Jelly-bean

 

I

 

Jim Powell war ein Jelly-bean. So gern ich einen sympathischen Charakter aus ihm machen würde, schiene es mir doch unlauter, Sie in diesem Punkt zu täuschen. Er war ein ausgemachter, in der Wolle gefärbter, neunundneunzigdreiviertelprozentiger Jelly-bean, der während der Jelly-bean-Saison, wozu jede Jahreszeit zählt, im Land der Jelly-beans weit südlich der Mason-Dixon-Linie träge heranwuchs.

Bezeichnen Sie einen Mann aus Memphis als Jelly-bean, und er wird ein langes, kräftiges Seil aus der Hüfttasche ziehen und Sie am nächstbesten Telegrafenmast aufknüpfen. Bezeichnen Sie einen Mann aus New Orleans als Jelly-bean, und er wird grinsen und Sie fragen, wer Ihre Freundin zum Faschingsball ausführt. Der spezielle Jelly-bean-Flecken, der den Helden dieser Geschichte hervorgebracht hat, liegt irgendwo dazwischen – eine kleine Stadt von vierzigtausend Einwohnern, die seit vierzigtausend Jahren im Süden Georgias vor sich hin dämmert, sich hin und wieder in ihrem Schlummer regt und etwas von einem Krieg murmelt, der irgendwann irgendwo stattfand und von allen anderen längst vergessen ist.

Jim war ein Jelly-bean. Ich schreibe es noch einmal, weil es so schön klingt – fast wie der Anfang eines Märchens –, so als wäre Jim ein netter Kerl. Irgendwie sehe ich ihn dann mit einem runden, appetitlichen Gesicht und einem Hut vor mir, aus dem alle möglichen Blätter und Früchte sprießen. Jim jedoch war lang und dünn und vom vielen Billardspielen gebeugt, und im unvoreingenommenen Norden hätte man ihn wahrscheinlich als Eckensteher bezeichnet. »Jelly-bean« ist in der gesamten noch intakten Konföderation der Name für jemanden, der sein Leben damit zubringt, das Verb faulenzen in der ersten Person zu konjugieren – ich faulenze, ich habe gefaulenzt, ich werde faulenzen.

Jim wurde in einem weißen Haus an einer grünen Ecke geboren. Es hatte vorne vier verwitterte Säulen und hinten eine Menge Gitterwerk, dessen Kreuz-und-quer einen fröhlichen Hintergrund für den blumigen, sonnengetränkten Rasen abgab. Ursprünglich hatte den Bewohnern des weißen Hauses noch das Nachbargrundstück und auch das nächste und übernächste Grundstück gehört, doch das war lange her, und selbst Jims Vater erinnerte sich kaum daran. Ja, er hatte diesem Umstand so wenig Bedeutung beigemessen, dass er, als er nach einer kleinen Schießerei im Sterben lag, ganz vergaß, dem kleinen Jim davon zu erzählen, der fünf Jahre alt war und erbärmliche Angst hatte. Aus dem weißen Haus wurde eine Pension unter der Leitung einer schmallippigen Dame aus Macon, die Jim Tante Mamie nannte und von ganzer Seele verabscheute.

Er wurde fünfzehn, ging auf die Highschool, trug das Haar in wirren schwarzen Locken und fürchtete sich vor Mädchen. Er hasste sein Zuhause, wo sich vier Frauen und ein alter Mann in endloser Geschwätzigkeit Sommer für Sommer wieder darüber verbreiteten, welche Grundstücke das Anwesen der Powells ursprünglich umfasst hatte und welche Blumensorte als nächste hervorsprießen würde. Manchmal luden ihn die Eltern der kleinen Mädchen in der Stadt zu Partys ein, weil sie sich noch an Jims Mutter erinnerten und in den dunklen Augen und Haaren eine Ähnlichkeit zu erkennen meinten, doch Partys schüchterten ihn ein, und viel lieber saß er auf einer abmontierten Radachse in Tillys Werkstatt und ließ die Würfel rollen oder erforschte mit einem langen Strohhalm unermüdlich seinen Mund. Um sich etwas Taschengeld zu verdienen, übernahm er Gelegenheitsarbeiten, und deswegen ging er schließlich zu gar keiner Party mehr. Auf seiner dritten Party hatte nämlich die kleine Marjorie Haight indiskret und in seiner Hörweite herumerzählt, er sei der Laufbursche, der ihnen manchmal die Lebensmittel liefere. Und so hatte Jim anstelle von Twostep und Polka gelernt, jede Zahl zu würfeln, die er nur wollte, und dabei den gepfefferten Geschichten von allen Schießereien gelauscht, die sich während der letzten fünfzig Jahre in der Gegend ereignet hatten.

Er wurde achtzehn. Der Krieg brach aus, und er meldete sich freiwillig als Matrose und polierte ein Jahr lang Messing in der Marinewerft von Charleston. Dann zog er zur Abwechslung nach Norden und polierte ein Jahr lang Messing in der Marinewerft von Brooklyn.

Als der Krieg vorbei war, kehrte er heim. Er war jetzt einundzwanzig, und seine Hosen waren ihm zu kurz und zu eng. Er trug lange, schmale geknöpfte Schuhe. Sein Schlips war eine alarmierende Verschwörung aus purpurroten und pinkfarbenen Schnörkeln, und darüber saßen zwei blaue Augen, ausgeblichen wie ein Stück guten alten Tuchs, das lange der Sonne ausgesetzt war.

In der Dämmerung eines Aprilabends, als ein weiches Grau sich über die Baumwollfelder und die schwüle Stadt gelegt hatte, lehnte er, eine verschwommene Gestalt, an einem Bretterzaun, pfiff und blickte zur Mondfelge über den Lichtern der Jackson Street hinauf. Sein Verstand arbeitete unablässig an einem Problem, das seine Aufmerksamkeit seit einer Stunde in Anspruch nahm. Jelly-bean war zu einer Party eingeladen.

In jenen lang vergangenen Tagen, als alle Jungen alle Mädchen verabscheut hatten, waren Clark Darrow und Jim in der Schule Banknachbarn gewesen. Doch während Jims gesellschaftliche Ambitionen in der öligen Luft der Autowerkstatt gestorben waren, hatte Clark sich abwechselnd ver- und entliebt, ein Collegestudium begonnen, mit dem Trinken angefangen und wieder aufgehört, kurz: sich zu einem der begehrtesten Kavaliere der Stadt entwickelt. Dennoch hatten Clark und Jim sich eine zwar lose, aber ganz unverbrüchliche Freundschaft bewahrt. An diesem Nachmittag nun war Clarks alter Ford langsam neben Jim, der auf dem Gehweg lief, hergefahren, und Clark hatte ihn aus heiterem Himmel zu einer Party im Country Club eingeladen. Der Impuls, aus dem heraus er dies tat, war nicht seltsamer als jener, aus dem heraus Jim zusagte. Letzteres mochte unterschwellige Langeweile gewesen sein, eine halbängstliche Abenteuerlust. Und nun dachte Jim noch einmal nüchtern darüber nach.

