Erster Mai

 

Ein Krieg war geführt und gewonnen worden, über der großen Stadt des Siegervolkes wölbten sich Triumphbögen, und ein bunter Regen aus weißen, roten und rosafarbenen Blumen belebte ihren Anblick. Einen langen Frühlingstag nach dem anderen marschierten die heimkehrenden Soldaten zum stampfenden Rhythmus der Trommeln und zu den fröhlich schallenden Weisen der Blaskapellen die Hauptstraße entlang, und die Kaufleute und Kanzleischreiber vergaßen das Gefeilsche und die Pfennigfuchserei und belagerten in dichten Scharen die Fenster, die aneinandergedrängten Bleichgesichter in feierlichem Ernst den Bataillonen zugewandt, die dort vorüberzogen.

Nie zuvor war die große Stadt in solchen Glanz getaucht gewesen, denn der gewonnene Krieg hatte Reichtum in seinem Gefolge, und von Süden und Westen waren die Kaufleute mit ihren Familien herbeigeeilt, um teilzuhaben an all den köstlichen Banketten und all die ausschweifenden Lustbarkeiten zu erleben – und um ihren Frauen Pelze für den nächsten Winter zu kaufen und goldgewirkte Handtäschchen und farbenprächtige Pantöffelchen aus Seide und Silber und rosa Satin und Goldbrokat.

So heiter und in höchsten Tönen besangen die Skribenten und Poeten des Siegervolks den Frieden und den nun verheißenen Wohlstand, dass immer mehr gutbetuchte Herrschaften aus den Provinzen herbeigeeilt kamen, um den Wein des Überschwangs zu trinken, und die Kaufleute ihre Kinkerlitzchen und Pantöffelchen immer schneller loswurden, bis sie endlich lauthals nach mehr Kinkerlitzchen und mehr Pantöffelchen riefen, auf dass sie die gewünschte Ware auch weiterhin verschachern könnten. Einige warfen gar hilflos die Arme in die Luft und schrien:

»O weh! Alle Pantöffelchen sind ausverkauft! und o weh! Alle Kinkerlitzchen – ausverkauft! Himmel hilf, was mach ich bloß?«

Doch niemand achtete auf ihren mächtigen Aufschrei, denn die Menge war viel zu beschäftigt – Tag für Tag schritten die Fußsoldaten beschwingt die Hauptstraße hinauf, und alles jubelte, denn die Jünglinge, die aus dem Feld heimkamen, waren rein und kühn, mit kräftigem Gebiss und frischen Wangen, und die jungen Mädchen des Landes waren jungfräulich und hübsch von Angesicht wie von Gestalt.

Und so begab sich in der großen Stadt in all der Zeit so manches Abenteuer, und einige davon – vielleicht auch nur ein einziges – wollen wir hier erzählen.

I

 

Am ersten Mai 1919 um neun Uhr in der Frühe erschien ein junger Mann im Hotel Biltmore und fragte an der Rezeption nach, ob Mr. Philip Dean dort abgestiegen sei; falls ja, ob man ihn dann wohl bitte mit der Suite von Mr. Dean verbinden könne. Bekleidet war der Frager mit einem gutsitzenden, aber abgetragenen Anzug. Er war klein und hager und sah nicht schlecht aus, wenn auch etwas finster; die Augen waren oben von ungewöhnlich langen Wimpern gesäumt und unten von bläulichen Ringen, die auf eine angeschlagene Gesundheit hindeuteten und deren Wirkung noch verstärkt wurde durch das unnatürliche Glühen seines Teints, dessenthalben sein Gesicht den Eindruck machte, als ob er ständig leichtes Fieber habe.

Mr. Dean war in der Tat dort abgestiegen. Man dirigierte den jungen Mann zu einem Telefon, das abseits stand.

Wenige Sekunden später war die Verbindung hergestellt; verschlafen fragte eine Stimme von irgendwo oben: »Hallo?«

»Mr. Dean?« Und dann mit großem Eifer: »Phil? Hier ist Gordon. Gordon Sterrett. Ich bin unten in der Halle. Ich hab gehört, du bist in New York, und irgendwie hab ich geahnt, dass du hier absteigst.«

Die verschlafene Stimme wurde allmählich munter. Ja, wie’s denn seinem alten Spezi Gordy gehe! Nein, so eine Überraschung aber auch, das sei ja eine Riesenfreude! Gordy solle doch um Himmels willen augenblicklich raufkommen!

Ein paar Minuten später öffnete Philip Dean in einem Pyjama aus blauer Seide seine Tür, und die zwei jungen Männer begrüßten sich mit leicht verlegenem Überschwang. Beide waren etwa vierundzwanzig, und beide hatten in dem Jahr, bevor der Krieg ausbrach, in Yale ihr Examen abgelegt, hier aber hörten ihre Ähnlichkeiten auch schon auf. Dean war blond, rotbackig und strotzte unter seinem dünnen Schlafanzug vor Kraft. Ein durchtrainierter Bursche, der sich sichtlich wohl fühlte in seiner Haut. Wenn er lächelte, was er häufig tat, bleckte er seine großen, vorstehenden Zähne.

»Ich hab eh vorgehabt, bei dir vorbeizuschauen«, rief er ganz begeistert. »Ich hab mir ein paar Wochen freigenommen. Setz dich doch einen Moment, ich bin gleich wieder da. Will bloß noch schnell unter die Dusche.«

Damit verschwand er in der Badestube, indes sich sein Besucher mit unstet umherschweifendem Blick im Zimmer umsah, kurz die große englische Reisetasche in der Ecke musterte und dann all die reinseidenen Hemden betrachtete, die scharenweise zwischen eindrucksvoll gemusterten Krawatten und weichen Wollsocken über sämtliche Stühle verstreut waren.

Gordon erhob sich, nahm eines der Hemden zur Hand und sah es sich gründlich an. Es war aus schwerer Seide, gelb, mit blaßblauen Streifen – und es gab beinah ein Dutzend seiner Art. Unwillkürlich fiel sein Blick auf seine eigenen Hemdmanschetten – verschlissen waren sie, ausgefranst und schmutzig grau. Er legte das Seidenhemd wieder hin und zog seine abgewetzten Manschetten so weit hoch und die Ärmel seines Rocks so weit herunter, dass Letztere die Ersteren verbargen. Dann trat er vor den Spiegel und schaute sich zwar aufmerksam, doch lust- und freudlos darin an. Seine einst so prachtvolle Krawatte war mittlerweile speckig und verschossen und taugte nicht mal mehr dazu, die ausgerissenen Knopflöcher am Kragen seines Hemdes zu verstecken. Ausgesprochen missvergnügt erinnerte er sich daran, wie er vor drei Jahren am College kurz vor der Abschlussprüfung an der Wahl zum bestgekleideten Mann seines Semesters teilgenommen hatte und dabei durchaus die eine oder andere Stimme auf sich hatte vereinen können.

Dean, noch dabei, seinem Leib den letzten Schliff zu verpassen, kam aus dem Badezimmer zurück.

»Hab gestern Abend eine alten Freundin von dir getroffen«, bemerkte er. »Bin in der Halle mit ihr zusammengestoßen und kam doch ums Verrecken nicht auf ihren Namen. Diese Kleine, die du damals im letzten Semester nach New Haven mitgebracht hast.«

Gordon zuckte zusammen.

»Edith Bradin? Meinst du die?«

»Genau die. Sieht verdammt gut aus. Immer noch so ’n hübsches Püppchen – weißt schon, so eine, wo man sich nicht traut, sie anzufassen, vor lauter Angst, man könnt sie schmutzig machen.«

Selbstzufrieden begutachtete er seine glänzende Erscheinung im Spiegel und lächelte sich rasch zu, wobei er einen Teil seines Gebisses entblößte.

»Na, die muss jedenfalls inzwischen auch so zirka dreiundzwanzig sein«, fuhr er fort.

»Zweiundzwanzig, letzten Monat«, sagte Gordon zerstreut.

»Wie bitte? Ach so, letzten Monat. Na fein, ich vermute mal, die ist wegen des Balls der Gamma-Psi-Verbindung hier. Wusstest du schon, dass wir heute Abend im Delmonico einen Gamma-Psi-Ball der Yale-Absolventen haben? Da musst du unbedingt hinkommen, Gordy. Wetten, dass sich dort halb New Haven trifft? Ich kann dir ’ne Einladung besorgen.«

Dean schlüpfte, wenn auch widerstrebend, in seine frische Unterwäsche, steckte sich eine Zigarette an, nahm am offenen Fenster Platz und machte sich daran, im vollen Schein der Morgensonne, die ins Zimmer fiel, seine Knie und Waden einer eingehenden Inspektion zu unterziehen.

»Setz dich doch, Gordy«, schlug er vor, »und erzähl mir, was du unterdessen so getrieben hast und was du heute treibst und so weiter und so fort.«

Da kippte Gordon völlig unerwartet um und fiel aufs Bett, wo er ermattet und wie leblos liegen blieb. Sein Mund, der ohnehin schon immer etwas offen stand, wenn sein Gesicht entspannt war, sah plötzlich hilflos aus, mitleiderregend.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Dean rasch.

»O Gott!«

»Was ist denn los?«

»Was los ist?«, sagte Gordon kläglich. »Der Teufel ist los, verdammter Mist. Ich bin komplett am Ende, Phil. Ich bin erledigt.«

»Häh?«

»Ich bin erledigt.« Seine Stimme bebte.

Dean sah ihn sich genauer an, taxierte ihn mit seinen blauen Augen.

»Du siehst tatsächlich ganz schön fertig aus.«

»Bin ich auch. Ich hab alles versaut, einfach alles.« Er überlegte einen Moment. »Ich fang am besten ganz am Anfang an – oder langweilt dich das?«

»Nein, nein, überhaupt nicht, schieß los«, erwiderte Dean, doch seine Stimme klang ein ganz klein wenig zögernd. Dieser Ausflug an die Ostküste war als Urlaub geplant gewesen, und so richtig passte es ihm nicht in den Kram, den völlig aufgelösten Gordon Sterrett hier anzutreffen.

»Na, schieß schon los«, wiederholte er und fügte noch ziemlich leise hinzu: »Bring’s hinter dich.«

»Also gut«, fing Gordon zaghaft an, »im Februar bin ich aus Frankreich zurückgekommen, war erst mal vier Wochen daheim in Harrisburg und bin dann runter nach New York, um mir eine Stelle zu suchen. Hab auch eine gefunden – bei einem Exportunternehmen. Und gestern haben sie mich entlassen.«

»Entlassen?«

»Dazu komm ich gleich noch, Phil. Ich will ganz offen zu dir sein. Du bist so ziemlich der Einzige, an den ich mich in dieser Sache wenden kann. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich ganz offen mit dir rede, nicht wahr, Phil?«

Dean ging noch etwas mehr auf Distanz. Er tätschelte weiter seine Knie, inzwischen aber nur mehr rein mechanisch. Ihn beschlich das vage Gefühl, dass ihm da eine Verantwortung aufgebürdet werden sollte für irgendwas, womit er nicht das Geringste zu tun hatte; auf einmal war er sich nicht mehr so sicher, ob er die Geschichte wirklich hören wollte. Er hätte sich überhaupt nicht gewundert, wenn Gordon Sterrett einfach ein bisschen in der Klemme gesteckt hätte, aber so ein Bild des Jammers, nein, das fand er abstoßend, das machte ihn innerlich ganz hart, obwohl es andererseits auch seine Neugier weckte.

»Erzähl weiter.«

»Es geht um ein Mädchen.«

»Hm.« Dean beschloss, sich seine Reise auf keinen Fall vermiesen zu lassen. Sollte Gordon ihm aufs Gemüt schlagen, nun, dann würde er sich eben von ihm fernhalten müssen.

»Jewel Hudson heißt sie«, kam es in bedrücktem Ton vom Bett herüber. »Und sie war, glaube ich, immer noch ›rein‹, bis vor etwa einem Jahr. Wohnt hier in New York – armer Leute Kind. Die Eltern sind inzwischen tot, sie lebt bei einer alten Tante. Weißt du, als ich sie kennengelernt hab, das war die Zeit, als alle in hellen Scharen aus Frankreich zurückkamen – und ich hab weiter nichts gemacht, als die Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen und mit ihnen auf Partys zu gehen. Damit hat alles angefangen, Phil, ich hab mich doch einfach bloß so gefreut, die andern alle wiederzusehen, und die haben sich genauso gefreut, mich wiederzusehen.«

»Hättest du mal lieber auf die Vernunft gehört.«

»Ich weiß.« Gordon überlegte kurz und fuhr dann trübsinnig fort. »Jetzt bin ich ganz auf mich gestellt, verstehst du, und, Phil, ich kann es einfach nicht ertragen, arm zu sein. Und dann kam dieses vermaledeite Mädel. Eine Zeitlang war sie in mich verliebt oder so, und irgendwie ist sie mir ständig über den Weg gelaufen, obwohl ich überhaupt nicht vorhatte, mich mit ihr einzulassen. Und diese Exportfirma – du kannst dir ja denken, was ich da so zu tun hatte – und dabei hatte ich doch immer zeichnen wollen; Illustrationen für Magazine; da ist ’n Haufen Geld drin.«

»Und warum hast du’s nicht getan? Man muss sich halt dahinterklemmen, wenn man was erreichen will«, erklärte Dean mit kühler Sachlichkeit.

»Ich hab’s ja versucht, ein bisschen jedenfalls, aber meine Sachen sind noch nicht richtig ausgereift. Ich hab durchaus Talent, Phil; ich kann wirklich zeichnen – ich weiß bloß noch nicht so recht, wie ich es angehn muss. Eigentlich müsste ich auf eine Kunstakademie, aber das kann ich mir nicht leisten. Also, vor einer Woche kam dann der Zusammenbruch. Ich war sowieso schon blank bis auf den letzten Dollar, und da kommt auch noch dieses Mädel an und macht mir die Hölle heiß. Sie will Geld von mir; sie sagt, sie kann mir großen Ärger machen, wenn sie keins kriegt.

»Und? Kann sie das?«

»Ich fürchte, ja. Das ist einer der Gründe, weshalb ich meine Anstellung verloren hab – die hat andauernd in der Firma angerufen, bis es den Leuten dort gereicht hat. Außerdem hat sie einen Brief geschrieben, alles schon fix und fertig, den will sie meinen Eltern schicken. O Gott, die hat mich echt am Kragen. Irgendwie muss ich Geld für sie auftreiben.«

Darauf trat eine unbehagliche Pause ein. Gordon lag ganz reglos da, die Hände zu Fäusten geballt.

»Ich bin total am Ende«, fuhr er mit bebender Stimme fort. »Phil, ich bin halb verrückt. Hätte ich nicht erfahren, dass du hier rüberkommst, ich glaub, ich hätt mich umgebracht. Kannst du mir dreihundert Dollar leihen?«

Deans Hände, die die ganze Zeit die nackten Fußknöchel getätschelt hatten, hielten plötzlich inne, die eigentümliche Unsicherheit, die zwischen den beiden Männern geherrscht hatte, schlug jäh um und wich einer gezwungenen, angespannten Atmosphäre.

Einen Augenblick später fuhr Gordon fort: »Meine Familie hab ich schon dermaßen geschröpft, dass ich mich schämen würde, sie auch nur um einen einzigen weiteren Nickel anzubetteln.«

Dean schwieg beharrlich weiter.

»Jewel sagt, sie braucht zweihundert Dollar.«

»Dann sag du ihr, sie kann dich mal.«

»Ja, wenn das so einfach wäre. Sie hat Briefe von mir, die ich in betrunkenem Zustand an sie geschrieben habe. Und leider ist sie kein so schwankes Rohr im Wind, wie du vielleicht vermutest.«

Dean verzog angewidert das Gesicht.

»Genau die Sorte Frauen, die ich nicht ausstehn kann. Hättest du sie dir doch bloß vom Leibe gehalten.«

»Ich weiß ja«, räumte Gordon kleinlaut ein.

»Man muss den Dingen doch ins Auge sehn. Wer kein Geld hat, muss halt arbeiten und die Finger von den Frauen lassen.«

»Du hast leicht reden«, fiel Gordon ihm ins Wort. Er kniff die Augen zusammen. »Du hast ja Geld wie Heu.«

»Das denkst du vielleicht. Aber meine Familie hält mich verdammt kurz und passt ganz genau auf, was ich ausgebe. Ich habe zwar ein kleines bisschen Spielraum, aber gerade darum muss ich ganz besonders Obacht geben, dass ich nichts verschleudere.«

Er zog die Jalousie hoch, damit noch mehr Sonnenschein das Zimmer überfluten konnte.

»Ich bin weiß Gott kein Tugendbold«, fuhr er bedachtsam fort. »Ich find es herrlich, mich zu amüsieren – und das reichlich, besonders auf so einer Urlaubsreise hier, aber du – du bist in einer ganz entsetzlichen Verfassung. So hab ich dich ja noch nie reden hören. Du scheinst mir irgendwie bankrott zu sein – moralisch und auch finanziell.«

»Geht nicht normalerweise das eine mit dem anderen einher?«

Dean schüttelte unwirsch den Kopf.

»Dich umgibt ja eine richtige Aura, eine Aura, die ich nicht recht zu deuten weiß. Irgendwas Unheilvolles.«

»Ach, das ist weiter nichts als ein Konglomerat von Sorgen, Armut und schlaflosen Nächten«, sagte Gordon einigermaßen trotzig.

»Ich weiß nicht.«

»Schon gut, ich seh’s ja ein, ich schlag dir aufs Gemüt. Ich schlag mir selber aufs Gemüt. Aber, meine Güte, Phil, eine Woche Erholung, ein neuer Anzug und das nötige Kleingeld in der Tasche, und ich bin – bin wieder ganz der Alte. Phil, ich kann zeichnen wie der Blitz, das weißt du doch. Aber meistens hatte ich einfach kein Geld, um mir anständiges Zeichenzeug zu kaufen – und wenn ich müde bin und mutlos und total erledigt, dann kann ich auch nicht zeichnen. Aber wenn ich das nötige Kleingeld hätte, dann könnt ich ein paar Wochen ausspannen und wieder auf die Beine kommen.«

»Und woher soll ich wissen, dass du’s nicht gleich wieder für die nächste Frau ausgibst?«

»Musst du mir das immerzu unter die Nase reiben?«, sagte Gordon leise.

»Ich reib dir doch nichts unter die Nase. Es tut mir in der Seele weh, dich so zu sehen.«

»Kannst du mir’s denn nun leihen oder nicht, Phil?«

»So mir nichts, dir nichts kann ich das nicht entscheiden. Es ist ja schließlich eine Menge Geld, und, verflixt noch mal, für mich wär das mit allerlei Ungelegenheiten verbunden.«

»Und für mich wär’s schlicht die Hölle, solltest du’s nicht können – ich weiß, ich winsele hier herum, und dabei bin ich ja an allem selber schuld – aber das ändert doch nichts an der Sachlage.«

»Wann könntest du es mir denn wiedergeben?«

Das klang nicht sehr ermutigend. Gordon dachte nach. Wahrscheinlich war es das Klügste, ganz ehrlich zu sein.

