Kopf und Schultern

 

I

 

1915 war Horace Tarbox dreizehn Jahre alt. In jenem Jahr legte er an der Universität Princeton die Eingangsexamina ab und erhielt in Cäsar, Cicero, Vergil, Xenophon, Homer, Algebra, Planimetrie, Stereometrie und Chemie jeweils die Note »Ausgezeichnet«.

Zwei Jahre später, George M. Cohan schrieb damals gerade seinen berühmten Song Over There, kam Horace – mittlerweile im zweiten Semester und seinen gleichaltrigen Kommilitonen bereits um Längen voraus – mit seinen Thesen über den Syllogismus als obsolete Form der Scholastik zu Potte, und während der Schlacht von Château-Thierry saß er an seinem Schreibtisch und überlegte sich, ob er wirklich noch bis zu seinem siebzehnten Geburtstag warten sollte, bevor er sich an die Niederschrift seiner Essayreihe über Die Tendenz der Neurealisten zum Pragmatismus machte.

Kurz darauf erzählte ihm ein Zeitungsjunge, dass der Krieg vorbei war, und das freute ihn, denn es bedeutete, dass der Verlag Peat Brothers nun endlich die neue Auflage von Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes herausbringen würde. Auf eine Art war ja der Krieg in Ordnung, weil er den jungen Männern irgendwie zu mehr Selbstvertrauen verhalf, aber andererseits konnte Horace es dem Präsidenten einfach nicht verzeihen, dass er dieser Blaskapelle die Erlaubnis erteilt hatte, in der Nacht des falschen Waffenstillstands direkt unter seinem Fenster zu spielen, wodurch er drei wichtige Sätze aus seinem Aufsatz Über den deutschen Idealismus weglassen musste.

Im Jahr darauf ging er nach Yale, um seinen Magister zu machen.

Da war er siebzehn, groß und schlank, hatte kurzsichtige graue Augen und legte ein Gebaren an den Tag, als distanzierte er sich ganz entschieden und persönlich von den Wörtern, die er von sich gab und die eben bloß Wörter waren.

»Es kommt mir immer so vor, als würde ich mich gar nicht richtig mit ihm unterhalten«, beschwerte sich Professor Dillinger bei einem mitfühlenden Kollegen. »Ich hab jedes Mal das Gefühl, dass ich mit seinem Stellvertreter rede. Stets rechne ich damit, dass er mir sagt: ›Na schön, ich frag mal bei mir selber nach, dann sehen wir weiter.‹«

Und eines Tages, gerade so, als wäre Horace Tarbox Mr. Beef, der Metzger, oder Mr. Hat, der Herrenausstatter, mischte sich völlig unbeschwert das Leben ein, schnappte ihn, nahm ihn sich vor, zog ihn in die Länge und dröselte ihn auseinander wie ein Stück irische Spitze auf einem Samstagnachmittagswühltisch.

Und wenn ich das jetzt einmal literarisch ausdrücken wollte, dann müsste ich besser sagen: Alles kam bloß daher, dass damals, zur Kolonialzeit, als die verwegenen Siedler an eine kahle Stelle in Connecticut kamen und sich gegenseitig fragten: »Na, was erbauen wir denn hier nun Schönes?«, der Verwegenste unter ihnen erwidert hatte: »Lasst uns eine Stadt erbauen, in der Theaterimpresarios Probeaufführungen von musikalischen Komödien machen können!« Dass sie dann später das Yale College gegründet haben, um dort die Probeaufführungen ihrer musikalischen Komödien zu machen, ist ja eine allgemein bekannte Geschichte. Also jedenfalls, im Dezember hatte Home James! seine Premiere im Shubert, und die Studenten im Saal brachten Marcia Meadow, die im ersten Akt ihren Song The Blundering Blimp gesungen und im letzten einen unglaublich wippeligen, hippeligen Shimmy aufs Parkett gelegt hatte, Ovationen dar und wollten sie gar nicht mehr von der Bühne lassen.

Marcia war neunzehn. Flügel hatte sie keine, doch das Publikum war sich weitgehend einig, dass sie auch keine brauchte. Sie war naturblond auf die Welt gekommen und ging am hellerlichten Mittag ohne Schminke auf die Straße. Ansonsten war sie auch nicht besser als die meisten Frauen.

Charlie Moon kam auf die Idee, ihr fünftausend Pall Mall zu versprechen, wenn sie dem außerordentlichen Wunderkind Horace Tarbox einen Besuch abstattete. Charlie studierte im letzten Semester am Sheffield, und er und Horace waren Vettern ersten Grades. Die beiden verband so eine Art Hassliebe.

Horace war an jenem Abend ganz besonders beschäftigt. Er zermarterte sich den Kopf darüber, warum der Franzose Laurier die Bedeutung der Neurealisten falsch eingeschätzt hatte. Folgerichtig fühlte er sich durch das leise, aber dennoch unüberhörbare Klopfen an der Tür seines Studierzimmers lediglich dazu veranlasst, Spekulationen darüber anzustellen, ob so ein Klopfen denn tatsächlich existiere, wenn kein Ohr vorhanden sei, es zu hören. Er bildete sich schon ein, immer tiefer in den Pragmatismus abzugleiten. In Wahrheit aber bewegte er sich, ohne es zu ahnen, in atemberaubendem Tempo auf etwas völlig anderes zu.

Das Klopfen erklang – drei Sekunden verrannen – das Klopfen erklang.

»Herein«, murmelte Horace automatisch.

Er hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss, saß über sein Buch gebeugt in dem großen Sessel am Kamin und blickte nicht auf.

»Legen Sie’s nebenan aufs Bett«, sagte er zerstreut.

»Was soll ich nebenan aufs Bett legen?«

Bei ihren Songs musste Marcia Meadow mehr reden als singen, ihre Sprechstimme aber war wie eine Begleitmusik aus Harfenklängen.

»Die Wäsche.«

»Kann ich nich.«

Horace zuckte ungeduldig in seinem Sessel.

»Wieso können Sie nicht?«

»Na weil, ich habse nich.«

»Hm!«, erwiderte er unwirsch. »Ja dann werden Sie vermutlich noch einmal zurückgehen müssen und sie holen.«

Vor dem Kamin stand noch ein zweiter Lehnstuhl. Horace hatte die Angewohnheit, sich während des Abends mal in den einen, mal in den anderen zu setzen, teils um sich etwas Bewegung zu verschaffen, teils auch einfach der Abwechslung halber. Den einen nannte er Berkeley, den anderen Hume. Auf einmal hörte er, wie eine raschelnde, schimmernde Gestalt auf Hume sich niederließ. Er blickte auf.

»So«, sagte Marcia mit diesem süßen Lächeln aus dem zweiten Akt (»Oh, dann hat mein Tanz dem Duc also gefallen!«), »so, Omar Chaijam, da bin ich nu und sitze vis-à-vis von Sie und singe in der Wildnis.«

Horace starrte sie verdutzt an. Sekundenschnell durchfuhr ihn der Verdacht, dass sie nur als Phantom existiere, als Ausgeburt seiner Phantasie. Schließlich kamen doch Frauen nicht einfach in die Zimmer von Männern und ließen sich auf einem männlichen Hume nieder. Frauen brachten die Wäsche und nahmen einem den Sitzplatz in der Straßenbahn weg, und später, wenn man alt genug war, um zu lernen, was Fesseln sind, dann heirateten sie einen.

Diese Frau hier hatte sich eindeutig aus Hume heraus vergegenständlicht. Selbst der braune Firlefanz, den sie an ihrem gardinendünnen braunen Kleid hatte, war eine Emanation von Humes ledernem Arm da drüben! Er musste nur lange genug hinschauen, schon würde er durch sie hindurch geradewegs seinen Hume erblicken und wäre wieder allein in seinem Zimmer. Er fuhr sich mit der Faust über die Augen. Es wurde wirklich Zeit, dass er seine Übungen am Trapez wieder aufnahm.

»Großer Gott, nu kucken Sie mich doch nich so tadelnd an!«, bemerkte die Emanation freundlich. »Ich hab ja schon bald das Gefühl, Sie wolln mich wegzaubern, Sie Superschlaukopf, Sie. Und dann wär nix mehr von mir übrig wie bloß in Ihre Augen noch mein Schatten.«

Horace hustete. Husten war die eine der insgesamt zwei körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm zu Gebote standen. Wenn er sprach, vergaß man geradezu, dass er überhaupt einen Körper hatte. Es war, als hörte man sich eine Grammophonaufnahme eines längst verstorbenen Sängers an.

»Was wollen Sie?«, fragte er.

»Ich will die Briefe«, jammerte Marcia melodramatisch, »die Briefe, wo Sie 1881 von mein Großvater gekauft ham.«

Horace überlegte.

»Ich habe Ihre Briefe nicht«, sagte er dann in ruhigem Ton. »Ich bin erst siebzehn Jahre alt. Mein Vater wurde erst am 3. März 1879 geboren. Sie scheinen mich mit jemand zu verwechseln.«

»Sie sind erst siebzehn?«, wiederholte Marcia misstrauisch.

