vergeblich nach einem Wagen suchte. Aber sie brauchte nicht lange zu rätseln, denn der Mensch lenkte ihre Schritte zu einem zerbeulten alten Gefährt, in dem ihre Tasche verstaut wurde.

»Große Wagen’s kaputt«, erklärte er. »Müssen den nehmen oder laufen.«

Er öffnete die vordere Tür und nickte ihr zu.

»Einsteigen.«

»Ich setz mich lieber hinten rein, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Wie Sie wollen«, gackerte er und öffnete die hintere Tür. »Dachte mir nur, es macht Sie nervös, wenn der Koffer dahinten so rumrutscht.«

»Welcher Koffer?«

»Ihrer.«

»Oh, hat Mr. Whitney nicht… können Sie nicht zweimal fahren?«

Er schüttelte eigensinnig den Kopf.

»Würd er nicht erlauben. Nicht seit dem Krieg. Reiche Leute müssen ein Beispiel geben, sagt Mr. Whitney immer. Geben Sie mir mal Ihren Gepäckschein, bitte?«

Während er verschwand, versuchte Myra vergeblich, ein Bild des Chauffeurs heraufzubeschwören, wenn das hier sein Sohn war. Nach einer mysteriösen Auseinandersetzung mit dem Bahnhofsvorsteher kehrte er zurück, völlig außer Atem, mit dem Koffer auf dem Rücken. Er deponierte ihn auf dem Rücksitz und stieg vorne neben ihr ein.

Es war schon fast dunkel, als sie mit einem plötzlichen Schlenker von der Straße in die lange, dämmrige Auffahrt zum Anwesen der Whitneys einbogen, von welchem aus erleuchtete Fenster große Flecken aus warmem, gelbem Licht auf Kies, Rasen und Bäume warfen. Auch jetzt noch konnte sie erkennen, dass es sich um ein sehr schönes Haus handelte, dessen verschwommene Umrisse auf georgianischen Kolonialstil schließen ließen, von beiden Seiten her eingerahmt durch weitläufige, schattige Parkanlagen. Das Gefährt kam ruckartig vor einem mit Steinquadern eingefassten Tor zum Stehen, der Chauffeurssohn stieg nach ihr aus und stieß die Außentür auf.

»Gehen Sie einfach rein«, gackerte er, und als sie die Türschwelle überschritten hatte, hörte sie, wie er leise die Tür zumachte und sich und die Dunkelheit ausschloss.

Myra blickte sich um. Sie stand in einer großen, düsteren, mit alter englischer Eiche getäfelten Empfangshalle, spärlich beleuchtet von abgedunkelten Lampen, die sich wie gelbe Leuchtschildkröten in regelmäßigen Abständen an die Wand klammerten. Vor ihr befand sich eine breite Treppe und zu beiden Seiten mehrere Türen, aber es war keinerlei Anzeichen von Leben zu sehen oder zu hören; lähmende Stille schien unaufhörlich aus dem tiefkarmesinroten Teppich aufzusteigen.

Sie musste eine volle Minute dort gewartet haben, ehe sie das untrügliche Gefühl beschlich, von jemandem beobachtet zu werden. Sie zwang sich dazu, sich gelassen umzudrehen.

Ein kleiner Mann mit fahlem Gesicht, glatzköpfig und glattrasiert, korrekt gekleidet, in schwarzem Gehrock und weißen Gamaschen, stand wenige Meter von ihr entfernt und betrachtete sie neugierig. Er musste mindestens fünfzig sein, aber er machte, noch ohne sich zu bewegen, einen merkwürdig quirligen Eindruck auf sie – etwas an seiner Haltung ließ vermuten, dass er sie genau in diesem Augenblick angenommen hatte und im nächsten schon wieder verändern würde. Seine winzigen Hände und Füße und der ungewöhnliche Schwung seiner Augenbrauen verliehen seinem Ausdruck etwas leicht Elfenhaftes; für einen Moment war sie auf eine unbestimmte Art überzeugt, ihn schon einmal gesehen zu haben, vor vielen Jahren.

Eine Minute lang starrten sie sich schweigend an, dann errötete sie leicht und verspürte das Bedürfnis, zu schlucken.

»Ich nehme an, Sie sind Mr. Whitney.« Sie lächelte schwach und ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin Myra Harper.«

Er blieb noch eine Weile länger stumm und bewegungslos stehen, und Myra durchfuhr der Gedanke, er könnte taub sein; dann plötzlich erwachte er mit einem Ruck zu bewusstem Leben, genau wie ein mechanisches Spielzeug auf Knopfdruck.

»Aber natürlich… aber selbstverständlich. Ich weiß… ah!«, rief er aufgeregt, mit hoher Elfenstimme. Dann ging er wie in einer abgeschwächten Form begeisterter Verzückung auf die Zehenspitzen, lächelte ein runzliges Lächeln und trippelte über den dunklen Teppich auf sie zu.

Sie errötete, wie es sich gehörte. »Es ist reizend von –«

»Ah!«, fuhr er fort. »Sie müssen müde sein; eine unbequeme, staubige, grässliche Fahrt, ich weiß. Müde und hungrig und durstig, kein Zweifel, kein Zweifel!« Indigniert blickte er um sich. »Das Personal in diesem Hause taugt absolut nichts!«

Myra wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte, deshalb verzichtete sie auf eine Antwort. Nach einer kurzen geistesabwesenden Pause lief Mr. Whitney mit seiner ungestümen Energie quer durch die Halle und drückte auf einen Knopf; dann kehrte er fast tänzelnd, mit zierlichen, geringschätzigen Gebärden an ihre Seite zurück.

»Nur eine Minute«, versicherte er ihr, »sechzig Sekunden, bestimmt nicht mehr. Hier!«

Plötzlich raste er zur Wand hinüber, hob unter einiger Anstrengung einen großen, geschnitzten Louis-quatorze-Sessel hoch und setzte ihn behutsam in der geometrischen Mitte des Teppichs ab.

»Nehmen Sie Platz, bitte! Setzen Sie sich doch! Ich gehe Ihnen etwas holen. Höchstens sechzig Sekunden.«

Sie erhob zaghaft Einspruch, aber er wiederholte immer wieder: »Nehmen Sie Platz!«, in so gekränktem und doch hoffnungsvollem Ton, dass Myra sich schließlich setzte. Augenblicklich verschwand ihr Gastgeber.

Nachdem sie fünf Minuten so dagesessen hatte, überfiel sie ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Das war entschieden die seltsamste Begrüßung, die sie je erlebt hatte – denn obwohl sie irgendwo gelesen hatte, Ludlow Whitney gelte als einer der größten Exzentriker der Finanzwelt, traf es ihren Sinn für Etikette doch ziemlich hart, ein fahles, elfenhaftes Männchen vorzufinden, das tänzelte, anstatt zu gehen. Hoffentlich ging er Knowleton holen! Sie drehte ihre Daumen in endlosen konzentrischen Kreisen.

