Der seltsame Fall des Benjamin Button

 

I

 

Anno 1860 pflegte man noch zu Hause geboren zu werden. Neuerdings haben die Hochgötter der Medizin, wie ich höre, verfügt, dass die lieben Kleinen ihre ersten Schreie in der äthergeschwängerten Luft einer Klinik von sich zu geben hätten, vorzugsweise einer Klinik à la mode. Die jungen Eheleute Mr. und Mrs. Roger Button waren also ihrer Zeit um fünfzig Jahre voraus, als sie eines schönen Tages im Sommer 1860 beschlossen, ihr erstes Baby in einer Klinik zur Welt kommen zu lassen. Ob dieser Anachronismus die erstaunliche Geschichte, die ich hier niederschreiben will, in irgendeiner Form beeinflusst hat, das werden wir wohl nie erfahren.

Doch lassen Sie mich erzählen, was geschah, und urteilen Sie selbst.

Die Buttons befanden sich seinerzeit, das heißt in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, nicht nur hinsichtlich ihrer Stellung in der besseren Gesellschaft von Baltimore, sondern auch im Hinblick auf ihre finanziellen Verhältnisse in einer beneidenswerten Lage. Sie waren sowohl mit den Sowiesos als auch mit den Soundsos verwandt und durften sich deshalb, wie jeder Südstaatler weiß, zu jenem ungemein zahlreichen Adelsstand zählen, der damals die Konföderation bevölkerte. Und dies war nun ihre erste Erfahrung mit dem entzückenden alten Brauch, Babys zu bekommen – Mr. Button war natürlich sehr aufgeregt. Er hoffte, es werde ein Junge werden, den man nach Connecticut aufs Yale College schicken könne, das nämliche Institut, an welchem er selber vier Jahre lang unter dem in Anbetracht seines Nachnamens doch wohl ein wenig platten Spitznamen »Cuff«, also Manschettenknopf, bekannt gewesen war.

Nervös erhob er sich an dem für das große Ereignis vorherbestimmten Septembermorgen um sechs Uhr in der Frühe, kleidete sich an, rückte seine tadellos sitzende Halsbinde zurecht und eilte durch die Straßen von Baltimore der Klinik entgegen, um zu erkunden, ob wohl die Finsternis der Nacht ein neues Leben aus ihrem Schoß entlassen habe.

Als ihn noch ungefähr hundert Meter vom Maryland Private Hospital for Ladies and Gentlemen trennten, erkannte er auf den Stufen vor dem Portal der Klinik Dr. Keene, den Hausarzt der Familie, der eben die Treppe herabkam und sich im Gehen die Hände rieb, als würde er sie waschen, wie es der ungeschriebene Ehrenkodex seiner Zunft verlangt.

Weit weniger würdevoll, als man es von einem Südstaaten-Gentleman dieser illustren Epoche hätte erwarten dürfen, stürzte Mr. Roger Button, Präsident der Firma Roger Button & Co., Eisenwarengroßhandel, auf ihn zu. »Dr. Keene!«, rief er. »Ah, Dr. Keene!«

Als der Doktor ihn hörte, drehte er sich um und blieb wartend stehen, und während Mr. Button näher kam, trat ein merkwürdiger Ausdruck in seine gestrenge Medizinermiene.

»Wie ist es gegangen?«, stieß Mr. Button keuchend hervor, indem er auf den Doktor zurannte. »Was ist es? Wie geht es ihr? Ein Junge? Wer ist er? Was –«

»So hören Sie doch auf, wirres Zeug zu reden!«, sagte Doktor Keene scharf. Er war sichtlich ungehalten.

»Ist es da, das Kind?«, drängte Mr. Button.

Doktor Keene runzelte die Stirn. »Nun ja, irgendwie schon – mehr oder minder.« Und wieder fasste er Mr. Button mit diesem merkwürdigen Blick ins Auge.

»Ist mit meiner Frau alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«

»Also da hört sich doch alles auf!«, rief Dr. Keene, und nun brach der Unmut geradezu aus ihm heraus. »Gehen Sie gefälligst hinein und schauen Sie selbst. Unerhört!«, blaffte er, und dieses letzte Wort hörte sich beinah wie eine einzige Silbe an. Dann wandte er sich murrend ab. »Meinen Sie etwa«, brummte er, »ein Fall wie dieser ist meinem Ruf als Arzt zuträglich? Noch einmal so eine Geschichte, und ich wäre ruiniert – und jeder andere genauso.«

»Was ist denn nur los?«, fragte Mr. Button entsetzt. »Drillinge?«

»Nein, keine Drillinge!«, erwiderte der Doktor mit schneidender Stimme. »Im Übrigen gehen Sie doch gefälligst hinein und schauen Sie selbst. Und suchen Sie sich auch gleich einen neuen Arzt. Junger Mann, ich habe Ihnen auf die Welt geholfen, und ich bin seit vierzig Jahren der Hausarzt Ihrer Familie, aber jetzt bin ich fertig mit Ihnen! Ich möchte Sie nie mehr wiedersehen, weder Sie noch irgendeinen Ihrer Angehörigen! Gehaben Sie sich wohl!«

Und damit drehte er sich zackig um, stieg ohne ein weiteres Wort in seinen am Straßenrand wartenden Zweispänner und fuhr entschlossen davon.

Wie vor den Kopf geschlagen, am ganzen Leibe zitternd, stand Mr. Button an der Bordsteinkante. Was mochte das bloß für ein grauenvolles Missgeschick sein, das sich da ereignet hatte? Sein Verlangen, das Maryland Private Hospital for Ladies and Gentlemen zu betreten, war mit einem Mal wie weggeblasen – nur mit äußerster Anstrengung bezwang er sich, stieg endlich die Vortreppe hinauf und trat durch die Eingangstür.

Hinter einem Tisch, im trüben Licht des Vestibüls, saß eine Krankenschwester. Mr. Button schluckte seine Scham hinunter und ging auf sie zu.

»Guten Morgen«, sagte sie und blickte freundlich zu ihm auf.

»Guten Morgen. Ich – ich bin Mr. Button.«

Als die junge Frau diese Worte vernahm, breitete sich ein unaussprechliches Entsetzen auf ihrem Gesicht aus. Sie sprang auf, als wollte sie die Flucht ergreifen, und es war nicht zu übersehen, dass sie allergrößte Mühe hatte, sich zu bezähmen.

»Ich möchte gern zu meinem Kind«, sagte Mr. Button.