»Erst siebzehn.«

»Ich kannte mal eine«, sagte Marcia versonnen, »die war erst sechzehn und war schon bei so ’m Tingeltangeltheater. Na, die war vielleicht verliebt in sich selber, die musste immer, wenn sie ›sechzehn‹ sagen wollte, ’n ›erst‹ vorneweg sagen. Wir ham sie schließlich ›Erst-Jenny‹ genannt. Und die ist heute noch genau da, wo sie angefangen hat – bloß schlimmer. ›Erst‹ ist ’ne schlechte Angewohnheit, Omar – klingt irgendwie nach Alibi.«

»Ich heiße nicht Omar.«

»Weiß ich doch«, gab Marcia ihm kopfnickend recht. »Sie heißen Horace. Ich sag ja auch bloß Omar zu Ihnen, weil Sie mich an ’ne gerauchte Zigarette erinnern.«

»Und Ihre Briefe, die habe ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Ihrem Großvater jemals begegnet sein soll. Ich halte es, offen gestanden, für sehr unwahrscheinlich, dass Sie 1881 bereits gelebt haben.«

Marcia starrte ihn verwundert an.

»Ich – 1881? Na, und ob! Ich bin schon in der zweiten Reihe rumgehopst, wie das Florodora-Sextett noch auf der Klosterschule war. Ich war Julias Amme in der Erstaufführung von Mr. Sol Smith. Doch, doch, Omar, und im Krieg von 1812 war ich Kantinensängerin.«

Horace’ Geist vollführte einen ebenso jähen wie erfolgreichen Sprung; er grinste.

»Hat Ihnen Charlie Moon das eingeblasen?«

Marcia betrachtete ihn mit undurchdringlicher Miene. »Wer is denn bitte Charlie Moon?«

»Klein – große Nasenlöcher – große Ohren.«

Sie schraubte sich ein paar Zentimeter in die Höhe.

»Es is nich meine Angewohnheit, die Nasenlöcher meiner Freunde zu betrachten.«

»Dann war’s also Charlie?«

Marcia biss sich auf die Unterlippe – und gähnte.

»Ach, wolln wir denn nich lieber das Thema wechseln, Omar? Ich glaub, ich poof mal ’ne Minute in dem Sessel hier.«

»Ja«, erwiderte Horace ernsthaft, »Hume gilt nicht selten als einschläfernd.«

»Welcher is denn nu Ihr Freund – und wird er sterben?«

Da erhob sich Horace Tarbox plötzlich zu seiner vollen Schlaksigkeit und begann eilig, die Hände in den Hosentaschen, im Zimmer auf und ab zu gehen. Das war seine zweite Form, sich körperlich auszudrücken.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er wie zu sich selbst, »das gefällt mir ganz und gar nicht. Nicht etwa, dass ich mich an Ihrer Gegenwart stoßen würde – keineswegs. Sie sind ja ein recht hübsches kleines Ding, aber mir missfällt, dass ausgerechnet Charlie Moon Sie hergeschickt hat. Ich bin doch kein Laborversuch, mit dem die Haushandwerker genauso wie die Chemiker ihre Experimente machen können! Ist meine intellektuelle Entwicklung etwa in irgendeiner Weise lächerlich? Sehe ich etwa so aus wie Waldo, der kleine Boston Boy aus den Comicmagazinen? Dieser Charlie Moon, dieser Milchbart mit seinem ständigen Gerede von seiner einen Woche in Paris, woher nimmt der – also woher nimmt der eigentlich das Recht –«

»Aber nich doch«, fiel ihm Marcia kurzerhand ins Wort. »Und Sie sind ’n sehr süßer Junge. Komm’ Sie doch mal her und küssen Sie mich.«

Horace zog geschwind die Bremse und blieb vor ihr stehen.

»Wieso wollen Sie, dass ich Sie küsse?«, fragte er mit angespannter Neugier. »Laufen Sie denn einfach in der Gegend herum und küssen irgendwelche Leute?«

»Na klar«, gab Marcia umstandslos zu. »Nur darum geht’s im Leben doch. Dass man rumläuft und einfach irgendwelche Leute küsst.«

»Also, ich muss schon sagen«, erwiderte Horace kategorisch, »bei Ihnen läuft aber einiges durcheinander, das ist ja ganz entsetzlich! Erstens geht es im Leben keineswegs nur darum, und zweitens fällt es mir nicht mal im Traum ein, Sie zu küssen. Am Ende gewöhne ich mich noch daran, und wenn ich mir erst einmal etwas angewöhnt habe, dann werde ich es nicht wieder los. Dieses Jahr hab ich mir angewöhnt, morgens bis um halb acht im Bett zu bleiben.«

Marcia nickte verständnisvoll.

»Ham Sie eigentlich auch mal irgendwann Spaß?«, fragte sie.

»Was meinen Sie mit Spaß?«

»Sehn Sie mal, Omar«, sagte Marcia streng, »ich mag Sie doch, aber ich fänd’s schön, wenn Sie einfach mal so reden könnten, dass da irgendwie ’ne Linie drin ist, in dem, was Sie sagen. Sie hören sich immer so an, als ob Sie mit ’m Haufen Wörtern im Mund rumgurgeln und jedes Mal ’ne Wette verlieren, wenn Sie ’n paar davon fallen lassen. Ich hab Sie gefragt, ob Sie eigentlich auch mal Spaß ham.«

Horace schüttelte den Kopf.

»Vielleicht später einmal«, antwortete er. »Ich bin ein Plan, verstehen Sie? Ich bin ein Experiment. Ich will nicht behaupten, dass ich das nicht hin und wieder leid wäre – das schon, durchaus. Und doch – ach, ich kann es nicht erklären! Aber das, was Sie und Charlie Moon Spaß nennen, also, für mich wäre das keiner.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

Horace guckte verdutzt, er wollte etwas sagen, besann sich aber eines Besseren und begann wieder auf und ab zu gehen. Marcia versuchte sich darüber klarzuwerden, ob er sie ansah oder nicht, was ihr jedoch nicht glücken wollte, weshalb sie ihn kurzerhand anlächelte.

»Das müssen Sie mir erklären.«

Horace drehte sich um.

»Wenn ich es tue, versprechen Sie mir dann, Charlie Moon zu sagen, ich sei nicht daheim gewesen?«

»Hm-hm.«

»Schön, also gut. Hier ist meine Geschichte: Ich war ein ›Warum‹-Kind. Ich wollte sehen, wie die Räder ineinandergreifen. Mein Vater war ein junger Ökonomieprofessor in Princeton. Sein Erziehungsprogramm bestand darin, mir jede Frage, die ich ihm stellte, nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Die Art und Weise, wie ich darauf reagierte, brachte ihn auf die Idee, ein Experiment in puncto Frühreife zu unternehmen. Um die Katastrophe komplett zu machen, hatte ich auch noch Probleme mit meinem Gehör – sieben Operationen zwischen dem neunten und dem zwölften Lebensjahr. Das führte natürlich dazu, dass ich mich von den anderen Jungen fernhielt und geradezu gezwungen war, früh reif zu werden. Wie dem auch sei, während meine Altersgenossen sich mit Uncle Remus herumschlugen, bereitete es mir eine wahre Freude, Catull im Original zu lesen.

Mit dreizehn legte ich meine Eingangsexamina fürs College ab, weil ich nicht mehr länger warten konnte. Meine wichtigsten Gesprächspartner waren Professoren; ich wusste, was für einen superben Verstand ich hatte, und ich war mächtig stolz darauf, denn wenn ich auch ungewöhnlich begabt war, so war ich doch ansonsten völlig normal. Mit sechzehn war ich es leid, ständig etwas Besonderes zu sein; ich kam zu dem Schluss, dass offenbar irgendwer einen bösen Fehler gemacht hatte. Nachdem ich aber nun schon einmal so weit gekommen war, beschloss ich, die Sache auch zu Ende zu bringen und meinen Magister zu machen. Mein Hauptinteresse gilt dem Studium der modernen Philosophie. Ich bin Realist, Anhänger der Schule von Anton Laurier – mit einigen bergsonianischen Einsprengseln –, und in zwei Monaten werde ich achtzehn. Das ist alles.«

»Puh!«, rief Marcia. »Das reicht ja auch! Könn’ Sie aber schöne lange Sätze machen!«

»Zufrieden?«

»Nö, Sie ham mich ja nich geküsst.«

»Das steht nicht auf meinem Programm«, wandte Horace ein. »Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich gebe keineswegs vor, über die physischen Dinge erhaben zu sein. Sie haben durchaus ihren Platz, aber –«

»Ach, nu sein Sie doch nich so furchtbar vernünftig!«

»Da kann ich doch nichts dafür.«

»Ich hasse Menschen, die wie Automaten sind.«

»Ich versichere Ihnen, ich –«, fing Horace an.