Plötzlich fuhr sie erschrocken hoch. Jemand hatte dicht neben ihr gehüstelt – Mr. Whitney war wieder da. In einer Hand hielt er ein Glas Milch, in der anderen eine blaue Rührschüssel voll von solchen Croûtons, wie man sie in die Suppe tat.

»Hungrig von der Reise!«, rief er voller Anteilnahme. »Armes Mädchen, armes junges Ding, fast am Verhungern!« Dieses letzte Wort stieß er mit solcher Emphase hervor, dass dabei sanft ein bisschen Milch überschwappte.

Myra nahm die Erfrischungen folgsam an. Hungrig war sie zwar nicht, aber er hatte zehn Minuten gebraucht, um sie zu holen, weshalb es ihr unhöflich schien, sie abzulehnen. Während sie geziert an der Milch nippte und einen Croûton aß, überlegte sie unbestimmt, was sie sagen sollte. Mr. Whitney löste jedoch dieses Problem für sie, indem er zum zweiten Mal verschwand – dieses Mal über die breite Treppe, vier Stufen pro Hüpfer –, wobei sein kahler Hinterkopf im Halbdunkel einen Augenblick lang merkwürdig aufleuchtete.

Minuten verstrichen. Myra war hin- und hergerissen zwischen Ärger und Verblüffung darüber, wie sie dazu kam, mitten in dieser riesigen Halle auf einem hohen, unbequemen Sessel zu sitzen und auf Croûtons herumzukauen. Nach welchen gesellschaftlichen Regeln konnte man wohl die Verlobte seines Sohnes so empfangen!

Ihr Herz machte einen erleichterten Sprung, als sie von der Treppe her ein vertrautes Pfeifen vernahm: Knowleton – endlich. Als er sie sah, schnappte er vor Erstaunen nach Luft.

»Myra!«

Vorsichtig stellte sie die Schüssel und das Glas auf dem Teppich ab und erhob sich. Sie lächelte.

»Na so was«, rief er, »mir hat niemand gesagt, dass du hier bist!«

»Dein Vater… hat mich begrüßt.«

»Gütiger! Er muss hinaufgegangen sein und es völlig vergessen haben. Hat er etwa darauf bestanden, dass du dieses Zeug isst? Warum hast du nicht einfach gesagt, du willst nichts davon?«

»Weil… ich weiß nicht.«

»Mach dir wegen Vater keine Gedanken, Schatz. Er ist vergesslich und in einigen Dingen etwas unkonventionell, aber daran wirst du dich gewöhnen.«

Er drückte auf einen Knopf, und ein Butler erschien.

»Zeigen Sie Miss Harper ihr Zimmer, und lassen Sie ihre Reisetasche hinaufbringen – und den Koffer, falls er nicht schon oben ist.« Er wandte sich Myra zu. »Liebes, es tut mir schrecklich leid, dass ich nichts von deiner Ankunft wusste. Musstest du lange warten?«

»Oh, nur ein paar Minuten.«

Es waren mindestens zwanzig gewesen, aber sie versprach sich nichts davon, das sonderlich zu betonen, obwohl sie sich seltsam unbehaglich gefühlt hatte.

Eine halbe Stunde später, als sie gerade die letzte Öse ihres Abendkleides einhakte, klopfte es an die Tür.

»Myra, ich bin’s, Knowleton; wenn du fertig bist, könnten wir vor dem Essen noch kurz zu Mutter hineinschauen.«

Sie warf einen letzten beifälligen Blick auf ihr Spiegelbild, löschte das Licht und ging zu ihm hinaus in den Korridor. Er führte sie einen breiten Gang entlang, der den einen Flügel des Hauses mit dem anderen verband, blieb vor einer geschlossenen Tür stehen, stieß sie auf und geleitete Myra in das sonderbarste Zimmer, das ihre jungen Augen je erblickt hatten.

Es war ein großes, luxuriöses Boudoir, genau wie die Eingangshalle mit dunkler englischer Eiche getäfelt und von mehreren Lampen in einen weichen, orangefarbenen Schein getaucht, der alle Konturen trüb bernsteinfarben verschwimmen ließ. In einem ausladenden, mit Stapeln von Kissen gepolsterten und einem seltsam gemusterten Seidentuch drapierten Sessel ruhte eine sehr kräftige alte Dame mit schneeweißem Haar und plumpen Gesichtszügen, die den Anschein erweckte, als hätte sie sich schon Jahre nicht mehr von der Stelle gerührt. Sie lag schläfrig in den Kissen, die Augen halb geschlossen; ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich unter ihrem schwarzen Negligé.

Aber es war etwas anderes, was den Raum bemerkenswert machte, und Myra beachtete die Frau kaum, so gefesselt wurde sie von einem anderen Teil ihrer Umgebung. Auf dem Teppich, auf Sesseln und Sofas, auf dem großem Himmelbett und auf der weichen Angorabrücke vor dem Kamin saß, rekelte sich und schlief ein Heer von weißen Pudeln. Es mussten beinah zwei Dutzend Tiere sein, allesamt mit lockigem Fell, das sich vor ihren schmachtenden Augen kräuselte, und breiten gelben Schleifen, die an ihren Hälsen prangten. Als Myra und Knowleton eintraten, wurden die Hunde unruhig; sie hoben einundzwanzig kalte schwarze Nasen in die Luft, und aus einundzwanzig kleinen Kehlen erklang lautes, metallisches Staccatogekläff, bis das ganze Zimmer von einem solchen Radau erfüllt war, dass Myra erschrocken zurückwich.

Der Lärm ließ jedoch die Augen der schlafsüchtigen fetten Dame aufflattern. Mit tiefer, heiserer Stimme, die selbst eine eigenartige Ähnlichkeit mit Gebell hatte, schnauzte sie: »Schluss mit dem Krawall!«, und das Gekläff hörte augenblicklich auf. Die zwei oder drei Pudel vor dem Kamin sahen sich mit ihren seidig glänzenden Augen gegenseitig vorwurfsvoll an, legten sich wieder hin und zerflossen mit kleinen Seufzern auf der weißen Angorabrücke; der zerzauste Ball auf dem Schoß der Dame grub seine Nase in ihre Armbeuge und schlief weiter; nur die vielen Knäuel weißer Wolle überall im Raum hinderten Myra daran, alles für einen Traum zu halten.

»Mutter«, sagte Knowleton nach einer kurzen Pause, »das ist Myra.«

Den Lippen der Dame entströmte ein einzelnes heiseres Wort: »Myra?«

»Sie ist zu Besuch hier; ich hatte dir davon erzählt.«

Mrs. Whitney hob einen fleischigen Arm und strich sich müde mit der Hand über die Stirn.

»Kind!«, sagte sie, und Myra fuhr zusammen, denn wieder klang ihre Stimme wie ein leises Knurren. »Sie möchten also meinen Sohn Knowleton heiraten?«

Myra war zwar der Ansicht, das hieße das Pferd beim Schwanz aufzäumen, aber sie nickte. »Ja, Mrs. Whitney.«

»Wie alt sind Sie?« Diese Frage kam sehr plötzlich.