Er begann zu singen und klopfte dabei mit seinem langen Fuß träge auf einen Pflasterstein, bis dieser im Takt zu der tiefen, kehligen Melodie hin und her wackelte:

»One mile from Home in Jelly-bean town,
Lives Jeanne, the Jelly-bean Queen.
She loves her dice and treats them nice;
No dice would treat her mean.«

Er brach ab und versetzte den Gehweg in einen holperigen Galopp.

»Verflixt!«, murmelte er halblaut.

Sie würden allesamt da sein – die alte Clique, jene Clique, zu der Jim wegen des längst verkauften weißen Hauses und des Offiziers in Grau, dessen Porträt über dem Kamin hing, eigentlich hätte gehören müssen. Doch die anderen waren zu einem engen kleinen Kreis zusammengewachsen, so allmählich, wie die Kleider der Mädchen Zentimeter um Zentimeter länger geworden waren, und so endgültig, wie die Hosen der Jungen irgendwann plötzlich bis auf die Knöchel hinabreichten. Und in dieser Gesellschaft aus Vornamen und verflossenen Sandkastenlieben war Jim ein Außenseiter – ein guter Kumpel von armen Weißen. Die meisten Männer wussten, wer er war, und schauten auf ihn herab; drei oder vier Mädchen grüßte er auf der Straße, indem er sich mit dem Finger an den Hut tippte. Das war alles.

Als die Dämmerung sich zu einer blauen Kulisse für den Mond verdichtet hatte, lief er durch die heiße, angenehm stark duftende Stadt zur Jackson Street. Die Geschäfte schlossen gerade, und die letzten Kunden drifteten, wie von den träumerischen Umdrehungen eines langsamen Karussells davongetragen, heimwärts. Weiter unten an der Straße schuf ein Jahrmarkt eine leuchtende Gasse aus bunten Ständen und untermalte den Abend mit einer musikalischen Melange – einem orientalischen Tanz, von einer Dampfpfeifenorgel gespielt, dem Gesang eines melancholischen Waldhorns vor einer Monstrositätenschau und einer heiteren Leierkastenversion von Back Home in Tennessee.

Jelly-bean betrat ein Geschäft und kaufte sich einen Kragen. Dann schlenderte er weiter zu Soda Sam’s, wo die üblichen drei oder vier Wagen eines Sommerabends parkten und die kleinen schwarzen Kellner mit Eiscreme und Limonade hin und her liefen.

»Hallo, Jim.«

Die Stimme kam von der Seite – es war Joe Ewing, der mit Marylyn Wade in einem Auto saß. Auf der Rückbank erkannte Jelly-bean Nancy Lamar neben einem fremden Mann.

Er tippte sich rasch grüßend an den Hut. »Hallo…«, und nach einer kaum wahrnehmbaren Pause, »wie geht’s?«

Gemächlich setzte er seinen Weg zu der Werkstatt fort, wo er ein Zimmer im ersten Stock hatte. Sein »Wie geht’s?« hatte Nancy Lamar gegolten, mit der er seit fünfzehn Jahren kein Wort gewechselt hatte.

Nancy hatte einen Mund wie die Erinnerung an einen Kuss und schattige Augen und blauschwarzes Haar, das sie von ihrer in Budapest geborenen Mutter geerbt hatte. Jim war ihr oft auf der Straße begegnet, wo sie wie ein kleiner Junge mit den Händen in den Hosentaschen entlangzuschlendern pflegte, und er wusste, dass sie und Sally Carrol Hopper, die unzertrennlich waren, von Atlanta bis nach New Orleans eine Spur aus gebrochenen Herzen hinterlassen hatten.

Ein paar flüchtige Augenblicke lang wünschte Jim, er könnte tanzen. Dann lachte er, und als er vor seiner Tür ankam, begann er leise vor sich hin zu singen:

»Her Jelly Roll can twist your soul,
Her eyes are big and brown,
She’s the Queen of the Queens of the Jelly-beans –
My Jeanne of Jelly-bean Town.«

II

 

Um halb zehn trafen sich Jim und Clark draußen vor Soda Sam’s und machten sich in Clarks Ford auf den Weg in den Country Club.

»Jim«, fragte Clark beiläufig, während sie durch die nach Jasmin duftende Dunkelheit knatterten, »wovon lebst du eigentlich?«

Jelly-bean zögerte, dachte nach.

»Tja«, sagte er schließlich, »ich hab ein Zimmer über Tillys Werkstatt. Ich helf ihm nachmittags ein bisschen mit den Autos, dafür lässt er mich umsonst da wohnen. Manchmal fahr ich auch eins seiner Taxis und verdien mir was dazu. Aber wenn ich das regelmäßig mache, hab ich’s schnell über.«

»Ist das alles?«

»Na ja, wenn viel zu tun ist, helf ich ihm auch mal den ganzen Tag aus – meist samstags –, und dann gibt’s da noch eine Haupteinnahmequelle, von der ich sonst nicht rede. Du weißt vielleicht nicht, dass ich inzwischen so ungefähr der beste Craps-Spieler der Stadt bin. Die andern lassen mich nur noch mit dem Becher würfeln, denn wenn ich die Dinger erst mal in der Hand hab, dann rollen sie wie von selbst.«

Clark grinste anerkennend. »Ich hab’s nie gelernt, sie so anzufassen, dass sie tun, was ich will. Du musst mal mit Nancy Lamar spielen und ihr all ihr Geld abnehmen. Sie spielt oft mit den Jungs und verliert mehr, als ihr Daddy ihr geben kann. Ich weiß zufällig, dass sie letzten Monat einen teuren Ring verkauft hat, um ihre Schulden zu bezahlen.«

Jelly-bean ging nicht darauf ein.

»Gehört dir das weiße Haus an der Elm Street noch?«

Jim schüttelte den Kopf.