»Ach, halten Sie doch den Mund!«

»Meine eigene Rationalität –«

»Hab ich was von Ihre Nationalität gesagt? Sie sind ›Ämörrikahner‹, stümmt’s?«

»Ja.«

»Na, is doch in Ordnung, nix dagegen. Ich wollte halt mal sehn, ob ich Sie dazu bringen kann, dass Sie einmal was machen, was nich auf Ihrem hochintellellen Programm steht. Ich will einfach wissen, ob dieses, wie ham Sie das nochma genannt – na, dieses Dingsda, wo Sie gesagt ham, dass Sie das sind, das mit die brasilianischen Einsprengsel – ob das auch ’n klitzekleines bisschen menschlich sein kann.«

Horace schüttelte abermals den Kopf.

»Ich werde Sie nicht küssen.«

»Ich bin erledigt«, seufzte Marcia dramatisch. »Sie sehn mich am Boden liegen. Nun muss ich bis ans Ende meiner Tage ohne ein Kuss mit brasilianische Einsprengsel weiterleben.« Sie seufzte. »Na, egal, Omar, komm’ Sie denn wenigstens in meine Show?«

»Was denn für eine Show?«

»Ich bin ’ne schlimme Schauspielerin, ich spiel bei Home James! mit.«

»Operette?«

»Kann man so sagen – mit ’m bisschen gutem Willen. Da kommt auch ’n brasilianischer Reisfarmer drin vor. Das könnte Sie doch interessieren.«

»Ich war schon mal in einer Operette. The Bohemian Girl war der Titel«, überlegte Horace laut. »Hat mir gut gefallen – bis zu einem gewissen Grad.«

»Dann kommen Sie also?«

»Nun ja, ich, ähm – ich –«

»Ach, ich weiß schon – Sie müssen übers Wochenende runter nach Brasilien.«

»Keineswegs. Es wird mir eine Freude sein, zu kommen.«

Marcia klatschte in die Hände.

»Na wunnabar! Denn schick ich Ihnen ein Billett – Donnerstagabend?«

»Nun ja, ich –«

»Gut! Also Donnerstagabend.«

Sie stand auf, trat ganz nah an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Sie gefallen mir, Omar. Tut mir leid, dass ich Sie so auf ’n Arm genommen hab. Ich fand Sie etwas steif, aber einklich sind Sie ja ’n richtig netter Junge.«

Er betrachtete sie ironisch.

»Ich bin etliche tausend Generationen älter als Sie.«

»Dafür hamse sich aber gut gehalten.«

Sie schüttelten einander würdevoll die Hand.

»Marcia Meadow, mein Name«, sagte sie mit Nachdruck. »Müssense sich merken – Marcia Meadow. Und Charlie Moon werd ich erzählen, dass Sie nich zu Hause waren.«

Eine Minute später, sie hüpfte gerade die letzte Treppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal, hörte sie vom obersten Absatz her eine Stimme: »Ach, sag –«

Sie blieb stehen, schaute hinauf und – erkannte einen Schemen, der sich übers Geländer beugte.

»Ach, sagen Sie!«, rief das Wunderkind noch einmal. »Können Sie mich hören?«

»Teilnehmer wartet, Omar.«

»Ich hoffe, Sie haben nicht den Eindruck gekriegt, dass ich Küssen prinzipiell irrational finde.«

»Was denn für ’n Eindruck? Wie kommse denn da drauf, ich hab ja noch nichma den Kuss gekriegt! Na, nüscht für ungut – also denn.«

Die weibliche Stimme erweckte Neugier, im Haus gingen zwei Türen auf. Von oben kam ein zaghaftes Husten als Antwort. Marcia schürzte ihre Röcke, rannte die letzte Treppe hinunter und hinaus auf die Straße, wo sie der Nebel von Connecticut sogleich verschluckte.

Oben ging Horace mit schnellem Schritt in seiner Studierstube auf und ab. Hin und wieder warf er einen Blick auf Berkeley, der in ehrwürdig-dunkelroter Verbindlichkeit – auf seinen Polstern einladend ein aufgeschlagenes Buch – dastand und wartete. Dann aber spürte er, wie er mit jede Runde, die er absolvierte, ein Stück näher an Hume herankam. Hume hatte etwas an sich, das sonderbar und unaussprechlich anders war. Es schien, als schwebte jene schimmernde Gestalt noch in der Luft; hätte Horace sich auf ihm niedergelassen, er hätte das Gefühl gehabt, auf dem Schoß einer Frau zu sitzen. Und wenn es Horace auch nicht gegeben war, das, was den Unterschied ausmachte, in Worte zu fassen, so war der Unterschied doch da – zwar gänzlich unbegreifbar für den spekulativen Geist, und doch nichtsdestominder ganz real. Hume verströmte etwas, was er während seiner ganzen, nun schon zweihundert Jahre anhaltenden Einflussnahme noch kein einziges Mal verströmt hatte.

Und was Hume da verströmte, das war ein Duft von Rosenöl.

II

 

Am Donnerstagabend saß Horace Tarbox in der fünften Reihe außen auf dem Gangplatz und sah sich Home James! an. Und zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er sich doch tatsächlich amüsierte. Die zynisch veranlagten Studenten rings um ihn herum ärgerten sich über seine lauthals kundgetane Freude an den in Ehren ergrauten Witzen Hammerstein’scher Prägung. Horace aber wartete gespannt darauf, dass Marcia Meadow ihren Song vom Blundering Blimp vortrug, diesen dem Jazz verfallenen vertrottelten Briten. Und als sie dann auf die Bühne kam und unter ihrem breitkrempigen Schlapphut mit dem üppigen Blumendekor hervorstrahlte, da wurde ihm ganz warm, und als der Song zu Ende war und der Applaus aufbrandete, fiel er nicht ein. Er fühlte sich nämlich ein bisschen benommen.

In der Pause nach dem zweiten Akt erschien wie aus dem Nichts ein Platzanweiser an seiner Seite, wollte wissen, ob er Mr. Tarbox sei, und übergab ihm schließlich eine in jugendlich-verschnörkelter Handschrift geschriebene Nachricht. Und während der Platzanweiser geduldig im Gang wartete, las Horace einigermaßen verwirrt, was da stand.

Lieber Omar,
nach der Vorstellung krieg ich immer ganz doll Hunger. Wenn Sie mir dabei behilflich sein wollen, den im Taft Grill zu stillen, teilen Sie Ihre Antwort einfach dem ollen Holzkopp mit, der Ihnen das hier überbringt, und tun Sie’s.
Ihre Freundin,
Marcia Meadow

»Sagen Sie ihr« – er hustete –, »sagen Sie ihr, das geht in Ordnung. Ich erwarte sie draußen vor dem Theater.«

Der Holzkopp grinste arrogant. »Ich glaub, die meint, Sie sollen hinner komm’ zun Bühneneingang.«

»Wo – wo ist der denn?«

»Hia raus. Örsma linksromm un dönn dem Dorschgang runner.«

»Was?«

»Hia raus. Örsma linksromm un dönn dem Dorschgang runner!«

Der arrogante Kerl trollte sich. Hinter sich hörte Horace einen Kommilitonen aus dem ersten Semester kichern.

Und als er dann, eine halbe Stunde später, im Taft Grill saß, vor sich das von Natur aus strohblonde Haar, da gab der Wunderknabe etwas Komisches von sich.

»Müssen Sie eigentlich diesen Tanz im letzten Akt tanzen?«, fragte er sie in vollem Ernst. »Ich meine, gesetzt den Fall, Sie würden sich weigern, würden Sie dann entlassen werden?«

Marcia griente.

»Aber der macht mir doch Spaß. Den tanz ich richtig gerne.«

Da unterlief Horace ein Fauxpas.

»Ich hätte eigentlich gedacht, Sie finden ihn abscheulich«, versetzte er brüsk. »Die Leute hinter mir haben Bemerkungen über Ihren Busen gemacht.«

Marcia wurde feuerrot.

»Da kann ich doch nüscht dafür«, sagte sie rasch. »Für mich is dieser Tanz nix weiter wie ’ne akrobatische Einlage. Herrgott noch mal, der is unheimlich schwer zu tanzen! Ich reib mir jeden Abend eine volle Stunde lang die Schultern ein.«

»Macht Ihnen das Spaß, auf der Bühne zu stehen?«

»Hm-hm – klar doch! Ich hab mich dran gewöhnt, dass die Leute mich anschauen, Omar, und es gefällt mir.«

»Hm!« Horace starrte gedankenverloren vor sich hin.

»Was machen denn die brasilianischen Einsprengsel?«

»Hm!«, sagte Horace wieder, und dann, nach einer Pause: »Wohin geht eigentlich das Stück von hier aus?«

»New York.«

»Für wie lange?«

»Kommt ganz drauf an. Über Winter – vielleicht.«

»Oh!«

»Sie könn’ ja mal rüberkommen und Ihr Auge auf mir ruhn lassen, Omar, oder hamse keine Lust? Is nich so nett hier, wie zu Haus bei Ihnen unterm Dach juchhe, nicht wahr? Ich wäre jetzt auch lieber dort.«

»Ich komme mir hier vor wie ein Idiot«, gestand Horace und ließ den Blick nervös durch den Raum schweifen.