»Ich könnte dir natürlich versprechen, dass ich’s dir nächsten Monat zurückschicke, aber – ich sag es dir ganz unumwunden, besser wär in drei Monaten. Sobald ich’s schaffe, die ersten Zeichnungen zu verkaufen.«

»Und woher weiß ich, ob du überhaupt jemals irgendwelche Zeichnungen verkaufst?«

In Deans Stimme lag eine ungewohnte Härte, die in Gordon Zweifel weckte und ihn frösteln machte. Konnte es denn möglich sein, dass er das Geld doch nicht bekam?

»Ich dachte immer, du hättest ein klein wenig Vertrauen zu mir.«

»Hatte ich ja auch – aber wenn ich dich so ansehe, dann kommen mir da doch gewisse Zweifel.«

»Ja, meinst du denn, ich würde mich mit so was an dich wenden, wenn ich nicht vollends in der Tinte sitzen würde? Glaubst du, mir macht das Spaß?« Er schwieg und biss sich auf die Unterlippe, denn er merkte, dass es besser war, den aufkeimenden Groll zu unterdrücken, der nach und nach in seinen Worten mitschwang. Schließlich war er der Bittsteller.

»Du machst dir’s ganz schön leicht«, fuhr Dean ihn an. »Du drehst die Sache einfach so, dass ich mir wie ein Schuft vorkommen muss, wenn ich dir dieses Geld nicht gebe – oh ja, das tust du wohl. Aber lass dir gesagt sein, dass es für mich durchaus kein Kinderspiel ist, dreihundert Dollar aufzutreiben. So hoch ist mein Einkommen nämlich nicht, dass mich ein solcher Batzen nicht in Teufels Küche bringen könnte.«

Damit erhob er sich aus seinem Sessel und fing an, sich anzuziehen, wobei er jedes Kleidungsstück mit großer Sorgfalt wählte. Gordon breitete die Arme aus, umklammerte die Bettkanten und kämpfte das Verlangen nieder, laut aufzuschreien. Ihm schwirrte der Kopf, sein Schädel wollte schier zerspringen, die Zunge klebte ihm am Gaumen, er hatte einen bitteren Geschmack im Mund und hatte ein Gefühl, als jagte ihm das Fieber das Blut in raschen Stößen durch die Adern, wie Sturzbäche von Regenwasser, die durch die Dachrinne hinunterrauschen.

Dean knüpfte unterdessen akkurat seinen Krawattenknoten, bürstete sich die Augenbrauen und tupfte sich mit feierlichem Ernst einen Tabakkrümel von den Zähnen. Dann füllte er sein Zigarettenetui, warf die leere Schachtel gedankenverloren in den Papierkorb und steckte das Behältnis in die Westentasche.

»Schon gefrühstückt?«, fragte er

»Nein; das Frühstücken hab ich mir abgewöhnt.«

»Na schön, dann gehn wir jetzt erst mal was essen. Und das mit dem Geld, das entscheiden wir später. Ich bin das Thema leid. Schließlich bin ich hergekommen, um mir ein paar schöne Tage zu machen. Komm, wir gehn rüber in den Yale Club«, fuhr er mürrisch fort, um dann verhalten vorwurfsvoll hinzuzufügen: »Du hast ja deine Stellung aufgegeben. Du hast doch weiter nichts zu tun.«

»Ich müsste nur das nötige Kleingeld haben, dann hätte ich eine Menge zu tun«, sagte Gordon spitz.

»Himmelherrgott, kannst du dieses Thema nicht mal eine Weile ruhen lassen? Es hat doch keinen Sinn, mir die ganze Reise zu vergällen. Hier, da hast du dein Kleingeld.«

Er zog einen Fünfdollarschein aus der Brieftasche und schob ihn Gordon hin, der ihn sorgsam zusammenfaltete und in die Tasche steckte. Dabei vertiefte sich das Rot auf seinen Wangen noch, und dieses heftigere Glühen – es kam nicht vom Fieber. Ehe sie sich zum Gehen wandten, begegneten sich ihre Blicke einen winzigen Moment lang, und in diesem winzigen Moment entdeckten beide etwas, das sie dazu bewog, die Augen ganz schnell niederzuschlagen. Denn in diesem winzigen Moment erkannten beide unversehens, dass sie einander ohne jeden Zweifel hassten.

II

 

An der Ecke, wo die Forty-fourth Street auf die Fifth Avenue trifft, herrschte mittägliches Gewimmel. Glitzernd warf die reiche, glückstrahlende Sonne ihr flüchtiges Gold durch die dicken Fensterscheiben der eleganten Geschäfte auf silbergewirkte Handtäschchen und Geldbörsen, Perlenketten in grauen Samtetuis, Fächer aus buntschillernden Federn, auf die Spitzenbesätze und Seidenstoffe kostbarer Roben, auf die schlechten Gemälde und die feinen Stilmöbel in den kunstreich gestalteten Ausstellungsräumen der Innenausstatter.

Teils zu zweit, teils auch in kleinen Gruppen oder ganzen Schwärmen schlenderten berufstätige junge Mädchen an den Auslagen vorüber und suchten sich in diesem oder jenem prächtig dekorierten Schausalon ihre künftige Schlafzimmereinrichtung aus, einschließlich des traut auf dem Bett drapierten seidenen Herrenschlafanzugs. Vor den Juwelierläden blieben sie stehen, um sich ihre Verlobungsringe auszuwählen, ihre Eheringe und Platinarmbanduhren, und dann zogen sie weiter und nahmen die Federfächer und Operntoiletten in Augenschein und verdauten währenddessen die Sandwichs und Eisbecher, die sie zu Mittag gegessen hatten.

Allenthalben in der Menge sah man Männer in Uniform, Matrosen von der Großen Weißen Flotte, die auf dem Hudson vor Anker lag, Soldaten mit Divisionsabzeichen von Massachusetts bis Kalifornien, die sich nichts sehnlicher wünschten, als irgendwie aufzufallen, und die erkennen mussten, dass die große Stadt Soldaten gründlich über hatte, sofern sie nicht hübsch ordentlich in Reih und Glied, Tornister und Gewehre schleppend, einhermarschierten.

Durch dieses buntgemischte Treiben bahnten sich Dean und Gordon also ihren Weg, Ersterer höchst interessiert und sichtlich belebt durch dieses heftig wogende, schillernde Menschengewühl, derweil Letzterer daran denken musste, wie oft er selbst so in der Menge aufgegangen war, ein müder, überarbeiteter Bursche, der sich verzettelte und für den regelmäßige Mahlzeiten ein Fremdwort waren. Für Dean war das Gedränge verheißungsvoll, fröhlich und jung; für Gordon aber war es trostlos, sinnlos, endlos.

Im Yale Club trafen sie eine Gruppe von Kommilitonen, die Dean, den Gast von weit her, lautstark begrüßten. Man lümmelte im Halbkreis auf Chaiselongues und in tiefen Sesseln und schlürfte seinen Highball.

Für Gordon war die Unterhaltung nur ein ermüdendes, nicht enden wollendes Geplapper. Sie aßen alle zusammen Mittag, und als der Nachmittag hereinbrach, war die ganze Truppe schön durchgewärmt vom Alkohol. Am Abend wollten sie gemeinsam auf den Gamma-Psi-Ball gehen, denn der versprach, die beste Party seit dem Krieg zu werden.

»Edith Bradin kommt auch«, sagte jemand zu Gordon. »Ist das nicht ’ne alte Flamme von dir? Seid ihr nicht beide aus Harrisburg?«

»Ja.« Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Ihren Bruder treff ich manchmal. Das ist einer von diesen spinnerten Sozialisten. Gibt so was wie ’ne Zeitung raus hier in New York.«

»Nicht so wie seine lebenslustige Schwester, was?«, fiel ihm sein Informant beflissen ins Wort. »Na, heute Abend kommt sie jedenfalls mit einem Burschen aus dem vorletzten Semester, Peter Himmel heißt er.«

Um acht war Gordon mit Jewel Hudson verabredet – er hatte ihr versprochen, dass er Geld mitbringen würde. Immer wieder schaute er nervös auf seine Armbanduhr. Um vier stand Dean zu seiner Erleichterung auf und erklärte, er wolle jetzt zu Rivers Brothers rüber und ein paar Kragen und Krawatten kaufen. Doch als sie den Club verließen, schloss sich ihnen zu Gordons Entsetzen einer der anderen an. Dean war inzwischen ganz jovial gestimmt, fröhlich, voller Vorfreude auf das Tanzvergnügen am Abend, ja fast ein bisschen übermütig. Bei Rivers suchte er ein Dutzend Krawatten aus, nicht ohne sich bei einer jeden ausgiebig mit dem anderen Mann beraten zu haben. Ob dieser ebenfalls der Ansicht sei, dass schmale Schlipse wieder in Mode kämen? Und ob es denn nicht eine Schande sei, dass Rivers keine Kragen von Welch Margetson mehr führe? Es gebe einfach keinen besseren Kragen als den »Covington«.

Gordon wurde allmählich nervös. Er brauchte das Geld, und zwar sofort. Und er bekam nach und nach Lust, auch mit auf den Gamma-Psi-Ball zu gehen. Er wollte Edith wiedersehen – Edith, die er das letzte Mal an jenem romantischen Abend in Harrisburg im Country Club gesehen hatte, unmittelbar vor seiner Abreise nach Frankreich. Ein kleines Techtelmechtel, das gestorben war, untergegangen in den Wirren des Krieges und dann, im wilden Auf und Ab des letzten Vierteljahrs, so gut wie in Vergessenheit geraten, doch nun sah er sie plötzlich vor sich, gestochen scharf – ein reizendes Geschöpf, das herrlich selbstvergessen und ganz unbefangen plaudern konnte, und völlig unerwartet waren Hunderte Erinnerungen wieder da. Ediths Gesicht war es gewesen, das er all die Jahre auf dem College mit einer Art interesseloser und dennoch zärtlicher Bewunderung lieb und wert gehalten hatte. Er hatte sie unglaublich gern gezeichnet – überall in seinem Zimmer hatten Dutzende Skizzen von ihr gehangen – beim Golfspielen, beim Schwimmen – ihr keckes, faszinierendes Profil, buchstäblich mit geschlossenen Augen konnte er es zeichnen.

Um halb sechs verließen sie den Herrenausstatter und blieben noch ein paar Minuten draußen auf dem Trottoir stehen.

»So«, sagte Dean aufgeräumt, »jetzt hab ich alles, was ich brauche. Dann geh ich wohl mal ins Hotel zurück, rasieren und Haare schneiden, und danach lass ich mir noch eine Massage verpassen.«

»Gute Idee«, sagte der andere, »ich glaub, ich schließe mich dir an.«

Gordon fragte sich, ob er zu guter Letzt doch noch abgewimmelt werden sollte. Er brauchte seine ganze Kraft, um den Mann nicht einfach anzuschreien: »Verdammt noch mal, jetzt zischen Sie doch endlich ab!« In seiner Verzweiflung argwöhnte er, dass Dean dem Burschen was gesteckt hatte und ihn die ganze Zeit absichtlich mitschleppte, um einer Auseinandersetzung bezüglich des Geldes aus dem Weg zu gehen.

Und dann betraten sie das Biltmore, in dessen Halle es nunmehr von jungen Mädchen wimmelte, größtenteils von der Westküste und aus dem Süden – es war die crème de la crème der Debütantinnen aus vielen Städten, die hier versammelt war, um auf dem Ball einer altehrwürdigen Studentenverbindung einer altehrwürdigen Universität zu tanzen. Für Gordon aber waren das nur Traumgesichter. Er nahm all seine Kraft zusammen, um noch einen letzten verzweifelten Vorstoß zu wagen; er hatte keine Ahnung, wie anfangen, doch als er gerade loslegen wollte, entschuldigte sich Dean auf einmal bei dem anderen Mann, hakte Gordon unter und nahm ihn beiseite.

»Gordy«, sagte er rasch, »ich hab mir die ganze Sache gründlich überlegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dir das Geld nicht leihen kann. Ich wär dir wirklich gern gefällig, aber mein Gefühl rät mir, es nicht zu tun – ich wäre dadurch einen ganzen Monat lang in der Bredouille.«

Gordon war wie vor den Kopf geschlagen; er sah Dean an und wunderte sich darüber, dass ihm dessen vorstehende Zähne noch nie aufgefallen waren.

»Es tut mir wahnsinnig leid, Gordon«, fuhr dieser fort, »aber so sieht’s nun einmal aus.«

Er holte seine Brieftasche hervor und zählte sorgfältig einige Geldscheine ab – fünfundsiebzig Dollar.

»Hier«, sagte er und hielt sie Gordon hin, »hier hast du fünfundsiebzig, das macht dann achtzig insgesamt. Mehr Bargeld hab ich nicht bei mir, außer meiner Reisekasse.«

Gordon hob mechanisch die zur Faust geballte Hand, öffnete sie wie eine Zange, schnappte sich das Geld und schloss die Faust gleich wieder.

»Wir sehn uns nachher auf dem Ball«, sagte Dean. »Ich muss mich beeilen, dass ich’s noch zum Friseur schaffe.«

»Bis nachher«, sagte Gordon verkrampft und mit heiserer Stimme.

»Bis nachher.«

Dean verzog das Gesicht zu einem Lächeln, schien sich’s dann aber anders überlegt zu haben. Er nickte kurz und machte sich davon.

Gordon jedoch blieb wie angewurzelt stehen und hielt die Geldscheinrolle fest umklammert; sein hübsches Gesicht war schmerzverzerrt. Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen, und tapsig, wie ein Blinder, torkelte er die Eingangsstufen des Biltmore hinunter.

III

 

Am selben Abend, ungefähr gegen neun, kamen zwei Individuen aus einem billigen Restaurant auf der Sixth Avenue. Sie waren hässlich, unterernährt, bar jeglicher Intelligenz, oder allenfalls auf der untersten Stufe derselben, und noch nicht einmal im Besitz jener Ausgelassenheit, und sei es auch nur in ihrer animalischen Form, die von sich aus schon Farbe ins Leben bringt; von Ungeziefer waren sie letzthin befallen, verkühlt und ausgehungert, in einer schmutzigen Stadt in einem fremden Land; sie waren arm und ohne Freunde; herumgestoßen waren sie, wie Treibholz, seit dem Tag ihrer Geburt, und würden es auch bleiben, herumgestoßen wie Treibholz, bis zu ihrem Tod. Sie trugen die Uniform der US-Army, und auf ihren Schulterstücken prangten die Abzeichen einer Wehrpflichtigendivision aus New Jersey, die erst vor drei Tagen wieder heimgekommen war.

Der Größere der beiden hieß Carrol Key, ein Name, der vermuten lässt, dass das Blut in seinen Adern, mochte es durch über Generationen währende Degeneration auch noch so sehr verdünnt sein, doch einst zu mancher Hoffnung Anlass gab. Indes, selbst wenn man bis in alle Ewigkeit in dieses lange, kinnlose Gesicht mit seinen trüben, triefenden Augen und den hohen Wangenknochen starrte, es war darin auch nicht die allerkleinste Spur von noblen Erbanlagen oder angeborener Gewitztheit zu entdecken.

Sein Kumpan war dunkelhaarig, hatte Säbelbeine, Rattenaugen und eine mannigfach gebrochene Hakennase. Sein aufsässiges Gebaren war offenkundig Maskerade, so was wie eine Waffe zur Selbstverteidigung, entliehen jener Welt, in der das Knurren und das Zähnefletschen, die körperliche Täuschung und die körperliche Drohung an der Tagesordnung sind und in der er von jeher lebte. Sein Name war Gus Rose.

Nachdem sie das Café verlassen hatten, schlenderten sie, genüsslich und vollkommen hemmungslos mit ihren Zahnstochern herumfuhrwerkend, die Sixth Avenue hinunter.

»Und wohin jetzt?«, fragte Rose in einem Ton, der die Vermutung nahelegte, dass er durchaus nicht überrascht gewesen wäre, wenn Key die Südseeinseln vorgeschlagen hätte.

»Was meinstn, wollma nichma kuckn, obma ürgntwo ’n Schnäpschen kriegen?« Es war noch keine Prohibition. Das Scharfe an Keys Vorschlag war, dass an Soldaten laut Gesetz kein Alkohol verkauft werden durfte.

Rose stimmte begeistert zu.

»Ich hab da ’ne Idee«, fuhr Key nach kurzer Überlegung fort, »ich hab hia ürgntwo ’n Bruda.«

»Hia in New York?«

»Hmhm. So ’n olln Knilch.« Damit wollte er sagen, dass es sich um einen älteren Bruder handelte. »Der is als Kellna inna Hasch-Spielunke.«

»Da kanna uns ja was besorgn.«

»Und oppa kann!«

»Du, morgen ziech abba endlichma diese scheiß Uniform hia aus, das kannste glaum. In so was kricht mich keina nochma rein. Morgen organisier ich mir Zivilklamotten.«

»Denkste, ich nich?«

Da ihre Barschaft insgesamt knapp unter fünf Dollar betrug, darf man diese Absichtserklärung ruhig als ein launiges, ebenso harmloses wie Trost spendendes spielerisches Wortgeplänkel werten. Allerdings schienen beide ihre helle Freude daran zu haben, untermauerten sie das Gesagte doch mit reichlich viel Gekicher, zitierten allerlei hochgestellte Persönlichkeiten aus Bibelkreisen und würzten das Ganze obendrein mit häufig wiederholten Wendungen wie »Mein lieba Mann!« und »Weißt schon!« oder »Na, und ob!«.

Das intellektuelle Reservoir, über das die zwei verfügten, erschöpfte sich in jahrelang eingeübten, mit quengelnder Stimme vorgetragenen Nörgeleien über die Institution – Armee, Gewerbe oder Armenhaus –, die sie jeweils am Leben hielt, und über ihren jeweiligen unmittelbaren Vorgesetzten. Bis heute früh war diese Institution der »Staat« gewesen und der unmittelbare Vorgesetzte der »Käpten«, und diesen beiden just entwischt, befanden sie sich nunmehr in der ziemlich unbequemen Lage, dass sie in Bälde einer neuen Fron sich würden unterwerfen müssen. Unsicher waren sie, gereizt und einigermaßen missvergnügt. Das überspielten sie, indem sie eine übertriebene Erleichterung darüber an den Tag legten, nicht mehr in der Armee zu sein, und einander unentwegt versicherten, nie wieder werde sich ihr sturer, freiheitsliebender Wille der militärischen Disziplin beugen. In Wahrheit aber hätten sie sich beide im Kerker weitaus mehr daheim gefühlt als in dieser neuerrungenen, unangefochtenen Freiheit.

Plötzlich beschleunigte Key seine Schritte. Rose sah auf und folgte seinem Blick und erspähte fünfzig Meter voraus eine Ansammlung von Menschen auf der Straße. Key rannte mit beglücktem Glucksen auf die Menge zu, worauf Rose gleichfalls gluckste und mit seinen kurzen Säbelbeinen neben seinem ungelenk mit weit ausholenden Schritten dahineilenden Kumpan einhertrippelte.