»Verkauft. Hat ’ne schöne Summe gebracht, wenn man bedenkt, dass das Viertel nicht mehr das ist, was es mal war. Der Anwalt hat gesagt, ich soll das Geld in Liberty Bonds anlegen. Aber jetzt ist Tante Mamie nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen, und ich brauch alle Zinsen, damit sie im Great Farms Sanatorium bleiben kann.«

»Hm.«

»Ich hab oben im Norden einen alten Onkel, da könnt ich wohl hin, falls ich mal völlig abgebrannt bin. Nette Farm, aber nicht genug Neger in der Gegend, die die Arbeit machen könnten. Er hat mich schon öfter gefragt, ob ich nicht raufkommen und ihm helfen will, aber ich glaub nicht, dass ich mich dran gewöhnen könnte. Ist verdammt einsam da –« Er unterbrach sich plötzlich. »Clark, ich find’s wirklich nett von dir, dass du mich mitnimmst, aber ich wär doch froh, wenn du einfach hier anhalten würdest, dann lauf ich zu Fuß zurück in die Stadt.«

»Quatsch!«, knurrte Clark. »Tut dir gut, mal rauszukommen. Du brauchst ja nicht zu tanzen – stellst dich bloß aufs Parkett und schüttelst dich ein bisschen zum Rhythmus.«

»Moment«, rief Jim beklommen aus. »Wehe, du bringst mich zu irgendeinem Mädchen hin und lässt mich da stehen, und dann muss ich mit ihr tanzen.«

Clark lachte.

»Nee, ehrlich«, fuhr Jim verzweifelt fort, »wenn du mir das nicht schwörst, steig ich auf der Stelle aus, und meine alten Beine tragen mich zur Jackson Street zurück.«

Nach einigem Hin und Her einigten sie sich darauf, dass Jim, von Frauen unbehelligt, das Spektakel von einem abseitsstehenden Sofa in der Ecke aus beobachten würde, wo Clark sich zu ihm gesellen konnte, wann immer er selber nicht tanzte.

Und so saß Jelly-bean um zehn Uhr mit übereinandergeschlagenen Beinen und reserviert verschränkten Armen da und versuchte, wohlige Entspanntheit und höfliches Desinteresse gegenüber den Tanzenden zu mimen. Im Herzen war er hin- und hergerissen zwischen lähmender Befangenheit und größter Neugier auf alles, was um ihn herum geschah. Er sah, wie die Mädchen eins nach dem anderen aus der Garderobe kamen, sich streckten und plusterten wie bunte Vögel, über die gepuderten Schultern hinweg den Anstandsdamen zulächelten, rasch den Blick schweifen ließen, um den Saal in sich aufzunehmen – und zugleich die Reaktion, die ihr Erscheinen darin hervorrief –, worauf sie, erneut wie Vögel, in den soliden Armen ihrer wartenden Galane landeten und sich dort einnisteten. Sally Carrol Hopper, blond und mattäugig, trug ihre Lieblingsfarbe Pink und blinzelte wie eine eben erwachende Rose. Marjorie Haight, Marylyn Wade, Harriet Cary, all die Mädchen, die er um die Mittagszeit die Jackson Street hatte entlangschlendern sehen, waren nun, gelockt, pomadisiert und für die Deckenlichter zart geschminkt, wundersam fremde Meißener Porzellanfiguren in Pink, Blau, Rot und Gold, frisch aus der Werkstatt und noch nicht ganz getrocknet.

Er war seit einer halben Stunde da, und es heiterte ihn kein bisschen auf, dass Clark alle naselang gutgelaunt vorbeischaute, jedes Mal »Na, alter Junge, wie schlägst du dich hier?« sagte und ihm einen Klaps aufs Knie gab. Ein Dutzend Männer hatten ihn angesprochen oder einen Moment bei ihm verweilt, doch er wusste, dass sie sich alle wunderten, ihn hier zu sehen, und der eine oder andere schien es ihm sogar ein wenig übelzunehmen. Um halb elf aber fiel plötzlich alle Befangenheit von ihm ab, und er geriet, von atemloser Spannung gepackt, ganz außer sich – Nancy Lamar war aus der Garderobe gekommen.

Sie erschien in gelbem Organdy, einem Kleid aus hundert kühlen Winkeln, mit drei Lagen Rüschen und einer großen Schleife im Rücken, so dass sie Schwarz und Gelb in einer Art phosphoreszierendem Schimmer um sich versprühte. Jelly-bean riss die Augen auf, und in seinem Hals wuchs ein Kloß. Eine Minute lang stand Nancy in der Tür, bis ihr Galan herbeieilte. Jim erkannte in ihm den Fremden wieder, der am Nachmittag mit ihr in Joe Ewings Wagen gesessen hatte. Er sah, wie sie die Arme in die Seiten stemmte und leise etwas zu ihm sagte und lachte. Der Mann lachte auch, und Jim verspürte plötzlich einen Stich, einen seltsamen, neuartigen Schmerz. Ein Lichtstreif war zwischen den beiden hindurchgegangen, ein Schönheitsstrahl von jener Sonne, die ihn einen Augenblick vorher noch gewärmt hatte. Jelly-bean fühlte sich auf einmal wie ein Büschel Unkraut im Schatten.

Kurz darauf trat Clark mit blitzenden Augen und glühenden Wangen zu ihm ans Sofa. »Na, alter Freund«, rief er nicht allzu originell, »wie schlägst du dich hier?«

Jim antwortete, er schlage sich so gut, wie man es erwarten könne.

»Dann komm jetzt mal mit«, befahl Clark, »ich hab da was, das den Abend ein bisschen anheizen wird.«

Jim folgte ihm hölzern erst über die Tanzfläche, dann die Treppe hinauf zur Garderobe, wo Clark eine Flasche namenloser gelber Flüssigkeit zutage förderte. »Guter alter Whiskey.«

Auf einem Tablett wurde Ginger Ale gebracht. Ein so starker Nektar wie »guter alter Whiskey« musste mit etwas anderem als Selterwasser getarnt werden.

»Nun sag doch mal, Junge«, rief Clark atemlos, »sieht Nancy Lamar nicht wunderhübsch aus?«

Jim nickte. »Wirklich wunderhübsch«, stimmte er zu.