Die Krankenschwester stieß einen kleinen Schrei aus. »Oh – selbstverständlich!«, rief sie hysterisch. »Die Treppe hinauf. Gleich da oben. Gehen Sie – nach oben!«

Sie deutete in die genannte Richtung, und Mr. Button, der in kalten Schweiß gebadet war, drehte sich zögernd um und machte sich auf den Weg nach oben in den ersten Stock. Dort sprach er eine andere Krankenschwester an, die mit einer Schüssel in der Hand quer durch die Halle auf ihn zukam. »Ich bin Mr. Button«, brachte er mühsam heraus. »Ich möchte zu meinem –«

Boing! Die Schüssel schepperte zu Boden und rollte auf die Treppe zu. Boing! Boing! trat sie Stufe für Stufe ihren Weg nach unten an, ganz so, als wollte auch sie einfallen in das allgemeine Entsetzen, das dieser Herr hier ausgelöst hatte.

»Ich möchte zu meinem Kind!«, rief Mr. Button fast schon kreischend. Er war einem Zusammenbruch nahe.

Boing! Die Schüssel war im Erdgeschoss angekommen. Unterdessen hatte sich die Krankenschwester wieder gefangen und sah Mr. Button mit abgrundtiefer Verachtung an.

»Schon gut, Mr. Button«, willigte sie mit gedämpfter Stimme ein. »Sehr wohl! Aber Sie haben ja keine Ahnung, in was für einen Zustand uns das hier heute Morgen alle miteinander versetzt hat! Einfach unerhört, so etwas! Der Ruf der Klinik wird nach dieser Geschichte ein für alle Mal –«

»Beeilen Sie sich!«, rief er heiser. »Ich halt das nicht mehr aus!«

»Nun denn – kommen Sie, Mr. Button, hier entlang.«

Er trabte hinter ihr her. Sie führte ihn durch einen langen Flur, an dessen Ende sich ein Saal befand, aus dem ein vielstimmiges Gebrüll drang – eine Art Schreizimmer. Sie traten ein. Ringsherum an den Wänden stand ein halbes Dutzend weißemaillierter Kinderbettchen auf Rollen, und an den Kopfenden hing jeweils ein Namensschild.

»Also«, keuchte Mr. Button, »welches davon ist meines?«

»Das da!«, sagte die Krankenschwester.

Mr. Buttons Blick folgte ihrem Zeigefinger, und da sah er es. Eingewickelt in eine bauschige weiße Decke und halbwegs hineingestopft in eines der Bettchen, hockte dort ein alter Mann von augenscheinlich etwa siebzig Jahren. Er hatte schütteres, nahezu weißes Haar, und von seinem Kinn hing ein langer, rauchgrauer Bart, der in dem durchs Fenster hereinkommenden Luftzug irrwitzig hin und her wehte. Mit einem ratlosen, fragenden Blick in den trüben, verwaschenen Augen schaute er hinauf zu Mr. Button.

»Ja, bin ich denn verrückt?«, polterte Mr. Button, dessen Entsetzen nunmehr in Wut umschlug. »Soll das irgend so ein abscheulicher Krankenhausscherz sein oder wie?«

»Wir finden das durchaus nicht lustig«, erwiderte die Schwester streng. »Und ob Sie verrückt sind oder nicht, das entzieht sich meiner Kenntnis – jedenfalls ist dies da ohne jeden Zweifel Ihr Kind.«

Schlagartig verdoppelte sich die Zahl der kalten Schweißperlen auf Mr. Buttons Stirn. Er kniff die Augen zu, machte sie wieder auf, schaute noch einmal hin. Er hatte sich nicht getäuscht: Vor ihm lag ein Mann von siebzig Jahren – ein Baby von siebzig Jahren –, ein Baby mit Beinen, die über die Bettkante des Kinderbettchens baumelten.

Der Alte ließ den Blick ein paar Sekunden lang in aller Ruhe zwischen den beiden hin und her schweifen und fing dann unvermittelt mit greiser, brüchiger Stimme an zu sprechen: »Bist du mein Vater?«, wollte er wissen.

Mr. Button und die Krankenschwester zuckten erschrocken zusammen.

»Falls du es nämlich bist«, fuhr der Alte quengelnd fort, »dann wäre es mir lieb, du würdest mich von hier fortbringen – oder wenigstens dafür sorgen, dass man mir einen bequemen Schaukelstuhl hier hereinstellt.«

»Um Gottes willen, woher kommen Sie? Wer sind Sie?«, platzte Mr. Button mit verzweifelter Stimme heraus.

»Wer ich bin, kann ich dir nicht so genau sagen«, antwortete die weinerliche Quengelstimme, »weil ich doch erst vor ein paar Stunden geboren bin – mein Nachname ist jedenfalls Button, so viel steht fest.«

»Sie lügen! Sie sind ein Schwindler!«

Der Alte wandte sich verdrossen an die Schwester. »Schöne Begrüßung für ein Neugeborenes«, klagte er. »Nun sagen Sie ihm doch gefälligst, dass er sich irrt.«

»Sie irren sich, Mr. Button«, sagte die Schwester streng. »Dies da ist Ihr Kind, damit werden Sie sich abzufinden haben. Wir müssen Sie leider bitten, ihn so schnell wie möglich mit nach Hause zu nehmen – irgendwann im Laufe des heutigen Tages.«

»Nach Hause?«, wiederholte Mr. Button ungläubig.

»Ja, hierbehalten können wir ihn nicht. Das ist wirklich ganz ausgeschlossen, verstehen Sie?«

»Na, da bin ich aber froh«, greinte der Alte. »Nettes Plätzchen hier für einen Junior, der einfach bloß seine Ruhe haben will. Kein Auge hab ich zugemacht bei all diesem Geschrei und Gebrüll hier. Und als ich was zu essen verlangt hab« – vor lauter Empörung wurde seine Stimme immer schriller –, »da haben sie mir ein Fläschchen mit Milch gebracht!«

Mr. Button ließ sich neben seinem Sohn auf einen Stuhl fallen und schlug die Hände vors Gesicht. »Gütiger Himmel!«, murmelte er, schier außer sich vor Grauen. »Was nur die Leute sagen werden! Was soll ich denn bloß tun?«

»Sie müssen ihn mit nach Hause nehmen«, beharrte die Schwester, »und zwar auf der Stelle!«

Da erstand vor den Augen des geplagten Mannes mit fürchterlicher Deutlichkeit ein höchst groteskes Bild: Er sah sich mitten im dichtesten Großstadtgewimmel durch die Straßen gehen, derweil neben ihm dieses grausige Gespenst einhertrottete.