»Ich bin einundzwanzig, Mrs. Whitney.«

»Ah – und Sie stammen aus Cleveland?« Das klang eindeutig wie artikuliertes Gebell.

»Ja, Mrs. Whitney.«

»Ah…«

Myra war nicht sicher, ob dieser letzte Laut zur Unterhaltung gehörte oder nur ein Aufstöhnen war, weshalb sie nicht darauf reagierte.

»Sie entschuldigen doch, wenn ich nicht nach unten komme«, fuhr Mrs. Whitney fort, »aber wenn wir hier im Osten sind, verlasse ich selten dieses Zimmer und meine lieben kleinen Hundchen.«

Myra nickte, die konventionelle Frage nach dem Stand der Gesundheit schon fast auf den Lippen, als sie Knowletons warnenden Blick auffing und sich bremste.

»Nun«, Mrs. Whitneys Stimme hatte etwas Endgültiges an sich, »Sie scheinen ein sehr nettes Mädchen zu sein. Besuchen Sie mich wieder einmal.«

»Gute Nacht, Mutter«, sagte Knowleton.

»Nacht!«, bellte Mrs. Whitney schläfrig; ihre Augen schlossen sich allmählich, während ihr Kopf in die Kissen zurücksank.

Knowleton hielt Myra die Tür auf, und sie verließ leicht verwirrt das Zimmer. Als sie den Korridor entlanggingen, hörte sie hinter sich wütenden Lärm ausbrechen: Das Geräusch des Türschließens hatte die Pudel wieder aufgeweckt.

Sie gingen nach unten, wo sie Mr. Whitney bereits am Tisch sitzend erwartete.

»Überaus charmant, absolut entzückend!«, rief er aus und strahlte sie nervös an. »Eine große Familie, mit Ihnen als Juwel in ihrer Mitte, meine Liebe.«

Myra lächelte, Knowleton runzelte die Stirn, und Mr. Whitney gluckste.

»Es ist einsam hier gewesen«, fuhr er fort, »trostlos, nur mit uns dreien. Wir erwarten, dass Sie Sonne und Wärme in unser Leben bringen, das Strahlende, Blühende, das der Jugend eigen ist. Es wird ganz reizend werden. Singen Sie eigentlich?«

»Nun… früher. Ich meine, ja, ein wenig.«

Er klatschte entzückt in die Hände.

»Herrlich! Wundervoll! Was singen Sie? Arien? Balladen? Schlager?«

»Also, meistens Schlager.«

»Gut; ich persönlich ziehe Schlager allem anderen vor. Übrigens, heute Abend wird hier getanzt.«

»Vater«, fragte Knowleton säuerlich, »hast du etwa eine Gesellschaft eingeladen?«

»Ich habe Monroe beauftragt, einige Leute anzurufen – nur ein paar unserer Nachbarn«, erklärte er, Myra zugewandt. »Wir sind alle sehr gesellig hier, veranstalten dauernd solche informellen Sachen. Oh, es ist ganz entzückend.«

Myra suchte Knowletons Blick und sah ihn mitfühlend an. Es war offensichtlich, dass er an diesem ersten Abend mit ihr hatte allein sein wollen und sehr verstimmt war.

»Ich will, dass alle Myra kennenlernen«, fuhr sein Vater fort. »Ich will, dass sie wissen, was für ein entzückendes Juwel jetzt zu unserer kleinen Familie gehört.«

»Vater«, sagte Knowleton plötzlich, »später wollen Myra und ich natürlich hier mit dir und Mutter leben, aber für die ersten zwei oder drei Jahre, glaube ich, wäre ein Apartment für uns beide in New York doch das Geeignetere.«

Klirr! Mr. Whitney hatte mit seinen Fingern quer über das Tischtuch geharkt und sein Silber zu einem misstönenden Haufen auf den Boden gefegt.

»Dummes Zeug!«, brüllte er wütend und zeigte mit einem winzigen Finger auf seinen Sohn. »Red gefälligst nicht solchen Blödsinn daher! Du wirst hier leben, verstehst du mich? Hier! Ein Heim ohne Kinder – was ist das schon?!«

»Aber, Vater…«

In seiner Erregung erhob sich Mr. Whitney. Eine schwache, unnatürliche Röte überzog langsam sein fahles Gesicht.

»Still!«, kreischte er. »Wenn du auch nur die geringste Unterstützung von mir erwartest – unter meinem Dach kannst du sie haben, aber nirgendwo sonst! Ist das klar? Und was Sie betrifft, meine bezaubernde junge Dame«, fuhr er fort und ließ seinen zitternden Finger in Myras Richtung wandern, »Sie merken sich besser ein für alle Mal, dass es das Beste ist, wenn Sie sich dazu entschließen, für immer hier zu wohnen. Das ist mein Heim, und ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt!«

Einen Augenblick lang blieb er auf den Zehenspitzen stehen und schoss wütende Blicke auf die beiden ab; dann plötzlich drehte er sich um und verließ mit großen Sprüngen den Raum.

»Also«, keuchte Myra und wandte sich verblüfft zu Knowleton, »was sagt man dazu!«

III

 

Einige Stunden später kroch sie in großer Unruhe und Unzufriedenheit ins Bett. Eines wusste sie genau – sie würde nie in diesem Haus wohnen. Knowleton musste seinen Vater so weit zur Vernunft bringen, dass er ihnen ein Apartment in der Stadt bewilligte. Der fahle kleine Mann machte sie nervös; sie war sicher, dass Mrs. Whitneys Hunde ihr Alpträume verursachen würden; außerdem war ihr eine allgemeine Nachlässigkeit aufgefallen – bei dem Chauffeur, dem Butler, den Hausmädchen und sogar bei den Gästen, die sie an diesem Abend getroffen hatte –, die ihrer Auffassung vom Stil eines großen Anwesens nicht im Entferntesten entsprach.

Sie lag vielleicht eine Stunde so da, als sie von einem spitzen Schrei, der aus dem Nebenraum zu kommen schien, aus ihrer trägen Träumerei aufgeschreckt wurde. Sie setzte sich im Bett auf und lauschte. Nach einer Minute schrie wieder jemand. Es klang genau wie das klagende Weinen eines müden Kindes, das von einer Hand auf seinem Mund abrupt zum Schweigen gebracht wird. In der dunklen Stille verwandelte sich ihre Verwirrung nach und nach in tiefe Unruhe. Sie wartete ab, ob der Schrei sich noch einmal wiederholen würde, aber obwohl sie angestrengt die Ohren spitzte, hörte sie nichts außer der erdrückenden, dichten Stille von drei Uhr morgens. Sie fragte sich, wo Knowleton schlief, erinnerte sich dann, dass sein Schlafzimmer drüben im anderen Flügel gleich hinter dem seiner Mutter lag. Sie war allein hier – oder nicht?