»Ach, schade! Wo wir doch grad so schön vorangekommen sind.«

Da zog er plötzlich ein so melancholisches Gesicht, dass sie gleich einen anderen Ton anschlug und über den Tisch langte, um ihm die Hand zu tätscheln.

»Waren Sie denn noch nie mit ’ner Schauspielerin essen?«

»Nein«, sagte Horace kleinlaut, »und ich werd’s wohl auch nie wieder tun. Ich weiß gar nicht, wieso ich heute Abend hergekommen bin. Mit den ganzen Lampen hier und unter all den lachenden, plappernden Leuten fühle ich mich völlig jenseits meiner eigenen Sphäre. Ich weiß gar nicht, worüber ich mit Ihnen reden soll.«

»Wir reden einfach über mich. Über Sie haben wir ja beim letzten Mal schon geredet.«

»Na gut.«

»Also, ich heiße würklich Meadow, aber mein Vorname is nicht Marcia – sondern Veronica. Ich bin neunzehn. Frage – wie kommt die Kleine auf die Bretter, die die Welt bedeuten? Antwort – sie is in Passaic, New Jersey, geboren, und bis vor einem Jahr hat sie zwecks ihre Existenzberechtigungsbestätigung in Trenton in Marcel’s Tea-Room Kekse über die Theke geschoben. Hin und wieder is sie da mit ’nem Burschen ausgegangen, der Robbins hieß und Sänger war beim Trent House Cabaret, und eines Abends hat der sie gefragt, ob sie nicht Lust hat, ’n Song und ’n Tanz mit ihm zusammen einzustudieren. Gradma vier Wochen hat’s gedauert, da war der Speisesaal jeden Abend brechend voll. Dann sind wir weiter nach New York, in der Tasche ’n Berg Empfehlungsschreiben, so dick – wie ’n Stapel Servietten.

Zwei Tage später waren wir am Divinerries’ engagiert, und den Shimmy, den hab ich mir von ’nem Burschen am Palais Royal beibringen lassen. Am Divinerries’ sind wir ’n halbes Jahr geblieben, bis eines schönen Abends Peter Boyce Wendell, der Kolumnist, bei uns sein Toast in die Milch gestippt hat. Am nächsten Morgen stand in seiner Zeitung ’n Gedicht, das hieß Marvellous Marcia, und die nächsten beiden Tage kriegte ich drei Angebote von Vaudeville-Theatern und die Chance, im Midnight Frolic aufzutreten. Ich hab Wendell ’n Dankbrief geschrieben, den hat er dann in seiner Kolumne abgedruckt und gesagt, ich hab genau den gleichen Stil wie Carlyle, nur schroffer, und ich soll die Tanzerei mal lieber an den Nagel hängen und stattdessen die nordamerikanische Literatur bereichern. Daraufhin hab ich gleich noch ’n paar mehr Vaudeville-Angebote gekriegt und ’ne Chance als Naive in ’nem richtigen Theaterstück. Da hab ich zugegriffen, Omar – und hier bin ich nu.«

Als sie fertig war mit ihrer Erzählung, schwiegen sie einen Moment; Marcia wickelte die letzten Käsefäden von ihrem überbackenen Toast um ihre Gabel und wartete, dass Horace etwas sagte. Und das tat er.

»Los, wir verschwinden«, sagte er plötzlich.

Da wurden Marcias Augen ganz hart.

»Was soll das denn jetzt? Is Ihnen etwa schlecht geworden wegen mir?«

»Nein, aber ich fühl mich hier nicht wohl. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich hier so mit Ihnen sitze.«

Daraufhin winkte Marcia ohne ein weiteres Wort den Kellner heran.

»Die Rechnung bitte«, verlangte sie kategorisch. »Ich zahle – den Toast und das Ginger-Ale.«

Horace schaute mit leerem Blick zu, wie der Kellner addierte.

»Na, hören Sie mal«, begann er, »ich hatte eigentlich die Absicht, für Sie mitzubezahlen; Sie sind mein Gast.«

Marcia stand seufzend auf und ging aus dem Saal. Und Horace, dem die vollkommene Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand, legte einen Geldschein auf den Tisch und folgte ihr hinaus, die Treppe hoch und in die Halle. Vor dem Fahrstuhl hatte er sie eingeholt, sie standen da und schauten einander in die Augen.

»Na, hören Sie mal«, wiederholte er, »Sie sind mein Gast. Hab ich vielleicht irgendwas gesagt, was Sie gekränkt hat?«

Es gab einen kurzen Moment des Erstaunens – dann wurden Marcias Augen wieder weicher.

»Na, Sie sind mir ja vielleicht ’n ungehobelter Kerl«, sagte sie gedehnt. »Das ist Ihnen wohl ganich klar, was Sie für ’n ungehobelter Kerl sind, wie?«

»Da kann ich doch nichts dafür«, sagte Horace mit einer Direktheit, die sie ziemlich entwaffnend fand. »Sie wissen doch, dass ich Sie mag und dass Sie mir gefallen.«

»Aber Sie haben gesagt, es gefällt Ihnen nich, wenn Sie mit mir zusammen sind.«

»Es hat mir nicht gefallen.«

»Und wieso nich?«

Da loderten in seinen Augen, die wie graue Wälder waren, auf einmal Feuersbrünste auf.

»Weil es mir nicht gefallen hat. Ich hab mir das jetzt mal so angewöhnt, dass ich Sie mag. Zwei Tage hab ich an nichts anderes denken können.«

»Na ja, wenn Sie –«

»Moment mal«, fiel er ihr ins Wort. »Ich muss was sagen. Folgendes: In sechs Wochen bin ich achtzehn. Und wenn ich achtzehn bin, dann komme ich Sie in New York besuchen. Gibt’s in New York irgendwas, wo wir hingehen können und wo nicht so viele Leute mit im Raum sind?«

»Klar!«, lächelte Marcia. »Sie könn’ ja gerne mit in mein Apartment komm’. Sie könn’ ja aufm Sofa schlafen, wenn Sie wollen.«

»Auf Sofas kann ich nicht schlafen«, sagte er kurz. »Aber ich will ja auch mit Ihnen reden.«

»Ach so, klar«, wiederholte Marcia – »in meim Apartment.«

Vor lauter Aufregung steckte Horace die Hände in die Taschen.

»Gut, gut – Hauptsache, wir sind alleine. Ich will so mit Ihnen reden, wie wir oben bei mir in meinem Zimmer geredet haben.«

»Du, sag mal, Zuckerjunge«, rief Marcia lachend, »heißt das vielleicht, du willst mich küssen?«

»Ja«, stieß Horace fast aufgebracht hervor. »Wenn Sie es wollen, werde ich Sie küssen.«

Der Fahrstuhlführer sah die zwei vorwurfsvoll an. Mit einem Satz war Marcia an der Gittertür.

»Ich schreib dir ’ne Postkarte«, sagte sie.

Horace’ Blick war ziemlich wild.

»Schreiben Sie mir eine Karte! Nach dem ersten Januar kann ich Sie jederzeit besuchen kommen. Dann bin ich achtzehn.«

Und als sie in den Fahrstuhl stieg, hustete er kryptisch, aber mit vager Entschiedenheit, zur Decke hoch und ging dann rasch davon.

III

 

Er war wieder da. Gleich beim ersten Blick ins rastlose Publikum von Manhattan hatte sie ihn entdeckt – dort unten in der ersten Reihe, den Kopf leicht vorgereckt, die grauen Augen starr auf sie gerichtet. Da hatte sie gewusst, für ihn gab’s auf der Welt nur sie und ihn; er nahm die Chorus Girls mit ihren überschminkten Frätzchen und das vereinte Gewinsel der Violinen so wenig wahr, wie man auf einer Marmorvenus Puder registrieren würde. Und instinktiv regte sich Trotz in ihr.

›Dummer Junge!‹, dachte sie bei sich und ging nicht noch einmal auf die Bühne zurück, um ihren Schlussapplaus entgegenzunehmen.

»Was erwarten die denn für ’n Hunderter die Woche – dass ich ’n Perpetuum mobile bin?«, grummelte sie in den Kulissen vor sich hin.

»Na, Marcia, wo drückt denn der Schuh?«

»In der ersten Reihe, da sitzt einer, den kann ich nich leiden.«

Beim letzten Akt, während sie auf ihren Soloauftritt wartete, überfiel sie plötzlich ein ganz ungewohntes Lampenfieber. Sie hatte Horace nie die versprochene Postkarte geschickt. Gestern Abend hatte sie so getan, als hätte sie ihn nicht gesehen – war gleich nach ihrer Tanznummer aus dem Theater gerannt und hatte in ihrem Apartment eine schlaflose Nacht verbracht und wieder, wie so oft in den vergangenen Monaten, an sein bleiches, ganz schön entschlossenes Gesicht gedacht, seine schlaksige, knabenhafte Figur, die gnadenlose, weltfremde Losgelöstheit von den Dingen, die sie so bezaubernd fand.