»Das kann ich nicht. Ich kann das nicht«, stöhnte er.

Die Leute würden stehenbleiben und ihn ansprechen, und was sollte er dann sagen? Er würde ihn vorstellen müssen, diesen – diesen Greis von siebzig Jahren: »Das ist mein Sohn, heut früh geboren.« Und der Alte würde sich darauf noch fester in seine Decke wickeln, und sie würden weiterstapfen, vorbei an den Geschäften, in denen reges Treiben herrschte, vorbei am Sklavenmarkt – einen finsteren Moment lang wünschte sich Mr. Button inbrünstig, sein Sohn wäre schwarz –, vorbei an den luxuriösen Häusern des Wohnviertels, vorbei am Altenstift…

»Kommen Sie! Reißen Sie sich zusammen!«, herrschte die Schwester ihn an.

»Hört mal«, erklärte der Alte plötzlich, »wenn ihr glaubt, dass ich in dieser Decke hier nach Hause spaziere, dann habt ihr euch aber geschnitten.«

»Babys haben doch immer eine Decke.«

Darauf hielt der Alte mit boshaftem Gekicher ein kleines weißes Steckkissen in die Höhe. »Schau mal«, quäkte er, »in dieses Ding hier wollten sie mich stecken!«

»So etwas haben Babys doch immer an«, sagte die Schwester spröde.

»Und dieses Baby hier«, entgegnete der Alte, »das wird in zirka zwei Minuten überhaupt nichts mehr anhaben. Die Decke kratzt nämlich. Wenn sie mir wenigstens ein Betttuch gegeben hätten.«

»Anbehalten! Bitte anbehalten!«, rief Mr. Button hastig. Und an die Schwester gewandt, fuhr er fort: »Und was soll ich jetzt machen?«

»Gehen Sie hinunter in die Stadt und kaufen Sie Ihrem Sohn etwas zum Anziehen.«

Die Stimme seines Sohnes verfolgte Mr. Button bis in den Flur: »Und einen Krückstock, Vater. Ich will einen Krückstock haben.«

Mit einem lauten, wütenden Knall warf Mr. Button die Eingangstür hinter sich ins Schloss.

II

 

»Guten Morgen«, sagte Mr. Button nervös zu dem Verkäufer in Chesapeakes Textilgeschäft. »Ich möchte meinem Kind etwas zum Anziehen kaufen.«

»Wie alt ist denn Ihr Kind, Sir?«

»Ungefähr sechs Stunden«, antwortete Mr. Button, ohne sich recht bedacht zu haben.

»Babybedarf befindet sich im hinteren Bereich.«

»Also, ich glaube nicht – ich weiß nicht, ob das das Richtige ist. Es – er ist ein ungewöhnlich groß geratenes Kind. Ganz außerordentlich – ähm, groß.«

»Dort gibt es auch die größten Säuglingsgrößen.«

»Wo ist denn die Knabenabteilung?«, schwenkte Mr. Button verzweifelt um. Er hätte schwören können, dass der Verkäufer sein schmähliches Geheimnis längst gewittert hatte.

»Gleich hier.«

»Nun ja…« Er zögerte. Seinen Sohn wie einen erwachsenen Mann zu kleiden ging ihm gegen den Strich. Angenommen, er fände einen sehr großen Knabenanzug, schnitte dem Buben diesen widerlichen langen Bart ab und färbte ihm die weißen Haare braun – so ließe sich womöglich das Allerschlimmste verbergen und zumindest ein Rest an Selbstachtung bewahren, und was seine Stellung in der besseren Gesellschaft von Baltimore betraf…

Aber eine hektische Durchsicht der Knabenabteilung förderte keine Anzüge zutage, die dem neugeborenen Button gepasst hätten. Natürlich gab Mr. Button dem Geschäft die Schuld – in Fällen wie diesem ist es allemal angebracht, dem Geschäft die Schuld zu geben.

»Was sagten Sie noch mal, wie alt Ihr Junge ist?«, fragte der Verkäufer beflissen nach.

»Er ist – sechzehn.«

»Oh, verzeihen Sie bitte. Ich hatte gemeint, Sie hätten sechs Stunden gesagt. Die Burschenabteilung ist einen Gang weiter.«

Verzagt drehte sich Mr. Button um. Doch plötzlich blieb er stehen, seine Miene hellte sich auf, und er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Schaufensterpuppe. »Da!«, rief er. »Der Anzug, den die Puppe dort im Fenster trägt, den nehme ich.«

Verdutzt guckte ihn der Verkäufer an. »Aber das ist kein Kinderanzug«, wandte er ein, »na ja, eigentlich doch, aber nur als Verkleidung. Den könnten Sie selber tragen!«

»Nun packen Sie ihn schon ein«, beharrte der Kunde gereizt. »Genau so etwas habe ich gesucht.«

Der erstaunte Verkäufer tat wie ihm geheißen.

Wieder zurück in der Klinik, betrat Mr. Button die Säuglingsstation und schmiss seinem Sohn das Paket geradezu hin. »Hier, deine Sachen«, schnauzte er.

Der Alte wickelte den Anzug aus und betrachtete ihn skeptisch.

»Sieht irgendwie komisch aus«, nörgelte er, »ich will mich doch schließlich nicht zum Affen –«

»Zum Affen hast du mich gemacht!«, rief Mr. Button aufbrausend. »Es ist völlig egal, ob du komisch aussiehst, du ziehst jetzt diese Sachen da an, oder – oder es setzt eine Tracht Prügel.« Bei den beiden letzten Wörtern musste er unbehaglich schlucken, hatte aber dennoch das Gefühl, genau das Richtige gesagt zu haben.

»Ist gut, Vater«, versetzte der Alte in grotesker Nachäffung kindlichen Respekts, »du bist der Ältere; du kennst dich besser aus. Ganz, wie du meinst.«

Auch diesmal wieder zuckte Mr. Button bei dem Wort »Vater« auf das heftigste zusammen.

»Und beeil dich gefälligst.«

»Ich beeil mich doch, Vater.«

Als sein Sohn fertig angezogen war, sah Mr. Button ihn sich überaus bekümmert an. Das Kostüm bestand aus getüpfelten Socken, einer Hose in leuchtendem Rosa und einer gegürteten Bluse mit einem großen weißen Kragen, über den der lange, weißliche Bart wallte, der ihm fast bis auf den Bauch reichte. Die Wirkung war nicht gerade überzeugend.