Mit einem kleinen Keuchen glitt sie wieder unter die Decke und blieb lauschend liegen. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich nicht mehr vor der Dunkelheit gefürchtet, doch die unvorhergesehene Anwesenheit eines Menschen im Zimmer nebenan erschreckte sie, ließ ihre Phantasie durch ein ganzes Arsenal von Kriminalgeschichten rasen, mit denen sie sich dann und wann an langen Nachmittagen die Zeit vertrieben hatte.

Sie hörte, wie die Uhr viermal schlug. Sie war entsetzlich müde. Ein Vorhang senkte sich langsam vor ihre Phantasie, und nachdem sie sich auf die andere Seite gerollt hatte, schlief sie plötzlich ein.

Am nächsten Morgen, als sie mit Knowleton zwischen glitzernd rauhreifbedeckten Büschen in einem der kahlen Gärten spazieren ging, fühlte sie sich zunehmend beschwingt und wunderte sich über ihre Bedrücktheit in der vergangenen Nacht. Wahrscheinlich machten alle Familien einen etwas eigenartigen Eindruck, wenn man sie aus einem so persönlichen Grund zum ersten Mal besuchte. Dennoch: Ihr Entschluss, mit Knowleton in einem anderen Haus zu leben als die weißen Hunde und der zappelige kleine Mann, blieb unvermindert fest. Und wenn das frostige Völkchen, das sie bei der Party am Vorabend kennengelernt hatte, typisch war für die bessere Gesellschaft von Westchester County…

»Meine Familie«, sagte Knowleton, »muss reichlich ungewöhnlich wirken. Ich bin wohl in einer eher merkwürdigen Atmosphäre aufgewachsen, aber abgesehen von ihrer Vorliebe für Pudel ist Mutter im Grunde ganz normal, und Vater scheint seine Position in der Wall Street trotz seiner exzentrischen Angewohnheiten sicher zu halten.«

»Knowleton«, fragte sie unvermittelt, »wer wohnt im Zimmer neben mir?«

Zuckte er zusammen und errötete leicht – oder bildete sie sich das nur ein?

»Weil«, fuhr sie bedächtig fort, »ich fast sicher bin, dass ich in der Nacht da jemanden weinen gehört habe. Es klang wie ein Kind, Knowleton.«

»Da drin ist niemand«, antwortete er entschieden. »Das lag entweder an deiner Phantasie, oder du hast irgendwas Falsches gegessen. Oder vielleicht war eines der Mädchen krank.«

Scheinbar lässig ließ er das Thema fallen und wandte sich einem anderen zu.

Der Tag verging rasch. Beim Mittagessen schien Mr. Whitney seinen Wutanfall vom vergangenen Abend vergessen zu haben; er war so flattrig aufgeregt wie immer, und wieder hatte Myra das Gefühl, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Sie und Knowleton statteten Mrs. Whitney einen zweiten Besuch ab; auch diesmal erhoben sich die Pudel unruhig, begannen mit ihrem Radau und wurden von der rauhen, kehligen Stimme energisch zur Ordnung gerufen. Die Unterhaltung war kurz und hatte etwas Inquisitorisches an sich. Beendet wurde sie wie beim ersten Mal von den schweren Augenlidern der Dame des Hauses und dem triumphierenden Abschiedskonzert der Hunde.

Am Abend stellte sich heraus, dass Mr. Whitney darauf bestanden hatte, eine private Varietévorstellung für die Nachbarn zu organisieren. Im Ballsaal war eine Bühne aufgebaut worden, vor der Myra neben Knowleton in der ersten Reihe saß und gespannt die Geschehnisse verfolgte. Zwei dürre, hochnäsige Damen sangen, ein Mann führte einige uralte Kartentricks vor, ein Mädchen imitierte bekannte Persönlichkeiten, und dann tauchte zu Myras Erstaunen Mr. Whitney auf und gab einen recht eindrucksvollen Stepptanz zum Besten. Es war etwas unbeschreiblich Komisches an den Bewegungen des renommierten Financiers, der mit ernster Miene auf seinen winzigen Füßen über die Bühne glitt. Doch er tanzte gut, überraschend geschmeidig, mit spielerischer Leichtigkeit, und erntete einen wahren Beifallssturm.

Im Halbdunkel wurde sie plötzlich von der Dame zu ihrer Linken angesprochen.

»Mr. Whitney lässt ausrichten, dass er Sie hinter der Bühne zu sprechen wünscht.«

Verwirrt erhob sich Myra und stieg die Seitentreppe hoch, die zur erhöhten Plattform führte. Ihr Gastgeber erwartete sie bereits voller Ungeduld.

»Ah«, gluckste er, »prachtvoll!«

Er streckte ihr eine Hand entgegen, die sie verwundert ergriff. Bevor sie seine Absicht erraten konnte, stand sie schon – halb geführt, halb gezogen – draußen auf der Bühne. Der Scheinwerfer tauchte sie in gleißendes Licht, das Gemurmel der Unterhaltung im Publikum versiegte. Die Gesichter vor ihr waren farblose Kleckse auf schwarzem Grund, und sie fühlte, wie ihre Ohren glühten, während sie darauf wartete, dass Mr. Whitney zu sprechen begann.

»Meine Damen und Herren«, sagte er, »die meisten unter Ihnen kennen ja Miss Myra Harper bereits. Sie hatten gestern Abend die Ehre, sie kennenlernen zu dürfen. Sie ist, ich darf Sie dessen versichern, eine bezaubernde junge Frau. Ich weiß, wovon ich spreche: Sie beabsichtigt, die Frau meines Sohnes zu werden.«

Er hielt inne, nickte und fing an zu klatschen. Das Publikum nahm das Klatschen augenblicklich auf, und Myra stand da, starr vor Angst, so verstört wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Die piepsende Stimme fuhr fort: »Miss Harper ist nicht nur schön, sie ist auch begabt. Gestern Abend vertraute sie mir an, dass sie singt. Ich fragte sie, ob sie Arien, Balladen oder Schlager vorziehe, und sie gestand mir, sie neige Letzterem zu. Miss Harper wird uns nun die Freude machen, einen Schlager für uns zu singen.«

Damit stand Myra allein auf der Bühne, vor Verlegenheit unfähig, sich zu bewegen. Sie bildete sich ein, auf den Gesichtern vor ihr kritische Erwartung zu sehen, Langeweile und ironische Missbilligung. Ein absolut unmögliches Benehmen – man konnte doch einen Gast nicht einfach unvorbereitet in eine solche Lage bringen!

Nachdem Stille eingekehrt war, erwog sie im ersten Moment noch, mit ein, zwei Worten zu erklären, Mr. Whitney sei einem Missverständnis aufgesessen, aber dann kam ihr ihre Empörung zu Hilfe. Sie warf den Kopf zurück, und diejenigen, die nahe genug vor der Bühne saßen, konnten sehen, wie sich ihre Lippen fest zusammenpressten.