Kaum hatten sie den Saum der Ansammlung erreicht, da wurden sie auch schon von ihr verschluckt. Sie bestand aus zerlumpten Zivilisten, denen bereits der Alkohol zugesetzt hatte, und Soldaten aus allen möglichen Divisionen und in allen möglichen Stadien der Nüchternheit, und alle drängten sich um einen kleinen, wild gestikulierenden Juden mit langem schwarzem Backenbart, der wild mit den Armen fuchtelte und eine erregte, aber durchaus schlüssige Philippika hielt. Key und Rose, die sich sozusagen fast bis zum Parkett vorgearbeitet hatten, beäugten ihn mit heftigem Argwohn, derweil ihnen seine Worte ins Bewusstsein drangen.

»Nu, und was hat er euch gebracht, der Krieg?«, rief der Jude hitzig aus. »Schauts euch doch um, schauts euch nur um! Seids geworden reich? Habts gekrickt ’n Haufen Geld? – nebbich; von Glück könnts sagen, wenns noch seid am Leben und habt behalten eure Beine alle zwei; von Glück könnts sagen, wenns seid heimgekehrt und eure Frau ist euch noch nicht davongelaufen mitm andern, der hat gehabt das Geld, dass er vom Krieg sich frei konnt kaufen! Dann könnts ihr sagen von Glück! Wer hat denn schon Gewinn gehabt davon, wer denn schon außer J. P. Morgan und John D. Rockefeller?«

An dieser Stelle unterbrach ein feindlicher Fausthieb die flammende Rede des kleinen Juden und traf punktgenau sein bärtiges Kinn, so dass er umkippte und rücklings, alle viere von sich streckend, auf dem Pflaster liegen blieb.

»Gottverdammter Bolschewist!«, schrie der stramme Schmied in Soldatenuniform, der ihm den Hieb verabfolgt hatte. Beifälliges Gebrabbel erhob sich; die Menge rückte noch dichter zusammen.

Der Jude rappelte sich wieder auf, wurde jedoch sogleich von einem halben Dutzend neuer Fäuste getroffen und ging abermals zu Boden. Diesmal blieb er unten; er atmete schwer, Blut quoll aus seiner von innen und von außen aufgeplatzten Lippe.

Alles kreischte und schrie wild durcheinander, und im nächsten Augenblick merkten Rose und Key, wie die bunt zusammengewürfelte Rotte, angeführt von einem spillerigen Zivilisten mit einem Schlapphut auf dem Kopf und jenem Muskelpaket in Uniform, das den Volksredner zum Schweigen gebracht hatte, sie mitriss die Sixth Avenue hinunter. Auf wundersame Weise war der Mob inzwischen zu einem furchterregenden Haufen angewachsen, rechts und links auf dem Gehsteig eskortiert von Strömen unbeteiligter Bürger, die die Menge mit gelegentlichen Hurrarufen ihrer moralischen Unterstützung versicherten.

»Und wohin jetzt?«, brüllte Key seinem Nebenmann ins Ohr. Der zeigte auf den Anführer mit dem Schlapphut.

»Der da, der weiß, wo’s noch ’n ganzen Haufen von der Sorte gibt! Denen werden wir’s zeigen!«

»Denen werden wir’s zeigen!«, flüsterte Key überglücklich Rose zu, der den Satz entzückt seinem Nebenmann auf der anderen Seite zurief.

Der Zug wogte weiter die Sixth Avenue hinunter, und hie und da schlossen sich Soldaten und Matrosen und ab und zu auch Zivilisten an, allesamt mit der unvermeidlichen Erklärung, sie seien selber gerade raus aus der Armee – ein Satz, den sie vorzeigten wie den Mitgliedsausweis eines jüngst gegründeten Sport- und Vergnügungsclubs.

Dann schwenkte der Zug in eine Querstraße ein und bewegte sich auf die Fifth Avenue zu, und hier und da war das Gerücht zu hören, sein Ziel sei eine Versammlung der Roten in der Tolliver Hall.

»Wo ist das denn?«

Die Frage wurde von hinten nach vorne weitergereicht, und gleich darauf kam die Antwort zurück: Die Tolliver Hall sei unten an der Tenth Street. Es sei übrigens noch ein zweiter Haufen von Kommissköppen unterwegs, um diese Kundgebung zu sprengen, die müssten mittlerweile angekommen sein!

Tenth Street – das hörte sich indes nach einem ziemlich weiten Fußmarsch an, und so erhob sich, als das Wort die Runde machte, allgemeines Stöhnen, und eine ganze Menge Leute zog es vor, sich zu verkrümeln. Darunter Rose und Key, die einfach im Spazierschritt weiterschlenderten und die Entflammteren an sich vorüberziehen ließen.

»Also, ’n Schnäpschen wär mir lieba«, sagte Key, als sie schließlich stehenblieben und sich, begleitet von Schmährufen wie »Rohrkrepierer!« und »Drückeberger!«, zum Trottoir durchdrängelten.

»Dein Bruda, is dem seine Kneipe nich vielleicht ürgntwo hia im Dreh?«, fragte Rose mit der Miene eines Mannes, der genug hat von den Oberflächlichkeiten und zum Wesentlichen kommt.

»Müsste einklich«, erwiderte Key. »Hab ’n paar Jahre nich gesehn. Weil, ich war doch drühm in Pennsylvania. Kann sein, er arbeit’ übahaups nich abens. Is jehnfalz gleich hia inna Nähe. Wenna noch da is, kanna uns bestümmt ürgntwas besorgen.«

Ein paar Minuten suchten sie die Straße rauf und runter, dann hatten sie das Etablissement gefunden – ein schäbiges Lokal, wenn auch immerhin mit Tischdecken, zwischen der Fifth Avenue und dem Broadway. Dorthinein ging Key, um nach seinem Bruder George zu fragen, während Rose draußen vor dem Eingang wartete.

»Der arbeit’ nich mehr hia«, sagte Key, als er wieder herauskam. »Der is jetzt Kellner ohm im Delmonico.«

Rose nickte verständnisinnig, als hätte er mit so was schon gerechnet. Wen wundert es denn auch, wenn einer, der was auf dem Kasten hat, gelegentlich die Stellung wechselt? Er habe da mal einen Kellner gekannt… Und während sie nun weitergingen, entspann sich eine lange Diskussion darüber, ob Kellner ihren Lebensunterhalt eher von ihrem regulären Lohn bestreiten oder eher vom Trinkgeld, und am Ende waren sie sich einig, dass es ganz darauf ankomme, in was für ein Milieu der Laden einzuordnen sei, in dem ein Kellner arbeite. Und nachdem sie einander in den schillerndsten Farben all die Millionäre beschrieben hatten, die im Delmonico speisten und nach der ersten Flasche Champagner gewiss nur so mit Fünfzigdollarscheinen um sich warfen, dachten sie beide im Stillen darüber nach, ob sie nicht gleichfalls Kellner werden sollten. Ja, insgeheim formierte sich hinter Keys fliehender Stirn sogar der Entschluss, seinen Bruder zu fragen, ob er ihm nicht eine Anstellung besorgen könnte.

»Als Kellner kannste immer den ganzen Champagner aussaufen, der noch unten drin is, weil kriegen ihre Flaschen nämlich immer nich ganz leer, die Burschen«, sinnierte Rose genüsslich und schickte noch ein »Mein lieber Scholli!« hinterher.

Als sie am Delmonico ankamen, war es halb elf, und die zwei staunten nicht schlecht, als sie dort eine lange Schlange von Taxis vorfahren sahen und jedem eine wunderhübsche junge Dame ohne Hut entstieg, jeweils in Begleitung eines steifen jungen Herrn im Abendanzug.

»Das is ’ne geschlossne Gesellschaft«, sagte Rose einigermaßen ehrfürchtig. »Vielleicht gehn wir da lieber doch nich rein. Der hat bestümmt zu tun.«

»Ach was. Der würt schon Zeit ham.«

Nach kurzem Zögern betraten sie das Etablissement durch die in ihren Augen am wenigsten auffällige Tür und verzogen sich, augenblicklich von Unschlüssigkeit übermannt, nervös in den hintersten Winkel des kleinen Restaurants, in dem sie sich befanden. Sie nahmen ihre Mützen ab und behielten sie in der Hand. Es war, als senkte eine dunkle Wolke sich auf sie herab, doch plötzlich fuhren sie erschrocken hoch, denn vis-à-vis flog krachend eine Tür auf, ein Kellner kam wie ein Komet herausgeschossen, sauste quer durch den Saal und verschwand durch eine zweite Tür am anderen Ende des Raumes.

Drei solcher Blitzdurchgänge brauchte es, bevor die beiden Arbeitsuchenden auf den schlauen Einfall kamen, einen der Kellner anzusprechen. Er wandte sich um, sah sie misstrauisch an und näherte sich ihnen dann auf leisen Sohlen, geschmeidig wie eine Katze, gleichsam bereit, jeden Moment kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen.

»Sag mal«, fing Key an, »sag mal, kennst du vielleicht mein’ Bruder? Der is hia Kellner.«

»Er heißt Key«, ergänzte Rose.

Ja, der Kellner kannte Key. Der sei vermutlich oben, meinte er. Im zentralen Ballsaal sei ein großes Tanzvergnügen. Er werde ihm Bescheid sagen.

Zehn Minuten später erschien George Key und begrüßte seinen Bruder mit äußerstem Argwohn, war doch sein erster und natürlichster Gedanke, dass dieser ihn gewiss um Geld angehen wolle.

George war ein hochgewachsener Mann mit fliehendem Kinn, doch damit war’s auch schon vorbei mit der Familienähnlichkeit. Die Augen des Kellners waren durchaus nicht trübe, sondern hellwach, und sie blitzten nur so, er war höflich und manierlich und ein ganz klein wenig von oben herab. Sie tauschten steif ein paar Informationen aus. George war verheiratet und hatte drei Kinder. Dass Carrol als Soldat im Ausland gewesen war, nahm er mit Interesse zur Kenntnis, ohne sich jedoch davon beeindrucken zu lassen. Das enttäuschte Carrol.

»Du, George«, sagte der jüngere Bruder, nachdem sie die Artigkeiten hinter sich gebracht hatten, »wir wolln uns so gerne ein’ ansaufen, und uns verkaufen se doch nix. Kannst du uns nich was besorgen?«

George dachte nach.

»Klar. Müsste zu machen sein. Kann aber eine halbe Stunde dauern.«

»Is gut«, sagte Carrol, »wir warten.«

Als Rose sich daraufhin anschickte, in einem bequemen Sessel Platz zu nehmen, scheuchte George ihn empört wieder hoch: »Heh! Pass bloß auf, du! Kannst dich doch hier nicht einfach hinsetzen! Ist doch schon alles eingedeckt fürs Mitternachtsbankett.«

»Ich mach schon nix dreckich«, erwiderte Rose verärgert. »War ja schließlich zur Entlausung.«

»Egal«, sagte George streng, »wenn der Oberkellner mich hier mit euch plaudern sieht, dann kann ich mich auf was gefasst machen.«

»Oh.«

Die Erwähnung des Oberkellners genügte den beiden als Erklärung; nervös fummelten sie an ihren Käppis herum und warteten, was für einen Vorschlag George ihnen machen würde.

»Hört zu«, sagte George nach einer kleinen Pause, »ich weiß, wo ihr warten könnt; kommt mit.«

Er führte sie zur gegenüberliegenden Tür hinaus, durch einen verlassenen Vorratsraum und über zwei dunkle Wendeltreppen, bis sie sich endlich in einer winzigen Kammer wiederfanden, die mit aufgetürmten Wischeimern und Stapeln von Scheuerbürsten vollgestellt und von zwei trüben Glühbirnen beleuchtet war. Dort ließ er sie, nachdem er ihnen zwei Dollar abgenommen hatte, zurück mit dem Versprechen, in einer halben Stunde mit einer Flasche Whiskey wiederzukommen.

»Wetten, du, der George macht richtich Geld«, sagte Key finster und setzte sich auf einen umgedrehten Eimer. »Wetten, der macht die Woche fuffzich Dollar.«

Rose nickte und spuckte aus. »Da wett ich auch drauf, du.«

»Was hatta gleich nomma gesacht, was das für’n Tanzvergnügen is?«

»Ürgndwie ’n Haufen Collegestudenten. Yale.«

Sie nickten einander wortlos zu.

»Möchte ma wissen, wo die ganzen Kommissköppe inzwischen abgebliem sind.«

»Weiß nich. Ich weiß bloß eins: Das war vadammt weit wech, so weit kann ich nich latschen.«

»Ich auch nich. Das würstu nich erlehm, dass ich so lange latschen tu.«

Nach zehn Minuten wurden sie unruhig.

»Ich kuck ma, was da draußen los is«, sagte Rose und schlich sich vorsichtig zu der anderen Tür.

Es war eine mit grünem Fries ausgeschlagene Tür; er schob sie ganz behutsam einen Spaltbreit auf.

»Ürgndwas zu sehn?«

Rose aber zog statt einer Antwort nur mit einem pfeifenden Geräusch die Luft ein.

»Mannometer! Wenn mich nich alles täuscht, dann is hier lauter Sprit drin!«

»Sprit?« Key gesellte sich zu Rose, der immer noch an der Tür stand, und guckte neugierig durch den Spalt.

»Da kannste Gift drauf nehm’, du, das, was da steht, is würklich Sprit«, sagte er, nachdem er einen Moment konzentriert hingeschaut hatte.

Der Raum war etwa doppelt so groß wie der, in dem sie sich befanden, und was sie dort erblickten, war ein wahres Festbankett an Spirituosen. Auf zwei weiß gedeckten Tischen standen in Reih und Glied, nach Sorten geordnet, lauter verschiedene Flaschen: Whiskey, Gin, Brandy, französischer und italienischer Wermut und Orangensaft, gar nicht zu reden von einer ganzen Kolonne von Siphons und zwei großen leeren Schüsseln für Punschbowle. Und weit und breit kein Mensch zu sehen.

»Das is für dieses Tanzvergnügen da ohm; hat grade angefang’«, flüsterte Key; »hörste die Geigen? Mensch, du, ich hätt ja auch ma wieda Lust zum Tanzn.«

Sie schlossen die Tür ganz leise und zwinkerten einander in wortlosem Einvernehmen zu. Auch ohne Worte wusste jeder, was der andere dachte.

»Ich tät schon gerne ’n paar von diese Pullen da in die Finger kriegen«, sagte Rose entschieden.

»Ich auch.«

»Meinste, uns kann eina sehn?«

Key dachte nach.

»Vielleicht isses besser, wir warten, bis die Sauferei losgeht. Jetzt, wo se grade alles hingestellt ham, wissen se doch ganz genau, wie viele Pullen da stehn.«

Sie debattierten etliche Minuten über diesen Punkt. Rose war dafür, sich jetzt gleich eine Flasche zu schnappen und sie unter seinem Rock zu verstecken, bevor noch irgendjemand in den Raum kam. Key aber riet zur Vorsicht. Er hatte Angst, sein Bruder könnte Ärger kriegen. Sie müssten doch bloß warten, bis ein paar von den Flaschen offen waren, dann wäre es ein Kinderspiel, sich rasch eine zu schnappen, weil dann doch jeder denken würde, dass es einer von den Collegeburschen war.

Während sie noch so hin und her argumentierten, kam George Key herein, rannte an ihnen vorbei, knurrte ihnen bloß kurz irgendwas zu und verschwand durch die grün ausgeschlagene Tür. Gleich darauf hörten sie mehrere Korken knallen, Eiswürfel klirrten, und Flüssigkeit plätscherte in ein Gefäß. George mixte die Punschbowle.

Beglückt grinsten die zwei Soldaten einander zu.

»Mein lieber Scholli!«, flüsterte Rose.

George kam zurück.

»Schön ruhig bleiben, Jungs«, sagte er rasch. »In fünf Minuten hab ich was für euch.«

Er verschwand durch dieselbe Tür, durch die er eingetreten war.

Sobald seine Schritte auf der Treppe verhallt waren, schaute sich Rose noch einmal vorsichtig um; dann spurtete er flink in jenes Reich der Wonnen und war im nächsten Augenblick mit einer Flasche in der Hand zurück.

»Verstehste, wie ich meine?«, sagte er, als sie strahlend dasaßen und ihren ersten Schluck verdauten. »Wir warten, bissa wieda raufkommt, und dann fragen wir ihn, ob wir nich einfach hierbleiben könn’ und das Zeugs trinken, wassa uns bringt – nich wahr? Wir sagen einfach, wir haben nix, wo wir hingehn könn’, um uns ein’ anzutütern – nich wahr? Dann könn wa uns imma, wenn keina da is, heimlich wieda reinschleichen und schiem uns ’ne neue Pulle untan Rock. Das langt dann ersma ’n paar Tage – nich wahr?«

»Klar«, stimmte Key begeistert zu. »Mein lieber Scholli! Und wenn wa wolln, könn’ wa das Zeuch auch jedazeit an die Kommissköppe verscherbeln, wenn wa wolln.«

Sie schwiegen einen Augenblick und malten sich die Sache in den rosigsten Farben aus. Dann griff Key sich an den Hals und hakte seinen Uniformkragen auf.

»Heiß hier drinne, nich wahr?«

Rose stimmte mit ernster Miene zu.

»Höllisch heiß.«

IV

 

Als sie aus der Garderobe kam und den kleinen Salon durchquerte, der in den großen Saal führte, war sie immer noch verärgert – verärgert, gar nicht so sehr über das eigentliche Ereignis, denn das war schließlich eine Lappalie, die ihr im gesellschaftlichen Umgang jeden Tag passieren konnte, sondern vielmehr darüber, dass ihr das ausgerechnet heute Nacht passiert war. Mit sich selbst brauchte sie nicht zu hadern, denn schließlich hatte sie wie stets mit just der rechten Mischung aus Würde und verhaltenem Bedauern reagiert. Sie hatte ihm eine Abfuhr erteilt – kurz und bündig und keineswegs ungeschickt.

Es war passiert, als ihr Taxi vom Biltmore abgefahren war – noch nicht mal einen halben Block weit waren sie gekommen. Er hatte ungelenk den rechten Arm gehoben – sie saß zu seiner Rechten – und den Versuch gemacht, ihr denselben um ihren scharlachroten, pelzbesetzten Abendmantel zu legen und sie einfach an sich zu ziehen. Allein das war bereits ein Fehler gewesen. Wenn ein junger Mann eine junge Dame in den Arm nehmen möchte, ohne sich zuvor ihres Einverständnisses versichert zu haben, dann ist es jedenfalls entschieden eleganter, zunächst den anderen, ihr abgewandten Arm um sie zu legen, denn auf diese Weise kann er es vermeiden, den ihr näheren Arm so ungelenk anheben zu müssen.