»Warte!«

Mr. Button schnappte sich eine Klinikschere und amputierte mit drei raschen Schnitten einen Gutteil des Bartes. Allein, auch nach dieser Verbesserung war das Ensemble noch immer weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Der verbliebene Pinsel aus zerzaustem Haar, die wässrigen Augen, die alten Zähne, all das passte so gar nicht zu dem lustigen Anzug. Doch Mr. Button ließ sich nicht beirren – er streckte den Arm aus. »Komm mit!«, sagte er finster.

Zutraulich fasste sein Sohn ihn bei der Hand. »Wie wollt ihr mich denn nennen, Daddy?«, quäkte er, während sie die Säuglingsstation verließen – »vielleicht fürs Erste einfach bloß ›Baby‹, bis euch ein besserer Name eingefallen ist?«

Mr. Button knurrte. »Ich weiß nicht«, antwortete er brüsk. »Ich glaub, wir nennen dich Methusalem.«

III

 

Man schnitt dem Zuwachs der Familie Button die schütteren Haare kurz, färbte sie unnatürlich schwarz und rasierte ihm das Gesicht so glatt, dass es glänzte, man steckte ihn in einen Anzug für kleine Jungen, den ein verdutzter Schneider nach strikten Anweisungen angefertigt hatte, und doch vermochte Roger Button auch nach alledem nicht darüber hinwegzusehen, dass sein Sohn wohl schwerlich den Vorstellungen entsprach, die eine Familie sich normalerweise von ihrem ersten Baby macht. Schließlich maß Benjamin Button – denn so und nicht Methusalem, was zwar angemessen, aber gehässig gewesen wäre, hatte man ihn genannt – trotz seiner altershalber gebückten Haltung einen Meter siebzig, was seine Kleider ebenso wenig verbargen, wie das Stutzen und Färben seiner Augenbrauen die Tatsache verhehlen konnte, dass die Augen darunter verwaschen, wässrig und müde waren. Und wirklich hatte das im Voraus verpflichtete Kindermädchen gleich nach dem ersten Blick in heller Empörung das Haus verlassen.

Mr. Button aber wich trotz allem keinen Zollbreit von seiner Haltung ab. Benjamin war ein Baby, und genau das sollte er auch bleiben. Anfänglich hatte der gestrenge Vater sogar verfügt, dass Benjamin, wenn er keine warme Milch möge, eben überhaupt keine Nahrung bekommen solle, hatte sich dann aber erweichen lassen und seinem Sohn zumindest Butterbrote und immerhin – als Kompromiss – auch Hafergrütze erlaubt. Eines Tages brachte er eine Rassel mit nach Hause, drückte sie Benjamin in die Hand und beharrte starrsinnig darauf, dass dieser damit »spielen« solle, worauf der Alte das Ding mit gottergebener Miene in die Hand nahm und man ihn den ganzen Tag in regelmäßigen Abständen artig klappern hörte.

Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass ihn die Rassel langweilte und er, wenn er allein zu Hause war, anderen Vergnügungen nachging, die besser dazu angetan waren, ihn zu beruhigen. Zum Beispiel stellte Mr. Button eines Tages fest, dass er in der vorangegangenen Woche mehr Zigarren als je zuvor geraucht hatte; auf die Erklärung für dieses Phänomen sollte er einige Tage später stoßen; als er nämlich überraschend ins Kinderzimmer trat, waberte dort ein leichter blauer Nebelschleier durch den Raum, und Benjamin versuchte mit schuldbewusster Miene den Stummel einer schwarzen Havanna zu verbergen. Das rief natürlich geradezu nach einer kräftigen Tracht Prügel, doch Mr. Button brachte es einfach nicht über sich, dem Jungen diese auch zu verabfolgen. Stattdessen ließ er es dabei bewenden, seinen Sohn vor der »wachstumshemmenden« Wirkung des Tabaks zu warnen.

Doch blieb er selbst nach diesem Vorfall weiterhin bei seiner Haltung. Er brachte Benjamin Zinnsoldaten mit, er brachte ihm Spielzeugeisenbahnen mit, er brachte ihm große lustige Stofftiere mit, und um die Illusion, die er – zumindest für sich selbst – dabei war zu erschaffen, noch perfekter zu machen, fragte er den Verkäufer im Spielzeugladen besorgt, ob denn »von der rosa Holzente auch nicht die Farbe abgeht, wenn das Baby sie in den Mund steckt«. Aber sein Vater konnte sich noch so viel Mühe geben, Benjamin war nicht geneigt, für dergleichen Dinge auch nur das mindeste Interesse an den Tag zu legen. Er stahl sich lieber die Hintertreppe hinunter, um sich einen Band der Encyclopedia Britannica zu holen, in dem er dann den ganzen Nachmittag schmökerte, derweil seine Stoffkühe und seine Arche Noah unbeachtet auf dem Fußboden herumlagen. Gegen solche Verstocktheit vermochten Mr. Buttons Anstrengungen herzlich wenig auszurichten.

In Baltimore war die Sache zunächst einmal eine Riesensensation. Über die gesellschaftlichen Konsequenzen, die das Missgeschick für die Buttons und ihre Verwandtschaft hätte haben können, lässt sich indes nicht viel sagen, da der Ausbruch des Bürgerkriegs die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner auf andere Dinge lenkte. Ein paar unverdrossen höfliche Leute zermarterten sich das Hirn nach Komplimenten, die sie den Eltern machen könnten, und verfielen zu guter Letzt auf die sinnreiche List, dem Baby viel Ähnlichkeit mit seinem Großvater zu bescheinigen, was eingedenk der ganz normalen, allen Siebzigjährigen gemeinsamen Verfallserscheinungen auch gar nicht zu bestreiten war. Mr. und Mrs. Roger Button waren von dieser Bemerkung allerdings nicht eben erbaut, und Benjamins Großvater fand sie höchst empörend und war zutiefst gekränkt.

Benjamin selbst nahm das Leben, sobald er die Klinik verlassen hatte, wie es eben kam. Etliche Male erhielt er Besuch von kleinen Jungen und brachte den Nachmittag damit zu, dass er sich trotz seiner steifen Glieder redlich Mühe gab, Interesse an Kreiseln und Glasmurmeln zu bekunden – einmal gelang es ihm sogar rein zufällig, mit einer Steinschleuder ein Küchenfenster einzuschlagen – ein Kunststückchen, über das sein Vater insgeheim erfreut war.

