Ein Diamant – so groß wie das Ritz
I
John T. Unger stammte aus einer Familie, die in Hades – einer Kleinstadt am Mississippi – seit Generationen wohlbekannt war. Johns Vater hatte den hart umkämpften Titel des Amateurgolfmeisters in zahlreichen Wettspielen verteidigt, Mrs. Unger war, »so weit die Sonne scheint«, wie man dort sagte, für ihre politischen Reden bekannt, und der junge John T. Unger, der gerade sechzehn geworden war, hatte schon alle neuen Tänze aus New York getanzt, noch bevor er lange Hosen trug. Jetzt sollte er das Haus für eine bestimmte Zeit verlassen. Seine Eltern hatten große Hochachtung vor einer schulischen Ausbildung in Neuengland – der Fluch aller Provinzstädte, der diese alljährlich ihrer vielversprechendsten jungen Männer beraubte. Keine andere als die St. Midas’ School bei Boston durfte es sein. Hades war einfach zu klein für ihren geliebten, talentierten Sohn.
Nun bedeuten in Hades – wie Sie wissen, falls Sie einmal dort gewesen sind – die Namen der teuren Schulen und Colleges sehr wenig. Die Einwohner sind der Welt schon so lange entrückt, dass sie, obgleich sie so tun, als seien sie in Fragen der Mode, der Umgangsformen und des Literaturgeschmacks durchaus auf dem Laufenden, weitgehend auf Hörensagen angewiesen sind, und ein gesellschaftliches Ereignis, das man in Hades glanzvoll fand, hätte eine Steakkönigin aus Chicago zweifellos als »na ja, ein bisschen provinziell« bezeichnet.
Es war der Abend von John T. Ungers Abreise. Mrs. Unger packte in törichter mütterlicher Sorge Leinenanzüge und elektrische Ventilatoren in die Koffer, und Mr. Unger überreichte seinem Sohn eine prall gefüllte Brieftasche aus Asbest.
»Du weißt, dass du hier immer willkommen bist«, sagte er. »Du kannst sicher sein, dass wir das heimische Feuer in Gang halten werden, mein Sohn.«
»Ich weiß«, antwortete John mit belegter Stimme.
»Vergiss nicht, wer du bist und woher du kommst«, fuhr sein Vater stolz fort, »dann kann dir nichts geschehen. Du bist ein Unger – aus Hades.«
Und so schüttelten der alte und der junge Mann einander die Hand, und als John sich zum Gehen wandte, rannen ihm die Tränen über die Wangen. Zehn Minuten später hatte er die Stadtgrenze erreicht, blieb stehen und sah sich ein letztes Mal um. Das altmodische viktorianische Motto über dem Tor übte zum ersten Mal einen eigenartigen Reiz auf ihn aus. Immer wieder hatte sein Vater versucht, es durch ein zuversichtlicheres, schwungvolleres ersetzen zu lassen, zum Beispiel durch »Hades – Ihre Chance« oder ein schlichtes »Willkommen« über einem aus Glühbirnen bestehenden Bild eines herzhaften Händedrucks. Das alte Motto sei ein bisschen deprimierend, hatte Mr. Unger gesagt, doch nun…
John nahm das alles noch einmal in sich auf und setzte dann mit entschlossener Miene seine Reise fort. Und als er sich abwandte, schienen die Lichter von Hades den Nachthimmel mit einer warmen, leidenschaftlichen Schönheit zu durchdringen.
Die Fahrt von Boston zur St. Midas’ School dauert in einem Rolls-Pierce eine halbe Stunde. Die tatsächliche Entfernung wird sich nie ermitteln lassen, denn außer John T. Unger ist niemals jemand in einem anderen Fahrzeug als einem Rolls-Pierce dort eingetroffen, und vermutlich wird das auch nie wieder vorkommen. St. Midas’ ist die teuerste und exklusivste Jungenschule der Welt.
Johns erste beiden Jahre vergingen recht angenehm. Die Väter seiner Mitschüler waren allesamt Finanzmagnaten, und John verbrachte die Sommerferien als ihr Gast in teuren Urlaubsorten. Die Freunde, die er besuchte, mochte er sehr, und er wunderte sich in seiner jungenhaften Art oft darüber, dass ihre Väter allesamt aus demselben Holz geschnitzt zu sein schienen. Wenn er sagte, woher er stammte, fragten sie jovial: »Ganz schön heiß da unten, was?«, und dann zwang sich John zu einem angedeuteten Lächeln und erwiderte: »Das kann man wohl sagen.« Seine Antwort wäre munterer ausgefallen, wenn er nicht immer denselben Witz zu hören bekommen hätte, allenfalls noch die Variante: »Und – finden Sie es heiß genug da unten?«, die er ebenfalls hasste.
In Johns zweitem Schuljahr wurde ein stiller, gutaussehender Junge namens Percy Washington in seine Klasse aufgenommen. Der Neue hatte angenehme Umgangsformen und war selbst für die dortigen Verhältnisse außerordentlich gut gekleidet, doch aus irgendeinem Grund hielt er sich auf Distanz zu den anderen Jungen. Der Einzige, mit dem er sich anfreundete, war John T. Unger, aber auch diesem erzählte er kein Wort über sein Elternhaus oder seine Familie.
Dass er reich war, verstand sich von selbst, doch abgesehen von derlei Rückschlüssen wusste John kaum etwas von seinem Freund, und daher versprach dessen Vorschlag, John solle doch den Sommer auf dem Familienbesitz der Washingtons »im Westen« verbringen, die angenehmste Befriedigung seiner Neugier. Er nahm die Einladung ohne Zögern an.
Als sie im Zug saßen, wurde Percy zum ersten Mal recht mitteilsam. Eines Tages, als sie im Speisewagen zu Mittag aßen und über die charakterlichen Mängel einiger Mitschüler sprachen, machte Percy unvermittelt und in verändertem Ton eine Bemerkung.
»Mein Vater«, sagte er, »ist der bei weitem reichste Mann der Welt.«
»Ach«, sagte John höflich. Ihm fiel keine Antwort auf diese vertrauliche Aussage ein. Er erwog »Das ist schön«, doch das klang hohl, und er hätte beinahe »Wirklich?« gesagt, tat es dann aber doch nicht, denn es hätte den Anschein erwecken können, als zweifle er Percys Behauptung an. Und eine derart erstaunliche Behauptung konnte man ja wohl nicht anzweifeln.
»Der bei weitem reichste«, wiederholte Percy.
»Ich habe kürzlich im World Almanac gelesen«, begann John, »dass es in Amerika einen Mann gibt, der mehr als fünf Millionen im Jahr verdient, und vier, die über drei Millionen im Jahr verdienen, und –«
»Ach, die sind gar nichts.« Percys Mund war ein Halbmond der Verachtung. »Zwergkapitalisten, Kleingeldsammler, Krämer und Geldverleiher. Mein Vater könnte sie aufkaufen und würde es nicht mal merken.«
»Aber wie kommt es –«
»Dass da nicht stand, wie viel Einkommensteuer er zahlt? Weil er keine zahlt. Oder jedenfalls nur ganz wenig. Auf sein wirkliches Einkommen zahlt er keine Steuer.«
»Er muss sehr reich sein«, sagte John nur. »Das freut mich. Ich mag sehr reiche Leute. Je reicher einer ist, desto mehr mag ich ihn.« Auf seinem dunklen Gesicht lag ein Ausdruck leidenschaftlicher Aufrichtigkeit. »An Ostern hab ich die Schnlitzer-Murphys besucht. Vivian Schnlitzer-Murphy besitzt Rubine, so groß wie Hühnereier, und Saphire, die wie von innen beleuchtete Globen aussehen –«
»Ich liebe Edelsteine«, stimmte Percy ihm begeistert zu. »Ich will natürlich nicht, dass sich das an der Schule herumspricht, aber ich habe eine ganz hübsche Kollektion. Ich habe sie früher anstelle von Briefmarken gesammelt.«
»Und Diamanten«, fuhr John eifrig fort. »Die Schnlitzer-Murphys haben Diamanten, so groß wie Walnüsse –«
»Das ist nichts.« Percy beugte sich vor und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Das ist gar nichts. Mein Vater hat einen Diamanten, der ist größer als das Ritz-Carlton-Hotel.«
II
Die Sonne, die über Montana unterging, lag zwischen zwei Bergen wie ein gewaltiger Bluterguss, von dem sich dunkle Arterien über einen vergifteten Himmel ausbreiteten. Eine immense Weite lastete auf dem Dorf Fish – es war winzig, trostlos und vergessen. In Fish, hieß es, lebten zwölf Männer, zwölf düstere, unergründliche Männer, die eine dünne Milch aus den beinahe buchstäblich nackten Felsen sogen, auf denen eine geheimnisvolle bevölkernde Kraft sie gezeugt hatte. Sie waren zu einer besonderen Rasse geworden, diese zwölf Männer, als wären sie einer bereits lange vergangenen Laune der Natur entsprungen, dann aber sich selbst überlassen und dem Kampf ums Überleben und schließlich der Auslöschung anheimgegeben worden.
Aus dem fernen blauschwarzen Bluterguss kroch eine lange Reihe Lichter über das wüste Land, und die zwölf Männer von Fish versammelten sich wie Geister an dem heruntergekommen Bahnhof, um den 7-Uhr-Zug, den Transkontinentalexpress aus Chicago, vorbeifahren zu sehen. Aufgrund eines unerforschlichen Ratschlusses hielt der Transkontinentalexpress etwa sechsmal im Jahr in Fish, und dann entstiegen dem Zug ein, zwei Gestalten, setzten sich in einen einspännigen Wagen, der stets aus dem dämmrigen Zwielicht auftauchte, und entschwanden in Richtung der sich ergießenden untergehenden Sonne. Die Beobachtung dieses absurden Phänomens war für die Männer von Fish zu einer Art Kult geworden. Sie wollten es lediglich betrachten; keiner von ihnen verfügte über die Einbildungskraft, die ihn befähigt hätte, zu staunen oder zu spekulieren, sonst wäre aus diesen mysteriösen Besuchen eine Religion entstanden. Doch die Männer von Fish waren jenseits aller Religion – nicht einmal die rudimentärsten, primitivsten Sätze des christlichen Glaubens vermochten auf diesen nackten Felsen Fuß zu fassen –, und so gab es keinen Altar, keinen Priester, kein Opfer, sondern nur eine Gemeinde, die sich täglich um sieben Uhr zu einem schwachen, blutarmen Gebet an dem windschiefen Bahnhof einfand.
Der Große Bremser, den sie, wären sie dazu imstande gewesen, wohl zu ihrem himmlischen Hauptgott erhoben hätten, hatte an diesem Juniabend verfügt, dass der 7-Uhr-Zug seine menschliche (oder nichtmenschliche) Fracht in Fish abladen sollte. Um zwei Minuten nach sieben entstiegen Percy Washington und John T. Unger dem Zug, eilten unter den staunenden, gebannten, ängstlichen Blicken der zwölf Männer von Fish zu dem Einspänner, der scheinbar aus dem Nichts erschienen war, und fuhren davon.
Nach einer halben Stunde, als die Dämmerung zu Nacht geronnen war, sah der Neger auf dem Kutschbock in der Dunkelheit vor ihnen einen schwarzen Umriss und stieß einen Ruf aus, worauf ein rundes Licht aufleuchtete und sie aus der undurchdringlichen Finsternis wie ein böses Auge musterte. Als sie sich näherten, sah John, dass es sich um das Rücklicht einer Limousine handelte – sie war größer und prächtiger als alle, die er je gesehen hatte. Ihre Karosserie bestand aus einem schimmernden Metall, edler als Nickel und heller als Silber, und die Radnaben waren mit grün und gelb glitzernden geometrischen Mustern verziert – John wagte nicht zu raten, ob es sich um buntes Glas oder Juwelen handelte.
Zwei Neger in tressenbesetzten Livreen, wie man sie von Bildern königlicher Auftritte in London kennt, standen in Habachtstellung neben dem Automobil, und als die beiden jungen Männer aus dem Einspänner stiegen, wurden sie in einer Sprache begrüßt, die der Gast nicht verstand, die aber eine extreme Form des Dialekts zu sein schien, den die Neger in den Südstaaten sprachen.
»Steig ein«, sagte Percy zu seinem Freund, während ihre Koffer auf den elfenbeinernen Dachgepäckträger geladen wurden. »Tut mir leid, dass du so weit mit dem Pferdewagen fahren musstest, aber es wäre nicht gut, wenn die Leute im Zug oder diese gottverlassenen Burschen in Fish dieses Automobil sehen würden.«
»Donnerwetter! Was für ein Wagen!« Dieser Ausruf bezog sich auf das Innere der Limousine. John sah, dass die Bespannung der Polster aus einem mit zahllosen winzigen, zarten Seidenbildern durchwirkten und überdies mit Juwelen bestickten Goldstoff bestand. Die beiden jungen Männer ließen sich in Armsessel sinken, deren Polster mit einem Stoff bezogen waren, der an Duvetin erinnerte, in Wirklichkeit aber aus dem in mannigfachen Tönen gefärbten Flaum von Straußenfedern bestand.
»Was für ein Wagen!«, staunte John noch einmal.
»Das Ding hier?« Percy lachte. »Das ist doch bloß eine alte Karre. Wir benützen ihn als Lieferwagen.«
Inzwischen glitten sie durch die Dunkelheit auf den Einschnitt zwischen den Bergen zu.