»Sie hat sich so rausgeputzt, weil sie sich heute Abend von jemandem verabschieden muss«, fuhr Clark fort. »Hast du den Kerl mit dem weißen Hemd gesehen?«

»Groß? Weiße Hose?«

»Genau. Das ist Ogden Merritt aus Savannah. Sein alter Herr stellt diese Merritt-Rasierhobel her. Ogden ist verrückt nach ihr. Ist schon das ganze Jahr hinter ihr her. Sie ist ein richtiger Wildfang, aber ich mag sie. Alle mögen sie. Obwohl sie schon tolle Dinger dreht. Meist kommt sie ja mit heiler Haut davon, bloß ihr Ruf, der hat schon lauter Narben von allem, was sie so angestellt hat.«

»Ach ja?« Jim hielt ihm sein Glas hin. »Das ist guter Whiskey.«

»Nicht übel. O ja, sie treibt’s richtig wild. Wie sie Craps spielt, ich sag’s dir, Mann! Und einen Highball trinkt sie auch ganz gern mal. Hab versprochen, ihr später einen zu geben.«

»Ist sie in diesen – Merritt verliebt?«

»Keine Ahnung. Scheint so, als ob die besten Mädchen hier alle heiraten und weggehen.«

Er goss sich noch einen Drink ein, bevor er die Flasche sorgfältig zukorkte.

»Pass mal auf, Jim, ich muss jetzt tanzen gehen, und ich wär dir dankbar, wenn du dir den Whiskey hier in die Tasche stecken würdest, solange du nicht tanzt. Wenn die anderen spitzkriegen, dass ich was getrunken habe, kommen sie nämlich sofort an und wollen auch was, und ruck, zuck ist alles weg, und jemand anders amüsiert sich an meiner Stelle.«

Nancy Lamar würde also heiraten. Dieser Stern einer ganzen Stadt würde zum Privateigentum einer Gestalt in weißen Hosen werden – und das nur, weil der Vater der weißen Hosen einen besseren Rasierer hergestellt hatte als sein Nachbar. Als sie die Treppe hinuntergingen, fand Jim diesen Gedanken unerklärlich bedrückend. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er eine vage, romantische Sehnsucht. In seiner Phantasie sah er ein Bild von ihr entstehen – Nancy, wie sie knabenhaft, lässig die Straße entlangschlenderte und von einem ergebenen Obsthändler eine Orange als Zehnten entgegennahm, wie sie im Soda Sam’s inmitten einer Schar von Verehrern ein berauschendes Getränk von einem fiktiven Bankguthaben bezahlte und in triumphalem Pomp davonfuhr, einem Nachmittag in Saus und Braus entgegen.

Jelly-bean trat auf die Veranda hinaus und zog sich in eine leere Ecke zurück, in die Dunkelheit zwischen dem mondbeschienenen Rasen und dem einzelnen Licht, das die Tür des Ballsaals erleuchtete. Er fand einen Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und gab sich der gedankenlosen Träumerei hin, die seine gewohnte Gemütsverfassung war. Doch die Nacht machte es zu einer sinnlichen Träumerei, nicht anders als der Geruch feuchter Puderquasten, die in tiefen Ausschnitten steckten und tausend intensive, durch die offene Tür zu ihm herwehende Düfte herausdestillierten. Die Musik selbst, von einer lauten Posaune verwischt, wurde heiß und schattig, ein sehnsuchtsvoller Oberton, der das Scharren der vielen Schuhe und Slipper begleitete.

Plötzlich verdunkelte eine Gestalt das Rechteck aus gelbem Licht, das durch die Tür fiel. Ein Mädchen war aus der Garderobe gekommen und stand nicht weiter als drei Meter von ihm entfernt auf der Veranda. Jim hörte ein geflüstertes »verdammt«, bevor sie sich umdrehte und ihn entdeckte. Es war Nancy Lamar.

Jim stand auf. »’n Abend.«

»Hallo –« Sie hielt inne, zögerte und kam dann näher. »Ach, du bist’s – Jim Powell.«

Er verbeugte sich leicht und überlegte, was er sagen könnte.

»Meinst du«, begann sie rasch, »also – weißt du irgendwas über Kaugummi?«

»Wie?«

»Ich hab Kaugummi unterm Schuh. Irgendein Vollidiot hat sein oder ihr Kaugummi auf den Boden geworfen, und ich bin natürlich reingetreten.«

Jim wurde unsinnigerweise rot.

»Weißt du, wie man das wieder abkriegt?«, fragte sie ungeduldig. »Ich hab’s mit dem Messer versucht. Und mit allem, was ich in der blöden Garderobe finden konnte. Mit Seife und Wasser – sogar mit Parfüm, und dann hab ich mir noch meine Puderquaste ruiniert, weil ich sehen wollte, ob’s vielleicht daran kleben bleibt.«

Jim dachte einigermaßen erregt über ihre Frage nach.

»Also – vielleicht mit Benzin…«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da griff sie schon nach seiner Hand und zerrte ihn von der Veranda herunter, lief mit ihm mitten durch ein Beet und im Galopp auf eine Gruppe Autos zu, die im Mondlicht am ersten Loch des Golfplatzes parkten.

»Dreh das Benzin auf«, befahl sie außer Atem.

»Was?«

»Wegen des Kaugummis natürlich. Ich muss es abkriegen. Mit Kaugummi am Schuh kann ich nicht tanzen.«

Gehorsam wandte Jim sich den Autos zu und inspizierte sie im Hinblick darauf, wie er an das gewünschte Lösungsmittel herankommen könnte. Hätte sie einen Zylinder haben wollen, er hätte sein Möglichstes getan, um einen herauszureißen.

»Hier«, sagte er nach kurzem Suchen. »Bei dem hier geht’s leicht. Hast du ein Taschentuch?«

»Das hab ich oben gelassen, weil’s nass war. Ich hab’s für die Seife und das Wasser benutzt.«

Jim kramte umständlich in seinen Taschen. »Ich glaube, ich hab auch keins.«

»Verdammt! Aber wir könnten es doch aufdrehen und auf den Boden laufen lassen.«

Er betätigte den Hahn, und das Benzin begann zu tröpfeln.

»Mehr!«

Er drehte den Hahn noch weiter auf. Das Tröpfeln verwandelte sich in einen Strom und bildete eine hell schimmernde ölige Pfütze, in deren bebendem Schoß sich ein Dutzend zittriger Monde spiegelten.

»Ah«, seufzte sie zufrieden, »lass alles raus. Dann brauche ich nur noch darin zu waten.«

Verzweifelt drehte er den Hahn voll auf, und die Pfütze breitete sich im Nu aus und sandte kleine Flüsschen und Rinnsale in alle Richtungen.

»Ja, genau. So ist es gut.«

Sie hob den Rock an und setzte graziös ihren Fuß in die Pfütze. »Damit geht es bestimmt ab«, murmelte sie.