Sein zweiter Fauxpas war ihm unbewusst unterlaufen. Sie hatte den Nachmittag beim Friseur verbracht; nichts schreckte sie so sehr wie der Gedanke, ihre Frisur könnte irgendwie Schaden nehmen, doch Peter hatte sie bei diesem unglückseligen Annäherungsversuch mit seinem angewinkelten Ellenbogen gestreift. Das war sein zweiter Fauxpas. Und zwei waren wahrlich mehr als genug.

Und dann hatte er auch noch angefangen zu murren. Und als das losging, war sie mit sich übereingekommen, dass er einfach bloß ein stinknormaler kleiner Collegeknabe war – Edith war zweiundzwanzig, und dieser Ball, der erste seiner Art seit Kriegsende, erinnerte sie ohnehin im immer schneller werdenden Takt der Assoziationen an etwas völlig anderes – einen völlig anderen Ball und einen völlig anderen Mann, einen Mann, der für sie ein bisschen mehr gewesen war als bloß der Schwarm eines Backfischs mit traurigen Augen. Edith Bradin war gerade im Begriff, sich in ihre Erinnerungen an Gordon Sterrett zu verlieben.

So trat sie aus der Garderobe des Delmonico, blieb einen Augenblick in der Tür stehen und schaute über die in Schwarz gehüllte Schulter vor sich zur Schar der Yale-Männer hinüber, die wie gravitätische schwarze Falter auf dem Treppenabsatz herumschwirrten. Aus dem Raum, den sie soeben verlassen hatte, quoll eine schwere Wolke von Gerüchen, die die vielen parfümierten jungen Schönheiten beim Ein-und-aus-Gehen hinter sich zurückließen – eine Wolke aus üppigen Parfums und dem feinen, erinnerungsträchtigen Staub wohlriechender Puderquasten. Dieser herausströmende Duft vermischte sich mit dem scharfen Aroma des Zigarettenrauchs im Foyer, wallte dann mit sinnlicher Trägheit die Treppe hinab und sickerte in den Ballsaal, in dem der Tanzabend der Gamma-Psi-Verbindung stattfinden sollte. Wie gut sie ihn doch kannte, diesen Duft – aufregend, stimulierend, beunruhigend süß – der klassische Duft eines eleganten Balls.

Sie stellte sich ihr eigenes Aussehen vor. Die bloßen Arme und die Schultern waren cremeweiß gepudert. Ihr war bewusst, dass sie äußerst grazil erschienen und sich milchzart von all den schwarzen Rücken abheben würden, vor deren Hintergrund sie heute Abend Wirkung entfalten sollten. Der Friseurbesuch war ein Erfolg gewesen; ihr volles rötliches Haar war zu einem hochmütig wippenden, kurvenreichen, schwungvoll geknifften und geknoteten Wunderwerk aufgetürmt. Ihre Lippen waren akkurat karminrot nachgezogen, ihre Augen von einem feinen, geradezu zerbrechlichen Blau, wie Porzellanaugen. Ihre Schönheit war vollendet, namenlos graziös, beinah vollkommen, und bildete eine weich fließende Linie von der raffinierten Frisur bis hinab zu den schmalen kleinen Füßen.

Sie dachte daran, was sie heute Abend sagen würde bei diesem ausgelassenen Fest, das seine Schatten schon vorauswarf in Gestalt von glockenhellem oder auch sonorem Lachen, Tanzschuhgetrippel und paarweisem Auf-und-ab-Gewoge auf den Treppen. Sie würde in derselben Sprache sprechen wie seit vielen Jahren – in ihrem gewohnten Stil – die gängigen Redensarten, garniert mit ein paar Brocken Zeitungsjargon und etwas Collegeslang, verflochten zu einem geschlossenen Ganzen, lässig, leicht provokant, verhalten sentimental. »Ach, Schätzchen, du weißt ja noch nicht mal die Hälfte!«, hörte sie ein junges Mädchen sagen, das neben ihr auf der Treppe saß, und musste leise lächeln.

Und während sie so lächelte, vergaß sie für einen Moment ihren Ärger, schloss die Augen und atmete tief und genüsslich durch. Sie ließ die Arme sinken, so dass sie leicht das glatte Futteral berührten, das ihre Figur verbarg und gleichzeitig erahnen ließ. Nie hatte sie so sehr gespürt, wie ungemein grazil sie war, nie hatte sie die Weiße ihrer Arme so genossen.

›Ich riech so gut‹, sagte sie sich ganz umstandslos – und dann kam ihr gleich noch ein anderer Gedanke: ›Ich bin geschaffen für die Liebe.‹

Der Gedanke gefiel ihr so gut, dass sie ihn gleich noch einmal dachte, und plötzlich wurde sie, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, von einem ganzen Geschwader frisch erwachter Wunschträume überrannt, die sich allesamt ganz allein um Gordon drehten. Der Streich, den ihre Phantasie ihr vor zwei Monaten gespielt hatte, diese Vorspiegelung, dass sie sich insgeheim danach verzehre, ihn wiederzusehen, dieser Streich schien sie nun geradewegs hierhergeführt zu haben, auf diesen Ball, zu dieser Stunde.

Denn ungeachtet ihrer makellosen Schönheit war Edith doch ein ernstes Mädchen und pflegte gründlich nachzudenken. Mit ihrem Bruder verband sie nicht allein der Hang zum Grübeln, sondern auch der jugendliche Idealismus, also just die beiden Eigenschaften, die jenen zum Sozialisten und Pazifisten gemacht hatten. Henry Bradin war aus Cornell, wo er Wirtschaftswissenschaften gelehrt hatte, fortgegangen und nach New York gekommen, um dort in den Spalten einer radikalen Wochenzeitschrift die neusten Heilmittel für allerlei unheilbare Übel feilzubieten.

Edith, die nicht so einfältig war wie ihr Bruder, hätte sich schon damit begnügt, Gordon Sterrett zu heilen. Gordon war ein wenig willensschwach – ein Zug, dessen sie sich gerne angenommen hätte, und er hatte so etwas Hilfloses, was in ihr den Drang wachrief, ihn zu beschützen. Und außerdem wünschte sie sich einen, den sie schon seit langem kannte, einen, der sie schon seit langem liebte. Sie war es langsam leid; sie wollte endlich heiraten. Ein Stapel Briefe, ein halbes Dutzend Fotos, genauso viele Erinnerungen und eben, dass sie es leid war: Dies alles hatte sie zu dem Schluss gelangen lassen, dass ihre Beziehung zu Gordon beim nächsten Wiedersehen eine neue Wendung nehmen müsse. Sie wollte etwas sagen, wodurch sich alles ändern würde. Und da war er nun, dieser Abend. Es war ihr Abend. Jeder Abend war ihr Abend.

Mitten in diese Gedanken hinein platzte ein düster dreinblickender Studiosus mit beleidigter Miene und angestrengt förmlichem Gehabe, der vor sie hintrat und einen ungewöhnlich tiefen Diener machte. Es war Peter Himmel – der Mann, mit dem sie hergekommen war. Er war ein hochgewachsener, lustiger Bursche mit einer Hornbrille, schrullig, aber durchaus attraktiv. Sie konnte ihn auf einmal nicht mehr leiden – wahrscheinlich, weil er es nicht geschafft hatte, sie zu küssen.

»Na«, sagte sie, »immer noch wütend auf mich?«

»Überhaupt nicht.«

Sie trat auf ihn zu und griff nach seinem Arm.

»Verzeihen Sie mir bitte«, sagte sie sanft. »Ich weiß selber nicht, warum ich Sie so angefahren habe. Komisch, aus irgendeinem Grunde bin ich heute Abend richtig schlecht gelaunt. Entschuldigen Sie.«

»Schon gut«, murmelte er, »keine Ursache.«

Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Wollte sie ihm etwa noch einmal unter die Nase reiben, dass er vorhin Mist gebaut hatte?

»Es war ein Fehler«, fuhr sie auf diese gespielt sanfte Tour fort. »Wir wollen es einfach vergessen.« Dafür hasste er sie.

Ein paar Minuten später schwebten sie übers Parkett, indes die zwölf singenden, swingenden Mitglieder der eigens engagierten Big Band der Menge im Ballsaal die wichtige Mitteilung machten: »Bist du allein und hast ein Saxophon, so hast du einen Freu-heund schon!«

Ein Mann mit einem Oberlippenbart klatschte sie ab. »Hallo«, begann er vorwurfsvoll. »Aha, Sie erinnern sich nicht mehr an mich.«

»Ich komm grad nicht auf Ihren Namen«, sagte sie leichthin, »und dabei kenn ich Sie doch ganz genau.«

»Wir sind uns oben in –« Doch da kam ein Blonder und klatschte sie ab, wobei er die Stimme des Mannes mit dem Menjoubärtchen hoffnungslos übertönte. Edith murmelte artig: »Vielen Dank – versuchen Sie’s doch bitte später noch mal.« Doch der sehr blonde Unbekannte bestand darauf, ihr enthusiastisch die Hand zu schütteln. Sie sortierte ihn bei den zahlreichen Jims unter ihren Bekannten ein – Nachname schleierhaft. Sie wusste sogar noch, dass er beim Tanzen einen ganz bestimmten Schritt hatte, was sie, als sie sich in Bewegung setzten, auch sogleich bestätigt fand.

»Bleiben Sie lange hier?«, flüsterte er ihr vertraulich ins Ohr. Sie lehnte sich zurück und blickte zu ihm hoch.

»Paar Wochen.«

»Und wo logieren Sie?«

»Im Biltmore. Sie können mich ja mal anrufen, irgendwann.«

»Na und ob!«, versicherte er ihr. »Und ob! Wir können ja mal zusammen Tee trinken.«

»Ja, sicher – melden Sie sich halt.«

Nun klatschte ein dunkelhaariger, betont förmlicher Mann sie ab.

»Nicht wahr, Sie erinnern sich nicht mehr an mich?«, fragte er ernst.

»Ich glaube doch. Sie heißen Harlan.«

»Nicht doch. Barlow.«

»Ach so, ich wusste doch, ein zweisilbiger Name. Sind Sie nicht der, der auf der Party bei Howard Marshall so schön Ukulele gespielt hat?«

»Ich hab zwar gespielt – aber nicht –«

Sie wurde von einem Mann mit vorstehenden Zähnen abgeklatscht. Edith roch seine leichte Whiskeyfahne. Sie mochte es, wenn Männer etwas getrunken hatten; sie waren dann viel fröhlicher, verständnisvoller und höflicher – es ließ sich auch viel besser mit ihnen reden.

»Dean, mein Name – Philip Dean«, sagte er aufgeräumt. »Ich weiß schon, Sie erinnern sich nicht an mich, aber Sie sind immer nach New Haven gekommen, zusammen mit einem Kommilitonen, mit dem ich im Abschlussjahr die Wohnung geteilt habe, Gordon Sterrett.«

Edith blickte rasch auf.

»Ja, zweimal war ich mit ihm dort – beim Pump-and-Slipper-Ball und beim Abschlussfest des vorletzten Semesters.«

»Sie werden ihn ja sicher schon entdeckt haben«, sagte Dean obenhin. »Er ist nämlich auch hier heute Abend. Gerade eben hab ich ihn gesehen.«

Edith zuckte zusammen. Dabei hatte sie doch schon so eine Ahnung gehabt, dass er hier sein würde.

»Ähm, nein, ich hab –«

Ein dicker Mann mit roten Haaren klatschte sie ab.

»Hallo, Edith«, fing er an.

»Ach – hallo –«

Sie rutschte aus und geriet leicht ins Stolpern.

»Entschuldigung, mein Lieber«, murmelte sie mechanisch.

Sie hatte Gordon gesehen – Gordon, der sehr blass und teilnahmslos rauchend im Türrahmen lehnte und in den Ballsaal schaute. Edith sah, wie ausgemergelt und bleich sein Gesicht war – und wie seine Hand zitterte, wenn er die Zigarette an die Lippen führte. Sie und ihr Partner tanzten jetzt ganz nah an ihm vorbei.

»– Die laden heutzutage so viele Burschen von außerhalb ein, dass man –«, sagte der Moppel mit den roten Haaren.

»Hallo, Gordon«, rief Edith ihm über die Schulter ihres Tanzpartners hinweg zu. Ihr Herz hämmerte wie wild.

Seine großen dunklen Augen fixierten sie. Er trat einen Schritt auf sie zu. Ihr Tanzpartner führte sie weg – sie hörte ihn blöken: »– aber die Hälfte von den Jungs kriegt keine Dame ab und verschwindet beizeiten wieder, also –«

Dann hörte sie neben sich eine leise Stimme.

»Darf ich bitten?«

Und plötzlich tanzte sie mit Gordon; er hielt sie fest im Arm, sie spürte, wie verkrampft und angespannt er war, sie spürte seine rechte Hand in ihrem Rücken, die gespreizten Finger. Und wie er mit der Linken ihre Hand beinah zerquetschte, in der sie das Spitzentüchlein hielt.

»Ach, Gordon«, begann sie atemlos.

»Hallo, Edith.«

Abermals rutschte sie aus und konnte sich gerade noch fangen, wurde aber aus der Bewegung heraus nach vorn geschleudert, so dass ihr Gesicht das schwarze Tuch seines Abendanzugs berührte. Sie liebte ihn – sie wusste, dass sie ihn liebte. Dann schwiegen sie einen Moment, und da verspürte sie auf einmal so ein merkwürdiges Unbehagen. Irgendetwas stimmte nicht.

Und dann krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, und sie begriff, was mit ihm los war. Er war in einem jämmerlichen Zustand, ein richtiges Häufchen Elend, leicht betrunken und zum Umfallen müde.

»Oh –«, rief sie unwillkürlich.

Er blickte zu ihr hinunter. Und da sah sie seine wild rollenden, rotgeäderten Augen.

»Komm mit, Gordon«, sagte sie leise, »komm, wir setzen uns; ich möchte mich hinsetzen.«

Sie waren fast in der Mitte des Parketts, doch Edith, die gesehen hatte, wie von den beiden entgegengesetzten Enden des Saales her zwei Männer auf sie zugeschossen kamen, blieb stehen, griff nach Gordons schlaffer Hand und schob sich mit ihm durchs Gedränge. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst, ihr Gesicht war ein bisschen blass unter dem Rouge, und in ihren Augen glänzten Tränen.

Sie fand einen Platz ganz oben auf der mit einem weichen Läufer belegten Treppe, wo er sich schwer neben ihr niederplumpsen ließ.

»Weißt du, Edith«, fing er an und musterte sie mit unstetem Blick, »ich bin wirklich froh, dass ich dich sehe.«

Sie schaute ihn an, ohne etwas zu erwidern. Die Wirkung, die das alles auf sie hatte, war ganz ungeheuerlich. Im Laufe der Jahre hatte sie eine Menge Männer in den verschiedensten Stadien der Trunkenheit erlebt, angefangen bei ihren Onkeln bis hinunter zu den Chauffeuren, und bei manchen hatte sie es amüsant gefunden, bei manchen hatte es sie abgestoßen, nun aber packte sie zum ersten Mal im Leben ein ganz neues Gefühl – ein namenloses Grauen.

»Gordon«, sagte sie vorwurfsvoll und war den Tränen nah, »du siehst aus wie der Teufel.«

Er nickte. »Ich bin in Schwierigkeiten, Edith.«

»Was denn für Schwierigkeiten?«

»Alle möglichen Schwierigkeiten. Sag bloß nichts der Familie, Edith, aber ich bin total erledigt. Ich bin am Ende.«

Gordon ließ den Mund leicht offen stehen. Er schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen.

»Kannst du… kannst du…?« Sie zögerte. »Kannst du mir nicht erzählen, was passiert ist, Gordon? Du weißt doch, du bist mir noch nie gleichgültig gewesen.«

Sie biss sich auf die Unterlippe – eigentlich hatte sie noch deutlicher werden wollen, hatte aber dann gemerkt, dass sie es doch nicht fertigbrachte.

Gordon schüttelte benommen den Kopf. »Ich kann dir’s nicht erzählen. Du bist ’ne anständige Frau, und ’ner anständigen Frau kann ich diese Geschichte nicht erzählen.«

»Unsinn«, sagte sie trotzig. »Das ist ja regelrecht beleidigend, jemanden in dieser Weise als anständige Frau zu bezeichnen. Ein Schlag ins Gesicht ist das. Du hast getrunken, Gordon.«

»Vielen Dank auch.« Er senkte bedeutungsschwer den Kopf. »Vielen Dank, dass du mir das sagst.«

»Warum trinkst du?«

»Weil’s mir so verdammt elend geht.«

»Ach, und du glaubst, vom Trinken wird es besser?«

»Was soll denn das – willst du mich umkrempeln?«

»Nein, Gordon; ich will dir helfen. Kannst du mir nicht einfach sagen, was los ist?«

»Ich sitz ganz furchtbar in der Tinte. Am besten tust du so, als ob wir uns gar nicht kennen.«

»Aber wieso denn, Gordon?«

»Entschuldige, dass ich dich abgeklatscht hab – das ist nicht fair dir gegenüber. Du bist ’ne unbescholtene Frau… und alles. Warte, ich besorg dir ’n andern Tänzer.«

Er stand unbeholfen auf, doch sie griff nach seiner Hand und zog ihn wieder zu sich herunter.

»Menschenskinder, Gordon, du machst dich lächerlich. Du beleidigst mich. Du führst dich auf wie ein… wie ein Verrückter –«

»Ich geb’s ja zu. Ich bin ein bisschen verrückt. Mit mir stimmt was nicht, Edith. Ich hab sie nicht mehr alle, irgendwie. Aber lass, ist nicht so wichtig.«

»Doch, Gordon, erzähl’s mir.«

»Ganz einfach. Bin doch immer schon ’n komischer Kauz gewesen – bisschen anders als die andern Jungs. Aufm College ging’s ja noch, aber jetzt geht irgendwie gar nichts mehr. Bei mir hat’s sozusagen ausgehakt, seit vier Monaten schon, wie die kleinen Häkchen bei ’nem Kleid, und wenn noch ’n paar mehr aufgehn, dann ist es aus. Ich werd so nach und nach verrückt.«

Er sah ihr starr in die Augen und fing an zu lachen, und da wich sie erschrocken zurück.

»Was ist denn los?«

»Na, ich, ich bin los«, wiederholte er. »Ich dreh allmählich durch. Das kommt mir hier alles vor wie ein Traum – dieses ganze Delmonico –«

Und während er noch redete, erkannte sie auf einmal, wie sehr er sich verändert hatte. Keine Spur mehr von lockerer, fröhlicher Unbeschwertheit – er war von einer großen Lethargie befallen und durch und durch verzagt. Und plötzlich empfand sie Unwillen und gleich danach überraschenderweise sogar so etwas wie Langeweile. Ihr war, als käme seine Stimme aus einer großen Leere zu ihr.

»Weißt du, Edith«, sagte er, »ich hab mich immer für einen klugen, talentierten Kerl gehalten, für einen Künstler. Heute weiß ich, ich bin eine Null. Ich kann überhaupt nicht zeichnen, Edith. Weiß selber nicht, warum ich dir das sage.«

Sie nickte zerstreut.