Und jetzt, wo er erneut gekommen war, verspürte sie ein vages Bedauern – als wäre ihr eine Verantwortung aufgezwungen worden, an die sie nicht gewöhnt war.

»Wunderkind!«, sagte sie laut.

»Was?«, fragte der schwarze Komödiant, der neben ihr stand.

»Ach, nüscht – ich führ bloß Selbstgespräche.«

Auf der Bühne ging es ihr besser. Das war ihr Tanz – aber sie hatte immer das Gefühl, dass sie dabei inzwischen gerade noch so viel Zauber entfaltete, wie ihn jedes hübsche Mädchen ohnehin für jeden Mann besitzt. Diesmal wollte sie ein richtiges Feuerwerk entfachen.

Uptown, downtown, jelly on a spoon,
After sundown shiver by the moon.

Er schaute nicht zu ihr. Das sah sie ganz genau. Er hatte den Blick mit Absicht auf das Schloss am Bühnenhorizont gerichtet, und sein Gesicht hatte den gleichen Ausdruck wie damals im Taft Grill. Und da stieg eine ungeheure Wut in ihr hoch – er zeigte ihr seine Missbilligung.

That’s the vibration that thrills me,
Funny how affection fills me,
Uptown, downtown –

Plötzlich wurde sie von einem schier unüberwindlichen Ekel gepackt. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Bühnenlaufbahn nahm sie mit grausamer Klarheit und in nie gekannter Deutlichkeit das Publikum wahr. Was war das dort in dieser fahlen Fratze in der ersten Reihe – ein lüsternes Grinsen? Und die Mundwinkel des jungen Mädchens dort, waren sie angewidert hinuntergebogen? Oder hier diese Schultern – diese sich schüttelnden Schultern, waren das wirklich ihre? Waren sie echt? So viel war sicher: Für so was waren Schultern nicht gemacht!

Then you’ll see at a glance
I’ll need some funeral ushers with St. Vitus dance
At the end of the world I’ll –

Hals über Kopf stürzten das Fagott und zwei der Celli sich nun in den Schlussakkord. Marcia blieb stehen, verharrte einen Augenblick auf den Zehenspitzen, jeden Muskel angespannt, ihr junges Gesicht blickte teilnahmslos und mit einem, wie ein Bubikopfmädchen im Saal nachher sagte, »dermaßen sonderbaren, fragenden Blick« ins Publikum, und dann rannte sie, ohne sich zu verbeugen, von der Bühne, verschwand hastig in ihrer Garderobe, streifte das Showkostüm ab, zog sich ihre Alltagssachen über, lief eilig auf die Straße und hielt ein Taxi an.

In ihrem Apartment war es heiß – ein kleines Zimmer mit einer Reihe künstlerischer Fotografien und Werkausgaben von Kipling und O. Henry, die sie irgendwann mal einem Vertreter mit blauen Augen abgekauft hatte und in denen sie hin und wieder las. Und es gab etliche Stühle, die zwar alle zusammenpassten, von denen aber nicht ein einziger bequem war, außerdem eine Lampe, deren rosa Schirm mit Amseln bemalt war, und überhaupt war die ganze Atmosphäre ziemlich rosa, wobei das Rosa eher ein ersticktes war. Es gab ein paar hübsche Sachen – hübsch, aber untereinander spinnefeind und Früchte eines abgeguckten, ungeduldigen Geschmacks, der hier und da aufs Geratewohl sein Werk verrichtet hatte. Das mit Abstand Schlimmste war ein riesengroßes, in Eichenrinde gerahmtes Gemälde, das ihre Heimatstadt Passaic darstellte, von der Erie-Eisenbahn aus gesehen – ein durch und durch verzweifelter, merkwürdig affektierter, merkwürdig kümmerlicher Versuch, dem Raum eine heitere Note zu geben. Marcia wusste selber, dass der Versuch gescheitert war.

In dieses Zimmer kam das Wunderkind und fasste sie tollpatschig bei den Händen.

»Diesmal bin ich Ihnen gefolgt«, sagte er.

»Oh!«

»Ich möchte, dass Sie mich heiraten«, sagte er.

Ihre Arme gingen zu ihm hoch. Sie küsste ihn mit einer gleichsam natürlichen Leidenschaft auf den Mund.

»So!«

»Ich liebe Sie«, sagte er.

Sie küsste ihn noch einmal, dann seufzte sie kurz auf, ließ sich in einen Sessel plumpsen, saß halb liegend da und wurde von einem aberwitzigen Lachen geschüttelt.

»Ach, du Wunderkind, du!«, rief sie.

»Gut, gut, wenn es Ihnen Spaß macht, nennen Sie mich ruhig so. Ich hab Ihnen ja schon einmal gesagt, dass ich zehntausend Jahre älter bin als Sie – das bin ich wirklich.«

Sie lachte abermals.

»Ich hab’ nu mal nich gerne, wenn mich einer ablehnt.«

»Jetzt wird Sie nie mehr irgendjemand ablehnen.«

»Warum wollen Sie mich denn heiraten, Omar?«, fragte sie.

Das Wunderkind stand auf und schob die Hände in die Taschen.

»Weil ich Sie liebe, Marcia Meadow.«

Und das war der Moment, wo sie aufhörte, Omar zu ihm zu sagen.

»Mein lieber Junge«, sagte sie, »weißt du, irgendwie lieb ich dich ja auch. Du hast so was – ich weiß nich, was das is – aber immer, wenn du in der Nähe bist, hab ich das Gefühl, mein Herz wird durch ’ne Wringmaschine durchgedreht. Aber, Süßer –« Sie hielt inne.

»Was aber?«

»Viel aber. Aber du bist erst achtzehn, und ich bin schon beinah zwanzig.«

»Unsinn!«, fiel er ihr ins Wort. »Sieh es doch mal so: Ich bin im neunzehnten Lebensjahr, und du bist neunzehn. Wir sind also ganz nah beisammen – die bewussten zehntausend Jahre mal außer Acht gelassen.«

Marcia lachte.

»Es gibt aber noch mehr ›Abers‹. Deine Leute –«

»Meine Leute!«, brauste das Wunderkind auf. »Meine Leute haben nichts unversucht gelassen, um ein monströses Scheusal aus mir zu machen.« Sein Gesicht verfärbte sich hochrot, so ungeheuerlich war das, was er ihr noch weiter zu erwidern hatte: »Meine Leute, die können mir mal im Mondschein begegnen!«

»Herr im Himmel!«, rief Marcia erschrocken. »Im Mondschein? Mitten in der finstren Nacht?«

»Ja doch, und von mir aus sogar ohne Mondschein«, bekräftigte er, immer noch ganz außer sich. »Ich darf gar nicht daran denken – die haben wirklich und wahrhaftig zugesehen, wie aus mir so eine vertrocknete kleine Mumie wurde –«

»Eine vertrocknete kleine Mumie? Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte Marcia leise. »Wegen mir –?«

»Ja. Seit ich dich getroffen habe, bin ich eifersüchtig auf all die Menschen da draußen auf der Straße, weil die schon vor mir wussten, was Liebe ist. Ich habe immer nur ›geschlechtlicher Impuls‹ dazu gesagt. Mein Gott!«

»Es gibt aber noch mehr ›Abers‹«, sagte Marcia.

»Und die wären?«

»Wovon sollen wir denn leben?«

»Ich verdiene unseren Lebensunterhalt.«

»Du gehst aufs College.«

»Glaubst du etwa, mir liegt irgendwas daran, meinen Magister zu machen?«

»Du willst lieber bei mir alle Magister ziehn, stümmt’s?«

»Ja! Was? Ich meine, nein!«

Marcia lachte, und dann ging sie schnell zu ihm hinüber und setzte sich auf seinen Schoß. Er nahm sie stürmisch in den Arm und pflanzte ihr ein verkümmertes Küsschen irgendwo neben den Hals.

»Du hast irgendwie so was Ahnungsloses an dir«, sinnierte Marcia, »obwohl das nich so richtig logisch klingt.«

»Ach, nun sei doch nicht so furchtbar vernünftig!«

»Da kann ich doch nüscht dafür«, sagte Marcia.

»Ich hasse Menschen, die wie Automaten sind!«

»Aber wir –«

»Ach, sei still!«

Und weil sie nicht mit den Ohren reden konnte, blieb Marcia gar nichts weiter übrig.

IV

 

Anfang Februar heirateten Horace und Marcia. In den akademischen Zirkeln sowohl von Princeton als auch von Harvard war das eine ausgemachte Sensation. Horace Tarbox, den die Sonntagsbeilagen der New Yorker Zeitungen schon mit vierzehn hochgejubelt hatten, warf einfach seine ganze Karriere über den Haufen, seine Chance, eine weltweite Autorität auf dem Gebiet der amerikanischen Philosophie zu werden, und heiratete eine kleine Ballettratte – aus Marcia machten sie eine Ballettratte. Doch wie alle modernen Märchen, so war auch dies nur ein Viereinhalbtagewunder.