Von da an brachte Benjamin es fertig, jeden Tag irgendetwas kaputtzumachen, doch tat er diese Dinge einzig und allein, weil sie von ihm erwartet wurden und er von Natur aus ein entgegenkommender Mensch war.

Von seinem Großvater hatte Benjamin anfangs wenig Zuneigung erfahren, doch mit der Zeit legte sich der Widerwille des alten Mannes, und die beiden hatten sehr viel Freude aneinander. Stundenlang konnten diese zwei, so grundverschieden sie auch an Jahren und Erfahrung waren, zusammensitzen und sich wie alte Freunde mit unermüdlicher Monotonie über die Ereignisse ihrer träge und nahezu ereignislos verstreichenden Tage austauschen. Bei seinem Großvater fühlte sich Benjamin viel wohler als bei seinen Eltern, die ihm stets mit einer gewissen Scheu begegneten und ihn trotz der uneingeschränkten Gewalt, die sie über ihn besaßen, nicht selten mit »Mister« ansprachen.

Ihm selbst war sein sowohl körperlich als auch geistig unübersehbar fortgeschrittenes Geburtsalter nicht minder rätselhaft als allen anderen. Er las im medizinischen Journal nach, musste aber feststellen, dass dort von keinem einzigen derartigen Fall berichtet wurde. Auf Drängen seines Vaters gab er sich aufrichtig Mühe, mit anderen Knaben zu spielen, und nahm auch an den weniger wilden Spielen recht oft teil – Football strengte ihn zu sehr an, zumal er Angst hatte, dass seine alten Knochen, falls er sie sich brach, nicht wieder würden zusammenwachsen wollen.

Mit fünf Jahren schickte man ihn in den Kindergarten, wo er eingeweiht wurde in die Kunst, grünes Papier auf orangefarbenes zu kleben, kleine bunte Untersetzer zu flechten und nicht enden wollende Halsketten zu basteln. Er neigte dazu, bei diesen Tätigkeiten mitunter wegzudösen, eine Angewohnheit, die bei seiner jungen Erzieherin nicht allein Unmut erweckte, sondern auch Besorgnis hervorrief. Er war erleichtert, als sie sich bei seinen Eltern beschwerte und er aus der Anstalt herausgenommen wurde. Ihren Freunden gegenüber behaupteten die Eheleute Roger Button, sie hätten den Eindruck gehabt, dass er doch noch zu klein sei für den Kindergarten.

Als er zwölf war, hatten sich seine Eltern an ihn gewöhnt. O ja, so gewaltig ist die Macht der Gewohnheit, dass sie nicht einmal mehr merkten, wie sehr er sich von anderen Kindern unterschied – außer wenn irgendeine merkwürdige Abweichung ihnen diese Tatsache in Erinnerung rief. Eines Tages aber, ein paar Wochen nach seinem zwölften Geburtstag, machte Benjamin, während er sich im Spiegel betrachtete, eine erstaunliche Entdeckung, oder bildete es sich zumindest ein. Täuschten ihn seine Augen, oder war sein Haar in dem Dutzend Jahren, das er jetzt auf der Welt war, wirklich unter der es überdeckenden künstlichen Farbe von Weiß in Stahlgrau übergegangen? Und waren nicht die Runzeln, die sein Gesicht gleich einem Netz überzogen, weniger tief als sonst? Sah nicht seine Haut gesünder und straffer aus, hatte sie nicht gar einen Hauch von winterlich frischer Röte? Er war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er nicht mehr gebückt ging und seine körperliche Verfassung sich im Vergleich zu seinen frühen Lebensjahren verbessert hatte.

›Kann das denn sein…?‹, dachte er bei sich oder wagte es vielmehr kaum zu denken.

Er ging zu seinem Vater. »Ich bin gewachsen«, verkündete er mit fester Stimme. »Ich möchte ab jetzt lange Hosen tragen.«

Sein Vater zögerte. »Also, ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Von Rechts wegen bekommt man lange Hosen ja mit vierzehn – und du bist doch erst zwölf.«

»Aber du musst zugeben«, widersprach ihm Benjamin, »dass ich groß bin für mein Alter.«

Sein Vater musterte ihn mit gespielter Nachdenklichkeit. »Oh, da bin ich mir gar nicht so sicher«, sagte er. »Ich war mit zwölf genauso groß wie du.«

Das stimmte natürlich nicht, sondern war vielmehr Teil jener stillschweigenden Übereinkunft, die Roger Button mit sich selbst getroffen hatte und die darin bestand, dass er in seinem Sohn einen ganz normalen Jungen sehen wollte.

Zu guter Letzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Benjamin sollte sich weiterhin die Haare färben. Er sollte sich noch mehr Mühe geben, mit Knaben seines Alters zu spielen. Auf der Straße sollte er sich weder mit einer Brille noch mit einem Krückstock zeigen. Und zur Belohnung für diese Zugeständnisse bekam er seinen ersten Anzug mit langen Hosen genehmigt…

IV

 

Darüber, wie Benjamin Buttons Leben von seinem zwölften bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr verlief, will ich mich hier nicht groß verbreiten. Es mag genügen festzustellen, dass dies Jahre eines regelmäßig verlaufenden Rückwuchses waren. Mit achtzehn war Benjamin kerzengerade wie ein Mann von fünfzig Jahren; sein Haar war dichter und dunkelgrau geworden; sein Schritt war fest, seine Stimme hörte sich nicht mehr brüchig und quäkend an wie früher, sondern hatte an Tiefe gewonnen und sich zu einem kräftigen Bariton entwickelt. Und so schickte ihn sein Vater nach Connecticut, damit er am Yale College das Eingangsexamen ablegte. Benjamin bestand die Prüfung und war nunmehr ein frischgebackener Student.

Drei Tage nach der Immatrikulation erreichte ihn eine Nachricht von Mr. Hart, dem Kanzler der Universität, der ihn bat, zwecks Vereinbarung des Studienplans in seinem Büro vorzusprechen. Benjamin warf einen Blick in den Spiegel und befand, dass sein Haar einer auffrischenden Behandlung mit brauner Farbe bedurfte, musste jedoch, als er daraufhin besorgt seine Schreibtischschublade durchsuchte, feststellen, dass das Fläschchen mit dem Färbemittel nicht da war. Dann fiel ihm ein, dass er es tags zuvor aufgebraucht und weggeworfen hatte.

Nun saß er in der Patsche. In fünf Minuten sollte er beim Kanzler erscheinen. Da half anscheinend alles nichts – er musste hingehen, wie er war. Und das tat er.