»In eineinhalb Stunden sind wir da«, sagte Percy mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich sag’s dir lieber gleich: Es ist anders als alles, was du je gesehen hast.«
Wenn der Wagen ein Vorgeschmack auf das war, was John zu sehen bekommen würde, durfte er gespannt sein. Der erste Artikel des in Hades vorherrschenden schlichten Verhaltenskodex fordert die aufrichtige, respektvolle Verehrung von Reichtum – hätte John sich ihm anders genähert als in froher Demut, so hätten seine Eltern sich, entsetzt ob dieser Lästerung, von ihm abgewendet.
Sie hatten den Einschnitt zwischen den Bergen erreicht. Sogleich wurde der Weg erheblich holpriger.
»Wenn das Mondlicht bis hier herunterscheinen würde, könntest du sehen, dass wir durch ein breites ausgetrocknetes Flussbett fahren«, sagte Percy und spähte aus dem Fenster. Er sagte etwas in eine Sprechmuschel. Unverzüglich schaltete einer der Diener einen Scheinwerfer an, dessen gewaltiger Strahl über die Landschaft strich.
»Steinig, wie du siehst. Ein gewöhnlicher Wagen wäre nach einer halben Stunde nur noch Schrott. Wenn man den Weg nicht genau kennt, kommt man eigentlich nur mit einem Panzer durch. Jetzt fahren wir in die Berge.«
Tatsächlich ging es immer weiter hinauf, und nach wenigen Minuten hatten sie eine Anhöhe erreicht und sahen in der Ferne den soeben aufgegangenen bleichen Mond. Der Wagen blieb unvermittelt stehen, und rechts und links tauchten Gestalten aus dem Dunkel auf. Auch sie waren Neger und begrüßten die beiden jungen Männer in demselben kaum verständlichen Dialekt. Dann befestigten sie vier dicke, von irgendwo herabhängende Seile an den Naben der großen, juwelengeschmückten Räder. Ein »He-jaa!« erklang, und John spürte, dass der Wagen langsam abhob und höher und höher hinaufschwebte, höher noch als die Felsen rechts und links, bis man in ein sanft gewelltes, mondbeschienenes Tal sehen konnte – ein scharfer Kontrast zu der Steinwüste, die sie hinter sich gelassen hatten. Nur zu einer Seite befand sich noch eine Felswand, und dann verschwand auch sie.
Offenbar hatten sie eine gewaltige, senkrecht aufragende Messerklinge aus Stein überquert. Schon senkten sie sich wieder hinab und setzten schließlich mit einem sanften Ruck auf.
»Das Schlimmste haben wir hinter uns«, sagte Percy und sah mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster. »Jetzt sind es nur noch fünf Meilen, und zwar auf unserer eigenen Straße aus bunt glasierten Backsteinen. Das alles gehört uns. Vater sagt, hier sind die Vereinigten Staaten zu Ende.«
»Sind wir in Kanada?«
»Nein. Wir sind mitten in den Bergen von Montana. Aber du befindest dich auf den einzigen dreizehn Quadratkilometern amerikanischem Land, die niemals vermessen worden sind.«
»Warum nicht? Hat man es vergessen?«
»Nein«, sagte Percy grinsend, »sie haben es dreimal versucht. Beim ersten Mal hat mein Großvater eine ganze Abteilung des staatlichen Vermessungsdienstes bestochen; beim zweiten Mal hat er an den amtlichen topografischen Karten kleine Veränderungen vornehmen lassen – das hat sie fünfzehn Jahre ferngehalten. Beim letzten Mal war es schwieriger. Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ihre Kompasse in das stärkste jemals künstlich erzeugte Magnetfeld geraten sind. Er hat einen vollständigen Satz leicht fehlerhafter Vermessungswerkzeuge und Theodolite herstellen und mit den Instrumenten des Vermessungstrupps vertauschen lassen, so dass dieses Land nicht erfasst wurde. Dann hat er den Fluss umgeleitet und an seinem Ufer so etwas wie eine Siedlung bauen lassen, damit die Vermesser dachten, es sei ein Dorf, das in Wirklichkeit zehn Meilen weiter das Tal hinauf steht. Es gibt nur eines, das mein Vater fürchtet«, schloss er, »das Einzige, womit man uns finden könnte.«
»Und das wäre?«
Percy senkte die Stimme zu einem Flüstern.
»Flugzeuge«, hauchte er. »Wir haben ein halbes Dutzend Flugabwehrkanonen, und bislang haben wir es immer ganz gut hingekriegt – auch wenn es ein paar Tote und viele Gefangene gegeben hat. Nicht dass das für Vater oder mich eine große Rolle spielen würde, aber Mutter und die Mädchen regen sich dann immer so auf, und es könnte ja sein, dass wir es eines Tages nicht so gut hinkriegen.«
Streifen und Fetzen aus Chinchilla, Zierwölkchen am Himmel, zogen am grünen Mond vorbei wie kostbare fernöstliche Stoffe, die einem Tatarenkhan zur Begutachtung präsentiert wurden. John stellte sich vor, es wäre heller Tag und er sähe über sich ein paar Flieger, die Flugblätter oder Werbezettel für irgendein Wundermittel abwarfen und so einen Hoffnungsschimmer in trostlose, von Bergen umschlossene Siedlungen brachten. Es schien ihm, als würde er selbst aus den Wolken hinabsehen und erspähen, was immer es in diesem Ort, auf den er sich zubewegte, zu erspähen gab. Und dann? Wurden die Piloten durch einen heimtückischen Trick verleitet zu landen, um dann, fern aller Wundermittel und Flugblätter, bis zum Jüngsten Tag eingesperrt zu werden? Oder ließ sie, sollten sie nicht in die Falle gehen, ein von einem Rauchwölkchen begleitetes Splittergeschoss auf die Erde stürzen – was Percys Mutter und Schwestern »aufregte«? John schüttelte den Kopf, und seinem Mund entschlüpfte das lautlose Gespenst eines hohlen Lachens. Welche verwegenen Unternehmungen verbargen sich hier? Welches unmoralische Vorgehen eines bizarren Krösus? Welche schrecklichen, goldenen Geheimnisse?…
Die Chinchillawolken waren nun weitergezogen, und der Nachthimmel über Montana war taghell. Der Wagen fuhr am Ufer eines stillen, mondbeschienenen Sees entlang und rollte auf seinen großen Reifen glatt über die glasierten Backsteine. Für einen Augenblick tauchten sie in Dunkelheit ein und durchquerten einen kühlen, duftenden Kiefernhain, dann öffnete sich vor ihnen eine weite Rasenfläche, und Johns Ausruf der Freude erklang gleichzeitig mit Percys lakonischer Bemerkung: »Wir sind da.«
Im Sternenlicht erhob sich am Seeufer ein ausnehmend schönes Château, erklomm in marmornem Leuchten die halbe Flanke des aufragenden Berges und verschmolz in Grazie, in vollkommener Symmetrie, in durchscheinender femininer Mattigkeit mit der dunklen Masse eines Kiefernwaldes. Die vielen Türme, die schlanken Linien der Treppengeländer, das aus Stein gemeißelte Wunder tausend gelber Fenster mit ihren Dreiecken, Rechtecken, Vielecken, die gebrochene Zartheit der sich schneidenden Bahnen von Sternenlicht und bläulichen Schatten, all das brachte Johns Geist in Schwingung wie ein Musikakkord. An einem der Türme, dem höchsten, dessen Fuß auch der dunkelste war, erzeugte eine kunstvoll an der Spitze angebrachte Beleuchtung den Eindruck einer Art schwebender Feenwelt – und während John in angenehmer Verzauberung hinaufblickte, trieb der leise, schmelzende Klang von Violinen an sein Ohr, eine Rokokomusik, die schöner war als alles, was er je gehört hatte. Gleich darauf hielt der Wagen vor einer hohen, breiten Freitreppe aus Marmor, wo die Nachtluft mit dem Duft zahlloser Blumen getränkt war. Zwei große Türen am Kopf der Treppe schwangen auf, und in dem bernsteinfarbenen Licht, das in die Dunkelheit flutete, hob sich die Silhouette einer sehr eleganten Dame mit schwarzem, aufgestecktem Haar ab, die sie mit ausgebreiteten Armen empfing.
»Mutter«, sagte Percy, »das ist mein Freund John Unger aus Hades.«
In Johns Erinnerung war dieser erste Abend ein Taumel aus vielen Farben, aus rasch aufeinanderfolgenden sinnlichen Eindrücken, aus Musik, so sanft wie die Stimme einer Liebenden, und der ausgesuchten Schönheit von Dingen, von Licht und Schatten, von Gesichtern und Bewegungen. Da stand ein weißhaariger Mann, der ein bunt schillerndes Getränk aus einem kleinen Kristallglas mit langem goldenem Stiel trank. Da war eine junge Frau mit einem Blumengesicht, die wie eine Titania gekleidet war und Saphire in ihr Haar geflochten hatte. Es gab einen Raum, dessen Wände aus purem, weichem Gold dem Druck seiner Hand nachgaben, und einen anderen, der der platonischen Vorstellung des vollendeten Gefängnisses entsprach: Boden, Wände und Decke waren dicht an dicht mit Diamanten in jeder Größe und Form besetzt – von großen violetten Lampen in den Ecken beleuchtet, blendeten die Steine das Auge mit einem weißen Glanz, der nur mit der reinen Essenz des Lichtes selbst vergleichbar war und jeden menschlichen Wunsch oder Traum überstieg.
Durch ein Labyrinth solcher Räume schlenderten die beiden jungen Männer. Zuweilen ließ eine unter dem Boden angebrachte Beleuchtung diesen in Mustern aus wild widerstreitenden Farben oder pastellener Zartheit erstrahlen, dann wieder schimmerte er in reinstem Weiß oder zeigte feine, verschlungene Mosaiken, die gewiss aus einer Moschee am adriatischen Meer stammten. Manchmal sah John unter einer Schicht von Kristallen blau oder grün wirbelndes Wasser, in dem sich Fische tummelten und Pflanzen in allen Farben des Regenbogens wucherten. Anderswo schritten sie über Felle aller Farben und Beschaffenheiten oder gingen durch Korridore aus blassem, fugenlosem Elfenbein, so dass es schien, als wären diese aus den gewaltigen Stoßzähnen von Dinosauriern geschnitzt, die lange vor dem Aufstieg des Menschen ausgestorben waren…
Dann ein Übergang, an den er sich später nur verschwommen erinnerte, und sie nahmen zum Abendessen Platz. Jeder Teller bestand aus zwei hauchdünnen Lagen aus Diamant, in die ein filigranes Muster aus Smaragden eingebettet war – zarte, aus grüner Luft geschnittene Scheibchen. Aus fernen Korridoren erklang unaufdringliche Musik, und als John das erste Glas Portwein trank, schien der mit Federpolstern versehene Stuhl, dessen Lehne sich auf das angenehmste an seinen Rücken schmiegte, ihn zu umfangen und zu überwältigen. Benommen versuchte er, eine Frage zu beantworten, doch der Luxus, der ihn umgab, verstärkte die Illusion, er befinde sich in einem Traum – die kostbaren Juwelen, Stoffe, Weine und Metalle verschwammen vor seinen Augen zu einem angenehmen Nebel…
»Ja«, raffte er sich höflich auf zu sagen, »ich finde es dort unten allerdings heiß genug.«
Es gelang ihm noch, ein gespenstisches Lachen hinzuzusetzen, dann schien er ohne jede Regung, ohne jeden Widerstand davonzuschweben, fort von dem gekühlten Dessert, das so rosarot war wie ein Traum… Er schlief ein.
Als er erwachte, wusste er, dass mehrere Stunden vergangen waren. Er befand sich in einem großen, stillen, mit Ebenholz getäfelten Raum, dessen Beleuchtung zu schwach, zu unaufdringlich war, um die Bezeichnung Licht zu verdienen. Sein junger Gastgeber stand neben seinem Lager.
»Du bist beim Abendessen eingeschlafen«, sagte Percy, »und ich beinahe ebenfalls – es ist einfach zu schön, es nach einem Jahr Schule mal wieder bequem zu haben. Diener haben dich entkleidet und gebadet, während du schliefst.«
»Ist das ein Bett oder eine Wolke?«, seufzte John. »Percy, Percy, bevor du gehst, muss ich mich entschuldigen.«
»Wofür?«
»Dafür, dass ich an deinen Worten gezweifelt habe, als du gesagt hast, ihr hättet einen Diamanten, größer als das Ritz-Carlton-Hotel.«
Percy lächelte.
»Ja, ich dachte schon, dass du mir nicht glaubst. Es ist dieser Berg, musst du wissen.«
»Was für ein Berg?«
»Der Berg, auf dem das Château steht. Für einen Berg ist er nicht sonderlich groß, aber bis auf eine fünfzehn Meter dicke Schicht aus Stein und Erde, die ihn bedeckt, besteht er aus einem Diamanten. Aus einem einzigen, eine Kubikmeile großen, lupenreinen Diamanten. Hörst du mir zu? Sag mal –«
Doch John T. Unger war bereits wieder eingeschlafen.
III
Morgen. Als er erwachte, stellte er, noch vom Schlaf umflort, fest, dass der Raum sich im selben Augenblick mit Sonnenlicht füllte. Die Ebenholzpaneele der einen Wand waren auf Schienen beiseitegeglitten, so dass das Tageslicht hereinströmte. Ein hochgewachsener Neger in einer weißen Livree stand neben Johns Bett.
»Guten Abend«, murmelte John und mühte sich, seine Gedanken, die sich noch an wilden Orten herumtrieben, zu sammeln.