»Ich kann nicht zeichnen, ich kann gar nichts. Ich bin arm wie ’ne Kirchenmaus.« Er lachte bitter und um einiges zu laut. »Zum Bettler hab ich’s gebracht, verdammt noch mal, ein Blutegel bin ich, der seine Freunde aussaugt. Ein Versager bin ich, völlig verarmt. Ein armer Teufel.«

Ihr Widerwille wuchs. Diesmal nickte sie bloß noch kaum wahrnehmbar und wartete ungeduldig auf die erstbeste Gelegenheit, sich zu erheben.

Auf einmal hatte Gordon Tränen in den Augen.

»Edith«, sagte er und drehte sich, sichtlich um Selbstbeherrschung ringend, zu ihr herum, »ich kann dir gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, zu wissen, dass es wenigstens noch einen Menschen gibt, dem ich nicht gleichgültig bin.«

Er wollte ihre Hand streicheln, doch sie zog sie unwillkürlich zurück.

»Das ist wirklich prima von dir«, fuhr er fort.

»Na ja«, sagte sie gedehnt und sah ihm in die Augen, »man freut sich doch immer, wenn man einen alten Freund wiedertrifft – aber es tut mir wirklich leid, dich in so einer Verfassung vorzufinden, Gordon.«

Dann herrschte Schweigen, sie sahen einander an, und die Munterkeit, die für einen kurzen Moment in seinem Blick aufgeflackert war, erstarb nach und nach wieder. Sie stand auf und blickte mit fast völlig ausdrucksloser Miene zu ihm hinab.

»Wollen wir tanzen?«, schlug sie mit kühler Stimme vor.

Liebe ist sehr zerbrechlich, dachte sie, aber die Scherben sind vielleicht noch zu gebrauchen – was einem auf der Zunge lag, was man noch hätten sagen wollen. Die neuen Liebesworte und die eingeübten Zärtlichkeiten hebt man sich auf für seinen nächsten Schatz.

V

 

Peter Himmel, der die reizende Edith auf diesen Ball begleitet hatte, war es nicht gewohnt, dass man ihm einen Korb gab, aber er hatte dennoch einen bekommen, und nun war er gekränkt, es war ihm peinlich, und er schämte sich. Rund zwei Monate korrespondierte er jetzt schon tagein, tagaus per Eilboten mit Edith Bradin, und da er sehr wohl wusste, dass die einzige Rechtfertigung und auch Erklärung dafür, weshalb man den Eilboten bemüht, in dem Romantikfaktor lag, um den diese Form der Briefzustellung eine Korrespondenz bereicherte, war er sich seiner Sache vollkommen sicher gewesen. Und nun suchte er vergebens nach einem Grund dafür, weshalb sich Edith plötzlich wegen eines simplen Kusses derartig angestellt hatte.

Und darum ging er, nachdem ihm der Mann mit dem Menjoubärtchen soeben die Tanzpartnerin abgeklatscht hatte, ins Foyer hinaus, im Kopf einen Satz, den er mehrmals vor sich hin sagte und der mit einigen nicht unerheblichen Auslassungen wie folgt lautete: »Also, wenn jemals eine einem Mann erst Hoffnungen gemacht und ihn dann abblitzen lassen hat, dann die – und darum hat die auch nicht den geringsten Grund, sich zu beschweren, wenn ich mich jetzt aus dem Staube mache und mir schön ’n paar hinter die Binde gieß.«

Und so spazierte er quer durchs Restaurant in ein Hinterzimmer, das er schon früher am Abend ausgekundschaftet hatte und in dem mehrere Schüsseln mit Punschbowle standen, flankiert von zahlreichen Flaschen. Er holte sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch mit den Flaschen.

Beim zweiten Highball versanken die Langeweile und die Entrüstung, die Eintönigkeit und die Wirrnis der Ereignisse in einem verschwommenen Hintergrund, vor dem auf einmal ein Muster aus lauter glitzernden Spinnweben entstand. Was eben noch mit sich gehadert hatte, einigte sich plötzlich wieder, nichts mehr, was störte, alles blieb hübsch artig da, wo’s hingehörte; zackig traten die Ärgernisse des Tages an, und als er sie mit einem kurzen Wink entließ, marschierten sie in Reih und Glied hinaus und waren weg. Und kaum dass der Kummer abgezogen war, trat eine strahlende, alles durchdringende Symbolik an seine Stelle. Edith wurde zu einem flatterhaften kleinen Gör, über das man sich nicht ärgern musste, sondern über das man allenfalls lachen konnte. Wie ein Geschöpf aus einem Traum kam sie hereingehuscht in jene Oberflächenwelt, die sich um ihn herum formierte. Und auch er selbst wurde gewissermaßen zu einem Symbol – zum Inbegriff des enthaltsamen Genießers, des glänzenden Traumschauspielers.

Nach und nach legte sich diese Anwandlung von Symbolismus wieder, und während er seinen dritten Highball schlürfte, ergab sich seine Phantasie der Glut, die ihn von innen wärmte, und er glitt in einen Zustand hinüber, der dem Gefühl glich, das man hat, wenn man sich in lauem Wasser auf dem Rücken liegend treiben läßt. Und an diesem Punkt bemerkte er eine mit grünem Fries ausgeschlagene Tür, die etwa fünf Zentimeter weit offen stand, und in dem Spalt ein Augenpaar, das ihn angestrengt beobachtete.

»Hm«, machte Peter seelenruhig.

Die grüne Tür ging zu – und wieder auf – doch diesmal höchstens anderthalb Zentimeter weit.

»Kuckuck«, machte Peter leise.

Die Tür blieb unverändert, und dann vernahm er ein angespanntes, immer wieder von kurzen Pausen unterbrochenes Geflüster.

»Da is einer drin.«

»Und was macht er?«

»Sitzt da und kuckt.«

»Der soll bloß Leine ziehn. Wir brauchen ’ne neue Pulle.«

Peter lauschte, und allmählich drangen ihm die Worte ins Bewusstsein.

›Na, so was‹, dachte er, ›das ist ja höchst bemerkenswert.‹

Er war ganz aufgeregt. Innerlich jubilierte er geradezu. Er meinte, auf ein Geheimnis gestoßen zu sein. Mit gespielt unbekümmerter Pose stand er auf und ging um den Tisch herum, machte dann blitzschnell kehrt und riss die grüne Tür auf, worauf ihm Soldat Rose beinahe in die Arme stürzte.

Peter machte einen Diener.

»Wie ist das werte Befinden?«, fragte er.

Soldat Rose setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bereit, zu kämpfen, zu flüchten oder sich gütlich zu einigen.

»Wie ist das werte Befinden?«, wiederholte Peter höflich.

»Geht schon.«

»Darf ich Ihnen vielleicht einen Drink anbieten?«

Soldat Rose sah ihn forschend an, argwöhnte womöglich, der andere wolle ihn auf den Arm nehmen.

»Na gut«, sagte er endlich.

Peter wies auf einen Stuhl.

»Möchten Sie sich nicht setzen?«

»Ich hab ’n Freund«, sagte Rose, »da drinne is ’n Freund von mir.« Er zeigte auf die grüne Tür.

»Na, den müssen wir doch unter allen Umständen mit rüberholen.«

Peter ging quer durchs Zimmer, öffnete die Tür und begrüßte den überaus misstrauischen, unsicheren und schuldbewussten Soldaten Key. Man schaffte Stühle herbei, und die drei ließen sich um die Punschbowle herum nieder. Peter machte drei Highballs zurecht und hielt den beiden sein Zigarettenetui hin. Ein wenig schüchtern griffen sie zu.

»Nun denn«, nahm Peter den Faden leichthin wieder auf, »darf ich fragen, wieso es den Herren gefällt, ihre Freizeit in einem Raum zu verbringen, dessen Mobiliar, wenn ich mich nicht täusche, vornehmlich aus Scheuerbürsten besteht? Und nachdem die Menschheit so weit fortgeschritten ist, dass sie Tag für Tag, ausgenommen die Sonntage, siebzehntausend Stühle produziert…« Er machte eine Pause. Rose und Key sahen ihn verständnislos an. »Würden Sie mir wohl verraten«, fuhr Peter fort, »wieso Sie sich da ausgerechnet einen Gegenstand als Sitzgelegenheit erkoren haben, mit dem man üblicherweise Wasser von einem Ort zum anderen zu transportieren pflegt?«

An diesem Punkt trug Rose mit einem Grunzlaut zu der Unterhaltung bei.

»Und zu guter Letzt«, kam Peter zum Ende, »würden Sie mir wohl erzählen, weshalb Sie es in so einem wunderschön mit riesigen Kronleuchtern vollgehängten Gebäude vorziehen, diese abendlichen Stunden unter einer einzelnen anämischen Glühbirne zuzubringen?«

Rose schaute Key an; Key schaute Rose an. Und beide brachen in Gelächter aus; in schallendes Gelächter; sie konnten sich einfach nicht anschauen, ohne lachen zu müssen. Doch lachten sie nicht mit dem Fremden, sondern über ihn. Wer auf solche Weise sprach, der war in ihren Augen entweder irrsinnig betrunken oder einfach irrsinnig.

»Ich nehme an, Sie sind gleichfalls Yale-Männer«, sagte Peter, während er seinen Highball austrank und sich bereits den nächsten mischte.

Sie lachten abermals.

»Nö-höhö.«

»Ach so? Und ich hatte gemeint, Sie wären vielleicht Kommilitonen der unter dem Namen Sheffield Scientific School bekannten niederen Abteilung der Universität.«

»Nö-höhö.«

»Hm. Wie schade. Dann sind Sie ohne Zweifel Harvard-Leute und darauf bedacht, in diesem – diesem Paradies in Veilchenblau, wie die Zeitungen schreiben, Ihr Inkognito zu wahren.«

»Nö-höhö«, sagte Key höhnisch, »wir wartn bloß uff wen.«

»Ah ja«, rief Peter aus und erhob sich, um ihre Gläser neu zu füllen, »sehr interessant. Wohl ein Rendezvous mit einer Lady vom Scheuerlappengeschwader, wie?«

Das wiesen beide empört zurück.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Peter beschwichtigend, »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Die Ladys vom Scheuerlappengeschwader sind nicht besser und nicht schlechter als sonst irgendeine Lady auf dieser Welt. Wie heißt es doch so schön bei Kipling? ›Unter der Haut ist jede Lady ’ne Judy O’Grady.‹«

»Gewiss doch«, sagte Key und zwinkerte Rose vielsagend zu.

»Zum Beispiel mein Fall«, fuhr Peter fort und leerte sein Glas. »Ich bin mit einer hergekommen, die ist so was von verwöhnt. Die verwöhnteste Göre, die ich je erlebt hab. Hat sich geweigert, mich zu küssen; ohne jeden Grund. Erst verleitet sie mich mutwillig dazu, dass ich annehmen muss: aber selbstverständlich will sie mich küssen, und dann – peng! – lässt sie mich sitzen! Die Jugend von heute –wo soll das bloß noch hinführen?«

»Is ’n harter Schlach«, sagte Key. »’n furschbar harter Schlach.«

»Mein lieber Scholli!«, sagte Rose.

»Sie auch noch einen?«, fragte Peter.

»Also wir sind vor ’ner Weile in so ’ne Art Kampf reingeraten«, sagte Key nach einer Pause, »war abba zu weit wech.«

»Ein Kampf? – Dolle Sache!«, sagte Peter und setzte sich schwankend wieder hin. »Macht sie fertig, alle Mann! Ich war auch in der Army.«

»Da war so ’n Bolschewistenbengel.«

»Dolle Sache!«, rief Peter begeistert. »Sag ich doch immer! Fertigmachen, diese Bolschewisten! Alle ausrotten!«

»Wir sind Ammörikana«, sagte Rose – ganz standhaft-trotziger Patriot.

»Aber gewiss doch«, sagte Peter. »Die Größten auf der Welt! Wir sind alle Ammörikana! Ihr nehmt doch noch einen?«

Und da nahmen sie noch einen.

VI

 

Nachts um eins traf im Delmonico ein ganz besonderes Orchester ein, ein Orchester, das selbst an einem Tag mit lauter besonderen Orchestern noch etwas ganz Besonderes war und dessen Mitglieder sich mit arroganter Miene rund um den Flügel herum niederließen und die Güte hatten, die Studentenverbindung Gamma Psi mit Musik zu versorgen. Ihr Leiter war ein berühmter Flötenspieler, der es draufhatte, auf dem Kopf stehend im Shimmy-Rhythmus mit den Schultern zu wackeln und dabei auf seiner Flöte den neusten Jazz zu spielen, was ihn in ganz New York bekannt gemacht hatte. Während seiner Darbietung gingen alle Lichter aus, bis auf ein Spotlight für den Flötenspieler und einen hin und her schwenkenden Scheinwerfer, der die dicht gedrängte Schar der Tanzenden bald in flackernde Schatten, bald in ein Meer von kaleidoskopartig wechselnden Farben tauchte.

Edith hatte sich in jenen müden, traumverlorenen Zustand getanzt, in den normalerweise nur Debütantinnen geraten, einen Zustand, etwa vergleichbar dem stillen Glühen eines edlen Gemüts nach dem soundsovielten doppelten Highball. Benebelt wiegte sich ihr Geist am Busen ihrer eigenen Musik; unwirklichen Phantomen gleich lösten sich ihre Partner ab im bunten Wechselspiel des Schummerlichts, und in dem zeitweiligen Dämmerzustand, in dem sie sich befand, kam es ihr vor, als tanzte sie seit Tagen schon auf diesem Ball. Sie hatte mit allen möglichen Männern alle möglichen Themen gestreift. Einmal war sie geküsst und sechsmal zärtlich umschlungen worden. Am Anfang des Abend hatten mehrere Studenten aus den unteren Semestern mit ihr getanzt, inzwischen aber hatte sie, wie die Begehrteren der Mädchen allesamt, ihre eigene Entourage – was bedeutete, dass ein halbes Dutzend Kavaliere entweder auf sie allein ein Auge geworfen hatten oder aber noch zwischen ihren Reizen und denen irgendeiner anderen auserwählten Schönheit schwankten; sie wurde unausweichlich immer wieder abgeklatscht.

Gordon hatte sie noch etliche Male gesehen – er hatte eine ganze Weile dort oben auf der Treppe gesessen, die Wange in die Hand gestützt, den trüben Blick auf einen imaginären Fleck vor sich auf dem Boden geheftet, sehr bedrückt, wie es aussah, und ziemlich betrunken –, doch Edith hatte jedes Mal rasch in eine andere Richtung geschaut. Das alles schien indessen lange her; jetzt war ihr Geist ganz träge, ihre Sinne dämmerten in einem tranceartigen Schlummer vor sich hin; nur ihre Füße tanzten weiter, und ihre Stimme plapperte immerfort irgendwelches nebulös-romantisches Geschwätz.

So müde aber, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen wäre, sich zu entrüsten, als Peter Himmel plötzlich dastand und sie mit großer Geste und fröhlich angetütert abzuklatschen versuchte, o nein, so müde war Edith längst noch nicht. Sie schnappte nach Luft und schaute zu ihm hoch.

»Also, Peter!«

»Ich hab ’n Klein’ sitzen, Edith.«

»Du, Peter? – Na, du bist mir ja vielleicht ein Früchtchen! Du benimmst dich ganz schön gemein, findest du nicht? – Immerhin sind wir zusammen hergekommen.«

Doch als sie sein zwischen sentimentalem Uhublick und albernem, krampfhaftem Grinsen hin- und herspringendes Mienenspiel sah, musste sie unwillkürlich lächeln.

»Edith, mein Schätzchen«, fing er in ernstem Ton an, »du weißt doch ganz genau, dass ich dich liebe, oder etwa nicht?«

»Pah! Lippenbekenntnisse!«

»Ich liebe dich – ich wollte doch bloß einen Kuss von dir«, fügte er traurig hinzu.

Keine Spur mehr von Verlegenheit, von Scham. Sie war dis allaschönste Mädel auffa ganzn Wölt. So ’ne schön’ Augen abba auch, wie die Sterne ohm am Hümmel. Er wollte »’schuljunk« sagen – ers’ns, weil er gemeint hatte, er könne es sich einfach so erlauben, sie zu küssen; zweitens wegen dem Trinken –, aber dis war doch so ’ne schlümme Schlappe gewesen, weil, er hatte doch gedacht sie wär verrückt nach ihm –

Moppel Rotschopf kam und klatschte Edith ab; er schaute sie mit strahlendem Lächeln von unten herauf an.

»Sind Sie mit jemand hier?«, fragte sie ihn.

Nein. Moppel Rotschopf war ohne Damenbegleitung da.

»Ach, würden Sie es – würden Sie es als eine sehr große Zumutung empfinden, wenn ich Sie bitten würde, mich – mich nachher heimzubringen?« (Diese übertriebene Schüchternheit war natürlich ein charmanter Trick von Edith, denn ihr war durchaus klar, dass Moppel Rotschopf auf der Stelle in höchstem Entzücken dahinschmelzen würde.)

»Eine Zumutung? Ach, du liebe Güte, ein Mordsvergnügen wär mir das! Verstehen Sie, ein Mordsvergnügen.«

»Tausend Dank! Das ist ja schrecklich lieb von Ihnen.«

Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war halb zwei. Und während sie so vor sich hin sagte: »Halb zwei«, kam ihr plötzlich wie von ungefähr der Gedanke, dass ihr Bruder, der bei einer Zeitung arbeitete, ihr beim Mittagessen erzählt hatte, er verlasse die Redaktion immer erst nach halb zwei in der Nacht.

Edith drehte sich abrupt zu ihrem Tanzpartner herum.

»An welcher Straße ist das Delmonico eigentlich?«

»An welcher Straße? Na, an der Fifth Avenue, natürlich.«

»Ich meine, welche Querstraße?«

»Ach so – lassen Sie mich mal überlegen – Forty-fourth Street.«

Damit bestätigte er, was sie sich schon gedacht hatte. Henrys Redaktion musste gleich hier gegenüber sein, bloß rasch um die Ecke, und plötzlich ging ihr durch den Sinn, dass sie doch schnell mal heimlich rüberflitzen und überraschend in ihrem neuen Abendmantel, so als schimmerndes Wunderwesen, bei ihm hereinschneien könnte, um ihn »ein bisschen aufzumuntern«. Edith hatte eine Schwäche für solche kleinen Abenteuer – solche unkonventionellen kleinen Dreistigkeiten. Die Idee nahm von ihr Besitz und beschäftigte ihre Phantasie – ein kurzer Augenblick des Zögerns, und schon war ihr Entschluss gefasst.