Sie trat an den vorderen Rand der Bühne und wandte sich knapp an den Chef der Kapelle: »Haben Sie Wave That Wishbone

»Mal sehn. Ja, haben wir.«

»Gut. Dann los.«

Eilig ging sie in Gedanken noch einmal den Text durch, den sie ganz zufällig im letzten Sommer auf einer langweiligen Party gelernt hatte. Es war vielleicht nicht gerade das Lied, das sie normalerweise für ihren ersten öffentlichen Auftritt gewählt hätte, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie lächelte strahlend, nickte dem Kapellmeister zu und begann, mit ihrem hellen, klaren Alt die erste Strophe zu singen.

Während sie sang, ergriff allmählich eine leichtsinnig ironische Stimmung von ihr Besitz – sie bekam Lust darauf, denen da unten für ihr Geld etwas zu bieten. Und das tat sie. Sie gab jedem Slangausdruck den passenden näselnden, heiseren Tonfall; sie ließ die Hüften im Rhythmus wackeln und schwingen; sie zeigte einen Revue-Tanzschritt, den sie einmal für die Laienaufführung eines Musicals gelernt hatte; schließlich beendete sie ihre Darbietung aus einer wilden Eingebung heraus in typischer Al-Jolson-Pose: auf den Knien, die Arme ihrem Publikum entgegengestreckt, eine synkopierte Bitte um Beifall.

Dann stand sie auf, verbeugte sich und verließ die Bühne.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, kalte Grabesstille, dann schloss sich vielleicht ein halbes Dutzend Hände zu einem schwachen Pro-Forma-Applaus zusammen, der schon nach einer Sekunde wieder erstarb.

›Großer Gott!‹, dachte Myra. ›War es wirklich so schlecht? Oder hab ich sie schockiert?‹

Mr. Whitney indessen schien entzückt. Er erwartete sie hinter den Kulissen, ergriff ihre Hand und schüttelte sie enthusiastisch.

»Ganz wunderbar!«, kicherte er. »Sie sind eine hinreißende kleine Schauspielerin – und Sie werden eine wertvolle Bereicherung für unsere kleinen Theaterstücke sein. Möchten Sie eine Zugabe geben?«

»Nein«, antwortete Myra kurz und wandte sich ab.

In einer dunklen Ecke wartete sie, bis die Menge den Saal verlassen hatte, erfüllt von wütendem Unwillen, diesen Leuten jetzt gegenüberzutreten, nachdem sie gerade eben ihre Leistung abgelehnt hatten.

Als der Ballsaal ganz leer war, ging sie langsam die Treppe hinauf. Oben standen Knowleton und Mr. Whitney allein im dunklen Korridor, offensichtlich in ein hitziges Streitgespräch verwickelt.

Bei Myras Erscheinen unterbrachen sie sich und sahen ihr ungeduldig entgegen.

»Myra«, sagte Mr. Whitney, »Knowleton möchte mit Ihnen sprechen.«

»Vater«, sagte Knowleton gepresst, »ich bitte dich…«

»Ruhe!«, rief sein Vater mit gereizt ansteigender Stimme. »Du wirst deine Pflicht tun – und zwar sofort.«

Knowleton warf ihm noch einen flehenden Blick zu, aber Mr. Whitney schüttelte nur erregt den Kopf, drehte sich um und verschwand wie eine Geistererscheinung eine Treppe höher.

Knowleton stand einen Moment schweigend da, doch schließlich ergriff er mit einem Ausdruck verbissener Entschlossenheit ihre Hand und führte sie zu einem Raum am Ende des Korridors. Das gelbe Licht fiel hinter ihnen durch die Tür, und sie fand sich in einem dunklen, geräumigen Zimmer wieder, in dem sie gerade noch große quadratische Umrisse an den Wänden ausmachen konnte, die sie für Bilderrahmen hielt. Knowleton drückte einen Knopf, und augenblicklich erwachten vierzig Porträts zum Leben – Kavaliere aus der Kolonialzeit, Damen mit Gainsborough-Schlapphüten, dicke Frauen mit Halskrausen und sanften, gefalteten Händen.

Sie sah Knowleton mit fragendem Blick an, aber er führte sie zu einer Reihe von Bildern an der Seitenwand.

»Myra«, sagte er langsam und mühevoll, »da gibt es etwas, was ich dir sagen muss. Das da«, er wies mit seiner Hand auf die Gemälde, »sind Familienporträts.«

Es waren insgesamt sieben – drei Männer und drei Frauen, allesamt aus der Zeit kurz vor dem Bürgerkrieg. Eines in der Mitte jedoch war von karmesinroten Samtvorhängen verdeckt.

»Es mag wie ein Scherz klingen«, fuhr er mit fester Stimme fort, »aber dieses Bild stellt meine Urgroßmutter dar.«

Er streckte eine Hand aus, zog an einer kleinen Seidenkordel, die Vorhänge teilten sich und gaben den Blick frei auf das Porträt einer Frau, die zwar europäisch gekleidet war, aber unverkennbar die Züge einer Chinesin besaß.

»Mein Urgroßvater, musst du wissen, war ein australischer Tee-Importeur. Er traf seine spätere Frau in Hongkong.«

In Myras Kopf drehte sich alles. Plötzlich sah sie Mr. Whitneys gelbliches Gesicht vor sich, seine charakteristischen Augenbrauen, die winzigen Hände und Füße – sie erinnerte sich an grausige Geschichten, die sie über biologische Rückschläge gehört hatte, über chinesisch aussehende Babys… da durchzuckte sie als letzter Schreckensgedanke die Erinnerung an jenen erstickten Schrei mitten in der Nacht. Sie schnappte nach Luft, ihre Knie schienen unter ihr nachzugeben, und sie sank langsam zu Boden.

Sofort schlossen sich Knowletons Arme um sie.

»Liebstes, Liebstes!«, rief er. »Ich hätte es dir nicht sagen dürfen. Ich hätte es dir nicht sagen dürfen!«

In dem Augenblick, da sie diese Worte hörte, wusste Myra endgültig und ohne jeden Zweifel, dass sie ihn nie würde heiraten können, und als sie das erkannt hatte, warf sie ihm einen wilden, erbarmungswürdigen Blick zu und fiel zum ersten Mal in ihrem Leben einfach in Ohnmacht.

IV

 

Als sie wieder ganz zu sich kam, lag sie im Bett. Offensichtlich hatte eines der Hausmädchen sie entkleidet, denn nachdem sie die Leselampe eingeschaltet hatte, sah sie, dass ihre Kleider ordentlich weggehängt worden waren. Sie lag eine Weile da, hörte gedankenverloren zu, wie die Uhr in der Halle zwei Uhr schlug. Plötzlich ließen sie ihre überreizten Nerven vor Schreck hochfahren: wieder dieses Kinderweinen aus dem Nebenzimmer. Der Morgen schien mit einem Mal unendlich weit entfernt. Ganz in der Nähe verbarg sich irgendein düsteres Geheimnis – ihre fiebrige Phantasie gaukelte ihr das Bild eines chinesischen Kindes vor, das dort drüben im Halbdunkel aufgezogen wurde.