»Guten Morgen, Sir. Wäre Ihnen ein Bad recht, Sir? Nein, stehen Sie nicht auf – ich kümmere mich um alles. Wenn Sie nur den Schlafanzug aufknöpfen würden. Danke, Sir.«
John lag da und ließ sich den Schlafanzug ausziehen – er war amüsiert und entzückt, denn er erwartete, von diesem schwarzen Gargantua wie ein Kind aufgehoben und getragen zu werden, doch nichts dergleichen geschah. Statt dessen spürte er, dass das Bett sich langsam neigte – er rollte, zunächst erschrocken, in Richtung der Wand, wo sich ein Vorhang öffnete. Über eine etwa zwei Meter lange flauschige Rampe glitt er sanft in ein Becken voll Wasser, das genau Körpertemperatur hatte.
Er sah sich um. Die Rampe oder Rutsche war wieder eingefahren. Er befand sich in einem anderen Raum, in einer im Fußboden versenkten Wanne. Alle Wände sowie die Seiten und der Boden der Wanne bestanden aus Glas, und dahinter war eine blaue Aquarienwelt. Beleuchtet von warmem, bernsteinfarbenem Licht schwammen Fische umher und strichen ohne jede Neugier an seinen ausgestreckten Zehen vorbei, von denen sie lediglich durch das Glas getrennt waren. Durch meergrüne Fenster in der Decke schien die Sonne.
»Ich nehme an, Sir, Ihnen wäre heute Morgen warmes Rosenwasser mit Schaumzusatz recht, Sir – und als Abschluss vielleicht kaltes Salzwasser.«
Der Neger stand neben ihm.
»Ja«, sagte John mit einem geistlosen Lächeln, »wie Sie meinen.« Jeder Gedanke daran, das Bad nach seinen eigenen bescheidenen Ansprüchen zu bestellen, wäre ihm irgendwie pedantisch und zugleich ein wenig gemein erschienen.
Der Neger drückte auf einen Knopf, und sogleich fiel – scheinbar von der Decke – ein warmer Regen. In Wirklichkeit strömte das Wasser, wie John rasch feststellte, aus Düsen, die sich neben der Wanne befanden. Es nahm eine zartrosa Tönung an, und flüssige Seife spritzte aus vier Miniaturwalrossköpfen, die an den Ecken der Wanne montiert waren. Ein Dutzend in die Seiten der Wanne eingelassene Schaufelräder schlugen einen rosaroten Schaum, der John in köstlichen Wolken umfing. Hier und da platzten schimmernde, duftende Blasen.
»Soll ich den Filmprojektor einschalten, Sir?«, erkundigte sich der Neger ehrerbietig. »Eine kurze Komödie befindet sich bereits im Apparat – ich kann aber auch einen ernsteren Film einlegen, wenn Sie es wünschen, Sir.«
»Nein, danke«, antwortete John höflich, aber entschieden. Er genoss das Bad so sehr, dass er keinen Wunsch nach Ablenkung verspürte. Die gab es dennoch: Mit einem Mal erklang in unmittelbarer Nähe eine Flötenmusik, eine Melodie wie ein Wasserfall, so kühl und grün wie der Raum selbst, und die erste Stimme wurde von einer Pikkoloflöte gespielt, deren Töne zarter zu sein schienen als die Seifenblasen, die John einhüllten und umschmeichelten.
Nach einem abschließenden kalten Salzwasserguss stieg er aus der Wanne und zog einen flauschigen Bademantel an. Dann legte er sich auf eine mit demselben Material bezogene Liege und wurde mit Öl, Alkohol und duftenden Essenzen eingerieben. Anschließend nahm er in einem weich gepolsterten Sessel Platz und ließ sich rasieren und die Haare schneiden.
»Mr. Percy erwartet Sie in Ihrem Salon, Sir«, sagte der Neger, als die Prozedur beendet war. »Mein Name ist Gygsum, Mr. Unger, Sir. Ich werde Mr. Unger jeden Morgen zur Verfügung stehen.«
John trat in den hellen Sonnenschein, der seinen Salon durchflutete. Dort stand ein Frühstück für ihn bereit, und Percy, der modische Knickerbocker aus weißem Glacéleder trug, saß in einem Sessel und rauchte.
IV
Den folgenden kurzen Abriss der Geschichte der Familie Washington erzählte Percy seinem Freund beim Frühstück.
Der Vater des gegenwärtigen Mr. Washington stammte aus Virginia und war ein direkter Nachfahre von George Washington und Lord Baltimore. Am Ende des Bürgerkrieges war er ein fünfundzwanzigjähriger Oberst mit einer zerstörten Plantage und etwa tausend Golddollar.
Fitz-Norman Culpepper Washington – so der Name des jungen Obersten – beschloss, die Plantage seinem jüngeren Bruder zu überschreiben und nach Westen zu ziehen. Er wählte zwei Dutzend seiner treuesten Schwarzen aus, die ihn selbstverständlich tief verehrten, kaufte fünfundzwanzig Fahrscheine und fuhr gen Westen, wo er in ihrem Namen Land in Besitz nehmen und Rinder- und Schafzucht betreiben wollte.
Er war noch keinen Monat in Montana, und die Dinge entwickelten sich alles andere als erfreulich, als er seine große Entdeckung machte. Er hatte sich in den Bergen verirrt, und nachdem er einen ganzen Tag lang nichts gegessen hatte, wurde er hungrig. Da er kein Gewehr mitgenommen hatte, war er gezwungen, ein Erdhörnchen zu verfolgen, und dabei bemerkte er, dass das Tier etwas Schimmerndes im Maul trug. Kurz bevor es in seiner Höhle verschwand – die Vorsehung wollte offenbar nicht, dass es zur Stillung menschlichen Hungers diente –, ließ es seine Last fallen. Als Fitz-Norman sich auf die Erde setzte, um die Situation zu überdenken, stach ihm ein Blitzen ins Auge. Zehn Sekunden später war sein Hunger verflogen und er selbst um hunderttausend Dollar reicher. Das Erdhörnchen, das sich zu seiner Verärgerung so beharrlich geweigert hatte, gegessen zu werden, hatte ihm einen großen, lupenreinen Diamanten geschenkt.
Spätabends kam er zurück ins Lager, und zwölf Stunden später waren alle männlichen Schwarzen bei der Erdhörnchenhöhle und gruben wie verrückt. Er sagte ihnen, er habe ein Bergkristallvorkommen entdeckt, und da lediglich einer oder zwei von ihnen jemals auch nur einen kleinen Diamanten gesehen hatten, glaubten sie ihm aufs Wort. Als ihm die Größe seiner Entdeckung bewusst wurde, stand er vor einem Dilemma. Der Berg bestand tatsächlich aus Diamant – er war buchstäblich ein einziger riesiger Diamant. Fitz-Norman füllte vier Satteltaschen mit glitzernden Proben und ritt nach St. Paul. Dort gelang es ihm, ein halbes Dutzend kleinerer Steine zu verkaufen – als er es mit einem größeren versuchte, fiel der Juwelier in Ohnmacht, und Fitz-Norman wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen. Er floh aus dem Gefängnis und nahm den Zug nach New York, wo er einige mittelgroße Diamanten verkaufte und etwa zweihunderttausend Golddollar erlöste. Er wagte es jedoch nicht, irgendwelche wirklich außergewöhnlichen Steine anzubieten, ja es gelang ihm, New York gerade noch rechtzeitig wieder zu verlassen. Die Juweliere waren in heller Aufregung, nicht so sehr über die Größe der Diamanten als vielmehr über die Tatsache, dass ihre Herkunft so geheimnisumwittert war. Es gingen wilde Gerüchte um: Die neue Diamantenmine befinde sich in den Catskills, an der Küste von New Jersey, auf Long Island, unter dem Washington Square. Mit Spitzhacken und Schaufeln ausgerüstete Männer verließen in stündlich verkehrenden vollbesetzten Sonderzügen die Stadt, unterwegs zu dem erhofften nahe gelegenen El Dorado. Fitz-Norman war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder auf dem Weg nach Montana.
Zwei Wochen später hatte er festgestellt, dass der Diamant unter dem Berg etwa so groß war wie alle bislang geschürften Diamanten der Welt zusammengenommen. Sein Wert ließ sich nicht regulär berechnen, denn es handelte sich um einen einzigen Stein. Sollte er zum Kauf angeboten werden, würde nicht nur der Marktpreis für Diamanten ins Bodenlose fallen – nein, sofern der Wert in der üblichen Weise mit der Größe stieg, würde alles Gold der Welt nicht ausreichen, um auch nur ein Zehntel davon zu bezahlen. Und was sollte jemand mit einem Diamanten von dieser Größe anfangen?
Er befand sich in einer verblüffenden Lage. In gewisser Weise war er der reichste Mann, den die Welt je gesehen hatte, und doch: Besaß er überhaupt etwas? Wer konnte wissen, welche Schritte die Regierung unternehmen würde, um eine Panik auf dem Gold- und Edelsteinmarkt zu verhindern, wenn das Geheimnis ans Tageslicht kam? Womöglich würde sie sogleich Anspruch auf den Stein erheben und ein Monopol einführen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als seinen Berg geheim zu halten. Er schickte nach seinem jüngeren Bruder und übertrug ihm die Aufsicht über seine farbige Gefolgschaft – Schwarze, denen gar nicht zu Bewusstsein gekommen war, dass man die Sklaverei abgeschafft hatte. Damit es auch so blieb, las er ihnen eine selbst verfasste Proklamation vor, nach der General Forrest die versprengten Truppen des Südens gesammelt und die Nordstaaten in einer entscheidenden Schlacht besiegt hatte. Die Neger glaubten ihm. Nach kurzer Abstimmung verkündeten sie, das sei eine gute Sache, und hielten einen Erweckungsgottesdienst ab.
Fitz-Norman machte sich mit einhunderttausend Dollar und zwei großen Koffern voller Rohdiamanten in allen Größen auf die Reise ins Ausland. Auf einer chinesischen Dschunke segelte er nach Russland und traf sechs Monate nach seinem Aufbruch in Montana in St. Petersburg ein. Er stieg in einer unauffälligen Herberge ab, suchte sogleich den Hofjuwelier auf und verkündete, er habe einen Diamanten für den Zaren. Zwei Wochen blieb er in St. Petersburg, in ständiger Gefahr, ermordet zu werden. Mehrmals wechselte er sein Quartier, und in der ganzen Zeit wagte er sich nicht mehr als drei- oder viermal zu seinen Koffern.
Nachdem er versprochen hatte, in einem Jahr mit noch größeren und schöneren Steinen zurückzukehren, ließ man ihn nach Indien ausreisen. Zuvor allerdings hatte ihm der Hof fünfzehn Millionen Dollar auf amerikanische, unter vier verschiedenen Namen eröffnete Konten angewiesen.
1868 kehrte er nach Amerika zurück – er war etwas mehr als zwei Jahre fort gewesen, hatte die Hauptstädte von zweiundzwanzig Ländern aufgesucht, mit fünf Kaisern, elf Königen, drei Prinzen, einem Schah, einem Khan und einem Sultan gesprochen und schätzte sein Vermögen auf eine Milliarde Dollar. Eine Tatsache sprach nach wie vor gegen eine Enthüllung seines Geheimnisses: Jeder einzige seiner größeren Steine verfügte kaum eine Woche nach seiner Präsentation über eine Geschichte so vieler durch ihn verursachter Katastrophen, Liebesaffären, Revolutionen und Kriege, dass es für die Zeit vom babylonischen Reich bis zur Gegenwart gereicht hätte.
Von 1870 bis zu seinem Tod im Jahr 1900 war Fitz-Norman Washingtons Geschichte ein einziges langes, in Gold geschriebenes Epos, das natürlich über gewisse Seitenstränge verfügte: Er sabotierte die Vermessung des Landes, heiratete eine Frau aus Virginia, mit der er einen Sohn hatte, und war aufgrund einer Reihe unglücklicher Komplikationen gezwungen, seinen Bruder zu ermorden, dessen unglückselige Angewohnheit, sich in einen Zustand trüber Redseligkeit zu trinken, die Sicherheit des Unternehmens mehrmals gefährdet hatte. Nur wenige weitere Morde warfen einen Schatten über diese glücklichen Jahre des Fortschritts und der Expansion.
Kurz vor seinem Tod änderte er seine Politik und wendete bis auf ein paar Millionen Dollar sein gesamtes offizielles Vermögen auf, um große Mengen wertvoller Mineralien zu kaufen, die er dann, als billigen Plunder getarnt, in den Schließfächern von Banken in aller Welt verwahrte. Sein Sohn Braddock Tarleton Washington ging sogar noch einen Schritt weiter: Die Steine wurden gegen Radium, das wertvollste Mineral der Welt, eingetauscht, so dass der Gegenwert von einer Million Golddollar bequem in einem Behälter von der Größe einer Zigarrenkiste Platz hatte.
Drei Jahre nach Fitz-Normans Tod fand sein Sohn Braddock, das Geschäft sei nun weit genug gediehen. Der Geldwert der Steine, die sein Vater und er aus dem Berg zutage gefördert hatten, ließ sich nicht mehr genau beziffern. Er machte sich verschlüsselte Notizen über die ungefähre Menge des Radiums, das er in Tausenden von Banken in aller Welt deponiert hatte, und vermerkte die Decknamen, die er dabei verwendet hatte. Und dann tat er etwas ganz Einfaches: Er schloss die Mine.
Er schloss die Mine. Was er ihr entnommen hatte, würde allen zukünftigen Generationen von Washingtons ein Leben in unerhörtem Luxus ermöglichen. Seine einzige Sorge galt der Bewahrung seines Geheimnisses, denn die Panik, die bei einer Enthüllung möglicherweise ausbrechen würde, konnte ihn und die anderen Besitzenden in aller Welt in bitterste Armut stürzen.