»Meine Frisur ist komplett in Auflösung begriffen«, sagte sie in vergnügtem Ton zu Moppel Rotschopf; »hätten Sie was dagegen, wenn ich gerade mal verschwinde und sie wieder in Ordnung bringe?«

»Aber woher denn.«

»Sie sind ein Schatz.«

Ein paar Minuten später huschte sie, in ihren scharlachroten Abendmantel gehüllt und mit vor Aufregung glühenden Wangen, eine Hintertreppe hinunter. Sie kam an einem heftig streitenden Paar vorbei, das unten an der Tür stand – er ein Kellner mit fliehendem Kinn, sie eine allzu auffällig geschminkte junge Dame –, öffnete die Tür zur Straße und trat hinaus in die laue Maiennacht.

VII

 

Die allzu auffällig geschminkte junge Dame schickte ihr einen kurzen, verbitterten Blick hinterher, bevor sie sich wieder dem Kellner mit dem fliehenden Kinn zuwandte und fortfuhr, sich mit ihm zu streiten.

»Wenn Sie nicht auf der Stelle raufgehn und ihm sagen, dass ich da bin«, erklärte sie trotzig, »dann geh ich selber.«

»O nein, das werden Sie nicht tun!«, sagte George unnachgiebig.

Das Mädchen grinste höhnisch.

»Ach, werd ich nicht, nein, werd ich nicht? Na, dann werd ich Ihnen mal was sagen, ich kenne wesentlich mehr Collegeleute, die mich kennen und mich liebend gerne mit auf eine Party nehmen möchten, als Sie in Ihrem Leben gesehn haben.«

»Das mag schon sein –«

»Das mag schon sein«, äffte sie ihn nach. »Oh Mann, jeder kann hier einfach so rein- und rausrennen – wie die da grade eben, weiß der Himmel, wo die hin ist –, da sagt keiner was, bloß weil die ’ne Einladung haben, können sie kommen und gehen, wie’s ihnen passt, aber wenn ich mich hier mit ’nem Freund treffen will, da stelln sie so ’n schäbigen, speckigen Hamburgerjongleur hierhin, damit er mich rausschmeißt.«

»Hören Sie mal«, sagte der ältere Key empört, »ich kann es mir nicht leisten, meine Stellung zu verlieren. Vielleicht will Sie der Kerl, von dem Sie mir hier erzählen, ja gar nicht sehen.«

»Und ob der mich sehn will!«

»Und überhaupt, wie soll ich ihn denn finden in dem Gedränge hier?«

»Oh, der wird schon da sein«, behauptete sie im Brustton der Überzeugung. »Fragen Sie einfach nach Gordon Sterrett, die werden Ihnen schon zeigen, welcher das ist. Die kennen sich doch alle untereinander, diese Burschen.«

Sie holte ein silbergewirktes Abendtäschchen hervor, entnahm ihm eine Dollarnote und drückte sie George in die Hand.

»Hier«, sagte sie, »Schmiergeld. Sie gehn ihn suchen und richten ihm meine Nachricht aus. Sie richten ihm aus, wenn er nicht in fünf Minuten hier ist, komm ich rauf.«

George schüttelte pessimistisch den Kopf, überlegte einen Moment, rang heftig mit sich – und zog ab.

Die gesetzte Frist war noch nicht verstrichen, als Gordon bereits die Treppe herunterkam. Er war stärker und irgendwie anders betrunken als vorhin. Es schien, als hätte sich der Alkohol um ihn herum verhärtet und eine Art Kruste gebildet. Er taumelte und sprach mit schwerer Zunge, kaum verständlich.

»He, Jewel«, sagte er schleppend. »Bin gleich gekomm’. Du, Jewel, das Geld hab ich nich zusammkricht. Hab alles versucht.«

»Ach, Geld!«, fuhr sie ihn an. »Du hast dich schon zehn Tage nicht mehr bei mir blicken lassen. Was ist los?«

Er schüttelte schwerfällig den Kopf. »Bin total am Boden gewesen, Jewel. Bin krank gewesen.«

»Warum hast du mir denn nicht Bescheid gesagt, wenn du krank warst. Das Geld ist mir doch gar nicht so wichtig. Ich hab doch überhaupt erst angefangen, dir deswegen die Hölle heiß zu machen, als du dich plötzlich nicht mehr hast blicken lassen.«

Er schüttelte abermals den Kopf.

»Nich blicken lassen? Stümmt doch ganich.«

»Das stimmt wohl! Du hast drei Wochen lang nichts von dir hören lassen, außer, du warst dermaßen blau, dass du nicht mehr gewusst hast, was du tust.«

»Ich war krank, Jewel«, wiederholte er und sah sie mit todmüden Augen an.

»Ach, aber um hierherzukommen und dich mit deinen Freunden aus der feinen Gesellschaft zu amüsieren, dazu bist du nicht zu krank. Du hast gesagt, du willst heute Abend mit mir essen gehn, du hast gesagt, du hast Geld für mich. Nicht mal angerufen hast du.«

»Ich konnte doch keins auftreiben, kein Geld.«

»Hab ich dir nicht grade gesagt, dass mir das Geld egal ist? Ich wollt dich einfach sehen, Gordon, aber du ziehst ja offensichtlich jemand anders vor.«

Das stritt er ganz erbittert ab.

»Dann hol gefälligst deinen Hut und komm«, verlangte sie.

Gordon zögerte, und da kam sie plötzlich ganz nah an ihn heran und schlang ihm beide Arme um den Hals.

»Komm mit mir mit, Gordon«, sagte sie beinahe flüsternd. »Wir gehn rüber ins Divineries und trinken was, und nachher kommst du mit zu mir nach Hause.«

»Ich kann nich, Jewel –«

»Klar kannst du«, sagte sie eindringlich.

»Mir is hundeelend!«

»So? Na, dann kannst du aber auch nicht hierbleiben und tanzen.«

Gordon, halb erleichtert, halb verzweifelt um sich blickend, zögerte noch immer; und plötzlich zog sie ihn an sich und küsste ihn mit weichen, fleischigen Lippen.

»Na schön«, sagte er mit schwerer Zunge. »Ich geh und hol mein’ Hut.«

VIII

 

Die Avenue war menschenleer, als Edith ins klare Blau der Maiennacht hinaustrat. Die Schaufenster der großen Geschäfte waren dunkel; die Türen verbargen ihre Gesichter hinter schweren eisernen Masken und erschienen nur mehr wie die düsteren Grabmale des Glamours des dahingegangenen Tages. Als sie zur Forty-second Street hinüberblickte, verschwammen die flimmernden Lichter der Nachtlokale vor ihren Augen und flossen ineinander. Quer über die Sixth Avenue donnerte zwischen den funkelnden Lichterreihen des Bahnhofs die Hochbahn wie ein greller Feuerstrahl dahin und raste weiter in die frische dunkle Nachtluft. An der Forty-fourth Street aber war alles still.

Edith wickelte sich fester in ihren Abendmantel und rannte über die Fahrbahn. Als ein einzelner Mann an ihr vorüberging und heiser flüsterte: »Na, Kleine, so spät noch unterwegs?«, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie musste daran denken, wie sie einmal als kleines Mädchen nachts im Schlafanzug um den Block gestreift war und plötzlich von einem großen, unheimlichen Hinterhof her einen Hund hatte heulen hören.

Eine Minute später hatte sie ihr Ziel erreicht, ein zweigeschossiges, relativ altes Gebäude an der Forty-fourth Street, hinter dessen oberem Fenster sie zu ihrer Erleichterung noch Licht brennen sah. Draußen war es hell genug, dass sie das Schild neben dem Fenster erkennen konnte: New York Trumpet. Sie trat in den dunklen Hausflur, und nach ein paar Sekunden entdeckte sie in der Ecke die Treppe.

Wenig später befand sie sich in einem langen Raum mit vielen Schreibtischen, an dessen Wänden ringsherum lauter Zeitungsseiten hingen. Es waren nur zwei Männer dort. Einer saß im vorderen, einer im hinteren Teil des Raumes, beide trugen grüne Augenschirme und schrieben jeweils beim Licht einer einzelnen Schreibtischlampe.

Sie blieb einen Moment lang unentschlossen in der Tür stehen, doch dann wandten sich die beiden Männer plötzlich gleichzeitig um, und sie erkannte ihren Bruder.

»Edith! Na, so eine Überraschung!« Schnell stand er auf, kam auf sie zu und nahm seinen Augenschirm ab. Er war groß und schlaksig, hatte dunkles Haar und durchdringende dunkle Augen, die hinter ungewöhnlich dicken Brillengläsern hervorschauten. Augen, deren Blick ins Weite ging und immer auf einen Punkt irgendwo oberhalb der Person geheftet zu sein schien, mit der er gerade sprach.

Er nahm sie bei den Armen und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Was ist denn passiert?«, fragte er leicht besorgt.

»Ach, Henry, ich war bei einem Tanzabend im Delmonico«, sagte sie aufgeregt, »und da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, rasch mal rübergehuscht zu kommen und dich zu besuchen.«

»Na, das ist ja eine Freude!« Doch im nächsten Moment war seine Lebhaftigkeit wieder der gewohnten Zerstreutheit gewichen. »Aber meinst du nicht auch, du solltest nachts nicht so allein da draußen rumlaufen?«

Der Mann am anderen Ende des Raumes hatte sie zunächst neugierig von weitem gemustert, war dann aber auf Henrys einladende Geste hin zu ihnen herübergekommen. Er war ziemlich pummelig, hatte kleine, ständig zwinkernde Augen, und da er Schlips und Kragen abgelegt hatte, erinnerte er ein bisschen an einen Farmer aus dem Mittleren Westen an einem Sonntagnachmittag.

»Das hier ist meine Schwester«, sagte Henry. »Sie ist bloß kurz vorbeigekommen, um mich zu besuchen.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Bradin«, sagte der mollige Mann lächelnd. »Mein Name ist Bartholomew. Ich weiß, Ihr Bruder hat schon längst vergessen, wie ich heiße.«

Edith lachte höflich.

»Tja«, fuhr er fort, »eine Luxusunterkunft ist das hier nicht gerade, nicht wahr?«

Edith sah sich um im Raum.

»Ist doch ganz hübsch hier«, erwiderte sie. »Wo halten Sie denn die Bomben versteckt?«

»Die Bomben?«, wiederholte Bartholomew lachend. »Der ist gut – die Bomben. Hast du das gehört, Henry? Sie will wissen, wo wir die Bomben versteckt halten. Alle Achtung, der ist richtig gut.«

Edith schwang sich auf einen leeren Schreibtisch und ließ die Beine über die Tischkante baumeln. Ihr Bruder zog sich einen Stuhl heran.

»Na«, fragte er geistesabwesend, »und wie gefällt New York dir diesmal so?«

»Ganz gut. Bis Sonntag bin ich mit den Hoyts drüben im Biltmore. Kannst du nicht vielleicht morgen zum Mittagessen rüberkommen?«

Er überlegte einen Moment.

»Ich hab grad so besonders viel zu tun«, sagte er entschuldigend, »und außerdem hasse ich Frauen, wenn sie im Rudel auftreten.«

»Na gut«, gab sie gelassen nach. »Dann gehen halt wir zwei zusammen Mittag essen.«

»Einverstanden.«

»Um zwölf hol ich dich ab.«

Bartholomew hatte es sichtlich eilig, wieder an seinen Schreibtisch zu kommen, fand es aber offenbar ungehörig, sich ohne eine spaßige Bemerkung zurückzuziehen.

»Nun ja«, fing er verlegen an.

Die beiden drehten sich zu ihm herum.

»Nun ja, vorhin – also vorhin gab’s ja hier schon eine kleine Aufregung.«

Die zwei Männer wechselten einen Blick.

»Sie hätten ein bisschen früher kommen sollen«, fuhr Bartholomew etwas mutiger fort. »Vorhin gab’s hier ’ne richtige kleine Varietévorstellung.«

»Ach, wirklich?«

»Ein Ständchen«, sagte Henry. »Da unten auf der Straße, da hatte sich ein Haufen Soldaten zusammengerottet, plötzlich haben sie angefangen, zu unserem Schild hier heraufzubrüllen.«

»Aber wieso denn?«, wollte Edith wissen.

»War halt ’ne Zusammenrottung«, sagte Henry zerstreut. »Zusammenrottungen müssen Krach machen, das gehört dazu. So ’n richtigen Anführer hatten die anscheinend nicht, sonst wären sie bestimmt hier eingedrungen und hätten alles kurz und klein geschlagen.«

»Ja«, sagte Bartholomew und wandte sich abermals an Edith, »schade, dass Sie nicht hier waren.«

Dies schien ihm als Stichwort für seinen Rückzug auszureichen, denn nun machte er abrupt kehrt und ging zurück zu seinem Schreibtisch.

»Sind denn alle Soldaten gegen die Sozialisten?«, fragte Edith ihren Bruder. »Ich meine, greifen die euch richtig an, richtig mit Gewalt und so?«

Henry setzte seinen Augenschirm wieder auf und gähnte.

»Die Menschheit hat’s wahrhaftig weit gebracht«, sagte er leichthin, »aber bei den meisten von uns schlägt der alte Adam immer wieder durch; diese Soldaten, die wissen selber nicht, was sie wollen oder was sie hassen oder was ihnen gefällt. Die sind es gewohnt, immer in großer Formation vorzugehen, und darum müssen sie anscheinend alle naselang Demonstrationen machen. Und diesmal geht es halt per Zufall gegen uns. Heute Abend gab’s überall in der Stadt Unruhen. Ist eben Erster Mai, nicht wahr.«

»Waren die Turbulenzen hier bei euch denn ernst?«

»Keine Spur«, sagte er höhnisch. »So gegen neun sind an die fünfundzwanzig Leute unten auf der Straße stehengeblieben und haben den Mond angebellt.«

»Ach.« – Sie wechselte das Thema. »Sag mal, Henry, freust du dich eigentlich wirklich, mich zu sehen?«

»Ja, sicher.«

»Macht aber gar nicht den Eindruck.«

»Klar freu ich mich.«

»Ich nehme an, in deinen Augen bin ich ein – ein wertloser Mensch. Der schädlichste Schmetterling der Welt sozusagen.«

Henry lachte.

»Überhaupt nicht. Amüsier dich ruhig, solang du noch jung bist. Wie kommst du denn bloß auf so was? Seh ich etwa aus wie ein Tugendbold, einer, der keinen Spaß versteht?«

»Nein« – sie überlegte einen Moment –, »mir ist bloß grad so durch den Kopf gegangen, wie grundlegend sich doch die Gesellschaft, bei der ich da drüben bin, von – von all den Idealen unterscheidet, die du vertrittst. Das passt doch irgendwie nicht recht zusammen, nicht wahr? Ich bin da drüben auf so einem Ball, und du bist hier und arbeitest für eine völlig andere Sache, und wenn deine Ideen umgesetzt werden, sind solche Bälle ein für alle Mal passé.«

»Ich sehe das nicht so. Du bist jung, und du verhältst dich genau so, wie es deiner Erziehung entspricht. Nur zu – geh nur und amüsiere dich.«

Sie hörte auf, gedankenverloren mit den Beinen zu baumeln, und ihr Ton wurde ernster.

»Ich wünschte, du – du würdest wieder heimkommen nach Harrisburg und dich ebenfalls amüsieren. Bist du dir wirklich sicher, dass du auf dem richtigen Wege bist –«

»Sehr schöne Strümpfe hast du an«, fiel er ihr ins Wort. »Was ist das denn nur für ein Material, aus dem die sind?«

»Die sind bestickt«, erwiderte sie und senkte den Blick. »Hübsch, nicht?« Sie hob die Röcke hoch und entblößte ihre schlanken, seidenumspannten Waden. »Oder hast du was gegen Seidenstrümpfe?«

Leicht gereizt, wie es schien, richtete er seine dunklen Augen auf sie und sah sie durchdringend an.

»Hör mal, Edith, du willst mich doch wohl nicht so hinstellen, als ob ich was an dir auszusetzen hätte, oder wie?«

»Ganz und gar nicht.«

Sie schwieg. Bartholomew brummte irgendwas. Sie drehte sich um und sah, dass er seinen Schreibtisch verlassen hatte und am Fenster stand.

»Was ist denn los?«, fragte Henry.

»Lauter Leute«, sagte Bartholomew, und dann, nach einer kleinen Pause:

»Unmassen. Die kommen von der Sixth Avenue.«

»Leute?«

Der pummellige Mann drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt.

»Gott steh mir bei, Soldaten!«, sagte er mit fester Stimme. »Hab mir gleich gedacht, dass die noch mal wiederkommen.«

Edith sprang auf; sie rannte rüber ans Fenster zu Bartholomew und schaute mit ihm zusammen hinaus.

»Es sind ganz, ganz viele!«, rief sie aufgeregt. »Henry, komm her!«

Henry rückte sich seinen Augenschirm zurecht, blieb aber sitzen.

»Vielleicht sollten wir lieber das Licht ausmachen?«, schlug Bartholomew vor.

»Ach was. Die sind gleich wieder weg.«

»Du irrst dich«, sagte Edith, die immer noch am Fenster stand und vorsichtig hinausspähte. »Die denken gar nicht daran, wegzugehen. Es kommen immer mehr. Sieh doch nur – da vorne von der Sixth Avenue her, da kommt ein ganzer Pulk um die Ecke gebogen.«

Im gelben, blaue Schatten werfenden Schein der Straßenlaterne erkannte sie, dass das ganze Trottoir voller Menschen war. Die meisten waren in Uniform, einige nüchtern, einige vom Alkohol beschwingt, und über dem Ganzen wogte ein diffuses Gejohle und Gekreische.

Henry stand auf; er trat ans Fenster und zeigte sich im Licht der Bürolampen als langer Schattenriss den Demonstranten. Sogleich schwoll das Gekreische an zu einem anhaltenden Gebrüll, und eine Salve von kleinen Wurfgeschossen – Kautabackbröckchen, Zigarettenschachteln, ja sogar Pennymünzen – prasselte an die Scheibe. Und dann begannen die Türen zu rotieren, und nach und nach kroch der Lärm bis zu ihnen herauf.

»Sie kommen rauf!«, schrie Bartholomew.

Edith schaute ängstlich zu Henry hinüber.

»Sie kommen hier rauf, Henry.«

Von unten aus dem Vestibül waren jetzt deutlich einzelne Rufe auszumachen.

»– gottverdammtes Sozialistenpack!«

»Deutschenfreunde! Die sind für die Boches!«

»Erster Stock, vorne! Na, los doch!«

»Die schnappen wir uns, die Schweine…«

Die nächsten fünf Minuten waren wie ein Traum. Edith merkte noch, wie sich der Tumult gleich einer Regenwolke jäh über ihnen entlud; sie hörte das Getrappel vieler Füße draußen auf der Treppe, Henry hatte sie am Arm gepackt und in die hinterste Ecke des Raums gezerrt. Dann sprang die Tür auf, und ein Schwall von Menschen drängte herein – nicht die Anführer, sondern einfach die, die zufällig vorne waren.

»Hallo, Bürschchen!«

»Na, so spät noch auf?«

»Mit deiner Puppe. Hol’s der Teufel!«

Edith entdeckt unter denen, die nach vorne gespült worden waren, zwei sturzbetrunkene, albern herumtorkelnde Soldaten – der eine klein und dunkelhaarig, der andere hochgewachsen und mit fliehendem Kinn.