»Guten Morgen«, begrüßte ihn der Kanzler höflich. »Sie sind hier, um sich nach Ihrem Sohn zu erkundigen?«

»Nun ja, also eigentlich – mein Name ist But-ton –«, fing Benjamin an, doch Mr. Hart fiel ihm ins Wort.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Button. Ihr Sohn muss jeden Moment hier sein.«

»Aber das bin doch ich!«, platzte Benjamin heraus. »Ich selber bin der neue Student.«

»Wie bitte!«

»Ja, ich bin der neu immatrikulierte Student.«

»Sie belieben wohl zu scherzen?«

»Keineswegs.«

Der Kanzler runzelte nachdenklich die Stirn und schaute auf die Karte, die vor ihm lag.

»Also, bei mir steht hier, dass Mr. Benjamin Button achtzehn Jahre alt ist.«

»Das bin ich auch«, bestätigte Benjamin, und eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht.

Dem Kanzler wurde die Sache allmählich zu bunt. Er fasste ihn streng ins Auge. »Also wirklich, Mr. Button, Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Ihnen das abnehme.«

Benjamin lächelte müde. »Ich bin achtzehn«, wiederholte er.

Hierauf wies ihm der Kanzler unnachgiebig die Tür. »Verschwinden Sie!«, rief er. »Verschwinden Sie von dieser Universität, und verschwinden Sie aus dieser Stadt. Sie sind wohl verrückt geworden, Sie sind ja gemeingefährlich.«

»Ich bin achtzehn.«

Mr. Hart riss die Türe auf. »Allein der Gedanke!«, brüllte er. »Ein Mann Ihres Alters, und will hier anfangen zu studieren. Achtzehn Jahre sind Sie alt? Nun gut, ich gebe Ihnen achtzehn Minuten, um aus dieser Stadt zu verschwinden.«

Hoch erhobenen Hauptes verließ Benjamin Button, begleitet von den neugierigen Blicken eines halben Dutzends im Flur wartender Studenten, den Raum. Als er ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um, sah den erzürnten Kanzler, der nach wie vor in der Tür stand, unverwandt an und wiederholte mit fester Stimme: »Ich bin achtzehn Jahre alt.«

Verfolgt vom kehrreimartig immer wieder von neuem aufflackernden Gekicher der versammelten Studenten, ging Benjamin seiner Wege.

Allein, es war ihm nicht beschieden, so leicht davonzukommen. Als er geknickt in Richtung Bahnhof trottete, merkte er auf einmal, dass ihm zuerst nur ein Grüppchen, dann ein ganzer Schwarm und schließlich eine dichtgedrängte Schar von Studenten hinterherkam. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde verbreitet, ein Irrer habe das Eingangsexamen in Yale bestanden und sich für einen achtzehnjährigen Jüngling ausgeben wollen. Die ganze Universität war regelrecht wie im Fieber. Männer ohne Hut kamen aus den Hörsälen gestürzt, das Football-Team brach sein Training ab und schloss sich der Rotte an, Professorengattinnen mit schief auf dem Kopf sitzender Haube und verrutschter Turnüre rannten johlend hinter der Prozession her, aus der heraus in einem fort gehässige Bemerkungen auf Benjamin Button abgefeuert wurden, die ihn in seinem zarten, empfindsamen Gemüt treffen sollten.

»Das muss der Ewige Jude sein!«

»Der ist doch noch viel zu jung, der gehört auf die Grundschule!«

»Schaut euch den Wunderknaben an! Der dachte wohl, das hier, das ist ein Altenstift!«

»Scher dich doch nach Harvard!«

Benjamin beschleunigte seinen Schritt, und bald schon rannte er. Er würde es ihnen zeigen! Er würde in der Tat nach Harvard gehen, und eines Tages sollte es ihnen leidtun, dass sie ihn so unbedacht verspottet hatten!

Als er sicher im Zug nach Baltimore saß, streckte er den Kopf zum Fenster hinaus. »Das werdet ihr noch mal bereuen!«, rief er.

»Haha!«, lachten die Studenten. »Hahaha!« Das war der größte Fehler, den man in Yale jemals gemacht hatte…

V

 

Im Jahre 1880 feierte Benjamin Button seinen zwanzigsten Geburtstag, und um die Bedeutung dieses Datums zu unterstreichen, trat er gleichentags seinen Dienst in der väterlichen Firma an, bei Roger Button & Co., Eisenwarengroßhandel. In ebenjenem Jahr wurde er auch nach und nach »in die Gesellschaft eingeführt«, was heißen soll, sein Vater nahm ihn mit zu etlichen eleganten Tanzabenden. Roger Button war mittlerweile fünfzig, und das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohn wurde immer freundschaftlicher, zumal man sie, seit Benjamin aufgehört hatte, sich die (noch immer angegrauten) Haare zu färben, für gleichaltrig halten konnte und sie leicht als Brüder hätten durchgehen können.

Eines Abends im August bestiegen sie, beide in Frack und Zylinder, den Zweispänner und fuhren zu einem Tanzdinner in das vor den Toren Baltimores gelegene Landhaus der Shevlins. Es war ein herrlicher Abend. Der Vollmond überflutete die ganze Straße mit seinem Licht und verlieh ihr die Farbe von mattiertem Platin, und die spät erblühten Feldblumen verströmten Düfte in die unbewegte Luft, die einem leisen, kaum hörbaren Lachen glichen. Das weite Land, ringsherum Rute um Rute mit einem Teppich von leuchtendem Weizen bedeckt, schimmerte wie bei Tag. Es war nahezu unmöglich, von der reinen Schönheit des Himmels nicht ergriffen zu sein – nahezu.

»Die Zukunft liegt im Textilgewerbe«, sagte Roger Button. Er war kein Schöngeist – sein ästhetisches Empfinden war eher unterentwickelt.

»So einem alten Gaul wie mir bringt man keine neuen Tricks mehr bei«, bemerkte er tiefsinnig. »Ihr jungen Leute, ihr habt Kraft und Schwung, euch gehört die Zukunft.«

Nun tauchte – ferne noch – oben am Ende der Straße das Landhaus der Shevlins vor ihnen auf, und gleich darauf erhob sich ein Geräusch, einem Seufzen nicht unähnlich, das beharrlich immer näher kam – vielleicht das leise Wehklagen von Geigen oder vielleicht auch das Rascheln des Weizens, der silbern unterm Schein des Mondes glänzte.