Das also war die Familie, bei der John T. Unger zu Gast war. Und das war die Geschichte, die er am Morgen nach seiner Ankunft in seinem mit Silber ausgeschlagenen Salon hörte.
V
Nach dem Frühstück begab sich John zu dem großen Marmorportal und betrachtete neugierig die Szenerie, die sich ihm darbot. Das ganze Tal, vom Diamantberg bis zu den fünf Meilen entfernten schroffen Granitwänden, schien noch einen zarten goldenen Hauch zu verströmen, der reglos über den gepflegten Rasenflächen, Seen und Gärten hing. Hier und da bildeten Ulmen elegante, schattenspendende Haine und standen in seltsamem Kontrast zu den dichten Fichtenwäldern, welche die Berge in ihrem blaugrünen Griff hielten. John sah drei Rehe hintereinander aus einer etwa fünfhundert Meter entfernten Baumgruppe treten und mit staksiger Ausgelassenheit in den schwarz geäderten Halbschatten einer anderen eintauchen. Es hätte ihn nicht gewundert, eine bocksfüßige, flötenspielende Gestalt unter den Bäumen einhertanzen zu sehen oder zwischen den grünsten der grünen Blätter einen Blick auf eine rosige Nymphe mit hellblondem Haar zu erhaschen.
In dieser unbestimmten kühlen Hoffnung schlenderte er die marmornen Stufen hinunter, schreckte am Fuß der Treppe zwei seidige russische Windhunde aus dem Schlaf und machte einen Spaziergang auf einem Weg aus weißen und blauen Backsteinen, der in keine bestimmte Richtung zu führen schien.
Er genoss das alles, sosehr er nur konnte. Das Glück wie die Unzulänglichkeit der Jugend ist es, dass sie nie in der Gegenwart leben kann, sondern diese stets mit der Vorstellung einer leuchtenden Zukunft vergleichen muss – Blumen und Gold, Mädchen und Sterne sind lediglich Vorboten, Prophezeiungen jenes unvergleichlichen, unerreichbaren Traums, den die Jugend träumt.
John folgte einer sanften Biegung, wo dichte Rosenbüsche die Luft mit ihrem schweren Duft erfüllten, und ging durch den Park auf ein bemoostes Fleckchen unter ein paar Bäumen zu. Er hatte noch nie auf Moos gelegen und wollte wissen, ob es tatsächlich so weich war, wie es die Redensart wollte. In diesem Augenblick bemerkte er ein Mädchen, das über den Rasen auf ihn zukam – das schönste Geschöpf, das er je gesehen hatte.
Sie trug ein weißes Gewand, das gerade über die Knie reichte, und hatte das Haar mit einem von Saphirsplittern gehaltenen Resedenkranz aufgesteckt. Ihre nackten, rosigen Füße ließen Tautropfen aufstieben. Sie war jünger als John, nicht älter als sechzehn.
»Hallo«, rief sie verhalten. »Ich bin Kismine.«
Für John war sie bereits weit mehr als das. Er verlangsamte seine Schritte, um ihr nicht auf die nackten Füße zu treten.
»Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden«, sagte sie. Ihre blauen Augen fügten hinzu: »Und da ist dir eine Menge entgangen!« – »Gestern Abend hast du nur meine Schwester Jasmine kennengelernt. Mir war nicht gut – eine Salatvergiftung«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, und ihre Augen sagten: »Ich bin bezaubernd, wenn ich krank bin – und wenn ich gesund bin ebenfalls.«
»Ich bin unerhört beeindruckt«, sagten Johns Augen, »und auch nicht gerade langsam.« – »Hallo, wie geht’s?«, sagte er. »Ich hoffe, ein bisschen besser.« – »Du Süße«, fügten seine beseelten Augen hinzu.
John bemerkte jetzt, dass sie weiter dem Pfad folgten. Auf Kismines Vorschlag setzten sie sich auf das Moos, wobei John zu prüfen vergaß, wie weich es war.
Was Frauen betraf, so war er kritisch. Der kleinste Makel – ein dicker Knöchel, eine belegte Stimme, ein starrer Blick – genügte, um ihn vollkommen gleichgültig zu machen. Hier jedoch befand er sich zum ersten Mal in seinem Leben in Gesellschaft eines Mädchens, das ihm wie der Inbegriff körperlicher Perfektion erschien.
»Stammst du von der Ostküste?«, fragte Kismine.
Ihr Interesse bezauberte ihn.
»Nein«, antwortete er schlicht, »ich stamme aus Hades.«
Entweder hatte sie noch nie von einem Ort dieses Namens gehört, oder es fiel ihr keine verbindliche Erwiderung darauf ein – jedenfalls verfolgte sie das Thema nicht weiter.
»Ich werde im Herbst auf eine Schule im Osten gehen«, sagte sie. »Meinst du, es wird mir dort gefallen? Ich fahre nach New York zu Miss Bulge. Sie soll sehr streng sein, aber die Wochenenden werde ich bei meiner Familie in unserem New Yorker Haus verbringen. Vater hat nämlich erfahren, dass die Mädchen immer nur zu zweit ausgehen dürfen.«
»Dein Vater will, dass du stolz bist«, sagte John.
»Das sind wir auch«, antwortete sie, und ihre Augen glänzten würdevoll. »Keiner von uns ist je bestraft worden. Vater sagt, wir sollten niemals bestraft werden. Als meine Schwester Jasmine noch ein kleines Mädchen war, hat sie ihn mal eine Treppe hinuntergestoßen, und er ist einfach aufgestanden und weitergehumpelt.
Mutter war… nun ja, ein wenig überrascht«, fuhr Kismine fort, »als sie hörte, dass du aus… aus dem Ort stammst, aus dem du stammst. Sie sagte, dass sie als junges Mädchen… Aber sie ist spanischer Abstammung, musst du wissen, und sehr altmodisch.«
»Verbringt ihr viel Zeit hier?«, fragte John, um zu verbergen, dass ihre Bemerkung ihn ein wenig gekränkt hatte. Sie schien nicht sehr freundlich auf seine provinzielle Herkunft abzuzielen.
»Percy, Jasmine und ich sind jeden Sommer hier, aber nächstes Jahr wird Jasmine nach Newport fahren, und danach, im Herbst, wird sie in London in die Gesellschaft eingeführt. Sie wird bei Hof vorgestellt.«
»Weißt du eigentlich«, sagte John zögernd, »dass du viel weltgewandter bist, als ich zunächst gedacht habe?«
»Ach, nein, das bin ich nicht«, antwortete sie rasch. »Das will ich auch gar nicht sein. Weltgewandte junge Leute sind schrecklich gewöhnlich, findest du nicht auch? Nein, ich bin wirklich nicht weltgewandt. Und wenn du sagst, dass ich es doch bin, fange ich an zu weinen.«
Sie war so bekümmert, dass ihre Unterlippe bebte. John sah sich gezwungen zu sagen: »Ich habe es nicht so gemeint – ich wollte dich nur ein bisschen aufziehen.«
»Ich meine, es würde mir nichts ausmachen, wenn ich weltgewandt wäre«, fuhr sie fort, »aber ich bin es nicht. Ich bin ganz und gar mädchenhaft und unschuldig. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, und ich lese nichts anderes als Gedichte. Von Mathematik und Chemie weiß ich so gut wie nichts. Ich kleide mich sehr schlicht – eigentlich kann man kaum von Kleiden sprechen. Ich glaube, man kann mir wirklich nicht nachsagen, ich sei weltgewandt. Ich finde, Mädchen sollten ihre Jugend auf gesunde Art und Weise verbringen.«
»Das finde ich auch«, stimmte John aus vollem Herzen zu.
Kismine war wieder fröhlich. Sie lächelte ihn an, und eine stille Träne rann aus dem Winkel eines ihrer blauen Augen.
»Ich mag dich«, flüsterte sie ihm vertraulich zu. »Wirst du die ganze Zeit, die du hier bist, mit Percy verbringen, oder wirst du auch nett zu mir sein? Stell dir vor: Ich bin absolut unschuldig. Noch nie in meinem Leben war ein Junge in mich verliebt. Ich durfte bisher nicht mal mit einem Jungen allein sein – außer mit Percy, natürlich. Ich bin extra hierhergekommen, weil ich gehofft habe, dich irgendwo zu treffen, wo niemand sonst dabei sein würde.«
Sehr geschmeichelt machte John eine tiefe Verbeugung, wie er es in der Tanzschule in Hades gelernt hatte.
»Wir sollten lieber gehen«, sagte Kismine freundlich. »Ich muss um elf bei Mutter sein. Du hast mich nicht einmal um einen Kuss gebeten. Ich dachte, heutzutage hätten Jungen gar nichts anderes im Sinn.«
John richtete sich stolz auf.
»Manche vielleicht«, sagte er, »aber ich nicht. In Hades tun Mädchen so was nicht.«
Seite an Seite gingen sie zurück zum Château.
VI
Im vollen Sonnenschein stand John Mr. Braddock Washington gegenüber. Der Mann war um die vierzig und hatte ein stolzes, leeres Gesicht, intelligent blickende Augen und eine kräftige Statur. Morgens roch er nach Pferden – den besten Pferden. Er hielt einen schlichten Gehstock aus grauem Birkenholz in der Hand, dessen Griff aus einem großen Opal bestand. Er und Percy führten John herum.
»Hier sind die Sklaven untergebracht.« Er wies mit dem Stock auf einen klosterartigen Komplex aus Marmor zu ihrer Linken, der in elegantem gotischem Stil an der Bergflanke errichtet war. »In jungen Jahren habe ich mich durch einen absurden Idealismus von den wirklich wichtigen Dingen des Lebens ablenken lassen. Damals lebten die Sklaven in Luxus. So habe ich zum Beispiel jede Wohnung mit einem gekachelten Bad ausstatten lassen.«
»Ich nehme an«, sagte John mit einem schmeichlerischen Lächeln, »dass sie in den Badewannen ihre Kohlen gelagert haben. Mr. Schnlitzer-Murphy hat mir mal erzählt –«
»Die Ansichten von Mr. Schnlitzer-Murphy sind vermutlich nicht weiter berichtenswert«, unterbrach ihn Braddock Washington kühl. »Meine Sklaven haben in ihren Badewannen keine Kohlen aufbewahrt. Sie hatten Anweisung, täglich ein Bad zu nehmen, und daran haben sie sich auch gehalten, sonst hätte ich ihnen eine Behandlung mit Schwefelsäureshampoo verpassen lassen. Ich hatte andere Gründe, die Anordnung zu widerrufen: Mehrere von ihnen haben sich erkältet und sind gestorben. Für gewisse Rassen ist Wasser schädlich – es sei denn als Getränk.«
John lachte und beschloss, ihm mit einem nüchternen Nicken beizupflichten. In Braddock Washingtons Gesellschaft fühlte er sich unbehaglich.
»All diese Neger sind Nachkommen derjenigen, die mein Vater damals mitgebracht hat. Es sind inzwischen etwa zweihundertfünfzig. Sie sind schon so lange abgeschnitten vom Rest der Welt, dass ihr ursprünglicher Dialekt zu einer beinahe unverständlichen rudimentären Sprache degeneriert ist. Einigen von ihnen – meinem Sekretär und zwei, drei Haussklaven – bringen wir Englisch bei.
Und das ist der Golfplatz«, fuhr er fort, während sie über den samtigen Rasen schlenderten. »Es gibt nur Grüns – keine Fairways, keine Roughs, keine Hindernisse.«
Er lächelte John freundlich an.
»Sind viele Männer im Käfig, Vater?«, fragte Percy unvermittelt.
Braddock Washington strauchelte und fluchte unwillkürlich. »Einer weniger, als es sein sollten«, antwortete er düster. »Es gab Probleme.«
»Mutter hat mir davon erzählt«, sagte Percy. »Der Italienischlehrer –«
»Ein schrecklicher Fehler«, sagte Braddock Washington aufgebracht. »Aber es kann durchaus sein, dass wir ihn erwischt haben. Vielleicht ist er im Wald oder auf den Felsen gestürzt. Und sollte er es geschafft haben, besteht immer noch die Möglichkeit, dass man ihm seine Geschichte einfach nicht glaubt. Trotzdem habe ich zwei Dutzend Männer ausgeschickt, die in den umliegenden Siedlungen die Augen nach ihm offenhalten.«
»Und bisher ohne Erfolg?«
»Doch, ein wenig. Vierzehn von ihnen haben meinem Agenten berichtet, sie hätten einen Mann, auf den die Beschreibung passt, getötet, aber die wollten wahrscheinlich nur die Belohnung kassieren.«
Er hielt inne. Sie waren an einer tiefen Grube vom Durchmesser eines Karussells angelangt, die mit einem starken Eisengitter verschlossen war. Braddock Washington winkte John zu sich und wies mit dem Gehstock hinunter. John trat an den Rand und starrte hinab. Sogleich drang von unten wildes Geschrei an seine Ohren.
»Na, komm, steig runter in die Hölle!«
»He, Jungchen, wie ist die Luft da oben?«
»Wirf uns ein Seil runter!«
»Du hast nicht zufällig einen alten Donut, Kumpel, oder ein paar Sandwiches, die du nicht mehr brauchst?«
»Wenn du den Typen da mal eben runterschubsen würdest, könnten wir dir zeigen, was ein schneller Abgang ist.«
»Au ja, tu mir den Gefallen und hau ihm eine rein!«
In der Grube war es zu dunkel, als dass man etwas hätte erkennen können, doch der vierschrötige Optimismus und die robuste Vitalität der Stimmen und Bemerkungen verrieten John, dass es sich bei den Sprechern um Mittelschichtamerikaner der beherzteren Art handelte. Mr. Washington drückte mit dem Stock auf einen im Gras verborgenen Knopf, worauf Scheinwerfer aufflammten und die Szene dort unten beleuchteten.