Henry trat vor und hob die Hand.

»Freunde!«, rief er.

Für einen Augenblick erstarb der Lärm, und nur hier und da war vereinzeltes Gemurmel zu hören.

»Freunde!«, wiederholte er, den weitschweifenden Blick auf einen Punkt oberhalb der Menge geheftet, »damit, dass ihr heute Nacht hier einbrecht, schadet ihr niemand anders als euch selber. Sehen wir etwa wie reiche Leute aus? Sehen wir aus wie Deutsche? Ich frage euch in aller Offenheit –«

»Halt die Fresse!«

»Genau so seht ihr aus!«

»He, Kumpel, deine Puppe is ’ne richtich feine Dame, was!«

Plötzlich hielt ein Zivilist, der auf einem der Tische herumgewühlt hatte, eine Zeitung in die Höhe.

»Hier steht’s doch drin!«, schrie er. »Die wollten, dass die Deutschen den Krieg gewinnen!«

Vom Treppenhaus her schwappte die nächste Welle herein, und mit einem Mal war der Raum voll von Männern, die das blasse Grüppchen im Hintergrund umzingelten. Edith sah den hochgewachsenen Soldat mit dem fliehenden Kinn, der immer noch ganz vorne war. Der kleine Dunkle aber war verschwunden.

Sie wich noch etwas weiter zurück und stand jetzt dicht am offenen Fenster, durch das ein Schwall klarer, kühler Nachtluft hereinwehte.

Und dann war plötzlich alles in hellem Aufruhr. Sie kriegte mit, wie Soldaten nach vorn stürmten, erspähte den pummeligen Mann, der einen Stuhl überm Kopf schwang – im nächsten Moment ging das Licht aus, sie spürte das Herandrängen warmer Körper unter rauhem Tuch, und ihr platzte fast das Trommelfell von all dem Schreien, dem Getrampel und Gekeuche.

Gleichsam aus dem Nichts tauchte eine Gestalt neben ihr auf, stolperte, wurde zur Seite geschubst und flog auf einmal hilflos mit einem abgerissenen, staccatohaft anschwellenden und dann im allgemeinen Krawall ersterbenden Angstschrei zum offenen Fenster hinaus. Im schwachen Licht, das von dem hinten angrenzenden Haus herüberschien, wurde Edith blitzartig klar, dass die Gestalt der hochgewachsene Soldat mit dem fliehenden Kinn gewesen war.

Sie staunte selber über die enorme Wut, die plötzlich in ihr hochstieg. Sie ruderte wild mit den Armen und schob sich blindlings mitten ins Gedränge, wo es am dichtesten war. Sie hörte Ächzen, Flüche, gedämpfte Fausthiebe.

»Henry!«, rief sie wie von Sinnen. »Henry!«

Und dann, Minuten später, spürte sie auf einmal, dass noch andere Gestalten im Raum waren. Sie hörte eine tiefe, einschüchternde, gebieterische Stimme; hier und da strichen gelbe Lichtkegel über dem Tumult dahin. Allmählich ließ das Geschrei nach. Die Rauferei schwoll nochmals an, um schließlich abzuflauen.

Auf einmal ging das Licht an, und der Raum war voller Polizisten, die rechts und links mit ihren Knüppeln um sich schlugen. Dröhnend rief die tiefe Stimme:

»Schluss jetzt! Schluss jetzt! Schluss jetzt!«

Und dann:

»Ruhe jetzt und raus hier! Schluss jetzt!«

Daraufhin leerte sich der Raum, wie wenn man eine Waschschüssel auskippt. Ein Polizist, der noch in einer Ecke in ein Handgemenge verwickelt war, ließ den Soldaten, mit dem er kämpfte, los und beförderte ihn mit einem kräftigen Schubs in Richtung Tür. Die tiefe Stimme dröhnte immer noch. Edith stellte fest, dass sie von einem stiernackigen Polizeihauptmann kam, der direkt an der Tür stand.

»Schluss jetzt! So geht das doch nicht! Da hinten hamse ein’ von euch zum Fenster rausgeschubst, da is ’n Soldat zu Tode gekommen!«

»Henry!«, rief Edith. »Henry!«

Sie trommelte wie eine Wilde mit den Fäusten auf den Rücken des Mannes ein, der vor ihr stand, schob sich zwischen zwei anderen hindurch, kämpfte, kreischte und boxte sich durch bis zu der Gestalt, die kreidebleich neben einem der Schreibtische auf dem Boden saß.

»Henry«, schrie sie außer sich, »was ist denn los? Was ist mit dir? Bist du verletzt?«

Er hatte die Augen geschlossen. Er stöhnte, dann sah er auf und sagte wütend: »Die haben mir das Bein gebrochen. Mein Gott, diese Idioten!«

»Schluss jetzt!«, rief der Polizeihauptmann. »Schluss jetzt! Schluss jetzt!«

IX

 

Morgens um acht unterscheidet sich das Childs in der Fifty-ninth Street von den anderen Vertretern der gleichnamigen Kette allenfalls durch die Breite seiner Marmortische und den Blankheitsgrad der Bratpfannen. Ansonsten sieht man dort einfach eine Menge armer Teufel, die noch den Schlafsand in den Augen haben und angestrengt auf ihre Teller stieren, um niemanden ringsherum ansehen zu müssen. Vier Stunden früher aber ist das Imbissrestaurant Childs in der Fifty-ninth Street mit keinem anderen Childs von Portland, Oregon, bis Portland, Maine, zu vergleichen. In seinen blassen, aber hygienisch einwandfreien Mauern findet man eine lärmende Schar von Revuegirls, Collegestudenten, Debütantinnen, Lebemännern und Freudenmädchen – ein durchaus repräsentatives Gemisch aus allem, was der Broadway und selbst noch die Fifth Avenue an bunten Vögeln zu bieten hat.

In den frühen Morgenstunden des zweiten Mai herrschte ungewöhnlich großer Andrang. An den Marmortischen saßen mit aufgeregten Gesichtern Bubikopfmädchen, deren Väter ganze Dörfer ihr Eigen nannten. Genüsslich und mit gesundem Appetit aßen sie Pfannkuchen aus Buchweizenmehl und Rührei, eine Leistung, die am selben Ort zu wiederholen ihnen vier Stunden später völlig unmöglich gewesen wäre.

Bis auf die Tänzerinnen einer Mitternachtsrevue, die an einem Tisch an der Seite saßen und sich ärgerten, dass sie sich nach der Show nicht etwas gründlicher abgeschminkt hatten, kam fast die ganze Gesellschaft vom Gamma-Psi-Ball im Delmonico. Hier und da beobachtete eine trübsinnige, hoffnungslos deplatziert wirkende mausgraue Gestalt mit müde staunender Neugier die Schar der bunten Schmetterlinge. Doch solche trübsinnigen Gestalten waren die Ausnahme. Es war der Morgen nach dem Ersten Mai; die Festtagsstimmung lag noch in der Luft.

Zu diesen trübsinnigen Gestalten muss auch Gus Rose gerechnet werden, der zwar unterdessen nüchtern war, aber dennoch einigermaßen benommen. Wie er nach dem Tumult von der Forty-fourth Street in die Fifty-ninth Street gekommen war, daran konnte er sich nur äußerst vage erinnern. Er hatte noch gesehen, wie sie den toten Carrol Key in einen Krankenwagen geschoben und abtransportiert hatten; danach war er mit zwei, drei anderen Soldaten zusammen losgegangen in Richtung Norden. Irgendwo zwischen der Forty-fourth und der Fifty-ninth Street hatten die anderen Soldaten ein paar Frauen getroffen und sich mit ihnen aus dem Staub gemacht. Rose war weitermarschiert bis zum Columbus Circle und hatte sich das Childs mit seiner grellen Leuchtreklame ausgesucht, um dort sein Verlangen nach Kaffee und Doughnuts zu stillen. Er ging hinein und setzte sich.

Um ihn herum schwirrte die Luft von munter dahinplätscherndem Geplapper und schrillem Gelächter. Zuerst begriff er gar nichts, doch nachdem er fünf Minuten gerätselt hatte, was los war, wurde ihm klar, dass er mitten in die Nachwehen einer ausgelassenen Party geraten war. Hier und da flanierte ein übermütiger junger Mann, den das Verlangen nach allgemeiner Verbrüderung und familiärer Vertraulichkeit von seinem Stuhl hochgetrieben hatte, zwischen den Tischen umher, schüttelte wahllos Hände und blieb hin und wieder stehen, um ein paar lustige Bemerkungen zu wechseln, bis einer der aufgeregten, Teller mit Kuchen und Rührei über ihren Köpfen balancierenden Kellner kam und ihn leise fluchend beiseiteschubste. Auf Rose, der an einem besonders unauffälligen Tisch Platz genommen hatte, an dem besonders wenige Leute saßen, wirkte all das wie ein bunter Zirkus von Schönheit und lärmender Vergnügungssucht.

Nach einer kleinen Weile dämmerte ihm allmählich, dass das Pärchen schräg gegenüber von ihm, das mit dem Rücken zum Saal saß, gar nicht uninteressant war. Der Mann war betrunken. Er trug einen Smoking, doch die Fliege hing offen herunter, und das Chemisett war aufgequollen von verschüttetem Wein und Wasser. Seine Augen waren trüb und von roten Äderchen durchschossen, und sein wirrer Blick schweifte unstet bald zur einen, bald zur anderen Seite. Sein Atem ging heftig und keuchend.

»Der hat aber ganz schön einen draufgemacht!«, dachte Rose.

Die Frau war auch nicht völlig, aber doch ziemlich nüchtern. Sie war hübsch, hatte dunkle Augen und vor Aufregung gerötete Wangen und einen wachsamen Raubvogelblick, mit dem sie ihren Gefährten die ganze Zeit fixierte. Hin und wieder beugte sie sich zu ihm rüber und redete eindringlich flüsternd auf ihn ein, worauf er den Kopf noch tiefer hängen ließ oder mit einem scheußlichen, eigentümlich makaberen Blinzeln reagierte.

Rose beobachtete die beiden eine Weile mit unverhohlener Neugier, bis die Frau ihm einen raschen, tadelnden Blick zuwarf; daraufhin wandte er seine Aufmerksamkeit zwei besonders aufgekratzten, besonders übermütigen Flaneuren zu, die sich auf einem ausgedehnten Bummel von einem Tisch zum anderen befanden. Zu seiner Überraschung erkannte er in einem der beiden den jungen Mann wieder, der ihn im Delmonico so lustig bewirtet hatte. Sogleich musste er fast wehmütig und nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht an Key denken. Key war tot. Er war über zehn Meter in die Tiefe gestürzt und hatte sich den Schädel gebrochen – aufgeplatzt wie eine geknackte Kokosnuss.

»Er war ’n verdammt guter Kerl«, dachte Rose bekümmert, »’n verdammt guter Kerl, alles, was recht is. Hat verdammt Pech gehabt, der Junge.«

Die beiden Flaneure kamen näher, sie schlängelten sich zwischen Rose’ Tisch und dem daneben hindurch und sprachen Bekannte und Unbekannte mit gleichermaßen jovialer Vertraulichkeit an. Plötzlich sah Rose, wie der Blonde mit den vorstehenden Zähnen stehenblieb, das vis-à-vis von ihm sitzende Pärchen fragend ansah und vorwurfsvoll den Kopf schüttelte.

Der Mann mit den rotgeäderten Augen schaute auf.

»Gordy«, sagte der Flaneur mit dem Nahkampfgebiss, »Gordy.«

»Hallo«, erwiderte der Mann mit dem bekleckerten Chemisett mit schwerer Zunge.

Der mit dem Nahkampfgebiss drohte dem Pärchen missmutig mit dem Zeigefinger und warf der Frau einen verächtlichen, hochmütig-tadelnden Blick zu.

»Was hab ich dir denn gesagt, Gordy?«

Gordon zuckte auf seinem Stuhl zusammen.

»Scher dich doch zum Teufel!«, antwortete er.

Dean blieb ungerührt stehen und fuhr fort, mit dem Zeigefinger zu wackeln. Die Frau wurde langsam wütend.

»Gehn Sie schon!«, schrie sie erzürnt. »Sie sind ja betrunken, jawohl, betrunken sind Sie!«

»Er doch auch«, erwiderte Dean, und dann hielt er den Finger still, streckte ihn aus und zeigte damit auf Gordon.

Da kam Peter Himmel angeschlendert, nahm seine Uhupose ein und war sichtlich in der Stimmung, große Reden zu schwingen.

»Schluss jetzt«, fing er an, als habe man ihn herbeigerufen, um irgendeinen albernen Kinderstreit zu schlichten. »Was ist denn hier los?«

»Bringen Sie mal Ihren Freund hier weg«, sagte Jewel forsch. »Der stört uns.«

»Wie bitte?«

»Sie haben doch ganz genau gehört, was ich gesagt habe!«, rief sie schrill. »Ich hab gesagt, Sie sollen Ihren betrunkenen Freund hier wegbringen.«

Immer lauter wurde ihre Stimme, immer durchdringender, bis sie die Geräuschkulisse des Restaurants übertönte und ein Kellner herbeigeeilt kam.

»Sie müssen leiser sein!«

»Der Kerl da ist betrunken«, schrie sie. »Der beleidigt uns.«

»Siehste, siehste, Gordy«, beharrte der Beschuldigte. »Hab ich dir doch gesagt.« Er wandte sich an den Kellner. »Gordy is ’n Freund von mir. Ich wollt ihm helfen, stümmt doch, Gordy, oder nich?«

Gordy blickte auf.

»Helfen? Mir? Du? Nein, zum Teufel!«

Plötzlich stand Jewel auf, packte Gordon am Arm und half ihm auf die Beine.

»Komm, Gordy!«, sagte sie, beugte sich zu ihm rüber und fuhr halblaut fort: »Komm raus hier. Ist ja widerlich, wie betrunken der Kerl ist.«

Gordon ließ sich von ihr hochhelfen und machte sich auf den Weg zur Tür. Jewel drehte sich noch mal kurz um.

»Ich weiß Bescheid!«, sagte sie aufgebracht zu dem Mann, der ihren überstürzten Aufbruch zu verantworten hatte. »Ein schöner Freund sind Sie, ich muss schon sagen. Er hat mir alles über Sie erzählt.«

Dann packte sie Gordons Arm, und gemeinsam bahnten sich die beiden ihren Weg durch die neugierige Menge, zahlten ihre Rechnung und verließen das Lokal.

»Setzen Sie sich gefälligst hin«, sagte der Kellner zu Peter, nachdem sie draußen waren.

»Wie bitte? Hinsetzen?«

»Ja – oder Sie gehen hinaus.«

Peter wandte sich an Dean.

»Komm«, schlug er vor. »Komm, wir verprügeln den Kellner.«

»Geht in Ordnung.«

Sie blickten plötzlich entschlossen drein und rückten gegen den Kellner vor. Dieser wich zurück.

Auf einmal langte Peter zum Nachbartisch hinüber, schnappte sich dort von einem Teller eine Handvoll Haschee und schmiss es in die Luft. Es kam in weichem, elliptischen Bogen wieder herunter und schneite denen, die ringsherum saßen, in dicken Flocken auf die Köpfe.

»He! Beruhige dich mal!«

»Schmeißt ihn raus!«

»Setz dich hin, Peter!«

»Hör auf mit dem Mist!«

Peter verbeugte sich lachend.

»Danke für Ihren reizenden Applaus, meine Damen und Herren. Wenn mir jemand freundlicherweise noch ein bisschen mehr Haschee überlassen und einen Zylinder leihen könnte, tät ich die Nummer noch weiter ausbauen.«

Der Rausschmeißer drängte sich durch die Reihen.

»Sie machen jetzt, dass Sie hier rauskommen!«, sagte er zu Peter.

»Ich denk ja gar nicht dran!«

»Er ist mein Freund!«, mischte sich Dean entrüstet ein.

Ein paar Kellner scharten sich zusammen. »Setzt ihn an die Luft!«

»Besser, du verschwindest, Peter.«

Es gab ein kurzes Gerangel, die zwei wurden umzingelt und zum Ausgang gedrängt.

»Mein Hut und mein Mantel sind noch da drin!«, schrie Peter.

»Na schön, dann holen Sie sich Ihre Sachen, aber ein bisschen hoppla, bitte!«

Der Rausschmeißer lockerte seinen Griff, und Peter verzog das Gesicht zu einer lustigen Grimasse, rannte mit verschmitzter Miene um den Tisch herum, lachte höhnisch und drehte den empörten Kellnern eine lange Nase.

»Ich glaub, ich bleib noch ’n Momentchen hier«, erklärte er.

Und nun begann die Jagd. Vier Kellner liefen auf die eine Seite, vier rüber auf die andere. Dean kriegte zwei von ihnen am Jackett zu fassen, und wieder gab es eine Rangelei, bis Peters Verfolgung von neuem aufgenommen werden konnte, und bevor er endlich überwältigt wurde, warf er noch eine Zuckerdose und diverse Kaffeetassen um. Den nächsten Krawall gab es an der Kasse, als Peter den Versuch unternahm, noch einen weiteren Teller Haschee zu bestellen, den er mitnehmen wollte, um unterwegs die Polizisten damit zu bewerfen.

Doch in diesem Moment ereignete sich etwas anderes und lief dem Tumult, den Peter Himmels sonderbarer Abgang ausgelöst hatte, glatt den Rang ab, indem es die bewundernden Blicke sämtlicher Restaurantbesucher auf sich zog und alle unwillkürlich in lautes »Ah!« und »Oh!« ausbrechen ließ.

Die gesamte Glasfassade des Childs The war auf einmal in ein weiches, tiefdunkles Blau getaucht, ein Blau wie das von Maxfield Parrishs Mondnächten, ein Blau, das gleichsam an die Fensterscheibe brandete, als wollte es das ganze Lokal überfluten. Über den Columbus Circle war die Morgendämmerung hereingebrochen, eine magische, gleichsam atemlose Morgendämmerung, die das Standbild des unsterblichen Christopher in einen Schattenriss verwandelte und deren Licht sich auf eine eigentümliche, geradezu unheimliche Weise mit dem verblassenden gelben Schein der elektrischen Lampen drinnen im Restaurant vermischte.

X

 

Mr. In und Mr. Out sind bei der Volkszählung nicht mit erfasst worden. Vergebens sucht man sie in den amtlichen Geburts-, Heirats- und Sterberegistern oder gar im Anschreibheft des Krämers. Sie sind der Vergessenheit anheimgefallen, und die Zeugnisse dafür, dass sie überhaupt je existierten, sind vage und liegen im Dunkeln und würden von keinem Gericht als Beweise anerkannt werden. Und doch weiß ich aus allerzuverlässigster Quelle, dass Mr. In und Mr. Out für eine kurze Frist lebten und geatmet haben, dass sie auf diese Namen hörten und ihre eigene, lebendige, ganz persönliche Aura hatten.