In einem Anfall von Panik schlüpfte sie in ein Negligé, riss die Tür auf und schlich den Flur entlang bis zu Knowletons Zimmer. Es war sehr dunkel im anderen Flügel, aber als sie seine Tür aufstieß, konnte sie beim schwachen Licht der Korridorbeleuchtung sehen, dass sein Bett leer und nicht benutzt worden war. Ihre Angst nahm zu. Warum war er zu dieser Nachtstunde nicht in seinem Zimmer? Sie steuerte auf Mrs. Whitneys Boudoir zu, doch bei dem Gedanken an die Hunde und ihre eigenen nackten Knöchel stieß sie einen leisen Laut der Entmutigung aus und ging an der Tür vorbei.

Kurz darauf hörte sie den Klang von Knowletons Stimme, der aus der Richtung eines schmalen Lichtspalts ganz am Ende des Korridors kam, und eilte freudig erregt auf ihn zu. Als sie gerade noch knapp einen halben Meter von der Tür entfernt war, entdeckte sie, dass sie durch den Spalt hineinsehen konnte – und nach einem einzigen flüchtigen Blick verlor sie jede Absicht, den Raum zu betreten.

Vor einem offenen Kamin, mit hängendem Kopf, in einer Haltung, die grenzenlose Niedergeschlagenheit ausdrückte, stand Knowleton; in einer Ecke, die Füße auf einen Tisch gelegt, saß Mr. Whitney in Hemdsärmeln, sehr ruhig und gelassen, und sog zufrieden an einer riesigen schwarzen Pfeife. Neben ihm auf dem Tisch saß ein Teil von Mrs. Whitney – das heißt, Mrs. Whitney ohne Haare. Auf dem vertrauten mächtigen Oberkörper thronte zwar Mrs. Whitneys Kopf, aber völlig kahl; auf ihren Wangen zeigten sich bereits kurze Bartstoppeln, und in ihrem Mund steckte eine große, schwarze Zigarre, die sie mit offensichtlichem Vergnügen paffte.

»Tausend«, stöhnte Knowleton, als gäbe er Antwort auf eine bestimmte Frage. »Sagen wir zweitausendfünfhundert und wir kommen den Tatsachen näher. Ich habe heute von dem Zwinger der Grahams die Rechnung für diese Pudel bekommen. Die knöpfen mir dort zweihundert ab und wollen die Viecher schon morgen wieder zurückhaben.«

»Nun«, sagte Mrs. Whitney mit tiefer Baritonstimme, »dann schicken Sie sie halt zurück. Wir brauchen sie nicht mehr.«

»Das ist ja noch das Wenigste«, fuhr Knowleton verdrossen fort. »Dann gibt es noch Ihr Honorar und Ihres, Appleton, dann den Kerl, der den Chauffeur gemacht hat, die siebzig Statisten für zwei Abende, noch dazu die Kapelle – das sind schon fast zwölfhundert –, dann kommt noch die Miete für die Kostüme und dieses blöde Chinesenporträt dazu sowie das Schmiergeld fürs Personal. Himmel! Kann gut sein, dass den ganzen nächsten Monat lang hier irgendwelche Rechnungen eintrudeln.«

»Na ja«, sagte Appleton, »dann reißen Sie sich doch um alles in der Welt zusammen, und ziehen Sie die Sache bis zum bitteren Ende durch. Ich gebe Ihnen mein Wort drauf, das Mädchen ist bis morgen Mittag Schlag zwölf aus dem Haus.«

Knowleton sank in einen Sessel und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Oh…«

»Haltung! Jetzt ist alles vorbei. Da draußen im Flur dachte ich einen Moment lang schon, Sie bringen die Sache mit der Chinesin nicht fertig.«

»Nach diesem Varieté war ich vollkommen erledigt«, stöhnte Knowleton. »Das war so ziemlich der gemeinste Streich, den man einem Mädchen spielen kann, und sie hat so verdammt viel Humor bewiesen!«

»Ihr blieb auch nichts anderes übrig«, sagte Mrs. Whitney zynisch.

»Oh, Kelly, wenn Sie gesehen hätten, wie das Mädchen mich angeschaut hat, kurz bevor sie vor diesem Porträt in Ohnmacht fiel. Gott, ich glaube, sie liebt mich! Oh, wenn Sie das gesehen hätten!«

Myra wurde puterrot. Sie lehnte sich dichter an die Tür und biss sich auf die Lippen, bis sie das leicht bittere Aroma von Blut schmeckte.

»Wenn ich irgendetwas tun könnte«, fuhr Knowleton fort, »egal was, womit ich die Sache wiedergutmachen könnte, ich glaube, ich würd’s tun.«

Kelly, mit seinem kahl schimmernden Schädel in absurdem Kontrast zu dem betont weiblichen Negligé, ging gewichtig zu Knowleton hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wissen Sie was, mein Junge – Sie haben einfach keine Nerven, das ist Ihr Problem. Betrachten Sie das Ganze doch mal so: Sie haben was unternommen, um aus Ihrem Schlamassel wieder rauszukommen. Das Mädchen war todsicher nur hinter Ihrem Geld her – jetzt haben Sie sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen, sind um eine unglückliche Ehe herumgekommen und haben Ihrer Familie viel Kummer erspart. Stimmt’s, Appleton?«

»Absolut!«, stimmte Appleton mit Nachdruck zu. »Bringen Sie’s zu Ende.«

»Na ja«, sagte Knowleton in einem traurigen Versuch, sich selbst zu überzeugen, »wenn sie mich wirklich lieben würde, hätte sie sich von alldem nicht so beeindrucken lassen. Sie heiratet schließlich nicht meine Familie.«

Appleton lachte.

»Ich dachte, wir hätten versucht, ihr deutlich klarzumachen, dass sie genau das tun muss.«

»Oh, seien Sie ruhig!«, rief Knowleton gequält.

Myra sah, wie Appleton Kelly zuzwinkerte.

»Richtig«, sagte er, »sie hat gezeigt, dass sie hinter Ihrem Geld her ist. Also gibt’s überhaupt keinen Grund, die Sache nicht durchzuziehen. Überlegen Sie doch mal: Die Angelegenheit kann nur auf zwei Arten ausgehen. Erste Möglichkeit: Sie haben bewiesen, dass sie Sie nicht liebt, Sie sind sie los und frei wie ein Vogel. Sie wird sich wegschleichen und nie auch nur ein Wort darüber verlieren – und Ihre Eltern erfahren nichts davon. Zweite Möglichkeit: Zweitausendfünfhundert zum Fenster rausgeschmissen, unglückliche Ehe, das Mädchen wird Sie bestimmt hassen, sobald sie alles erfahren hat, Ihre Eltern werden außer sich sein und Sie wahrscheinlich wegen dieser Heirat enterben, mit einem Wort: eine einzige Katastrophe.«

»Sie haben recht«, gab Knowleton düster zu. »Sie haben recht, nehme ich an – aber, Gott, der Ausdruck auf ihrem Gesicht vorhin! Wahrscheinlich liegt sie jetzt wach im Bett und lauscht nach dem Chinesenbaby…«

Appleton stand auf und gähnte.