»Das sind einige abenteuerlustige Burschen, die das Pech hatten, El Dorado zu entdecken«, bemerkte er.
Bei der Grube handelte es sich, wie man jetzt sehen konnte, um eine große, schüsselartige Vertiefung, deren steile Wände offenbar aus geschliffenem Glas bestanden, und auf dem leicht konkaven Boden standen etwa zwei Dutzend Männer, die in ihrer Pilotenkleidung halb uniformiert, halb kostümiert wirkten. Ihre himmelwärts gerichteten Gesichter waren erfüllt von Zorn, Bösartigkeit, Verzweiflung und Zynismus. Sie hatten lange Bärte, und bis auf einige wenige, die sichtlich abgezehrt waren, wirkten sie gesund und wohlgenährt.
Braddock Washington zog einen Gartenstuhl an den Rand der Grube und setzte sich.
»Na, Jungs, wie geht’s?«, erkundigte er sich leutselig.
Ein Chor, an dem sich alle außer den wenigen beteiligten, die zu demoralisiert waren, brüllte Verwünschungen in den Sommerhimmel, doch Braddock Washington blieb gelassen. Als das letzte Echo erstorben war, sagte er: »Ist euch etwas eingefallen, wie sich das Problem lösen ließe?«
Da und dort ertönte irgendeine Bemerkung.
»Wir haben beschlossen zu bleiben, weil’s uns hier so gut gefällt!«
»Lassen Sie uns raus, und wir werden einen Weg finden!«
Braddock Washington wartete, bis sie wieder verstummten. Dann sagte er: »Ich habe euch die Situation geschildert. Ich will euch hier nicht haben. Bei Gott, ich wollte, ich hätte euch nie gesehen. Eure eigene Neugier hat euch hierhergebracht, und wenn euch eine Lösung einfällt, die mich und meine Interessen schützt, werde ich sie mit Freuden in Erwägung ziehen. Aber solange ihr eure Energie darauf verschwendet, Tunnel zu graben – ja, ja, ich bin über euer neues Projekt informiert –, werdet ihr nicht sehr weit kommen. Das alles ist gar nicht so schlimm, wie ihr behauptet, trotz des Geheuls über eure Lieben daheim. Wenn ihr Männer wärt, denen die Lieben daheim am Herzen liegen, wärt ihr gar nicht erst Flieger geworden.«
Ein hochgewachsener Mann löste sich aus der Gruppe und hob die Hand, um den Mann, der ihn gefangen hielt, auf sich aufmerksam zu machen.
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen!«, rief er. »Sie tun so, als wären Sie ein anständiger, gerechter Mensch.«
»Absurd. Wie könnte ein Mann in meiner Position gegenüber Leuten wie euch anständig und gerecht sein? Das wäre ja gerade so, als würde man von einem Spanier erwarten, er solle seinem Steak gegenüber anständig und gerecht sein.«
Bei dieser groben Bemerkung verdüsterten sich die Mienen der zwei Dutzend Steaks, doch der hochgewachsene Mann fuhr fort: »Na gut. Darüber haben wir ja schon diskutiert. Sie sind kein Menschenfreund, und Sie sind nicht anständig und gerecht, aber Sie sind ein Mensch – jedenfalls behaupten Sie das –, und Sie sollten imstande sein, sich an unsere Stelle zu versetzen und zu sehen, wie… wie…«
»Nun?«, fragte Washington kalt.
»…wie unnötig –«
»Nicht für mich!«
»Dann eben: wie grausam –«
»Auch darüber haben wir schon gesprochen. Wo es um die Selbsterhaltung geht, ist Grausamkeit kein Kriterium. Das wisst ihr – ihr wart Soldaten. Du hast noch einen Versuch.«
»Na, dann eben: wie dumm.«
»Stimmt«, gab Washington zu. »Da habt ihr recht. Aber nennt mir eine Alternative. Ich habe euch angeboten, jeden, der es wünscht, schmerzlos töten zu lassen. Ich habe euch angeboten, eure Frauen, Liebsten, Kinder, Mütter entführen und hierherbringen zu lassen. Ich würde diese Grube vergrößern und ausbauen lassen und euch für den Rest eures Lebens kleiden und ernähren. Wenn es eine Methode gäbe, einen gezielten, dauerhaften Gedächtnisverlust herbeizuführen, würde ich euch allesamt dieser Prozedur unterziehen und irgendwo außerhalb meines Besitzes freilassen. Aber weiter sind meine Überlegungen nicht gediehen.«
»Wie wär’s, wenn Sie uns einfach vertrauen würden?«, rief einer.
»Das kann nicht euer Ernst sein«, erwiderte Washington verächtlich. »Ich habe einen von euch heraufgeholt, damit er meiner Tochter Italienisch beibringt. Vorige Woche ist er geflohen.«
Aus den Kehlen der zwei Dutzend Männer erhob sich ein wildes Jubelgeheul, sie gerieten in einen regelrechten Freudentaumel. In einer plötzlichen Aufwallung animalischer Energie tanzten und jauchzten die Gefangenen und begannen spielerisch miteinander zu ringen. Einige rannten sogar an den Glaswänden hinauf, so weit es ging, und rutschten wieder auf den Boden der Schüssel. Der hochgewachsene Mann stimmte ein Lied an, in das alle anderen einfielen:
»Ja, wir werd’n den Kaiser hängen,
An einem Apfelbaum…«
Braddock Washington saß in undurchdringlichem Schweigen da, bis das Lied zu Ende war.
»Ihr müsst wissen«, sagte er, als er endlich wieder ein Minimum an Aufmerksamkeit hatte, »dass ich keinen Groll gegen euch hege. Ich sehe es gern, wenn ihr euch amüsiert. Darum habe ich euch auch nicht gleich alles erzählt. Dieser Bursche – wie hieß er doch gleich? Critchtichiello? – ist von vierzehn meiner Agenten erschossen worden.«
Da die Männer nicht wussten, dass dies nur angeblich und an vierzehn verschiedenen Orten geschehen war, erstarb der Tumult augenblicklich.
»Aber«, rief Washington mit einem wütenden Unterton, »er hat versucht zu fliehen. Glaubt ihr vielleicht, dass ich mich nach einer solchen Erfahrung noch auf irgendwelche Experimente einlasse?«
Wieder ertönten Rufe.
»Na klar!«
»Vielleicht möchte Ihre Tochter Chinesisch lernen.«
»Ich kann auch Italienisch! Meine Mutter war aus Italien.«
»Vielleicht willse ja auch New Yorkisch lern’.«
»Wenn sie so eine kleine Blonde mit großen blauen Augen ist, kann ich ihr was Besseres beibringen als Italienisch.«
»Ich kenn’ ein paar irische Lieder, und früher war ich Messingschmied.«
Mr. Washington beugte sich unvermittelt vor und drückte mit seinem Stock auf den Knopf im Gras, worauf die Szenerie dort unten sogleich in Dunkelheit versank und nur der finster gähnende, mit den abstoßend schwarzen Zähnen des Gitters bedeckte Schlund zu sehen war.
»He!«, rief eine Stimme von unten. »Soll das heißen, Sie gehen, ohne uns Ihren Segen gegeben zu haben?«
Doch Mr. Washington war, gefolgt von den beiden Jungen, bereits unterwegs zum neunten Loch des Golfplatzes, als wären die Grube und ihr Inhalt nichts weiter als ein Golfhindernis, das er mit seinen Eisenschlägern mühelos überwunden hatte.
VII
Im Schatten des Diamantenberges war der Juli ein Monat voller kühler Nächte und warmer, sonnendurchfluteter Tage. John und Kismine waren verliebt. Er wusste nicht, dass der kleine goldene Fußball (mit der Gravur Pro Deo et patria et St. Mida), den er ihr geschenkt hatte, an einer Platinkette um ihren Hals hing. Doch da hing er. Und sie ihrerseits hatte keine Ahnung, dass John einen großen Saphir, der sich eines Tages aus ihrem schlichten Haarschmuck gelöst hatte, zärtlich in seiner Schmuckschatulle geborgen hatte.
Eines späten Nachmittags, als es im mit Rubinen und Hermelinpelzen versehenen Musikzimmer still war, verbrachten die beiden dort eine Stunde. John hielt Kismines Hand, und der Blick, den sie ihm schenkte, ließ ihn ihren Namen flüstern. Sie beugte sich zu ihm, zögerte dann aber.
»Hast du gerade ›Kismine‹ gesagt«, fragte sie leise, »oder…?«
Sie wollte sicher sein. Vielleicht hatte sie ihn ja falsch verstanden.
Weder sie noch er hatten je geküsst, doch nach einer Stunde war ihnen das nicht mehr anzumerken.
Der Nachmittag verging. Als am Abend die letzten Töne der Musik erstarben, die vom höchsten Turm erklang, lagen sie wach und durchträumten noch einmal die Minuten des Tages. Sie hatten beschlossen, so bald wie möglich zu heiraten.
VIII
Jeden Tag gingen Mr. Washington und die Jungen zum Fischen oder Jagen in den dichten Wald, spielten Golf auf dem einschläfernd unaufregenden Platz – wobei John so diplomatisch war, seinen Gastgeber gewinnen zu lassen – oder schwammen in dem kühlen Bergsee. John stellte fest, dass Mr. Washington ein recht schwieriger Mensch war und nur für seine eigenen Gedanken und Meinungen Interesse aufbrachte. Mrs. Washington wirkte stets reserviert und unbeteiligt. Ihre beiden Töchter schienen ihr gleichgültig zu sein; einzig Percy, mit dem sie bei Tisch lange Gespräche auf Spanisch führte, lag ihr am Herzen.
Jasmine, die ältere der Schwestern, ähnelte Kismine äußerlich – bis auf die Tatsache, dass sie leichte O-Beine und recht große Hände und Füße hatte –, besaß jedoch ein vollkommen anderes Temperament. Ihre Lieblingsbücher handelten von armen Mädchen, die ihrem verwitweten Vater den Haushalt führten. Von Kismine erfuhr John, dass Jasmine nie über den Schock und die Enttäuschung hinweggekommen war, die das Ende des Weltkrieges bedeutet hatte, da sie gerade im Begriff gewesen war, als Kantinenexpertin nach Europa zu reisen. Eine Zeitlang hatte sie sich so vor Kummer verzehrt, dass Braddock Washington erste Schritte unternommen hatte, einen neuen Krieg auf dem Balkan anzuzetteln, doch dann hatte sie ein Foto eines verwundeten serbischen Soldaten gesehen und das Interesse an der ganzen Sache verloren. Sowohl Percy als auch Jasmine schienen jedoch ihres Vaters Hochmut in seiner ganzen strengen Größe geerbt zu haben. Ein reiner, beständiger Egoismus durchzog wie ein eingewebtes Muster all ihre Gedanken.
John war verzaubert von den Wundern des Châteaus und des Tals. Braddock Washington, erzählte Percy, hatte einen Landschaftsgärtner, einen Architekten, einen Bühnenbildner sowie einen aus dem vergangenen Jahrhundert übriggebliebenen dekadenten französischen Dichter entführen lassen. Er unterstellte ihnen seine Sklaven, versicherte ihnen, sie könnten über alle Materialien verfügen, die es nur gab, und ließ sie Ideen entwickeln. Leider erwiesen sie sich allesamt als nutzlos. Der dekadente Dichter beklagte sogleich die Tatsache, dass er im Frühling nicht mehr auf den Boulevards schlendern konnte – er tat ein paar unbestimmte Äußerungen über Gewürze, Affen und Elfenbein, brachte aber nichts hervor, was von praktischem Nutzen gewesen wäre. Der Bühnenbildner wollte das ganze Tal in eine Szenerie aus optischen Täuschungen und spektakulären Effekten verwandeln, doch dessen wären die Washingtons wohl nur allzu bald überdrüssig geworden. Und die Pläne des Architekten und des Landschaftsgärtners bewegten sich stets innerhalb der Grenzen der Konvention: Dies oder das konnte nur so oder so gemacht werden.
Zumindest hatten sie schließlich das Problem gelöst, was mit ihnen geschehen sollte: Nachdem sie eine ganze Nacht in einem Raum verbracht und versucht hatten, sich auf die Platzierung eines Springbrunnens zu einigen, waren sie am Morgen allesamt verrückt geworden und führten nun ein beschauliches Leben in einer Heilanstalt in Westport, Connecticut.
»Aber«, erkundigte John sich neugierig, »wer hat dann all diese wunderbaren Salons und Hallen entworfen, die Zufahrten, die Badezimmer –«
»Tja«, antwortete Percy, »es ist mir ja regelrecht peinlich, es zuzugeben, aber das war einer vom Film. Wir konnten keinen anderen finden, der es gewohnt war, mit unbegrenzten Mitteln zu hantieren – auch wenn er sich die Serviette in den Kragen gesteckt hat und weder lesen noch schreiben konnte.«
Als der August sich dem Ende zuneigte, dachte John mit Bedauern daran, dass er bald wieder zur Schule würde zurückkehren müssen. Er und Kismine hatten beschlossen, im kommenden Juni durchzubrennen.