In der kurzen Spanne, die ihr Leben währte, wandelten sie im Habit ihres Standes auf dem großen Highway einer großen Nation dahin, wurden ausgelacht, beschimpft, gejagt und gemieden. Und dann verschwanden sie, und niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört.

Sie waren schon dabei, wenn auch noch unscharf, Form anzunehmen, als ein Taxi mit offenem Verdeck im ersten zarten Schimmer des heraufdämmernden Maimorgens den Broadway hinuntersauste. In diesem Wagen saßen die Seelen von Mr. In und Mr. Out und diskutierten verwundert über das blaue Licht, das so jäh den Himmel hinter der Statue des Christopher Columbus gefärbt hatte, diskutierten nicht ohne Befremden über die alten, grauen Gesichter der Frühaufsteher, die auf der Straße dahintrieben – blass und wie verwehte Fetzen von Papier auf einem grauen See. Sie waren sich in allem einig, angefangen mit der Absurdität dieses Rausschmeißers bei Childs bis hin zur Absurdität des Lebens an sich. Sie waren wie besoffen von dem Glücksgefühl, das der Morgen in ihren glühenden Seelen wachgerufen hatte und das sie regelrecht zu Tränen rührte. Ja, ihre Lebensfreude war so frisch und übermächtig, dass sie dieselbe durch laute Schreie meinten ausdrücken zu müssen.

»Hia-ho-ho!«, brüllte Peter und hielt sich die Hände wie ein Megaphon vor den Mund, und Dean stimmte ein mit einem Ruf, der zwar nicht minder bedeutungsvoll und symbolträchtig war, seine Resonanz aber gerade dem Umstand verdankte, dass er jeglicher Artikuliertheit entbehrte.

»Jo-ho! Jaa! Joho! Jo-buba!«

Die Fifty-third Street brachte die Begegnung mit einem Bus, auf dessen Oberdeck eine schwarze Bubikopfschönheit saß; die Fifty-second die mit einem Straßenfeger, der beiseitesprang, sich gerade noch retten konnte und mit gequälter, kummervoller Stimme zu ihnen hochschrie: »Mönschnskinner, pass doch uff, woste hinfährst!« In der Fiftieth Street standen ein paar Männer auf dem sehr weißen Trottoir vor einem sehr weißen Gebäude; sie drehten sich nach ihnen um, glotzten ihnen nach und riefen: »He, dolle Party, Jungs!«

In der Forty-ninth Street sprach Peter Dean an. »Hörrlücher Morgönn«, sagte er ernst und wandte seine Uhuaugen zum Himmel empor.

»Scheint so.«

»Heh, sagnse ma, was haltnse einklich von Fröhstöck?«

Dean willigte ein – mit einer Ergänzung.

»Fröhstöck mit Alkoholüka.«

»Fröhstöck mit Alkoholüka«, wiederholte Peter, und die zwei sahen einander an und nickten. »Na logisch.«

Dann brachen alle beide in schallendes Gelächter aus.

»Fröhstöck mit Alkoholüka! Oh, Mann!«

»Gibbs ganich«, erklärte Peter.

»Nich auffe Karte? Kein Problöm. Dann mössen wir se ehmt zwingen. Unter Einsatz von Göwalt.«

»Unter Einsatz von Logück.«

Plötzlich verließ das Taxi den Broadway, fuhr durch eine Querstraße und hielt vor einem massigen Gebäude in der Fifth Avenue, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Grabstätte besaß.

»Was ’n jetzt los?«

Der Taxifahrer teilte ihnen mit, dies sei das Delmonico.

Sehr mysteriös. Sie brauchten etliche Minuten höchster Konzentration, denn sollte dergleichen tatsächlich verfügt worden sein, so musste es einen Grund dafür geben.

»Ürgndwie zwecks ’n Mantel holn«, half ihnen der Taxifahrer auf die Sprünge.

Genau. Peters Hut und Mantel. Er hatte beides im Delmonico vergessen. Nachdem dies geklärt war, stiegen sie aus und schlenderten Arm in Arm hinüber zum Hotelportal.

»He!«, sagte der Taxifahrer.

»Hm?«

»Vielleicht krich ich ersma meine Pinke.«

Sie schüttelten ebenso empört wie abschlägig den Kopf.

»Später – wir bestümmen, Sie warten.«

Der Taxifahrer erhob Einspruch; er wollte sein Geld sofort haben. Mit hohntriefender Herablassung und sichtlich um Contenance ringend, fügten sie sich.

Drinnen tastete Peter vergeblich im Halbdunkel der verlassenen Garderobe nach seinem Mantel und dem Derbyhut.

»Weg, wie’s aussieht. Hat jemand gestohlen.«

»Irgend so ’n Sheffieldianer, möcht ich meinen.«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Na, macht nix«, sagte Dean großmütig. »Lass ich meinen eben auch hier – dann sind wir beide gleich gekleidet.«

Er legte Hut und Mantel ab und wollte die Sachen gerade aufhängen, als sein umherschweifender Blick magisch von zwei großen Pappvierecken angezogen wurde, die an die beiden Flügel der Garderobentür genagelt waren. Auf dem linken stand in großen schwarzen Lettern das Wort »In«, und auf dem rechten prangte das nicht minder pathetische Wort »Out«.

»Kuckense dochma!«, rief er entzückt aus.

Peters Blick folgte dem Zeigefinger seines Gefährten.

»Was denn?«

»Kuckense dochma die Schülder. Kommse, die nehm’ wir jetzt mit.«

»Gute Idee.«

»Das sind bestümmt sehr seltne und wertvolle Schülder. Die komm’ uns wie gerufen, möcht ich meinen.«

Peter nahm das linke Schild von der Tür ab und wollte es irgendwie an seinem Körper verstauen, was aber mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war, weil es sich um ein sehr großes Schild handelte. Da kam ihm ein Gedanke, er drehte sich um und wandte seinem Begleiter mit einer gehörigen Portion Geheimnistuerei den Rücken zu. Einen Augenblick später wirbelte er mit viel Aplomb wieder herum und präsentierte sich mit ausgebreiteten Armen Dean, der ihn voller Bewunderung ansah. Er hatte sich das Schild in die Weste gesteckt, so dass es die gesamte Hemdbrust verdeckte. Und so stand nun im Endeffekt in großen schwarzen Lettern das Wort »In« auf seiner Hemdbrust.

»Joho!«, jubelte Dean. »Mister In.«

Und dann verfuhr er mit seinem Schild auf die gleiche Weise.

»Mister Out!«, verkündete er triumphierend. »Sehr erfreut, Mr. In – Mr. Out, mein Name.«

Sie gingen aufeinander zu und reichten sich die Hand. Und wurden erneut von einem Lachkrampf geschüttelt und kugelten sich geradezu vor Vergnügen und konnten sich gar nicht wieder beruhigen.

»Joho!«

»Jetzt kriegen wir vermutlich haufenweise Fröhstöck.«

»Auf, auf – auf ins Commodore.«

Arm in Arm preschten sie zur Tür hinaus, gingen die Forty-fourth Street in östlicher Richtung und nahmen Kurs auf das Hotel Commodore.

Als sie auf die Straße hinaustraten, drehte sich ein kleiner dunkelhaariger Soldat mit einem sehr blassen, sehr müden Gesicht, der trübsinnig auf dem Gehweg entlanggetrottet war, nach ihnen um.

Er starrte sie an, schien zu überlegen, ob er sie ansprechen sollte, doch als ihr vernichtender, keinerlei Wiedererkennenszeichen offenbarender Blick ihn traf, wartete er, bis sie an ihm vorbeigetorkelt waren, folgte ihnen dann im Abstand von ungefähr vierzig Schritten, lachte dabei die ganze Zeit glucksend in sich hinein und brabbelte in einem fort, gleichsam in freudiger Erwartung, vor sich hin: »Junge, Junge!«

Mr. In und Mr. Out unterhielten sich derweil mit scherzhaften Bemerkungen über ihre nächsten Pläne.

»Alkoholüka wollmer ham; Fröhstöck wollmer ham. Keins ohne das andre. Eins und unteilbar.«

»Beides zusamm’ wollmer ham!«

»Beides zusamm’!«

Inzwischen war es schon fast hell, und die Passanten musterten die zwei mit neugierigen Blicken. Sie waren in ein angeregtes Gespräch vertieft, wobei sie sich offenbar köstlich amüsierten und sich, noch immer Arm in Arm und ein ums andere Mal von heftigsten Heiterkeitsausbrüchen gepackt, buchstäblich vor Lachen bogen.

Im Hotel Commodore angekommen, wechselten sie ein paar gepfefferte Bemerkungen mit dem verschlafen dreinblickenden Portier, bewältigten mit einiger Mühe den Eintritt durch die Drehtür und marschierten durch das zwar eher spärlich bevölkerte, aber einigermaßen aufgescheuchte Foyer geradewegs ins Restaurant, wo sie ein verdutzter Kellner zu einem abseitsstehenden Ecktisch geleitete. Ratlos studierten sie die Speisekarte und gingen verwundert brabbelnd ein Gericht nach dem anderen durch.

»Ich seh hier nix von Alkoholüka«, sagte Peter tadelnd.

Da ließ sich der Kellner vernehmen, konnte sich ihnen aber leider nicht verständlich machen.

»Wiederholnses doch nochma«, fuhr Peter geduldig und mit Nachsicht fort, »auf dieser Speisekarte hier steht ebenso unerklärlicher- wie ganz und gar abscheulicherweise überhaupt nix von Alkoholüka.«

»Momentma!«, sagte Dean voll Selbstvertrauen. »Ich mach das schon.« Er wandte sich dem Kellner zu: »Bringse ons – bringse ons« – er sah die ganze Speisekarte durch – »bringense ons eine Flasche Champagner ond ein – ein – ein Schinkensandwich, möcht ich meinen.«

Der Kellner guckte skeptisch.

»Na, nun machense schon!«, röhrten Mr. In und Mr. Out im Chor.

Hüstelnd zog der Kellner ab. In der kurzen Wartezeit, die darauf eintrat, unterzog sie der Oberkellner, von ihnen unbemerkt, einer höchst gestrengen Musterung. Dann kam der Champagner, und bei seinem Anblick brachen Mr. In und Mr. Out in Freudengeschrei aus.

»Stellnse sichma vor, die hätten sich geweigert, ons Champagner zom Fröhstöck zo bring – stellnse sich das bloßma vor.«

Die beiden richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, sich die Vision einer so grauenhaften Möglichkeit vor Augen zu führen, was freilich über ihre Kräfte ging. Nicht einmal mit vereinter Anstrengung der Phantasie gelang es ihnen, sich eine Welt auszumalen, in der jemand jemandem den Champagner zum Frühstück verweigert. Der Kellner zog mit einem gewaltigen Knall den Korken, und schon perlte in ihren Gläsern das blassgelbe, prickelnde Nass.

»Auf Ihre Gesondheit, Mr. In.«

»Und auf Ihre, Mr. Out.«

Der Kellner zog sich zurück; die Minuten verstrichen; der Champagner in der Flasche nahm rapide ab.

»Das ist ja eine – eine Zomotong ist das ja«, sagte Dean auf einmal.

»Zomotong? Was denn?«

»Na, der Gedanke, dass man uns den Champagner zum Fröhstöck verweigert.«

»Zomotong?«, überlegte Peter. »Ja, das is das rechte Wort – eine Zomotong.«

Abermals brachen sie in Gelächter aus, johlten, schwankten hin und her, bogen sich auf ihren Stühlen und wiederholten ein ums andere Mal das Wort »Zomotong«, das ihnen mit jeder neuen Wiederholung nur immer noch ein Stückchen absurder vorkam.

Ein paar Minuten genossen sie noch ihre gute Laune, dann beschlossen sie, eine zweite Flasche zu bestellen. Ihr besorgter Kellner konsultierte darob seinen unmittelbaren Vorgesetzten, und dieser umsichtige Mensch erteilte die strikte Anweisung, keinen Champagner mehr zu servieren. Stattdessen brachte man ihnen die Rechnung.

Fünf Minuten später verließen sie Arm in Arm das Commodore und schlenderten unter den neugierigen Blicken der gaffenden Menge erst die Forty-second Street und dann die Vanderbilt Avenue entlang bis zum Hotel Biltmore. Dort angekommen, ergriffen sie ganz raffiniert die Gelegenheit und durchquerten rasch und unnatürlich aufrecht das Foyer.

Sobald sie das Restaurant betreten hatten, wiederholten sie ihre Darbietung, immer wieder unterbrochen von jähen Lachkrämpfen und nicht minder jähen, nicht minder krampfhaften Debatten über die Politik, das College und darüber, was für ein sonniges Gemüt sie doch besaßen. Ihre Armbanduhren sagten ihnen, dass es mittlerweile neun war, und allmählich bildete sich in ihren Köpfen die Idee heraus, dass dies hier ein denkwürdiges Beisammensein war, etwas, woran sie sich zeitlebens erinnern würden. Bei der zweiten Flasche hielten sie sich länger auf. Und immer, wenn einer von ihnen das Wort »Zomotong« sagte, fingen sie von neuem an zu glucksen und zu japsen und kriegten sich gar nicht wieder ein vor Lachen. Das Restaurant schwirrte und wogte und war von einer eigentümlichen Helligkeit erfüllt, die die schwere Luft verdünnte.

Sie zahlten ihre Rechnung und gingen hinaus ins Foyer.

Im selben Augenblick rotierte die Drehtür zum tausendsten Mal an jenem Morgen und beförderte eine sehr blasse junge Schönheit mit dunklen Augenringen und in einem arg ramponierten Abendkleid in die Eingangshalle, gefolgt von einem kräftig gebauten, gewöhnlich aussehenden Mann, der – das sah man auf den ersten Blick – keine angemessene Begleitung für sie war.

Oben auf dem Treppenabsatz stieß dieses Paar auf Mr. In und Mr. Out.

»Edith«, rief Mr. In, trat quietschvergnügt auf sie zu und machte eine schwungvolle Verbeugung. »Guten Morgen, Schatzi.«

Der kräftig gebaute Mann warf Edith einen fragenden Blick zu, als bitte er sie um die Erlaubnis, den Kerl da kurzerhand beiseitezuschubsen.

»’tschuldigung für die Vertraulichkeit«, fügte Peter nach kurzer Überlegung hinzu. »Guten Morgen, Edith.«

Er packte Dean am Ellenbogen und schob ihn nach vorne.

»Darf ich vorstelln, Edith – Mr. Out, mein bessa Kammerat. Unzatrennlüch. Mr. In und Mr. Out.«

Mr. Out trat näher und verbeugte sich; genauer gesagt, er trat so weit vor und verbeugte sich so tief, dass er fast vornübergekippt wäre und sich kurz an Ediths Schulter festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Ich bin der Mr. Out, Edith«, stammelte er fröhlich. »Das da is der Missa In – ich Missa Out.«

»Missainunmissaout«, sagte Peter stolz.

Doch Edith sah durch die zwei hindurch und heftete den Blick starr auf einen unbestimmten Punkt hoch oben auf der Galerie. Sie nickte dem kräftig gebauten Mann leicht zu, der daraufhin wie ein Stier auf die beiden zuging und Mr. In und Mr. Out mit einer einzigen raschen, kräftigen Armbewegung nach beiden Seiten aus dem Weg schob und mit Edith durch die so entstandene Gasse schritt.

Zehn Schritte weiter blieb Edith jedoch von neuem stehen – blieb stehen und deutete auf einen kleinen dunkelhaarigen Soldaten, der wie gebannt dastand und halb verdutzt, halb ehrfürchtig die Menge insgesamt, besonders aber das Tableau mit Mr. In und Mr. Out, beobachtete.

»Dort«, rief Edith. »Sehn Sie, dort!«

Ihre Stimme wurde lauter, fast schon schrill. Ihr Zeigefinger bebte ein klein wenig. »Dieser Soldat dort, das ist der, der meinem Bruder das Bein gebrochen hat.«

Hierauf erschollen vereinzelte Rufe; ein Mann im Gehrock verließ seinen Platz nah am Tresen und kam behende herbeigerannt; der kräftig gebaute Mensch sprang wie der Blitz mit einem Satz auf den kleinen dunkelhaarigen Soldaten zu, und im nächsten Moment war die kleine Gruppe von allen im Foyer weilenden Leuten umringt und dergestalt den Blicken von Mr. In und Mr. Out entzogen.

Für Mr. In und Mr. Out indes war dieser Vorfall nichts weiter als ein buntschillerndes Stückchen der wirbelnden, schwirrenden Welt.

Sie hörten laute Stimmen; sie sahen den kräftig gebauten Mann springen, und dann verschwamm das Bild auf einmal.

Als Nächstes waren sie im Aufzug und fuhren himmelan.

»Welches Stockwerk bitte?«, fragte der Fahrstuhlführer.

»Irgendeins«, sagte Mr. In.

»Das oberste«, sagte Mr. Out.

»Dies hier ist das oberste Stockwerk«, sagte der Fahrstuhlführer.

»Dann lassen Sie gefälligst noch eins draufsetzen«, sagte Mr. Out.

»Höher«, sagte Mr. In.

»Zum Himmel«, sagte Mr. Out.

XI

 

Gordon Sterrett erwachte in einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße nahe der Sixth Avenue; er hatte rasendes Kopfweh, und sein ganzer Körper wummerte vor Übelkeit. Er sah die dämmergrauen Schatten in den Zimmerecken, dann fiel sein Blick auf eine vom langen Gebrauch abgewetzte Stelle an dem großen Ledersessel vis-à-vis dem Bett. Er sah Kleider, verstreute, zerknautschte Kleider auf dem Boden, die Luft roch nach kaltem Zigarettenrauch und schalem Alkohol. Die Fenster waren fest geschlossen. Draußen hatte das grelle Sonnenlicht einen staubflirrenden Strahl quer über den Fenstersims geworfen – einen Sonnenstrahl, durchschnitten vom Kopfteil des hölzernen Bettes, in dem er geschlafen hatte. Er lag ganz still – wie im Koma, wie unter Drogen, mit weit aufgerissenen Augen, sein Hirn knackte wie wild und quietschte wie eine schlecht geölte Maschine.

Zirka dreißig Sekunden nachdem er den staubwabernden Sonnenstrahl und die abgeschabte Stelle an dem großen Ledersessel bemerkt hatte, war ihm, als spürte er etwas Lebendiges neben sich, und noch einmal dreißig Minuten vergingen, bis ihm klar wurde, dass er verheiratet war – unwiderruflich – mit Jewel Hudson.

Eine halbe Stunde später ging er in ein Sportartikelgeschäft und kaufte sich einen Revolver. Dann nahm er ein Taxi, fuhr zu dem Haus in der East Twenty-seventh Street, in dem er gewohnt hatte, ging in sein Zimmer, beugte sich über den Tisch mit seinem Zeichenzeug und schoss sich eine Kugel in den Kopf, direkt hinter die Schläfe.

Winterträume
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