Jim lächelte. »Hier stehen noch viel mehr Autos rum.«

Sie trat anmutig wieder aus dem Benzin heraus und begann, Ränder und Sohle ihrer Slipper am Trittbrett des Automobils abzuschaben. Jetzt konnte Jelly-bean nicht mehr an sich halten. Er brach in schallendes Gelächter aus, und binnen kurzem stimmte Nancy ein.

»Du bist mit Clark Darrow hier, oder?«, fragte sie, als sie zur Veranda zurückgingen.

»Ja.«

»Weißt du, wo er jetzt ist?«

»Tanzen, denk ich.«

»Mist. Er hat mir einen Highball versprochen.«

»Also«, sagte Jim, »ich denk, das geht in Ordnung. Ich hab seinen Flachmann hier in der Tasche.«

Sie lächelte ihn strahlend an.

»Aber ich glaube, du brauchst ein bisschen Ginger Ale«, fügte er hinzu.

»Ich doch nicht. Bloß den Flachmann.«

»Sicher?«

Sie lachte verächtlich.

»Wirst schon sehen. Ich kann trinken wie ein Mann. Komm, setzen wir uns hin.«

Sie schwang sich auf die Tischkante, und er ließ sich neben ihr in einen der Korbstühle fallen. Dann zog sie den Korken aus der Flasche, führte sie an die Lippen und tat einen langen Zug. Er schaute fasziniert zu.

»Gut?«

Noch ganz atemlos schüttelte sie den Kopf.

»Nein, aber es tut gut. Ich glaub, so geht’s den meisten.«

Jim pflichtete ihr bei. »Meinem Daddy hat’s ein bisschen zu gut getan. Den hat’s erwischt.«

»Amerikanische Männer«, sagte Nancy feierlich, »verstehen nichts vom Trinken.«

»Was?« Jim war verwirrt.

»Im Grunde«, fuhr sie unbekümmert fort, »verstehen sie von gar nichts sonderlich viel. Das Einzige, was ich in meinem Leben bedaure, ist, dass ich nicht in England geboren wurde.«

»In England?«

»Ja. Das finde ich wirklich schade.«

»Gefällt es dir da drüben?«

»Ja. Ungeheuer. Ich war nie selber dort, aber ich habe viele Engländer kennengelernt, die als Soldaten hier waren, Männer aus Oxford und Cambridge – das entspricht bei uns Sewanee und Georgia, weißt du –, und außerdem habe ich natürlich eine Menge englischer Romane gelesen.«

Jim war interessiert, erstaunt.

»Hast du mal was von Lady Diana Manners gehört?«, fragte sie ernst.

Nein, das hatte er nicht.

»Sie ist so, wie ich gern wäre. Dunkel, verstehst du, genau wie ich, und wild wie der Teufel. Sie ist mit ihrem Pferd die Stufen zu irgendeiner Kathedrale oder Kirche hochgeritten, und danach haben alle Schriftsteller das ihre Romanheldinnen genauso machen lassen.«

Jim nickte höflich. Er war mit seinem Latein am Ende.

»Gib mal die Flasche her«, sagte Nancy. »Ich nehm noch einen Schluck. Ein kleiner Drink kann einem kleinen Mädchen nicht schaden.«

»Weißt du«, fuhr sie, nach dem Zug wieder etwas atemlos, fort, »die Leute dort drüben haben Stil. Hier hat niemand Stil. Ich meine, die Jungs hier sind es nicht wirklich wert, dass man sich für sie schönmacht oder irgendwas Aufsehenerregendes für sie anstellt. Findest du nicht auch?«

»Nein – ich meine ja«, murmelte Jim.

»Und dabei würde ich gern so etwas tun. Ich bin wirklich das einzige Mädchen in der Stadt, das Stil hat.«

Sie streckte die Arme aus und gähnte wohlig.

»Schöner Abend.«

»Stimmt.«

»Es wär schön, ein Boot zu haben«, sagte sie träumerisch. »Und auf einen silbernen See hinauszusegeln, auf die Themse zum Beispiel. Champagner und Kaviarhäppchen dabeizuhaben. Und ungefähr acht Leute. Und einer der Männer würde zur Unterhaltung der anderen über Bord springen und dabei ertrinken, wie es einem Mann in Lady Diana Manners’ Begleitung mal passiert ist.«

»Hat er das ihr zuliebe getan?«

»Bestimmt ist er nicht ihr zuliebe ertrunken. Er wollte nur über Bord springen und alle zum Lachen bringen.«

»Na, die sind sicher alle vor Lachen gestorben, als er ertrunken ist.«

»Ach, ein bisschen haben sie wahrscheinlich schon gelacht«, sagte sie. »Diana auf jeden Fall. Sie ist ziemlich hart, glaube ich – so wie ich.«

»Du bist hart?«

»Stahlhart.« Sie gähnte erneut und fügte hinzu: »Gib mir noch ein bisschen was aus der Flasche da.«

Jim zögerte, doch sie streckte trotzig die Hand aus.

»Behandel mich nicht wie ein kleines Mädchen«, warnte sie ihn. »Ich bin anders als alle Mädchen, die du so kennst.« Sie überlegte. »Aber vielleicht hast du recht. Du – du bist ein ganz schön kluges Bürschchen für dein Alter.«

Sie sprang auf und ging zur Tür. Jelly-bean erhob sich ebenfalls.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie höflich, »auf Wiedersehen. Danke, Jelly-bean.«

Dann ging sie hinein und ließ ihn mit großen Augen auf der Veranda stehen.

III

 

Um zwölf Uhr kam ein feierlicher Umzug von Capes aus der Damengarderobe, die sich eins nach dem anderen wie beim Kotillon einem bemäntelten Kavalier zugesellten und mit selig erschöpftem Gelächter zur Tür hinaus schwebten – hinaus ins Dunkle, wo Autos zurücksetzten und Motoren schnaubten und Leute einander riefen und sich um Kühler scharten.

Jim, der in seiner Ecke saß, stand auf, um Clark zu suchen. Sie hatten sich zuletzt um elf gesehen; dann war Clark zum Tanzen hineingegangen. Also schlenderte Jim zum Limonadeausschank, der vorher eine Bar gewesen war. Der Raum war menschenleer, abgesehen von einem schläfrigen Neger, der hinter dem Tresen vor sich hin dämmerte, und zwei Jungen, die an einem der Tische stumpfsinnig mit zwei Würfeln herumspielten. Jim wollte gerade gehen, als er Clark hereinkommen sah. Im selben Moment blickte Clark auf.