Sie hielten hinter einem stattlichen Brougham, dessen Passagiere soeben vor der Haustür ausstiegen. Als Erste ging eine Dame von Bord, dann ein älterer Herr, dann ein junges Fräulein, das schön war wie die Sünde. Benjamin zuckte zusammen; ihm war, als erlebte er einen geradezu chemischen Austauschprozess, als würden alle Elemente seines Körpers zerfallen und sich wieder neu zusammensetzen. Er erstarrte, das Blut schoss ihm in die Wangen und in die Stirn, es hämmerte unaufhörlich in seinen Ohren. Er war zum ersten Mal verliebt.

Das Mädchen war schlank und zart, mit Haaren, die im Mondlicht aschfarben wirkten, im Schein der zischenden Gaslampen auf der Veranda aber wie Honig glänzten. Um die Schultern trug sie eine spanische Mantilla in weichem Hellgelb mit schwarzen Schmetterlingen darauf, und unterm Saum ihres Turnürenkleides schauten wie zwei glitzernde Knöpfe die Füße hervor.

Roger Button beugte sich zu seinem Sohn hinüber. »Die junge Dame da«, sagte er, »das ist Hildegarde Moncrief, die Tochter von General Moncrief.«

Benjamin nickte kühl. »Hübsches kleines Ding«, sagte er gleichgültig. Doch sobald der schwarze Page den Wagen weggebracht hatte, fügte er hinzu: »Vielleicht könntest du mich mit ihr bekannt machen, Dad.«

Sie traten an eine Gruppe heran, deren Mittelpunkt Miss Moncrief war. Sie war nach guter alter Manier erzogen und machte einen tiefen Knicks vor Benjamin. Ja, er dürfe einen Tanz haben. Er bedankte sich und ging oder, besser gesagt, stolperte weiter.

Immer länger schien die Wartezeit sich hinzuziehen, bis er endlich an der Reihe war. Er stand dicht an der Wand und beobachtete schweigend, mit unergründlicher Miene und mörderischem Blick, wie die jungen Herren von Baltimore mit vor leidenschaftlicher Bewunderung leuchtenden Gesichtern um Hildegarde Moncrief herumwirbelten. Wie abscheulich waren sie in Benjamins Augen, wie unerträglich rosig! Beim Anblick ihrer gekräuselten braunen Backenbärte wurde ihm regelrecht übel.

Doch als die Reihe dann an ihm war und er mit ihr zu den Klängen des neusten Walzers von Paris über die schwankenden Planken schwebte, da schmolzen seine Eifersuchtsgefühle und die Beklommenheit dahin und fielen von ihm ab wie Schnee. Geblendet vor Entzücken, spürte er, dass sein Leben gerade erst begann.

»Sie und Ihr Bruder sind doch gleichzeitig mit uns angekommen, nicht wahr?«, fragte Hildegarde und blickte zu ihm hoch mit ihren Augen, die aussahen, als wären sie aus hellblauer Emaille.

Benjamin zögerte. Sie hielt ihn und seinen Vater also für Brüder, sollte er sie da nicht lieber aufklären? Doch dann musste er an das denken, was ihm in Yale widerfahren war, und er beschloss, es nicht zu tun. Zumal es unschicklich gewesen wäre, einer Dame zu widersprechen, und nachgerade ein Verbrechen, diesen erlesenen Moment mit der grotesken Geschichte seiner Geburt zu verderben. Vielleicht später einmal. Und so nickte er, lächelte, lauschte und war selig.

»Ich mag Männer Ihres Alters«, gestand ihm Hildegarde. »Die jungen Burschen sind ja so furchtbar dumm. Die erzählen immer bloß, wie viel Champagner sie auf dem College trinken und wie viel Geld sie beim Kartenspiel verlieren. Aber ein Mann in Ihrem Alter, der versteht was von Frauen.«

Es fehlte nicht viel, und Benjamin hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht, doch er gab sich einen Ruck und erstickte den Impuls. »Erst in Ihrem Alter hat der Mann wahrhaft Sinn für Romantik«, fuhr sie fort, »mit fünfzig. Fünfundzwanzig ist zu weltgewandt; dreißig neigt zu Blässe durch Überarbeitung; vierzig ist das Alter der langen Geschichten, die eine ganze Zigarrenlänge brauchen, bis sie fertig erzählt sind; und sechzig – oje, sechzig ist zu nah an siebzig; aber fünfzig, das sind die reifen Jahre. Ich liebe fünfzig.«

Und da erschien auch Benjamin nun fünfzig als ein fabelhaftes Alter. Er konnte es kaum erwarten, fünfzig zu sein.

»Ich habe immer schon gesagt«, sprach Hildegarde weiter, »ich heirate lieber einen Mann von fünfzig und lasse mich von ihm umsorgen, als einen Mann von dreißig, den ich umsorgen muss.«

Für Benjamin verschwamm der Rest des Abends in honigfarbenem Dunst. Hildegarde gewährte ihm noch zwei weitere Tänze, und sie entdeckten, dass sie sich in allen Tagesfragen wunderbar einig waren. Am kommenden Sonntag wollten sie gemeinsam eine Ausfahrt machen, und dann würden sie ihr Gespräch über all diese Fragen fortsetzen.

Als sie schließlich in ihrem Zweispänner heimfuhren – der Morgen graute schon, die ersten Bienen summten, und im kühlen Tau glitzerte der verblassende Mond –, nahm Benjamin wie aus weiter Ferne wahr, dass sein Vater über den Eisenwarengroßhandel redete.

»…Und worauf sollten wir nun deiner Meinung nach unser Hauptaugenmerk richten, mal abgesehen von Hämmern und Nägeln?«, fragte der ältere Button.

»Die Liebe«, erwiderte Benjamin zerstreut.

»Getriebe?«, rief Roger Button aus. »Aber über Getriebe habe ich doch gerade lang und breit gesprochen.«

Benjamin sah ihn mit verhangenen Augen an, und just in dem Moment riss im Osten der Himmel auf, es wurde hell, und in den neu zum Leben erwachenden Bäumen ließ ein Pirol sein durchdringendes Gähnen vernehmen…

VI

 

Als ein halbes Jahr später die Verlobung von Miss Hildegarde Moncrief mit Mr. Benjamin Button bekannt wurde (ich sage »bekannt wurde«, denn General Moncrief hatte erklärt, er werde sich lieber in sein Schwert stürzen, als das Ereignis öffentlich zu verkünden), geriet die bessere Gesellschaft von Baltimore darob in geradezu fieberhafte Aufregung. Man erinnerte sich wieder der fast vergessenen Geschichte von Benjamins Geburt, und auf den Schwingen des Skandals machte die Sache überall die Runde und nahm dabei die unglaublichsten Formen an, bis hin zum reinsten Schelmenroman. So wurde zum Beispiel behauptet, dass Benjamin in Wahrheit Roger Buttons Vater sei, dass er sein Bruder sei, der vierzig Jahre im Gefängnis gesessen habe, dass er sich bloß für jemand anders ausgebe, in Wirklichkeit aber sei er John Wilkes Booth, der Mörder von Abraham Lincoln – und schließlich hieß es gar, es sprössen ihm zwei kleine krumme Hörner aus dem Kopfe.