»Es wäre schöner, hier zu heiraten«, gestand Kismine, »aber Vater würde mir natürlich niemals die Erlaubnis geben, dich zu heiraten. Nein, dann lieber durchbrennen. In Amerika ist es für reiche Menschen in letzter Zeit ganz schrecklich, zu heiraten – immer müssen sie Pressemitteilungen verschicken, in denen steht, dass sie bei der Hochzeit uralte Erbstücke tragen werden, und damit meinen sie dann ein paar Perlen vom Trödelmarkt und Spitzen, die Kaiserin Eugénie einmal getragen hat.«
»Ich weiß«, pflichtete John ihr lebhaft bei. »Als ich bei den Schnlitzer-Murphys zu Gast war, hat ihre älteste Tochter Gwendolyn einen Mann geheiratet, dessen Vater halb West Virginia gehört. Sie schrieb ihren Eltern, wie schwer es sei, mit dem Gehalt eines Bankangestellten zurechtzukommen, und schloss mit den Worten: ›Gott sei Dank habe ich vier fleißige Dienstmädchen – das hilft ein wenig.‹«
»Es ist wirklich absurd«, bemerkte Kismine. »Denk nur an die Millionen und Abermillionen von Menschen – Arbeiter und so –, die mit nur zwei Dienstmädchen auskommen müssen.«
Eines Nachmittags im späten August veränderte eine beiläufige Bemerkung von Kismine die Situation grundlegend und erfüllte John mit blankem Entsetzen. Sie waren in ihrem Lieblingswäldchen, und zwischen Küssen erging John sich in düster-romantischen Gedanken, die ihrer Beziehung, wie er fand, eine gewisse bittere Süße verliehen.
»Manchmal denke ich, wir werden nie heiraten«, sagte er traurig. »Du bist einfach zu reich, du bist unvergleichlich. Ein Mädchen, das so reich ist wie du, kann nicht wie andere Mädchen sein. Ich sollte lieber die Tochter eines Eisenwarengroßhändlers aus Omaha oder Sioux City heiraten und mich mit ihrer halben Million zufriedengeben.«
»Ich kannte mal die Tochter eines Eisenwarengroßhändlers«, sagte Kismine, »und ich glaube nicht, dass du dich mit ihr zufriedengegeben hättest. Sie war eine Freundin meiner Schwester und hat uns mal besucht.«
»Dann hattet ihr also schon öfter Gäste?«, sagte John überrascht.
Kismine schien ihre Worte zu bereuen.
»Ja«, sagte sie rasch, »ein paar.«
»Aber seid ihr… ist dein Vater nicht besorgt, sie könnten draußen davon erzählen?«
»Na ja, irgendwie schon, irgendwie schon«, sagte sie. »Aber lass uns lieber von etwas Angenehmerem sprechen.«
Johns Neugier war geweckt.
»Von etwas Angenehmerem? Aber was ist denn daran unangenehm?«, wollte er wissen. »Waren es denn keine netten Mädchen?«
Zu seiner Verblüffung begann Kismine zu weinen.
»Doch… ja… das ist ja das Unglück. Mit einigen hatte ich… hatte ich mich angefreundet. Und Jasmine auch. Aber sie hat trotzdem immer wieder welche eingeladen. Ich konnte das gar nicht verstehen.«
In Johns Herz regte sich ein dunkler Verdacht.
»Du meinst, sie haben geredet, und dein Vater hat sie… wegbringen lassen?«
»Schlimmer«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Vater wollte kein Risiko eingehen – und Jasmine hat immer wieder welche eingeladen, und sie hatten so viel Spaß miteinander!«
Kismine war von Kummer überwältigt.
John saß mit offenem Mund da, entsetzt über diese Enthüllung. Er spürte seine Nerven flattern, als wären sie ein Schwarm Spatzen, der auf seinem Rückgrat saß.
»Jetzt hab ich’s dir gesagt, obwohl ich es nicht hätte sagen sollen.« Mit einem Mal war sie ganz ruhig und trocknete ihre dunkelblauen Augen.
»Soll das heißen, dein Vater hat sie vor ihrer Abreise umbringen lassen?«
Sie nickte.
»Meistens im August – oder Anfang September. Natürlich wollten wir vorher noch so viel Spaß wie möglich mit ihnen haben.«
»Wie grässlich! Wie… Du liebe Zeit, ich glaube, ich werde verrückt! Hast du wirklich gesagt, dass –«
»Ja«, unterbrach ihn Kismine und zuckte die Schultern. »Wir können sie ja nicht einsperren wie diese Flieger – dann wären sie ein Vorwurf, dem wir täglich ausgesetzt wären. Und man hat es Jasmine und mir so leicht wie möglich gemacht, denn Vater ließ es immer ein wenig früher erledigen, als wir erwartet hatten. Auf diese Weise hat er uns irgendwelche Abschiedsszenen erspart…«
»Dann habt ihr sie also umgebracht!«, rief John. »Wie entsetzlich!«
»Man hat es aber immer sehr schön gemacht. Sie bekamen im Schlaf etwas gespritzt – und ihren Familien wurde gesagt, dass sie in Butte an Scharlach gestorben sind.«
»Aber ich verstehe nicht, warum ihr immer wieder welche eingeladen habt!«
»Hab ich ja gar nicht«, widersprach Kismine. »Jasmine hat sie eingeladen. Und alle haben sich sehr gut amüsiert. Gegen Ende ihres Besuchs hat Jasmine ihnen wunderschöne Geschenke gegeben. Ich werde wahrscheinlich auch Gäste haben – ich werde mich schon daran gewöhnen. Man darf sich doch von etwas so Unausweichlichem wie dem Tod nicht davon abhalten lassen, das Leben zu genießen, solange es einem gegeben ist. Stell dir doch mal vor, wie einsam es hier wäre, wenn wir nicht hin und wieder einen Gast hätten. Vater und Mutter haben ein paar ihrer besten Freunde und Freundinnen geopfert, genau wie wir.«
»Du hast dich also von mir umwerben lassen«, rief John anklagend, »hast so getan, als würdest du meine Gefühle erwidern, hast sogar von Heirat gesprochen – und dabei die ganze Zeit gewusst, dass ich nicht lebend hier herauskommen würde!«
»Nein«, entgegnete sie heftig. »So war es am Anfang. Du warst hier. Das konnte ich nicht ändern, und deine letzten Tage sollten für uns beide so schön wie möglich sein. Aber dann habe ich mich in dich verliebt, und es… es tut mir ehrlich leid, dass du… dass du weggebracht werden wirst. Obwohl mir das noch immer lieber ist als die Vorstellung, du könntest irgendwann einmal ein anderes Mädchen küssen.«
»Ach, tatsächlich?«, rief John aufgebracht.
»Ja, viel lieber. Außerdem habe ich gehört, dass ein Mädchen mehr Spaß mit einem Mann haben kann, von dem es weiß, dass es ihn nie wird heiraten können. Ach, warum hab ich dir das nur erzählt? Jetzt habe ich dir wahrscheinlich alles verdorben, und dabei hatten wir so viel Spaß, als du es noch nicht wusstest. Ich hätte mir doch denken können, dass es dich irgendwie bedrücken würde.«
»Ja, hättest du das?« Johns Stimme bebte vor Wut. »Ich habe genug gehört. Wenn du wirklich so wenig Stolz und Würde besitzt, dass du eine Beziehung mit einem Burschen anfängst, der, wie du sehr wohl weißt, schon so gut wie tot ist, dann will ich nichts mehr mit dir zu tun haben!«
»Aber du bist nicht tot!«, widersprach sie entsetzt. »Du bist nicht tot! Ich will nicht, dass du sagst, ich hätte einen Leichnam geküsst!«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt.«
»Hast du wohl! Du hast gesagt, ich hätte einen Leichnam geküsst!«
»Hab ich nicht!«
Sie hatten die Stimmen erhoben, doch eine unvermittelte Unterbrechung ließ sie verstummen. Auf dem Weg näherten sich Schritte, und wenige Augenblicke später wurden die Rosenzweige auseinandergebogen, und da stand Braddock Washington. Die intelligenten Augen in seinem gutaussehenden, leeren Gesicht blickten sie an.
»Wer hat einen Leichnam geküsst?«, wollte er wissen. Er war offenbar ungehalten.
»Niemand«, beeilte sich Kismine zu sagen. »Es war nur ein Witz.«
»Was treibt ihr beiden hier überhaupt?«, fragte Braddock barsch. »Kismine, du solltest… solltest lesen oder mit deiner Schwester Golf spielen. Also lies! Spiel Golf! Wenn ich zurückkomme, will ich dich hier nicht mehr sehen.«
Er nickte John zu und entfernte sich.
»Siehst du?«, sagte Kismine verärgert, als er außer Hörweite war. »Du hast alles verdorben. Jetzt können wir uns nie mehr treffen. Er wird es mir nicht mehr erlauben. Er würde dich vergiften lassen, wenn er den Verdacht hätte, dass wir uns lieben.«
»Wir lieben uns nicht – jetzt nicht mehr!«, rief John erregt. »Er kann also ganz beruhigt sein. Und du brauchst dir keine Hoffnungen zu machen, dass ich noch länger hierbleibe. In sechs Stunden bin ich über die Berge da, und wenn ich mich mit den Zähnen hindurchgraben müsste, und dann geht’s weiter in Richtung Osten.«
Sie waren aufgestanden, und bei seinen Worten trat Kismine auf ihn zu und hakte sich bei ihm unter.
»Ich komme mit.«
»Du musst verrückt sein, wenn du –«
»Aber natürlich komme ich mit«, unterbrach sie ihn ungeduldig.
»Bestimmt nicht. Du –«
»Na gut«, sagte sie leise. »Dann lass uns jetzt zu Vater gehen und die Sache mit ihm besprechen.«
John gab sich geschlagen und rang sich ein schwaches Lächeln ab.
»Also gut, Liebste«, sagte er in einer Anwandlung, die blass und wenig überzeugend wirkte, »dann werden wir also gemeinsam gehen.«
Seine Liebe zu ihr kehrte zurück und ließ sich sanft in seinem Herzen nieder. Sie war sein – sie würde ihn begleiten und die Gefahren mit ihm teilen. Er schloss sie in die Arme und küsste sie stürmisch. Immerhin liebte sie ihn – eigentlich hatte sie ihn gerettet.
Langsam gingen sie zurück zum Château und besprachen die Sache. Da Braddock Washington sie zusammen gesehen hatte, hielten sie es für das Beste, in der kommenden Nacht zu verschwinden. Beim Abendessen waren Johns Lippen ungewöhnlich trocken, und weil er so nervös war, landete ein großer Löffel Fasanenconsommé in seinem linken Lungenflügel. Er musste in das mit Türkisen und Zobelpelz ausgestattete Spielzimmer getragen werden, wo einer der Unterbutler ihm kräftig auf den Rücken klopfte, was Percy umwerfend komisch fand.
IX
Es war lange nach Mitternacht, als John zusammenzuckte und hochfuhr. Vom Schlaf umfangen starrte er in die Schleier aus Dunkelheit, die den Raum erfüllten. Durch die offenen, blauschwarzen Vierecke der Fenster hatte er ein leises, weit entferntes Geräusch gehört, das gleich darauf auf einem Bett aus Wind erstorben war, um dann wieder aufzuleben und sich ihm, halb verborgen hinter unruhigen Träumen, zu erkennen zu geben. Das scharf umrissene Geräusch, das darauf folgte, kam jedoch aus unmittelbarer Nähe, vom Korridor vor seinem Zimmer – das Klicken eines Türknaufs, ein Schritt, ein Flüstern. Er konnte es nicht genau sagen. In seiner Magengrube war ein harter Klumpen, und sein ganzer Körper schmerzte vor lauter Anstrengung, etwas zu hören. Dann schien einer der Schleier sich aufzulösen, und John sah einen Schemen an der Tür, eine von Finsternis eingerahmte Gestalt, die derart mit den Falten des Vorhangs verschmolz, dass sie so verzerrt wirkte wie eine Spiegelung in einer schmutzigen Fensterscheibe.
In plötzlicher Furcht und Entschlossenheit drückte John den Knopf auf dem Nachttisch, und im nächsten Augenblick saß er nebenan in der grünen, im Boden versenkten Badewanne. Das kalte Wasser, mit dem sie zur Hälfte gefüllt war, machte ihn hellwach.
Er sprang hinaus und rannte, in seinem nassen Pyjama große Pfützen hinterlassend, zu der Tür aus Aquamarin, hinter der, wie er wusste, der elfenbeinerne Treppenabsatz des ersten Stockwerks war. Sie öffnete sich geräuschlos. Eine einzelne rote Lampe hoch oben in der großen Kuppel verlieh der elegant geschwungenen, mit Schnitzereien verzierten Treppe eine überwältigende Schönheit. John zögerte für einen Augenblick, erschrocken über die stumme Pracht ringsum, die seine tropfnasse, zitternd auf dem Treppenabsatz stehende kleine Gestalt in ihre gigantischen Falten und Konturen zu hüllen schien. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Die Tür zu seinem Salon flog auf, und drei nackte Neger stürzten heraus, und als John sich in wilder Angst zur Treppe wandte, glitt eine andere Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors zur Seite, und in dem beleuchteten Fahrstuhl erschien vor Johns Augen Braddock Washington in kniehohen Reitstiefeln und einem Pelzmantel, unter dem ein glänzender rosaroter Pyjama hervorschaute.
Die drei Neger – John hatte sie noch nie zuvor gesehen, und ihn durchfuhr der Gedanke, dass sie vermutlich die Auftragsmörder waren – verharrten und wandten sich erwartungsvoll dem Mann im Fahrstuhl zu, der ihnen gebieterisch zurief: »Hierher! Alle drei! Schnell, verdammt!«
Unverzüglich sprangen die drei Neger in die Fahrstuhlkabine, das beleuchtete Rechteck verschwand, als die Tür sich schloss, und John stand wieder allein auf dem Absatz. Matt ließ er sich auf eine elfenbeinerne Stufe sinken.