»He, Jim«, befahl er. »Komm her und hilf uns mit der Flasche da aus. Ist nicht mehr viel drin, fürchte ich, aber für eine Runde wird’s wohl reichen.«

Nancy, der Mann aus Savannah, Marylyn Wade und Joe Ewing lehnten lässig im Türrahmen und lachten. Nancy suchte Jims Blick und zwinkerte ihm gutgelaunt zu.

Dann gingen sie alle zu einem Tisch, setzten sich und warteten darauf, dass der Kellner ihnen Ginger Ale brachte. Jim schaute ein wenig beklommen zu Nancy hinüber, die inzwischen mit den beiden Jungs vom Nachbartisch Craps spielte.

»Kommt hier rüber«, schlug Clark vor.

Joe schaute sich um. »Wir wollen nicht, dass man uns sieht. Es verstößt gegen die Clubregeln.«

»Ist doch keiner da«, entgegnete Clark, »außer Mr. Taylor. Und der rennt wie ein Verrückter draußen rum und fragt alle, wer das ganze Benzin aus seinem Auto rausgelassen hat.«

Allgemeines Gelächter.

»Ich setze eine Million darauf, dass Nancy mal wieder was am Schuh hatte. Man darf sein Auto nirgends parken, wenn sie in der Nähe ist.«

»Oh, Nancy, Mr. Taylor sucht dich!«

Nancys Wangen glühten vor Aufregung über das Spiel. »Ich habe seine dumme alte Blechkiste seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.«

Jim spürte, wie plötzlich Stille eintrat. Er drehte sich um und sah eine Person unbestimmten Alters im Türrahmen stehen.

Clarks Stimme unterbrach das betretene Schweigen. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, Mr. Taylor?«

»Danke.«

Mr. Taylor machte sich in all seiner Unwillkommenheit auf einem Stuhl breit. »Muss ich wohl. Ich warte, bis jemand ein bisschen Benzin für mich auftreibt. Irgendwer hat an meinem Auto rumgefummelt.«

Er kniff die Augen zusammen und schaute rasch von einem zum anderen. Jim überlegte, was er von der Tür aus gehört haben mochte – versuchte sich zu erinnern, was sie gesagt hatten.

»Heut geht’s mir gut, so gut«, sang Nancy laut, »und ich setze vier Vierteldollar.«

»Setze dagegen!«, blaffte Mr. Taylor plötzlich.

»Aber Mr. Taylor, ich wusste ja gar nicht, dass Sie Craps spielen!« Nancy war begeistert zu sehen, dass er sich zu ihr gesellt hatte und sofort mitging. Sie hatten aus ihrer gegenseitigen Abneigung kein Hehl gemacht, seit sie eines Abends eine Reihe ziemlich eindeutiger Avancen seinerseits entschieden zurückgewiesen hatte.

»Also los, Babys, tut’s eurer Mama zuliebe. Nur eine kleine Sieben.« Nancy bezirzte die Würfel. Sie schüttelte sie mit kühner, schwungvoller Gebärde in der hohlen Hand und ließ sie auf den Tisch rollen.

»Ah-h! Wusst ich’s doch. Und gleich noch mal – erhöhe um einen Dollar.«

Nach fünf Runden zu ihren Gunsten erwies sich Taylor als schlechter Verlierer. Sie machte das Spiel zu einer persönlichen Fehde, und nach jedem erfolgreichen Wurf sah Jim Triumph in ihrem Gesicht aufflammen. Immer wieder verdoppelte sie ihren Einsatz – eine solche Glückssträhne konnte nicht anhalten.

»Sei lieber vorsichtig«, warnte er sie zaghaft.

»Oh, aber jetzt schau doch«, flüsterte sie. Die Würfel zeigten die Punktzahl Acht, und sie würfelte noch einmal. »Kleine Ada, jetzt geht’s ab in den Süden.«

Ada aus Decatur rollte über den Tisch. Nancy hatte rote Wangen und war halb hysterisch, doch ihre Glückssträhne hielt an. Sie trieb den Einsatz höher und höher und weigerte sich, ihren Gewinn einzustreichen. Taylor trommelte mit den Fingern auf den Tisch, doch er stieg nicht aus.

Dann versuchte Nancy sich an einer Zehn und verlor die Würfel. Taylor nahm sie begierig an sich. Er spielte schweigend, und in der gespannten Stille war das Klackern seiner Würfe auf dem Tisch das einzige Geräusch.

Irgendwann hatte Nancy die Würfel wieder, doch ihre Glückssträhne war vorbei. Eine Stunde verstrich. Es ging hin und her. Taylor war erneut an der Reihe gewesen – und noch mal und noch mal. Am Schluss lagen sie beide gleichauf, und Nancy verlor ihre letzten fünf Dollar.

»Würden Sie einen Scheck über fünfzig von mir annehmen«, sagte sie schnell, »und wir spielen um alles?« Ihre Stimme schwankte ein wenig, und als sie nach dem Geld griff, zitterte ihre Hand.

Clark wechselte einen unentschiedenen, aber beunruhigten Blick mit Joe Ewing. Taylor würfelte. Er bekam Nancys Scheck.

»Wie wär’s mit noch einem?«, sagte sie ungestüm. »Ach, egal von welcher Bank – ich hab sowieso überall Geld.«

Jim begriff – der »gute alte Whiskey«, den er ihr gegeben hatte; der »gute alte Whiskey«, den sie seitdem getrunken hatte. Er wünschte, er wäre mutig genug einzuschreiten – ein Mädchen ihres Alters und ihrer Stellung verfügte bestimmt nicht über zwei Bankkonten. Als die Uhr zwei schlug, hielt er sich nicht länger zurück. »Darf ich – könnte ich mal für dich würfeln?«, fragte er, und seine leise, träge Stimme klang ein wenig angespannt.

Nancy warf ihm, auf einmal erschöpft und lustlos, die Würfel hin. »Na gut – alter Junge! Wie Lady Diana Manners sagt: ›Lass die Würfel rollen, Jelly-bean‹ – meine Glückssträhne ist vorbei.«

»Mr. Taylor«, sagte Jim leichtsinnig, »wir würfeln um einen der Schecks im Tausch gegen das Bargeld.«

Eine halbe Stunde später beugte Nancy sich schwankend vor und klopfte ihm auf den Rücken. »Hast mir mein Glück geklaut, ja, das hast du.« Sie nickte weise mit dem Kopf.

Jim schnappte sich den letzten Scheck, legte sie alle aufeinander und zerriss sie in kleine Schnipsel, die er auf den Boden rieseln ließ. Jemand fing an zu singen, und Nancy stieß ihren Stuhl zurück und stand auf.