Die zwei bezogen eine Wohnung in Harlem. Nach zweiwöchiger Suche, in deren Verlauf seine Vorstellungen vom Wert einer akademischen Bildung gnadenlos dahinschwanden, nahm Horace einen Posten als Angestellter bei einer südamerikanischen Exportfirma an; irgendjemand hatte ihm gesagt, Export sei das Geschäft der Zukunft. Marcia sollte noch ein paar Monate weiter bei ihrer Show mitmachen, bloß so lange, bis er richtig Fuß gefasst hatte. Für den Anfang kriegte er hundertfünfundzwanzig, und obwohl man ihm erklärte, es sei bloß eine Frage von ein paar Monaten, bis er das Doppelte verdienen würde, dachte Marcia nicht im Traum daran, die hundertfünfzig pro Woche sausenzulassen, die sie zu dieser Zeit bekam.

»Weißt du, Lieber«, sagte sie sanft, »wir nenn’ uns einfach ›Kopf & Schultern‹, und die Schultern müssen sich eben noch ’n Weilchen weiter schütteln, bis der olle Kopf wieder zum Zuge kommt.«

»Ich hasse das«, maulte er düster.

»Tja«, erwiderte sie unumwunden, »dein Gehalt langt aber nichma für die Miete. Büld dir man bloß nich ein, ich bin drauf scharf, mein Publikum zu ham – ganz würklich nicht. Ich will nur dir gehören. Aber ich werd doch nich so blöd sein und zu Hause sitzen und auf der Tapete die Sonnenblumen zählen, derweil ich auf dich warte. Sieh zu, dass du denen dreihundert die Woche ausm Kreuz leierst, dann hör ich sofort auf.«

Und sosehr die Angelegenheit auch seinen Stolz verletzte, so musste Horace doch zugeben, dass Marcias Kurs gescheiter war als seiner.

Der Märzschnee schmolz, es wurde April. Der Mai las den Parks und Gewässern von Manhattan eine gewaltige Umsturzerklärung vor, und unsere beiden waren glücklich miteinander. Horace, der keinerlei Gewohnheiten hatte – er hatte ja nie Zeit gehabt, welche zu entwickeln –, erwies sich als ungemein anpassungsfähiger Ehemann, und da Marcia zu den Themen, die seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, keinerlei eigene Ansichten hatte, gab es so gut wie keine Reibereien und Zusammenstöße. Ihr Denken bewegte sich in ganz verschiedenen Sphären. Marcia spielte die Rolle des praktischen Faktotums, und Horace lebte entweder in seiner alten Welt der abstrakten Ideen oder aber in einer Art triumphal-irdischer Anbetung und Bewunderung seiner Frau. Mit der Frische und Originalität ihres Geistes, ihrer dynamischen Energie, ihrem klaren Kopf und ihrer nie versiegenden guten Laune war sie ihm eine unerschöpfliche Quelle fortwährenden Erstaunens.

Ihre Kollegen von der Einundzwanzig-Uhr-Show, auf die Marcia ihre Talente verlegt hatte, beeindruckte sie mit ihrem unerhörten Stolz auf die Geistesgaben ihres Gatten. Horace indes kannten sie nur als einen sehr schlaksigen, verkniffen dreinschauenden, unreif aussehenden jungen Mann, der seine Frau nach jeder Vorstellung abholen kam.

»Horace«, sagte Marcia eines Abends, als sie sich wie üblich um dreiundzwanzig Uhr vorm Theater auf der Straße trafen, »du siehst ja aus wie ein Gespenst hier unter den Laternen. Hast du abgenommen?«

Er schüttelte zerstreut den Kopf.

»Weiß ich nicht. Ich krieg ab heute hundertfünfunddreißig Dollar, und –«

»Das is mir schnuppe«, sagte Marcia streng. »Du bringst dich noch mal um mit deine Nachtarbeit. Andauernd liest du diese ganzen dicken Bücher über Ökomonie –«

»Ökonomie«, verbesserte Horace.

»Ja doch, jede Nacht liest du da drin, wenn ich schon lange schlafe. Und du gehst auch schon wieder so nach vorne gebeugt, wie früher, eh wir geheiratet ham.«

»Aber Marcia, ich muss doch –«

»Nein, musst du ganich, Lieber. Vorläufig bin ich ja wohl hier die Seele vons Ganze, und ich werd nich zulassen, dass mein Schatz sich die Gesundheit ruiniert und die Augen verdirbt. Du musst ’n bisschen Sport treiben.«

»Mach ich doch. Ich mache jeden Morgen –«

»Weiß ich ja! Aber deine komischen Hanteln, die reißen’s einfach nich raus. Ich meine richtig Sport. Du musst dich in ’nem Turnverein anmelden. Weißt du denn nicht mehr? Du hast mir doch selber erzählt, was du früher mal für ’n Turn-Ass warst, aufm College wollten sie dich sogar in ihre Riege aufnehmen, aber da is dann doch nüscht draus geworden, weil du schon ’n Dauer-Rendezvous mit Herb Spencer hattest, stümmt’s?«

»Stimmt, Freude hat’s mir damals schon gemacht«, sinnierte Horace, »inzwischen wär mir aber meine Zeit zu schade.«

»Na gut«, sagte Marcia, »wir machen ein Geschäft. Wenn du in ’n Turnverein gehst, dann lese ich das eine Buch da oben aus der braunen Reihe.«

»Das Tagebuch von Samuel Pepys? Ach ja, das müsste dir eigentlich gefallen. Pepys ist auch wirklich leicht zu lesen.«

»Aber nicht für mich – für mich bestümmt nicht. Für mich ist das so ungefähr, wie wenn ich Flachglas kaue. Aber du sagst ja immer, das würde meinen Horizont erweitern. Also, du gehst ab jetzt dreimal die Woche in den Turnverein, und ich, ich führe mir ’ne dicke Dosis Sammy zu Gemüte.«

Horace zögerte.

»Hm –«

»Na, nu komm schon! Du machst mir zuliebe ’n paar Riesenumschwünge, und ich, ich hole dir zuliebe ’n bisschen bei die kulturelle Büldung auf.«

Und so gab Horace schließlich nach und ging den ganzen glühend heißen Sommer lang drei und mitunter sogar vier Abende die Woche in Skipper’s Turnhalle, um am Schaukelreck zu üben. Und im August gestand er Marcia, dass er dadurch besser in der Lage sei, tagsüber geistig zu arbeiten.

»Mens sana in corpore sano«, sagte er.

»Glaub da bloß nich dran«, entgegnete Marcia. »Ich hab ’n paar von diesen Wundermittelchen probiert, taugt alles nüscht. Geh du mal lieber weiter turnen.«

Eines Abends Anfang September, er ging gerade eine seiner Verrenkungen an den Ringen noch einmal durch, sprach ihn in der fast leeren Turnhalle ein dicker, nachdenklicher Mann an, der ihn, wie ihm nicht entgangen war, schon seit einer ganzen Weile Abend für Abend beobachtet hatte.

»Hömma, mein Junge, kannze vülleicht die Nummer von gestern Abend nochma machn?«

Horace grinste aus luftiger Höhe zu ihm hinab.

»Die hab ich mir selbst ausgedacht«, sagte er. »Auf die Idee hat mich Euklid gebracht mit seinem vierten Satz.«

»Bei was für ’n Zirkus is ’n der?«

»Der ist tot.«

»Ach was? Hat sich bestümmt ’n Hals gebrochen bei die Nummer, hä? Wie ich gestern Abend hier zugekuckt hab, wo du das schomma gemacht hast, da hab ich richtig Angst gehabt, du brechst dir auch gleich das Genick.«

»So hier!«, sagte Horace, schwang sich aufs Reck und wiederholte die Übung.

»Geht das nich mächtig über die Muskulatur im Nacken und die Schultern?«

»Anfangs schon, aber binnen einer Woche hab ich das quod erat demonstrandum druntergeschrieben.«

»Hm!«

Horace schaukelte träge am Trapez.

»Schomma dran gedacht, das Ganze professionell zu betreiben?«, fragte der Dicke.

»Ich doch nicht.«

»Is gutes Geld drin, wennze sich so ’ne Nummern zutraun und da nich bei draufgehn.«

»Hier hab ich noch eine«, zwitscherte Horace eifrig, und dem Dicken fiel buchstäblich der Unterkiefer runter, als er sah, wie dieser Prometheus im rosa Trikot die Götter und Isaac Newton versuchte.

Als Horace einen Abend nach dieser Begegnung von der Arbeit nach Hause kam, lag Marcia kreidebleich auf dem Sofa und wartete auf ihn.

»Ich bin heute zweimal ohnmächtig geworden«, empfing sie ihn ohne große Vorrede.

»Was?«

»Jawoll. Und noch vier Monate, dann is das Baby fällig, verstehst du? Der Doktor meint, ich hätt schon vor zwei Wochen aufhören müssen zu tanzen.«

Horace setzte sich hin und überlegte.