»Also…«, fing er an.

Aber Myra hatte genug gehört. Sie zog ihren Seidenkimono fester um sich, rannte wie der Blitz über den weichen Flur und stürzte völlig aufgelöst und außer Atem in ihr Zimmer.

»Allmächtiger Gott!«, rief sie, die Hände im Dunkeln ineinander verkrampft. »Allmächtiger Gott!«

V

 

Erst kurz vor Anbruch der Morgendämmerung fiel Myra in einen chaotischen Traum, der endlose Stunden fortzudauern schien. Sie wachte gegen sieben auf und lag wie erschlagen da, ein blaugeäderter Arm hing seitlich aus dem Bett. Sie, die unzählige Nächte durchtanzt hatte, war todmüde.

Das Schlagen einer Uhr außerhalb ihres Zimmers ließ sie nervös zusammenfahren, und durch diese Bewegung schien etwas in ihr zu zerbrechen – sie warf sich herum und begann, hemmungslos in ihr Kissen zu weinen, ihr Kopf umgeben von einem dunklen Nimbus aus zerzaustem Haar. Ausgerechnet ihr, Myra Harper, wurde dieser billige, vulgäre Streich gespielt, und dazu noch von einem Mann, den sie für schüchtern und freundlich gehalten hatte.

Weil er nicht die Courage gehabt hatte, zu ihr zu kommen und ihr die Wahrheit zu sagen, hatte er von der Straße weg Männer angeheuert, um sie zu vergraulen.

Zwischen ihren fiebrigen, krampfartigen Schluchzern versuchte sie sich vergeblich vorzustellen, wie es in einem Gehirn aussah, das sich einen solchen Plan mit dieser Raffinesse hatte ausdenken können. Ihr Stolz machte es ihr unmöglich, in dem Ganzen einen wohlüberlegten Schachzug Knowletons zu sehen. Wahrscheinlich stammte die Idee von diesem kleinen Schauspieler Appleton oder vom fetten Kelly mit seinen grässlichen Pudeln. In jedem Fall war das alles unerhört – unfassbar. Sie fühlte sich dadurch tief in ihrer Selbstachtung getroffen.

Doch als sie um acht Uhr ihr Zimmer verließ und – das Frühstück hatte sie verschmäht – in den Garten hinausging, war sie eine überaus beherrschte junge Schönheit mit trockenen, kühlen Augen, unter denen nur schwache Schatten lagen. Der Boden, fest und gefroren, kündigte den Winter an, und sie fand grauen Himmel und dumpfe Luft irgendwie tröstlich und zu ihrer Stimmung passend. Es war ein Tag zum Nachdenken, und sie musste nachdenken.

Und dann, als sie um eine Ecke bog, sah sie plötzlich Knowleton vor sich auf einer Steinbank sitzen, den Kopf in den Händen, in einer Haltung tiefster Niedergeschlagenheit. Er trug noch immer dieselben Kleider wie am vergangenen Abend; ganz offensichtlich war er überhaupt nicht zu Bett gegangen.

Er hörte sie erst, als sie ganz nah bei ihm war: Ein trockener Zweig, der unter ihrem Fuß knackte, ließ ihn müde aufblicken. Die Nacht hatte verheerende Spuren hinterlassen – sein Gesicht war leichenblass, seine Augen rotgerändert, geschwollen und müde. Er sprang auf, mit einem Gesichtsausdruck, der sehr nach Furcht aussah.

»Guten Morgen«, sagte Myra leise.

»Setz dich«, begann er fahrig. »Setz dich, ich möchte mit dir reden. Ich muss mit dir reden!«

Myra nickte, nahm neben ihm auf der Bank Platz, umfasste ihre Knie mit den Händen und schloss halb die Augen.

»Myra, um Himmels willen, hab Mitleid mit mir!«

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Was meinst du?«

Er stöhnte auf.

»Myra, ich habe etwas Entsetzliches getan – dir, mir, uns. Es gibt nichts, was ich zu meiner Verteidigung sagen könnte – ich habe mich ganz einfach erbärmlich benommen. Eine Art Wahnsinn muss mich befallen haben.«

»Du musst mir schon erklären, wovon du da sprichst.«

»Myra… Myra« – wie alle großen, trägen Massen war sein Geständnis offenbar nur schwer in Bewegung zu bringen –, »Myra, Mr. Whitney ist nicht mein Vater.«

»Du meinst, du wurdest adoptiert?«

»Nein, ich meine… Ludlow Whitney ist natürlich mein Vater, aber der Mann, den du kennengelernt hast, ist nicht Ludlow Whitney.«

»Ich weiß«, sagte Myra kühl. »Das ist Warren Appleton, der Schauspieler.«

Knowleton sprang auf.

»Wie um alles –«

»Oh«, log Myra elegant, »ich habe ihn schon am ersten Abend erkannt. Ich sah ihn vor fünf Jahren in The Swiss Grapefruit.«

Bei diesen Worten schien Knowleton endgültig zusammenzubrechen. Kraftlos sank er auf die Bank zurück.

»Du wusstest Bescheid?«

»Natürlich! Was kann ich dafür? Ich habe mich nur gefragt, was das alles bedeuten sollte.«

Mit gewaltiger Anstrengung versuchte er sich zu fassen.

»Ich will dir die ganze Geschichte erzählen, Myra.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Also, es fängt mit meiner Mutter an – meiner richtigen, nicht der Frau mit diesen idiotischen Hunden; sie ist körperbehindert, und ich bin ihr einziges Kind. Ihr einziger Lebensinhalt bestand immer nur in dem Wunsch, mich standesgemäß zu verheiraten, und ihre Vorstellung von einer standesgemäßen Heirat ist untrennbar verbunden mit einer angesehenen gesellschaftlichen Stellung in England. Ihre größte Enttäuschung war, dass sie kein Mädchen gebar, das einen Titel hätte heiraten können; stattdessen wollte sie mich nach England schleifen – mich mit der Schwester eines Earls oder der Tochter eines Herzogs verheiraten. Bevor sie mich diesen Herbst allein hier wohnen ließ, musste ich ihr sogar versprechen, mit keinem Mädchen mehr als zweimal auszugehen. Und dann traf ich dich.«

Er hielt eine Sekunde inne und fuhr dann ernst fort: »Du warst das erste Mädchen in meinem Leben, bei dem ich überhaupt ans Heiraten gedacht habe. Du hast mich betört, Myra. Es war beinah so, als hättest du mich durch irgendeine unsichtbare Macht dazu gezwungen, dich zu lieben.«

»Habe ich auch«, murmelte Myra.