Offenbar war etwas Bedeutsames geschehen, etwas, das ihm und seinem eigenen kleinen Verderben wenigstens vorerst einen kleinen Aufschub gewährte. Aber was? Hatten sich die Neger in einer Revolte erhoben? War es den Fliegern gelungen, die eisernen Gitterstäbe aufzubrechen? Oder waren die Männer von Fish blindlings durch die Berge gestolpert und starrten nun mit leeren, freudlosen Augen auf das prachtvolle Tal? John wusste es nicht. Er hörte ein leises Summen, als der Aufzug wieder herauf- und kurz darauf abermals hinunterfuhr. Wahrscheinlich eilte Percy seinem Vater zu Hilfe. John kam der Gedanke, dass dies die Gelegenheit war, Kismine aufzusuchen und auf der Stelle zu fliehen. Nachdem das Geräusch des Aufzugs verklungen war, wartete er einige Minuten. Da die nächtliche Kühle durch seinen nassen Pyjama drang und er zitterte, kehrte er in sein Zimmer zurück und kleidete sich rasch an. Dann stieg er die lange Treppe hinauf und ging auf einem Teppich aus Zobelpelz durch den Korridor, der zu Kismines Suite führte.
Die Tür zum Salon war offen, und drinnen brannte Licht. Kismine stand in einem Angorakimono am Fenster und schien angestrengt zu lauschen, und als John geräuschlos eintrat, wandte sie sich ihm zu.
»Ach, du bist es«, flüsterte sie und ging ihm entgegen. »Hast du sie gehört?«
»Ich habe die Sklaven deines Vaters in meinem –«
»Nein«, unterbrach sie ihn aufgeregt, »die Flugzeuge!«
»Flugzeuge? Dann war das vielleicht das Geräusch, das mich geweckt hat.«
»Mindestens ein Dutzend. Eben habe ich eins gesehen, als es vor dem Mond vorbeiflog. Der Wächter auf dem Grat hat einen Schuss abgefeuert, und das hat Vater aufgeweckt. Wir werden gleich das Feuer auf sie eröffnen.«
»Führen sie denn etwas im Schilde?«
»Ja. Dieser Italiener, der geflohen ist –«
Bei ihrem letzten Wort drang eine Folge scharfer Knalle durch das offene Fenster. Kismine stieß einen kleinen Schrei aus, nahm mit zitternden Fingern einen Penny aus einer Schatulle auf ihrem Frisiertisch und rannte zu einer der elektrischen Lampen. Im nächsten Augenblick erloschen alle Lichter im Château – sie hatte einen Kurzschluss erzeugt.
»Komm!«, rief sie John zu. »Wir gehen auf den Dachgarten und sehen es uns von dort aus an.«
Sie legte ein Tuch um die Schultern und nahm seine Hand. Gemeinsam tasteten sie sich zur Tür. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Turmaufzug, und als sie auf den Knopf drückte, so dass sie in rasendem Tempo hinaufbefördert wurden, schloss er sie in der Dunkelheit in die Arme und küsste sie auf den Mund. Endlich erlebte auch John Unger die romantische Liebe. Kurz darauf traten die beiden auf die sternenweiße Terrasse. Unter dem verschleierten Mond glitt ein Dutzend geflügelter, stetig kreisender Schemen durch die Schatten der dahintreibenden Wolken. Von verschiedenen Stellen im Tal sprang Mündungsfeuer zu ihnen empor, gefolgt von scharfen Detonationen. Kismine klatschte vor Freude in die Hände, doch aus ihrem Entzücken wurde gleich darauf Entsetzen, denn auf irgendein verabredetes Zeichen hin begannen die Flugzeuge, Bomben auszuklinken, und das ganze Tal verwandelte sich in ein Panorama aus dumpfen Explosionen und grellen Lichtern.
Bald konzentrierten sich die Angriffe auf die Stellungen der Flugabwehrkanonen. Eine davon wurde getroffen und war kurz darauf nur noch ein zwischen Rosenbüschen lichterloh brennender Trümmerhaufen.
»Kismine«, begann John, »du wirst dich freuen zu hören, dass dieser Angriff gerade in dem Augenblick kam, als ich ermordet werden sollte. Wenn der Schuss des Wächters am Pass mich nicht geweckt hätte, wäre ich jetzt mausetot –«
»Ich kann dich nicht verstehen!«, schrie Kismine, die wie gebannt das Bild betrachtete, das sich ihren Augen bot. »Du musst lauter sprechen!«
»Ich habe nur gesagt«, rief John, »dass wir schleunigst verschwinden sollten, bevor sie anfangen, das Château zu bombardieren!«
Plötzlich brach der gesamte Säulengang vor der Behausung der Neger ein, ein Geysir aus Flammen schoss hoch, und riesige Marmorbrocken wurden bis zum Seeufer geschleudert.
»Das waren Sklaven für fünfzigtausend Dollar!«, rief Kismine. »Wenn man Vorkriegspreise veranschlagt. So viele Amerikaner haben einfach keine Achtung vor dem Eigentum anderer.«
John versuchte sie noch einmal zur raschen Flucht zu bewegen. Die Bomben der Flugzeuge fielen immer gezielter, und nur zwei Geschütze feuerten noch zurück. Es war offensichtlich, dass sich die Verteidiger nicht mehr lange würden halten können.
»Komm«, rief John und zog Kismine am Arm, »wir müssen fort! Ist dir nicht klar, dass diese Flieger dich töten werden, wenn sie dich kriegen?«
Widerstrebend folgte sie ihm.
»Wir müssen Jasmine wecken«, sagte sie, als sie zum Aufzug eilten. Und dann fügte sie mit geradezu kindlichem Vergnügen hinzu: »Wir werden arm sein, nicht? Wie die Leute in den Büchern. Und ich werde eine Waise sein und ganz und gar frei. Frei und arm! Das wird ein Spaß!« Sie blieb stehen und hob ihm ihre Lippen zu einem entzückten Kuss entgegen.
»Beides zusammen geht nicht«, sagte John grimmig. »Das ist erwiesen. Und ich würde die Freiheit der Armut vorziehen. Für alle Fälle empfehle ich dir, den Inhalt deiner Schmuckschatulle einzustecken.«
Zehn Minuten später trafen die beiden Mädchen John im dunklen Korridor und stiegen die Treppe hinab ins Erdgeschoss des Châteaus. Zum letzten Mal gingen sie durch die Pracht der herrlichen Hallen. Auf der Terrasse blieben sie einen Augenblick lang stehen und betrachteten die brennenden Unterkünfte der Neger und die glühenden Überreste zweier abgestürzter Flugzeuge auf der anderen Seite des Sees. Eine einzelne Flugabwehrkanone feuerte noch regelmäßig, und die Angreifer schienen nicht tiefer gehen zu wollen, kreisten die Stellung aber mit ihren Bomben ein. Irgendwann würde ein Zufallstreffer ihre schwarze Besatzung töten.
John und die beiden Schwestern eilten die Marmorstufen hinunter, wandten sich dann scharf nach links und folgten einem schmalen, ansteigenden Pfad, der sich wie ein Strumpfband an den Diamantberg schmiegte. Kismine kannte eine dichtbewaldete Stelle auf halber Höhe des Berges, wo sie sich verbergen und dennoch die Ereignisse dieser aufregenden Nacht verfolgen konnten – und von dort würden sie, sollte es sich als nötig erweisen, auf einem geheimen Weg durch ein steiniges Bachbett aus dem Tal fliehen können.
X
Als sie ihr Ziel erreichten, war es drei Uhr. Die fügsame, phlegmatische Jasmine schlief, an den Stamm eines großen Baumes gelehnt, auf der Stelle ein, während John seinen Arm um Kismine legte und sie sich gemeinsam setzten, um dem verzweifelten Aufflackern der längst entschiedenen Schlacht zuzusehen, die ein am Morgen noch blühendes Tal in Schutt und Asche gelegt hatte. Kurz nach vier gab das letzte noch feuernde Geschütz einen lauten, scheppernden Knall von sich, stieß eine Wolke aus rötlichem Rauch aus und verstummte. Obgleich der Mond inzwischen untergegangen war, sahen die beiden, dass die Flugzeuge nun tiefer kreisten. Sobald die Piloten sich davon überzeugt hatten, dass man keine Gegenwehr mehr leistete, würden sie landen, und die funkelnde, finstere Herrschaft der Washingtons würde beendet sein.
Nun, da das Feuer eingestellt war, wurde es still im Tal. Die Trümmer der beiden abgeschossenen Flugzeuge glühten wie die Augen eines Ungeheuers, das sich unter der schimmernden Oberfläche des Sees duckte. Das Château stand still und dunkel da und war unbeleuchtet ebenso schön wie in hellem Sonnenschein. Das Schnarren der Nemesis erfüllte die Luft mit einer an- und abschwellenden Klage. John stellte fest, dass Kismine ebenfalls eingeschlafen war.
Vier Uhr war längst vorüber, als er Schritte auf dem Weg hörte, den sie genommen hatten, und er hielt den Atem an, bis die Menschen, die diese Geräusche verursachten, an dem Aussichtspunkt, wo er saß, vorbeigegangen waren. Es lag eine leise Regung nichtmenschlichen Ursprungs in der Luft, und der Tau war kühl; John wusste, dass der Tag bald anbrechen würde. Er wartete, bis die Schritte sich weit genug den Berg hinauf entfernt hatten und nicht mehr zu hören waren, dann folgte er ihnen. Etwa auf halbem Weg zum schroffen Gipfel lichtete sich der Wald. Hier lag ein Sattel aus hartem Fels über dem Diamanten. Kurz bevor er diese Stelle erreicht hatte, verlangsamte John seine Schritte, denn er spürte mit dem Instinkt eines Tieres, dass sich irgendwo vor ihm andere Lebewesen befanden. Vorsichtig spähte er über einen großen Felsen. Seine Neugier wurde belohnt.
Braddock Washington stand reglos, wortlos da – seine Silhouette zeichnete sich gegen den grauen Himmel ab. Als sich der Horizont im Osten aufhellte und die Erde in ein kaltes, grünes Licht tauchte, wirkte die einsame Gestalt immer kleiner und unbedeutender vor der Größe des neuen Tages.
Johns Gastgeber war in unergründliche Gedanken versunken, dann gab er den beiden Negern, die zu seinen Füßen kauerten, ein Zeichen, die Last anzuheben, die zwischen ihnen lag. Als sie sich mühsam aufrichteten, fiel ein erster gelber Sonnenstrahl auf die zahllosen Facetten eines riesigen, perfekt geschliffenen Diamanten und erweckte den Stein zu einem gleißenden Funkeln, als wäre er ein Fragment des Morgensterns. Sein Gewicht ließ die Träger kurz taumeln, doch dann spannten sich die scharf konturierten Muskeln unter ihrer feucht schimmernden Haut, und die drei Gestalten standen wieder in regloser, trotziger Ohnmacht unter dem weiten Firmament.
Nach einer Weile sah der Weiße auf und hob die Arme, als wollte er eine große Menschenmenge veranlassen, ihm zuzuhören – doch hier war keine Menschenmenge, nur die gewaltige Stille des Berges und des Himmels, die lediglich von leisem Vogelgezwitscher in den Bäumen durchbrochen wurde. Die Gestalt auf dem Felssattel sprach jetzt gewichtige, von ununterdrückbarem Stolz erfüllte Worte.
»Du da oben«, rief er mit bebender Stimme. »Du da!« Er hielt mit noch immer erhobenen Armen inne, das Gesicht aufmerksam himmelwärts gerichtet, als erwarte er eine Antwort. John versuchte zu erkennen, ob vielleicht jemand den Berg herabkam, doch es war kein Zeichen menschlichen Lebens auszumachen – dort oben war nur der Himmel, und im Hintergrund erklang das spöttische Pfeifen des Windes in den Baumwipfeln. War es möglich, dass Washington betete? Für einen Augenblick war John sich nicht sicher. Doch das konnte nicht sein: Alles in der Haltung des Mannes stand in krassem Widerspruch zu einem Gebet.
»Du da oben!«
Die Stimme war jetzt kräftig und selbstbewusst. Nein, dies war kein flehentliches Bitten. Vielmehr lag darin eine monströse Herablassung.
»Du da!«
Worte reihten sich so schnell aneinander, dass John sie nicht verstehen konnte. Atemlos lauschte er und fing hier und da einen Satzfetzen auf. Die Stimme brach ab, fuhr fort und brach abermals ab, sie klang mal fest und streitlustig, dann wieder war sie mit einer leisen, verwunderten Ungeduld unterlegt. Dem einsamen Zuhörer dämmerte langsam eine Erkenntnis, bei der ihm das Blut rascher durch die Adern floss: Braddock Washington wollte Gott bestechen!
Das war es – kein Zweifel. Der Diamant, den seine Sklaven hochhielten, war eine erste Anzahlung, ein Versprechen, dass noch mehr folgen würde.
Das, merkte John nach einer Weile, war der rote Faden, der sich durch das Gesagte zog. Der zu Reichtum gekommene Prometheus griff auf vergessene Opfergaben, auf vergessene Gottesdienste und Gebete zurück, die schon lange vor Christi Geburt nicht mehr gesprochen worden waren. Seine Worte nahmen für eine Weile die Form jener Gebete an, die Gott diese oder jene Gabe, die der Himmel akzeptiert hatte, in Erinnerung riefen: große Kirchen als Gegenleistung für die Verschonung von der Pest, Myrrhe und Gold und Menschen, schöne Frauen und gefangene Armeen, Kinder und Königinnen, Tiere aus Wald und Feld, Schafe und Ziegen, ganze Ernten und Städte und eroberte Länder, die Ihm in lustvollen oder blutigen Ritualen dargeboten worden waren, um Ihn zu beschwichtigen und zum Lohn von Seinem göttlichen Zorn verschont zu werden – und nun bot er, Braddock Washington, Kaiser der Diamanten, König und Hohepriester des Zeitalters des Goldes, Gebieter über Pracht und Luxus, diesem Gott einen Schatz an, wie ihn sich kein Herrscher je erträumt hatte, und er kam nicht als Bittsteller, sondern stolz und hocherhobenen Hauptes.