»Meine Damen und Herren«, hob sie an. »Meine Damen – das bist du, Marylyn. Ich möchte der Welt verkünden, dass Mr. Jim Powell, notorischer Jelly-bean dieser Stadt, die Ausnahme von einer großen Regel darstellt: ›Glück im Würfelspiel – Pech in der Liebe‹. Er hat Glück im Würfelspiel, und, ob ihr’s glaubt oder nicht, ich – ich liebe ihn. Meine Damen und Herren, Nancy Lamar, berühmte dunkelhaarige Schönheit, als eine der Um… Umschwärmtesten der jüngeren Generation so oft im Herald abgebildet, wie auch andere Mädchen da in diesem speziellen Fall abgebildet sind. Gibt sich die Ehre, zu verkünden – also die Ehre, zu verkünden, meine Herren –« Sie kippte plötzlich zur Seite. Clark fing sie auf und brachte sie wieder ins Gleichgewicht.

»Mein Fehler«, lachte sie, »sie lässt sich – lässt sich herab – also – Wir trinken auf Jelly-bean… Mr. Jim Powell, King of the Jelly-beans.«

Und als Jim ein paar Minuten später mit dem Hut in der Hand in der Dunkelheit derselben Verandaecke, in die sie vorhin auf der Suche nach Benzin gekommen war, auf Clark wartete, stand sie plötzlich neben ihm.

»Jelly-bean«, sagte sie, »bist du hier, Jelly-bean? Ich glaube« – und ihr leichtes Schwanken schien Teil eines verzauberten Traums zu sein –, »ich glaube, du hast dir einen meiner süßesten Küsse verdient, Jelly-bean.«

Einen Augenblick lang lagen ihre Arme um seinen Hals, und ihre Lippen drückten sich auf die seinen. »Ich bin wild und gefährlich, Jelly-bean, aber du – du hast mir einen Gefallen getan.«

Schon war sie fort, von der Veranda hinunter, und entfernte sich über den grillenlauten Rasen. Jim sah, wie Merritt aus der Eingangstür kam und ärgerlich etwas zu ihr sagte – sah, wie sie lachte und, den Blick von ihm abgewandt, zu seinem Auto ging. Marylyn und Joe, die einen einschläfernden Song über irgendein Jazz Baby sangen, folgten ihr.

Clark trat auf die Veranda und stellte sich neben Jim an die Treppe. »Alle ziemlich blau, würde ich sagen«, gähnte er. »Merritt ist übler Laune. Der hat bestimmt genug von Nancy.«

Im Osten, wo der Golfplatz war, legte sich ein feiner grauer Teppich über die Füße der Nacht. Die Gesellschaft im Auto begann zu singen, während der Motor warm lief.

»Gute Nacht, zusammen«, rief Clark.

»Gute Nacht, Clark.«

»Gute Nacht.«

Eine Pause. Dann fügte eine sanfte, fröhliche Stimme hinzu: »Gute Nacht, Jelly-bean.«

Lauter Gesang ertönte, als das Auto davonfuhr. Ein Hahn auf einer nahe gelegenen Farm stimmte ein einsames, klagendes Krähen an, und hinter ihnen schaltete ein letzter schwarzer Kellner die Verandalichter aus. Jim und Clark schlenderten zum Ford; ihre Schuhe knirschten geräuschvoll auf dem Kiesweg.

»Mannomann!«, seufzte Clark leise. »Wie du mit den Würfeln umgehen kannst!«

Es war immer noch zu dunkel, als dass er die Röte auf Jims mageren Wangen hätte sehen – oder gar hätte wissen können, dass es eine völlig neue, ungewohnte Schamesröte war.

IV

 

Der düstere Raum über Tillys Werkstatt hallte den ganzen Tag vom Poltern und Schnauben unter ihm und vom Gesang der schwarzen Wäscher wider, die den Schlauch auf die draußen stehenden Autos richteten. Es war ein trauriges Viereck von einem Raum, mit nichts als einem Bett und einem schäbigen Tisch darin, auf dem ein halbes Dutzend Bücher lagen – Joe Millers Slow Train thru Arkansas, eine sehr alte, in einer altmodischen Handschrift ausgiebig kommentierte Ausgabe von Lucille; The Eyes of the World von Harold Bell Wright und ein altes Gebetbuch der Anglikanischen Kirche, auf dessen Deckblatt der Name Alice Powell und die Jahreszahl 1831 eingetragen waren.

Der Osten, der noch grau gewesen war, als Jelly-bean die Werkstatt betreten hatte, verwandelte sich in ein leuchtendes, lebhaftes Blau, nachdem er die einzige elektrische Lampe eingeschaltet hatte. Er knipste sie wieder aus, ging zum Fenster, stützte die Ellbogen auf den Sims und starrte hinaus in den heller werdenden Morgen. Mit dem Erwachen seiner Gefühle nahm er als Erstes eine gewisse Vergeblichkeit wahr, einen dumpfen Schmerz über das graue Einerlei seines Lebens. Eine Mauer war plötzlich um ihn herum aus dem Boden geschossen, eine Mauer, so plastisch und greifbar wie die weiße Wand seines kahlen Zimmers. Und mit der Wahrnehmung dieser Mauer verblasste alles, was die Romantik seines Daseins bisher ausgemacht hatte – der Schlendrian, die heitere Unbeschwertheit, die herrliche Freigebigkeit des Lebens. Jelly-bean, der müßig vor sich hin summend die Jackson Street entlangschlenderte, der in jedem Laden und an jedem Kiosk bekannt war, der stets einen lockeren Gruß oder einen alten Kalauer parat hatte und höchstens mal um der Traurigkeit selbst und der verfliegenden Zeit willen traurig war – diesen Jelly-bean gab es plötzlich nicht mehr. Der Name selbst war ein Vorwurf, eine Plattheit. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, dass Merritt ihn verabscheuen musste, dass selbst Nancys Kuss in der Morgendämmerung keine Eifersucht in ihm geweckt haben konnte, sondern nur Verachtung für Nancy, die sich derart erniedrigt hatte. Und er für sein Teil hatte einen schmutzigen Trick für sie angewandt, den er in der Werkstatt gelernt hatte. Er war die Wäscherei für ihr Betragen gewesen; die Flecken hafteten an ihm.

Als das Grau allmählich blau wurde, immer heller leuchtete und den Raum erfüllte, ging er zu seinem Bett, warf sich rücklings darauf und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft am Bettrand fest.