»Jedenfalls, dieser erste Rausch hielt eine Woche an, da kam eines Tages ein Brief von Mutter, sie würde irgendein wunderbares englisches Mädchen mitbringen, eine Lady Helena Soundso. Und am selben Tag erzählte mir ein Mann, er hätte gehört, ich sei der berühmtesten Heiratswütigen von ganz New York ins Netz gegangen. Weißt du… zwischen diesen beiden Neuigkeiten bin ich fast verrückt geworden. Ich bin in die Stadt gefahren, um dich zu sehen und alles abzublasen… ich kam gerade bis zum Eingang des Biltmore und traute mich nicht weiter. Ich fing an, wie ein Wahnsinniger auf der Fifth Avenue herumzuirren, und da traf ich Kelly. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte – und eine Stunde später hatten wir diesen scheußlichen Plan ausgeklügelt. Es war sein Plan – mit allen Details. Sein Instinkt fürs Dramatische ist wohl mit ihm durchgegangen, und er überzeugte mich, das sei der schonendste Ausweg.«

»Komm zum Ende«, befahl Myra knapp.

»Na ja, es lief ganz toll, dachten wir jedenfalls. Alles – das Treffen am Bahnhof, die Szene beim Abendessen, der Schrei in der Nacht, das Varieté – obwohl ich meinte, das sei ein bisschen zu dick aufgetragen – bis… bis… Oh, Myra, als du unter dem Bild ohnmächtig wurdest und ich dich hilflos wie einen Säugling in den Armen hielt, da wusste ich, dass ich dich liebe. Da tat mir das alles leid, Myra.«

Eine lange Pause trat ein, während deren sie reglos dasaß, ihre Hände immer noch ihre Knie umfassend. Plötzlich brach es ungestüm und voll leidenschaftlicher Aufrichtigkeit aus ihm heraus:

»Myra!«, rief er. »Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, dass du dich dazu überwinden könntest, mir zu vergeben und alles zu vergessen, dann will ich dich heiraten, wann immer du willst, und dich mein Leben lang lieben, und meine Familie kann sich von mir aus zum Teufel scheren.«

Sie überlegte lange; Knowleton stand auf und begann nervös zwischen den kahlen Büschen auf und ab zu gehen, die Hände in die Taschen vergraben. Jetzt hatten seine müden Augen einen kläglichen, dumpf flehenden Blick. Schließlich kam sie zu einer Entscheidung.

»Bist du dir absolut sicher?«, fragte sie ruhig.

»Ja.«

»Sehr gut; dann heirate ich dich heute noch.«

Ihre Worte klärten die Atmosphäre, seine Sorgen schienen von ihm abzufallen wie ein zerlumpter Mantel. Eine herbstliche Sonne glitt hinter den grauen Wolken hervor, und das trockene Buschwerk raschelte leise in der sanften Brise.

»Es war ein schwerer Fehler«, sagte sie weiter, »aber wenn du dir jetzt sicher bist, dass du mich liebst, dann ist das ja die Hauptsache. Wir fahren noch heute Morgen in die Stadt, besorgen uns die Eheerlaubnis, und ich rufe meinen Cousin an, der Geistlicher in der Ersten Presbyterianischen Kirche ist. Wir können heute Abend in den Westen abreisen.«

»Myra!«, jubelte er lauthals. »Du bist wunderbar, und ich bin es nicht wert, dir die Schuhe zu schnüren. Ich werde alles wiedergutmachen, mein Liebling.«

Damit schloss er ihren geschmeidigen Körper in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Myra ging zum Telefon, rief ihren Cousin an und eilte dann hinauf, um zu packen. Als sie wieder herunterkam, wartete wie von Zauberhand gesandt ein chromglänzender Sportwagen in der Auffahrt, und gegen zehn rollten sie bereits glücklich auf die Stadt zu.

Sie unterbrachen ihre Fahrt für einige Minuten am Rathaus und noch einmal beim Juwelier, dann waren sie auch schon im Haus von Reverend Walter Gregory an der 69th Street, wo ein frömmelnder Herr mit funkelnden Augen und leichtem Stottern sie herzlich willkommen hieß und vor der Zeremonie noch zu einem Frühstück mit Eiern und Speck drängte.

Auf dem Weg zum Bahnhof hielten sie nur einmal an, gerade lange genug, um Knowletons Vater zu telegrafieren, so dass sie in kürzester Zeit in ihrem Abteil des Broadway Limited saßen.

»So ein Mist!«, rief Myra, »ich habe meine Tasche vergessen. Muss sie in der Aufregung bei Cousin Walter vergessen haben.«

»Das macht doch nichts. Wir können dir in Chicago alles neu besorgen.«

Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

»Wir haben doch noch Zeit; ich rufe ihn an, er soll sie mir nachschicken.«

Sie erhob sich.

»Aber mach nicht zu lange, Liebes.«

Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Das könnte ich gar nicht, das weißt du doch. Nur zwei Minuten, Schatz.«

Draußen lief Myra schnell den Bahnsteig entlang und die Stahltreppe zum großen Wartesaal hinauf, wo ein Mann auf sie wartete – ein Mann mit funkelnden Augen, der leicht stotterte.

»Na, w-wie ist es gelaufen, M-Myra?«

»Alles bestens! Oh, Walter, du warst hinreißend. Ich wünsche mir beinahe, du würdest Pfarrer werden, damit du die Trauung übernehmen könntest, wenn ich wirklich mal heirate.«

»Na ja – ich ha-hab ja auch ’ne halbe Stunde geübt, nachd-dem du angerufen hattest.«

»Nur schade, dass wir nicht mehr Zeit hatten. Ich hätte ihn auch noch dazu gebracht, ein Apartment zu mieten und Möbel zu kaufen.«

»Ch-ch«, kicherte Walter. »B-bin ja gespannt, w-wie weit er kommt mit seinen Flitterwochen.«

»Oh, er wird glauben, ich sei im Zug, bis er in Elizabeth ankommt.« Sie schüttelte ihre kleine Faust hinauf zur gewaltigen Wölbung der Marmorkuppel. »Oh, er kommt noch viel zu gut davon – viel zu gut!«

»M-möchte b-bloß wissen, was der Kerl dir angetan hat, M-Myra.«

»Ich hoffe, das wirst du nie erfahren.«

Sie hatten den Seitenausgang erreicht, und er winkte ihr ein Taxi heran.

»Du bist ein Engel!«, strahlte Myra. »Und ich kann dir gar nicht genug danken.«

»St-tets gern zu Diensten. Übrigens, was m-machst du mit all den Ringen?«

Myra betrachtete lachend ihre Hand.

»Das ist die Frage«, sagte sie. »Ich könnte sie ja an Lady Helena Soundso schicken – und… na ja, ich hatte schon immer ein besonderes Faible für Souvenirs. Sag dem Fahrer ›Biltmore‹, Walter.«

Winterträume
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