Er würde Gott den größten Diamanten der Welt darbringen, fuhr er fort und erging sich in den Einzelheiten. Dieser Diamant würde tausendmal mehr Facetten haben als ein Baum Blätter, und dabei würde er mit derselben Perfektion geschliffen sein wie ein Stein, der nicht größer als eine Fliege war. Viele Männer würden viele Jahre daran arbeiten. Er würde in einem großen Dom aus getriebenem Gold aufgestellt werden, der reich verziert sein würde, mit Toren, die aus mit Saphiren besetzten Opalen bestehen sollten. In der Mitte würde eine Kapelle in das Gold eingelassen sein, beherrscht von einem Altar aus strahlendem, zerfallendem, sich unentwegt wandelndem Radium, das jedem Betenden, der den Blick hob, die Augen blenden würde, und auf diesem Altar würde zum Ergötzen des himmlischen Wohltäters jedes Opfer dargebracht werden, das Gott wollte, und sei es der größte und mächtigste Mann der Welt.
Als Gegenleistung erwarte er nur eine Kleinigkeit, etwas, das für Gott geradezu lachhaft leicht sei: Alles solle sein, wie es gestern um diese Zeit gewesen sei, und für immer so bleiben. Ganz einfach! Der Himmel solle sich auftun, diese Männer und ihre Flugzeuge verschlingen und sich dann wieder schließen. Und seine Sklaven sollten ihm gesund und munter zurückerstattet werden.
Es gab niemand anderen, den er je hatte besänftigen, mit dem er je hatte feilschen müssen.
Er zweifelte nur daran, ob sein Bestechungsgeschenk groß genug war. Gott hatte natürlich Seinen Preis. Gott war, wie es hieß, nach dem Bild des Menschen erschaffen, also musste Er Seinen Preis haben. Und dieser Preis würde aus etwas ganz besonders Auserlesenem bestehen – keine Kathedrale, deren Errichtung sich über viele Jahre hinzog, keine Pyramide, für deren Bau man Zehntausende brauchte, würde dieser Kathedrale, dieser Pyramide gleichkommen.
Er hielt inne. Dies war sein Angebot. Über die Einzelheiten konnte man verhandeln, und Washingtons Erklärung, die erwartete Gegenleistung sei letztlich klein, hatte nichts Unanständiges. Er ließ durchblicken, die Vorsehung könne auf das Geschäft eingehen oder es aber lassen.
Gegen Ende seiner Rede waren die Sätze unvollständig, kurz und unsicher, und sein Körper schien angespannt auf die kleinste Bewegung, das leiseste Flüstern in der Welt ringsumher zu lauschen. Während der Ansprache war sein Haar nach und nach weiß geworden, und nun reckte er den Kopf gen Himmel wie ein Prophet aus längst vergangenen Zeiten: Er war auf großartige Weise verrückt.
John starrte Washington erregt und fasziniert an, und es schien ihm, als ereigne sich irgendwo in der Nähe ein seltsames Phänomen. Es war, als verfinsterte sich der Himmel für einen Augenblick, als brächte ein Windstoß ein unvermitteltes Flüstern mit, den Klang weit entfernter Trompeten und ein Seufzen wie das Rascheln einer großen seidenen Robe. Für eine Weile wurde alles zu einem Teil dieser Verfinsterung: Der Vogelgesang verstummte, die Bäume standen reglos, und von weit hinter den Bergen ertönte das Gemurmel eines dumpfen, drohenden Donners.
Das war alles. Der Wind erstarb im hohen Gras des Tals. Die Morgendämmerung nahm ihren Platz in der Zeit wieder ein, und die aufgegangene Sonne sandte warme Wellen aus gelblichem Dunst aus, die ihren Weg hell erleuchteten. Die Blätter lachten im Sonnenlicht, und ihr Lachen ließ die Bäume erzittern, bis jeder Ast wie eine Mädchenschule im Land der Feen war. Gott hatte das Bestechungsgeschenk abgelehnt.
John betrachtete noch eine Weile den triumphierenden Tag. Dann drehte er sich um und sah ein braunes, geflügeltes Ding, das sich unweit des Sees niederließ, und dann noch eins und noch eins – es war wie ein Tanz goldener Engel, die aus den Wolken herabschwebten. Die Flugzeuge waren gelandet.
John löste sich aus der Deckung des Felsens und rannte den Berg hinunter zum Wald, wo die beiden Mädchen inzwischen aufgewacht waren und auf ihn warteten. Kismine sprang auf, wobei die Juwelen in ihrer Tasche klirrten. Sie hatte eine Frage auf den Lippen, doch John wusste instinktiv, dass jetzt keine Zeit für Worte war. Sie mussten auf der Stelle von diesem Berg hinunter. Er nahm die Mädchen an der Hand, und gemeinsam liefen sie schweigend durch den Wald, wo die Bäume jetzt von Licht und aufsteigendem Nebel umspült wurden. Aus dem Tal hinter ihnen waren nur das entfernte Klagen der Pfauen und die angenehmen Untertöne des Morgens zu hören.
Nach etwa achthundert Metern bogen sie vor der offenen Parklandschaft ab und schlugen einen schmalen Pfad ein, der über die nächste Anhöhe führte. Auf deren Gipfel blieben sie stehen und sahen sich um. Ihre Blicke verharrten auf dem Berg, den sie soeben hinter sich gelassen hatten, bedrückt von der dunklen Ahnung, dass etwas Tragisches bevorstand.
Vor dem Himmel zeichnete sich die Gestalt eines gebrochenen, weißhaarigen Mannes ab, der langsam den steilen Hang hinunterging, gefolgt von zwei riesigen, gleichmütigen Negern, die zwischen sich etwas trugen, das noch immer im Sonnenlicht blitzte und funkelte. Auf halber Höhe schlossen sich ihnen zwei weitere Gestalten an – es waren Mrs. Washington und ihr Sohn, und John sah, dass sie sich auf seinen Arm stützte. Auf dem glatten Rasen vor dem Château waren die Piloten aus ihren Maschinen gestiegen und machten sich, Gewehre in den Händen, daran, in lockerer Formation den Diamantberg zu besteigen.
Die kleine Gruppe über ihnen, auf die sich die ganze Aufmerksamkeit der Betrachter konzentrierte, hatte auf einem Felsabsatz angehalten. Die Neger bückten sich und öffneten etwas, das eine Falltür zu sein schien. Durch sie verschwanden nun alle, der weißhaarige Mann zuerst, dann seine Frau und sein Sohn, schließlich auch die Neger, deren juwelenbesetzte Kopfbedeckungen noch einmal in der Sonne glitzerten, bevor die Falltür sich über ihnen schloss.
Kismine packte Johns Arm.
»Oh«, rief sie, »wohin gehen sie denn? Was haben sie nur vor?«
»Es muss irgendein unterirdischer Fluchtweg –«
Der Schrei der beiden Mädchen unterbrach ihn.
»Verstehst du nicht?«, schluchzte Kismine außer sich. »Im Berg sind lauter Sprengladungen!«
Noch während sie das sagte, hob John die Hand schützend vor die Augen. Die ganze Bergflanke glühte mit einem Mal in einem blendenden Gelb, das durch die Erdschichten leuchtete wie ein starkes Licht durch eine Hand. Die unerträgliche Helligkeit hielt für einige Sekunden an und erstarb dann wie ein ausgeschalteter Glühfaden. Zurück blieb eine schwarze Ödnis, von der langsam blauer Rauch aufstieg und das mit sich trug, was von der Vegetation und den Menschen übrig war. Von den Piloten war keine Spur geblieben – sie waren so vollständig verbrannt wie die fünf, die im Berg verschwunden waren.
Zugleich bäumte sich das Château mit unerhörtem Getöse auf, zerbrach dabei in brennende Stücke und fiel dann zu einem rauchenden Trümmerhaufen zusammen, der zur Hälfte im See landete. Man sah kein Feuer – ein wenig Rauch trieb im Sonnenlicht davon, und einige Minuten lang stieg feiner Marmorstaub von dem gestaltlosen Schutt auf, der einst das Haus der Edelsteine gewesen war. Es war ganz still. Die drei waren allein im Tal.
XI
Bei Sonnenuntergang erreichten John und seine beiden Begleiterinnen den Felsgrat, der die Grenze des Besitzes der Washingtons bezeichnete, und als sie sich umblickten, lag das Tal im Abendlicht schön und friedlich unter ihnen. Sie setzten sich und aßen von dem Essen, das Jasmine in einem Korb mitgenommen hatte.
»So«, sagte sie, als sie die Tischdecke ausgebreitet und die Sandwiches in einem ordentlichen Stapel daraufgelegt hatte. »Sieht das nicht verführerisch aus? Ich finde, unter freiem Himmel schmeckt es einfach besser.«
»Und mit dieser Bemerkung«, sagte Kismine, »tritt Jasmine in die Mittelklasse ein.«
»Also«, sagte John eifrig, »dann dreht mal eure Taschen um und lasst sehen, was für Juwelen ihr mitgenommen habt. Wenn du einen guten Griff getan hast, haben wir für den Rest unseres Lebens ausgesorgt.«
Gehorsam griff Kismine in die Tasche und legte zwei Handvoll glitzernde Steine vor ihm auf den Boden.
»Nicht schlecht!«, entfuhr es John. »Die sind zwar nicht sehr groß, aber… Moment mal!« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als er einen der Steine ins Licht der untergehenden Sonne hielt. »Das sind ja gar keine Diamanten! Da stimmt was nicht!«
»Ach je!«, rief Kismine erschrocken. »Ich bin aber auch zu dumm!«
»Das sind Bergkristalle!«, sagte John.
»Ich weiß.« Sie brach in Gelächter aus. »Ich habe in die falsche Schublade gegriffen. Die waren auf dem Kleid von einem Mädchen, das Jasmine besucht hat. Ich habe ihr Diamanten dafür gegeben. Ich hatte bis dahin immer nur echte Edelsteine gesehen.«
»Und sonst hast du nichts mitgenommen?«
»Nein, leider.« Sie nahm wehmütig einige Kristalle in die Hand. »Aber die hier gefallen mir besser. Ich bin Diamanten irgendwie leid.«
»Tja«, sagte John düster, »dann werden wir also in Hades leben müssen. Und du wirst alt werden und fassungslosen Frauen erzählen, dass du in die falsche Schublade gegriffen hast. Leider sind die Bankbücher deines Vaters mit ihm verbrannt.«
»Und was ist an Hades so schlimm?«
»Wenn ich in meinem Alter als verheirateter Mann nach Hause komme, wird mein Vater mich wohl mit dem Schürhaken vor die Tür setzen, wie wir da unten sagen.«
Jasmine meldete sich zu Wort.
»Ich wasche gern«, sagte sie leise. »Alle meine Taschentücher hab ich immer selbst gewaschen. Ich werde eine Wäscherei eröffnen und für euch sorgen.«
»Gibt es in Hades denn Wäscherinnen?«, fragte Kismine unschuldig.
»Klar«, antwortete John. »Es ist ein ganz normaler Ort.«
»Ich dachte, vielleicht ist es dort zu heiß, um irgendwelche Kleider zu tragen.«
John lachte.
»Das kannst du ja mal versuchen! Die werden dich schneller aus der Stadt jagen, als du bis drei zählen kannst.«
»Wird Vater auch dort sein?«, fragte sie.
Er sah sie erstaunt an.
»Dein Vater ist tot«, sagte er düster. »Warum sollte er in Hades sein? Ich glaube, du verwechselst das mit einem anderen Ort, den es schon längst nicht mehr gibt.«
Nach dem Essen falteten sie das Tischtuch zusammen und breiteten die Decken aus.
»Was für ein Traum das war«, seufzte Kismine und sah auf zu den Sternen. »Wie seltsam, hier zu sein, mit nur einem einzigen Kleid und einem bettelarmen Verlobten! Unter den Sternen. Sie sind mir bisher nie sonderlich aufgefallen. Ich habe immer gedacht, es wären große Diamanten, die irgendjemandem gehören. Jetzt machen sie mir Angst. Wenn ich sie sehe, habe ich das Gefühl, dass meine ganze Jugend nichts als ein Traum war.«
»Es war tatsächlich ein Traum«, sagte John leise. »Die Jugend eines jeden Menschen ist ein Traum, eine Art chemischer Verrücktheit.«
»Wie schön ist es dann also, verrückt zu sein!«
»Das sagen viele«, erwiderte John traurig. »Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Jedenfalls können wir uns für eine Weile lieben, du und ich, für ein Jahr oder so. Das ist eine Form göttlicher Trunkenheit, die wir versuchen können zu erlangen. Sonst gibt es auf der Welt nur Diamanten – und vielleicht das fadenscheinige Geschenk der Ernüchterung. Tja, die haben wir nun, und ich werde, wie üblich, nichts daraus machen.« Er erschauerte. »Schlag den Mantelkragen hoch, Mädchen – die Nacht ist kalt, und du wirst dir noch eine Lungenentzündung holen. Wer immer das Bewusstsein erfunden hat, war ein großer Sünder. Lasst es uns für ein paar Stunden verlieren.«
Er wickelte sich in seine Decke und schlief ein.