»Ich freue mich natürlich«, sagte er nachdenklich, »ich meine, ich freue mich, dass wir ein Baby bekommen. Aber das bedeutet ja auch eine Menge Ausgaben.«

»Ich hab zweihundertfünfzig auf der Bank«, sagte Marcia zuversichtlich, »und zwei Wochengagen hab ich noch zu kriegen.«

Horace addierte schnell.

»Und dazu mein Gehalt, das heißt, wir haben beinah vierzehnhundert für das nächste halbe Jahr.«

Marcia zog ein enttäuschtes Gesicht.

»Was denn, mehr nich? Ich könnt natürlich diesen Monat noch irgendwo als Sängerin was machen. Und ab März kann ich ja wieder arbeiten.«

»Nichts da, das kommt gar nicht in Frage!«, erwiderte Horace empört. »Du bleibst schön hier. Lass doch mal überlegen – also, da wären die Arztrechnungen, und ein Kindermädchen, neben der Putzfrau. Irgendwie brauchen wir ein bisschen mehr Geld.«

»Tja«, sagte Marcia verdrossen, »ich weiß nich, wo’s herkommen soll. Dann ist jetzt eben mal der olle Kopf dran. Die Schultern könn’ vorläufig nicht. Die sind vorübergehend außer Betrieb, die Schultern.«

Horace stand auf und zog sich seinen Mantel an.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich habe eine Idee«, antwortete er. »Bin bald wieder da.«

Als er zehn Minuten später auf dem Weg zu Skipper’s Turnhalle eilig die Straße entlanglief, erfüllte ihn ob dessen, was er sich da vorgenommen hatte, denn doch ein leises, von Humor vollkommen ungetrübtes Staunen. Wie würde er sich noch vor einem Jahr über sich selbst gewundert haben! Wer aber, wenn das Leben an die Türe klopft, herein sagt, holt sich eine Menge Dinge mit ins Haus.

Die Turnhalle war hell erleuchtet, und als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, entdeckte er den Dicken, der auf einem Stapel Segeltuchmatten saß und eine mächtige Zigarre rauchte. »Sagen Sie mal«, fing Horace ohne Umschweife an, »Sie haben doch gestern Abend gesagt, ich könnte mit den Übungen am Reck mein Geld verdienen. War das ernst gemeint?«

»Ja, klar«, sagte der Dicke erstaunt.

»Na ja, ich hab mir die Sache nämlich noch mal überlegt, also ich würde es ganz gerne mal probieren, glaub ich. Ich könnte jeden Abend arbeiten und samstags immer am Nachmittag – und zwar regelmäßig, wenn das Geld stimmt.«

Der Dicke sah auf seine Armbanduhr.

»Ach so?«, sagte er. »Na, da musste ma mit Charlie Paulson drüber reden. Wenn der sieht, was du draufhast, biste in vier Tagen engagiert. Heute kommta nich mehr rüber, aber ich werd ma sehn, dass ich ’n morgen Abend abpassen kann.«

Der Dicke hielt Wort. Charlie Paulson kam tatsächlich am folgenden Abend und sah eine Stunde lang starr vor Staunen zu, wie das Wunderkind in den sonderbarsten Parabeln durch die Luft flog, und am nächsten Abend brachte er noch zwei hochgewachsene Männer mit, die so aussahen, als hätten sie schon im Mutterleib schwarze Zigarren geraucht und ebenso leise wie leidenschaftlich über Geld geredet. Und dann, am Samstag darauf, präsentierte Horace Tarbox seinen Torso zum allerersten Mal für Geld, nämlich beim großen Schaukampf der Turner in den Coleman Street Gardens. Und obwohl beinah fünftausend Zuschauer gekommen waren, war Horace kein bisschen aufgeregt. Schließlich hatte er schon als Kind vor Publikum vortragen müssen und hatte früh gelernt, sich nicht verrückt zu machen.

»Hör mal, Marcia«, sagte er später am Abend fröhlich zu seiner Frau, »ich glaube, wir sind aus dem Schneider. Paulson meint, ich könnte mein Debüt im Hippodrom machen, und das heißt, ich wäre für den ganzen Winter engagiert. Weißt du, das Hippodrom, das ist so ein großer –«

»Ja, ja, davon hab ich, glaub ich, schon mal was gehört«, unterbrach ihn Marcia, »aber ich will wissen, was das für eine Nummer is, die du da machst. Das is doch wohl kein sensationeller öffentlicher Selbstmord, oder?«

»Nein, nein«, beruhigte Horace sie. »Aber wenn dir eine Methode einfällt, wie man sich noch schöner umbringen kann, als indem man für dich sein Leben riskiert, dann sag Bescheid, weil, dann wär das die Art, wie ich gern sterben möchte.«

Marcia stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihm die Arme um den Hals.

»Küss mich«, flüsterte sie, »und sag ›liebes Herz‹ zu mir. Ich hör’s so gerne, wenn du ›liebes Herz‹ zu mir sagst. Und bring mir morgen ein Buch mit, dass ich was zu lesen hab. Aber keinen Sam Pepys mehr, sondern so ’n schönen ollen Schmöker. Ich bin heut schon den ganzen Tag so richtig wild drauf, irgendwas zu machen. Ich hatte solche Lust, Briefe zu schreiben, aber dann is mir eingefallen, ich hab ja gar niemand, an den ich schreiben kann.«

»Schreib doch an mich«, sagte Horace. »Ich lese sie bestimmt.«

»Ach, wenn ich das doch könnte«, seufzte Marcia. »Wenn ich doch nur genügend Wörter kennen würde, dann tät ich dir den längsten Brief der Welt schreiben – und dabei niemals müde werden.«

Aber nach zwei Monaten wurde Marcia dann doch müde, sehr müde sogar, und der junge Athlet, der Abend für Abend im Hippodrom vor die Menge trat, sah eine Zeitlang sehr bekümmert und erschöpft aus. Dann kamen zwei Tage, an denen ihn ein junger Mann ersetzte, der anstatt in Weiß in Hellblau auftrat und nur sehr wenig Beifall erhielt. Doch nach diesen beiden Tagen war Horace zurück, und den Leuten auf den vorderen Plätzen fiel auf, dass der junge Akrobat selbst noch bei dem sensationellen, weltweit einzigartigen Schulterschwung, bei dem er atemlos in der Luft herumwirbelte, förmlich zu strahlen schien vor lauter Glück. Und nach der Vorstellung lachte er dem Fahrstuhlführer ins Gesicht und rannte, immer fünf Stufen auf einmal, die Treppen zu seiner Wohnung hinauf – um dann auf Zehenspitzen und ganz behutsam in ein stilles Zimmer einzutreten.

»Marcia«, flüsterte er.

»Hallo!« Sie lächelte matt zu ihm empor. »Horace, kannste mir mal ’n Gefallen tun? Schau doch mal in der obersten Schublade von meim Sekretär nach, da findest du ’n dicken Stapel Papier. Das ist ’n Buch – na ja, oder jedenfalls so was Ähnliches – Horace. Das habe ich geschrieben, ganz alleine, die letzten drei Monate, wo ich im Bett bleiben musste. Ob du das vielleicht zu Peter Boyce Wendell bringen könntest, der damals meinen Brief in seiner Zeitung abgedruckt hat? Der kann dir sagen, ob’s was taugt. Ich hab genauso geschrieben, wie ich rede, genauso wie in dem Brief an ihn. Es is einfach ’ne Geschichte über ’ne Menge Sachen, die mir passiert sind. Würdest du ihm das bitte bringen, Horace?«

»Ja, Liebling.«

Er beugte sich über das Bett, bis sein Kopf das Kopfkissen berührte und neben ihrem lag, und strich ihr zärtlich das strohblonde Haar zurück.

»Liebste Marcia«, sagte er sanft.

»Nein«, murmelte sie, »nicht so, du weißt doch, wie du zu mir sagen sollst.«

»Liebes Herz«, flüsterte er leidenschaftlich, »liebstes, liebstes Herz.«

»Was wollen wir ihr denn für einen Namen geben?«

Sie lagen einen Augenblick in schweigendem, glückstrunkenem Einverständnis, während Horace überlegte.

»Marcia Hume Tarbox soll sie heißen«, sagte er nach einer Weile.

»Und wieso Hume?«

»Weil das der Name von dem Burschen ist, der uns zwei zusammengebracht hat.«

»Ach so?«, murmelte sie in schläfriger Verwunderung. »Ich dachte immer, der hieß Moon.«

Dann fielen ihr die Augen zu, und im nächsten Moment verrieten die sanften Wellenbewegungen der Bettdecke über ihrer Brust, dass sie eingeschlafen war.

Auf Zehenspitzen ging Horace hinüber zu dem Sekretär, zog die oberste Schublade auf und fand dort einen Stapel eng bekritzelter, teils verwischter Bleistiftseiten. Er schaute sich das erste Blatt an:

SANDRA PEPYS, MIT SYNKOPEN
VON MARCIA TARBOX

Er lächelte. Hatte Samuel Pepys sie also doch beeindruckt. Er blätterte weiter und begann zu lesen. Sein Lächeln wurde breiter – er las weiter. Nach einer halben Stunde merkte er, dass Marcia aufgewacht war und ihn vom Bett aus beobachtete.