»Ich liebe sie«, rief er laut. »Gott!«

Als er das sagte, gab etwas in ihm nach, als löste sich ein Kloß in seinem Hals. Die Luft wurde klarer und begann in der Morgenröte zu strahlen; er drehte sich auf den Bauch und weinte dumpf in sein Kissen.

In der Drei-Uhr-Nachmittagssonne tuckerte Clark Darrow in seinem Ford schwerfällig die Jackson Street hinunter, als er plötzlich von Jelly-bean gerufen wurde, der mit den Daumen in der Westentasche am Bordstein stand.

»Hallo!«, rief Clark zurück und vollführte eine erstaunliche Bremsung. »Gerade aufgestanden?«

Jelly-bean schüttelte den Kopf. »Gar nicht erst im Bett gewesen. Konnte keine Ruhe finden und hab heute früh einen langen Spaziergang gemacht, draußen auf dem Land. Komm grade erst zurück.«

»Kein Wunder, dass es dich umtreibt. Geht mir auch schon den ganzen Tag so…«

»Ich geh vielleicht weg von hier«, sagte Jelly-bean ganz versonnen. »Zieh vielleicht auf die Farm oben im Norden und nehm Onkel Dun ein bisschen Arbeit ab. Hab lange genug auf der faulen Haut gelegen.«

Clark schwieg, und Jelly-bean fuhr fort: »Wenn Tante Mamie stirbt, könnt ich mein Geld vielleicht in die Farm stecken und was draus machen. Meine ganze Familie stammt ursprünglich von da oben. Hatte ein großes Haus dort.«

Clark schaute ihn überrascht an. »Das ist ja merkwürdig«, sagte er. »Die – die Sache hat auf mich eine ganz ähnliche Wirkung gehabt.«

Jelly-bean zögerte. »Ich weiß nicht«, sagte er dann, »aber als das – das Mädchen gestern Abend über eine Dame namens Diana Manners geredet hat, eine englische Lady, also, das – das hat mich irgendwie nachdenklich gemacht!« Er richtete sich auf und sah Clark mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an. »Ich komm schließlich aus einer guten Familie«, sagte er trotzig.

Clark nickte. »Ich weiß.«

»Und ich bin der Letzte davon«, fuhr Jelly-bean fort und hob ein wenig die Stimme, »aber ich bin keinen Pfifferling wert. In meinem Spitznamen ist Gelee drin, so weiches und wabbeliges Zeug. Leute, die nichts waren, als meine Familie viel darstellte, die rümpfen die Nase, wenn sie auf der Straße an mir vorbeilaufen.«

Wieder schwieg Clark.

»Und das reicht mir jetzt. Ich geh heute noch weg. Und wenn ich je wiederkomme, dann als Gentleman.«

Clark holte sein Taschentuch heraus und trocknete sich die feuchte Stirn. »Bist nicht der Einzige, den die Sache durchgerüttelt hat«, sagte er trübsinnig. »Aber mit dieser ganzen Art, wie die Mädchen sich heute so aufführen, ist es bald vorbei. Eigentlich auch wieder schade, aber alle werden’s einsehen müssen.«

»Meinst du denn«, fragte Jim erstaunt, »dass alles durchgesickert ist?«

»Durchgesickert? Wie hätten sie’s denn geheim halten können! Heute Abend wird’s in allen Zeitungen stehen. Doktor Lamar muss ja irgendwie seinen Namen retten.«

Jim stützte sich mit den Händen am Auto ab und drückte seine langen Finger gegen das Metall. »Heißt das, Taylor hat die Schecks geprüft?«

Jetzt war es Clark, der erstaunt war. »Hast du denn nicht gehört, was passiert ist?«

Jims erschrockener Blick war Antwort genug.

»Also«, verkündete Clark theatralisch, »die vier haben sich noch eine Flasche Whiskey besorgt, sich vollends betrunken und beschlossen, die Stadt zu schockieren – und so haben Nancy und dieser Merritt heute Morgen um sieben Uhr früh in Rockville geheiratet.«

Unter den Fingern von Jelly-bean entstand eine kleine Delle im Metall. »Geheiratet?«

»Allerdings. Nancy war dann irgendwann wieder nüchtern und ist ganz schnell in die Stadt zurückgekommen, heulend und zu Tode erschrocken – hat beteuert, es wär alles ein Irrtum gewesen. Zuerst ist Doktor Lamar wahnsinnig wütend geworden und wollte Merritt umbringen, aber dann haben sie sich irgendwie wieder eingekriegt, und Nancy und Merritt sind um halb drei mit dem Zug nach Savannah gefahren.«

Jim schloss die Augen und bezwang mit Mühe die Übelkeit, die ihn überkam.

»Ein Jammer«, sagte Clark philosophisch. »Nicht dass sie geheiratet haben – das ist wohl in Ordnung, auch wenn ich nicht glaube, dass Nancy irgendwas für ihn empfindet. Aber es ist eine Schande, wenn so ein nettes Mädchen seiner Familie eine derartige Kränkung zufügt.«

Jelly-bean ließ das Auto los und drehte sich um. Erneut ging irgendetwas in ihm vor, eine unerklärliche, aber fast chemische Veränderung.

»Wo willst du hin?«, fragte Clark.

Jelly-bean wandte sich um und blickte ausdruckslos über die Schulter zurück. »Muss jetzt gehen«, murmelte er. »Bin zu lange auf den Beinen; fühl mich richtig krank.«

»Oh.«

Um drei war es heiß auf der Straße, um vier noch heißer, und der Aprilstaub schien die Sonne einzuspinnen und wieder freizugeben, ein Streich, so alt wie die Welt, der einer Ewigkeit von Nachmittagen immer aufs Neue gespielt wird. Doch um halb fünf fiel ein erster Ruheschleier, und die Schatten unter den Markisen und den schwer belaubten Bäumen wurden länger. In dieser Hitze war nichts mehr von Belang. Alles Leben war Wetter, ein Aushalten der heißen Stunden, deren Ereignisse für die kühlen Stunden, sanft und zärtlich wie die Hand einer Frau auf einer müden Stirn, keine Bedeutung hatten. In Georgia gibt es das vielleicht unausgesprochene Empfinden, dass dies die größte Weisheit des Südens ist – und so betrat Jelly-bean nach einer Weile einen Billardsalon an der Jackson Street, wo er sicher sein konnte, auf Gleichgesinnte zu treffen, die all die alten Witze machen würden – jene Witze, die er kannte.

Winterträume
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