»Süßer«, hörte er sie flüstern.

»Was denn, Marcia?«

»Gefällt’s dir?«

Horace hustete.

»Sonst würde ich doch nicht weiterlesen, oder? Es ist brillant.«

»Bring es zu Peter Boyce Wendell. Sag, dass du früher in Princeton nur die besten Noten hattest und ganz genau weißt, ob ’n Buch was taugt. Sag ihm, das da is Spitzenklasse.«

»Ist gut, Marcia«, sagte Horace liebevoll.

Ihre Augen fielen wieder zu, Horace kam zurück, er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, blieb einen Moment bei ihr stehen und betrachtete sie voll zärtlicher Ergriffenheit. Dann ging er aus dem Zimmer.

Die ganze Nacht lang tanzten ihm die kritzelige Handschrift, die zahllosen Rechtschreib- und Grammatikfehler und die eigenwillige Interpunktion vor den Augen herum. Ein ums andere Mal fuhr er aus dem Schlaf hoch und wurde überrollt von Wogen eines wirren Mitgefühls mit diesem Drang, sich in Worten auszudrücken, der Marcias Seele erfasst hatte. Das alles hatte etwas ungemein Anrührendes, und zum ersten Mal seit Monaten wälzte er in Gedanken wieder seine eigenen, halb vergessenen Träume.

Eigentlich hatte er vorgehabt, eine ganze Serie von Büchern zu schreiben, mit denen er den Neurealismus populär machen wollte, genauso wie Schopenhauer den Pessimismus bekannt gemacht hatte und William James den Pragmatismus.

Aber das Leben war andere Wege gegangen. Das Leben schnappt sich seine Leute und bringt sie dazu, an irgendwelchen Ringen durch die Luft zu fliegen. Er dachte an das Klopfen an seiner Tür, die schimmernde Gestalt in Hume, an Marcias angedrohten Kuss.

»Und das bin alles ich«, sagte er verwundert vor sich hin, während er schlaflos im Dunkeln lag. »Ich bin es, der in Berkeley saß und die Kühnheit hatte, sich zu fragen, ob das Klopfen wirklich existiert hätte, wenn mein Ohr nicht da gewesen wäre, es zu hören. Ich bin immer noch derselbe. Ich könnte auf den elektrischen Stuhl kommen für die Verbrechen, die der, der ich damals war, begangen hat. Arme, zarte Seelen, die wir sind, versuchen wir, uns auszudrücken in irgendeiner Form, die für uns fassbar ist – Marcia in diesem Buch, das sie geschriebenen hat, und ich in meinen ungeschriebenen Büchern –, versuchen wir, die Form zu finden, die uns entspricht, und dann zu nehmen, was wir kriegen können – und damit froh zu werden.«

V

 

Sandra Pepys, In Synkopen, erschien zunächst mit einer Einführung des bekannten Kolumnisten Peter Boyce Wendell in Jordan’s Magazine als Fortsetzungsroman und kam im März auch in Buchform heraus. Gleich von der ersten Folge an stieß die Geschichte auf breites Interesse. Ein ausgesprochen abgedroschenes Thema – junges Mädchen aus einer Kleinstadt in New Jersey kommt nach New York und will zum Theater –, simple Komposition, jedoch eigenwillige, sehr lebendige Formulierungen und, bei aller Unzulänglichkeit des Vokabulars, ein berückend trauriger Unterton – kurzum, eine Mischung, die einfach unwiderstehlich war.

Peter Boyce Wendell, der seinerzeit zufällig gerade für die Bereicherung der amerikanischen Sprache mittels sofortiger Einverleibung ausdrucksstarker Wörter aus dem Jargon der einfachen Leute eintrat, gab sich öffentlich als Befürworter zu erkennen und knallte den blassen Langweilern von der konventionellen Literaturkritik sein Plazet vor den Latz.

Jordan’s Magazine zahlte Marcia 300 Dollar je Folge, was sehr gelegen kam, denn obwohl Horace’ Monatseinkommen am Hippodrom mittlerweile weit über allem lag, was Marcia je verdient hatte, fuhr die kleine Marcia fort, ihre gellenden Schreie auszustoßen, was die jungen Eltern als eine Forderung nach frischer Landluft deuteten. Und so bezogen sie denn Anfang April ein Häuschen in Westchester County mit genügend Platz für einen Rasen und genügend Platz für eine Garage und genügend Platz für alles andere, einschließlich eines schalldichten, komplett abgeschotteten Arbeitszimmers, in das sich Marcia, wie sie Mr. Jordan in gutem Glauben versprach, einschließen wollte, um weitere unsterbliche literarische Kostbarkeiten für die ungebildeten Stände zu verfassen, sobald die Bedürfnisse ihrer Tochter abflauen würden.

»Läuft doch gar nicht schlecht«, sinnierte Horace eines Nachts auf dem Weg vom Bahnhof zu seinem Haus. Er dachte über verschiedene Perspektiven nach, die sich gerade eröffnet hatten; da war zum einen ein fünfstelliges Angebot über vier Monate bei einem Vaudeville-Theater, zum anderen die Chance, nach Princeton zurückzugehen und Cheftrainer der dortigen Turnerriege zu werden. Komisch! Früher hatte Horace den Plan gehabt, irgendwann einmal dorthin zurückzukehren und Chef der Philosophischen Fakultät zu werden, und heute interessierte es ihn nicht die Bohne, dass Anton Laurier, sein einstiges Idol, in New York eingetroffen war.

Heiser knirschte unter seinem Absatz der Kies. Er sah Licht im Wohnzimmer, und auf der Auffahrt parkte ein dicker Schlitten. Sicher wieder Mr. Jordan, der Marcia überreden wollte, sich endlich an die Arbeit zu machen.

Sie hatte ihn kommen hören; ihre Silhouette hob sich von der erhellten Haustür ab, als sie heraustrat, um ihn zu begrüßen.

»Du, da drinne, da sitzt so ’n Franzose«, flüsterte sie aufgeregt. »Den Namen kann ich nich aussprechen, klingt aber schrecklich tiefsinnig. Wirst wohl ’n bisschen mit ihm quatschen müssen.«

»Was denn für ein Franzose?«

»Was weiß ich? Er is vor ’ner Stunde hier vorgefahren, zusamm’ mit Mr. Jordan, und hat gesagt, er möchte Sandra Pepys kennenlernen und so weiter und so fort.«

Als sie eintraten, erhoben sich zwei Männer aus ihren Sesseln.

»Hallo, Tarbox«, sagte Jordan. »Grade hab ich zwei berühmte Leute miteinander bekannt gemacht. Ich hab M’sieur Laurier mitgebracht. Darf ich vorstellen, M’sieur Laurier – Mr. Tarbox, der Mann von Mrs. Tarbox.«

»Doch nicht Anton Laurier!«, rief Horace aus.

»Aber ja. Isch ’abe gemüsst kommen. Isch ’abe kein andere Wahl. Isch las die Buch von Madame und bin ganz bezaubert« – er kramte in seiner Jacketttasche –, »ah, isch auch gelesen über Sie. In diese Zeitüng von ’eute, da steht auch Ihre Name, Monsieur.«

Er holte einen ausgerissenen Zeitungsartikel hervor.

»Lesen Sie!«, sagte er eifrig. »Da steht auch etwas über Sie.«

Horace überflog die Seite.

»Ein herausragender Beitrag zur amerikanischen Jargonliteratur«, stand da. »Gerade der Verzicht auf einen hohen literarischen Ton macht die Qualität dieses Buches aus, ähnlich wie seinerzeit bei Huckleberry Finn.«

Horace’ Blick blieb an einer Passage etwas weiter unten hängen. Völlig entgeistert las er hastig weiter:

»Dem Theater ist Marcia Tarbox nicht allein als Zuschauerin verbunden, sondern auch als Gattin eines Darstellers. Letztes Jahr heiratete sie Horace Tarbox, der mit seinen wunderbaren Kunststücken an den Ringen Abend für Abend im Hippodrom die Kinder mitreißt. Wie zu hören ist, bezeichnen sich die beiden gern als ›Kopf & Schultern‹, was sich zweifellos darauf bezieht, dass Mrs. Tarbox die literarischen und geistigen Fähigkeiten einbringt, während ihr geschmeidiger, beweglicher Gatte vornehmlich mit der Kraft seiner Schultern seinen Teil zum Einkommen der Familie beisteuert.

Es spricht alles dafür, dass die Bezeichnung ›Wunderkind‹, mit der so häufig Schindluder getrieben wird, auf Mrs. Tarbox wirklich zutrifft. Gerade einmal zwanzig –«

Horace hörte auf zu lesen, er sah Anton Laurier unverwandt an, und sein Blick war äußerst sonderbar.

»Ich will Ihnen einen guten Rat geben –«, begann er heiser.

»Was?«

»Wenn es klopft. Sagen Sie nicht herein! Lassen Sie es ruhig klopfen – schaffen Sie sich eine gepolsterte Tür an.«

Winterträume
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