Die Sonntagsbeilagen der New Yorker Zeitungen spielten den Fall noch zusätzlich hoch, indem sie faszinierende Zeichnungen brachten, auf denen man Benjamin Buttons Kopf mal einem Fisch, mal einer Schlange und einmal sogar einem Körper aus solidem Messing aufgesetzt hatte. In der Presse wurde er als »Der Große Unbekannte von Maryland« berühmt. Die wahre Geschichte aber fand, wie üblich, nur eine sehr geringe Verbreitung.

Doch war man sich allgemein mit General Moncrief darin einig, dass es »ein Verbrechen« sei, wenn ein so entzückendes Mädchen, das doch jeden Beau von Baltimore hätte heiraten können, sich einem Manne an den Hals warf, der garantiert schon fünfzig war. Da half es auch nichts, dass Mr. Roger Button die Geburtsurkunde seines Sohnes in fetten Lettern im Baltimore Blaze veröffentlichen ließ. Keiner glaubte ihm. Schließlich brauchte man sich Benjamin ja nur anzuschauen, dann war man schon im Bilde.

Die beiden Hauptbeteiligten ließen sich nicht beirren. Angesichts so vieler falscher Geschichten, die über ihren Bräutigam im Umlauf waren, weigerte Hildegarde sich standhaft, selbst der einzigen, die doch der Wahrheit entsprach, Glauben zu schenken. Vergebens führte General Moncrief ihr die hohe Sterblichkeit unter fünfzigjährigen Männern – oder zumindest unter solchen, die wie fünfzig aussahen – vor Augen; vergebens erzählte er ihr, was für ein unsicheres Geschäft der Eisenwarengroßhandel sei. Hildegarde war fest entschlossen, die Reife zu heiraten, und genau das tat sie denn auch…

VII

 

In einem Punkt zumindest irrten sich die Freunde von Hildegarde Moncrief. Der Eisenwarengroßhandel florierte ganz erstaunlich. In den fünfzehn Jahren zwischen Benjamin Buttons Heirat anno 1880 und dem Rückzug seines Vaters aus der Firma anno 1895 verdoppelte sich das Vermögen der Familie, was größtenteils dem jüngeren Teilhaber des Unternehmens zu verdanken war.

Es erübrigt sich zu sagen, dass Baltimore das Paar zu guter Letzt mit offenen Armen aufnahm. Und als Benjamin dem alten General Moncrief das nötige Geld gab, damit der seine bis dato von neun bekannten Verlagshäusern abgelehnte zwanzigbändige Geschichte des Bürgerkriegs drucken lassen konnte, da versöhnte sich sogar Hildegardes Vater mit seinem Schwiegersohn.

Mit Benjamin selbst waren in diesen fünfzehn Jahren eine Menge Veränderungen vor sich gegangen. Es war, als ob das Blut mit neuer Kraft durch seine Adern flösse. Mehr und mehr bereitete es ihm Vergnügen, des Morgens aufzustehen, beschwingten Schritts und voller Tatendrang im Sonnenschein die belebte Straße entlangzugehen und unermüdlich seine Frachtsendungen von Hämmern und Schiffsladungen von Nägeln zu bearbeiten. Im Jahre 1890 schließlich gelang ihm, rein geschäftlich gesehen, sein berühmter großer Wurf; da brachte er nämlich den Vorschlag ein, dass sämtliche Nägel zum Vernageln der zur Verschiffung von Nägeln benötigten Kisten Eigentum des Empfängers bleiben sollten – und dank der Zustimmung des Obersten Richters Mr. Fossile erlangte dieser Vorschlag Gesetzeskraft, wodurch die Firma Roger Button & Co., Eisenwarengroßhandel, pro Jahr über sechshundert Nägel einsparen konnte.

Außerdem stellte Benjamin fest, dass ihn die heitere Seite des Lebens immer stärker zu faszinieren begann. Ein Indiz seiner wachsenden Begeisterung für Vergnügungen ist zum Beispiel, dass er der Erste war, der in Baltimore ein Automobil besaß und damit herumfuhr. Neidisch glotzten seine Altersgenossen ihn an, wenn sie diesem Ausbund an Gesundheit und Vitalität auf der Straße begegneten.

»Der sieht ja von Jahr zu Jahr jünger aus«, sagten sie. Und wenn der alte Roger Button, der mittlerweile fünfundsechzig war, es versäumt hatte, seinem Sohn ein angemessenes Willkommen zu entbieten, so machte er das nunmehr wett, indem er ihn geradezu vergötterte.

Und hier kommen wir jetzt zu einem unerfreulichen Punkt, den wir am besten so schnell wie möglich hinter uns bringen. Es gab nur eine einzige Sache, die Benjamin Button Kummer machte: Der Zauberbann, in den ihn seine Gattin einst geschlagen hatte, war dahin.

Hildegarde war unterdessen eine Frau von fünfunddreißig, und Roscoe, ihr gemeinsamer Sohn, war vierzehn. In den ersten Ehejahren hatte Benjamin sie förmlich angebetet. Doch nach und nach wich der honigfarbene Ton ihres Haars einem langweiligen Braun, das blaue Emaille ihrer Augen wurde stumpf und erinnerte immer mehr an billiges Steinzeug; obendrein aber und vor allem war sie mittlerweile viel zu sehr ihren Gewohnheiten verhaftet, zu selbstgefällig, zu zufrieden, zu blutleer in Momenten der Erregung und von zu nüchternem Geschmack. In der Brautzeit war sie es gewesen, die Benjamin zu allen möglichen Tanzvergnügen und Diners »geschleppt« hatte – heute war es umgekehrt. Sie begleitete ihn zwar noch, wenn er in Gesellschaft ging, doch ohne Enthusiasmus, schon angefressen von der ewigen Trägheit, die jeden von uns irgendwann ereilt, die heimlich, still und leise von uns Besitz ergreift und uns bis ans Ende unserer Tage nicht mehr loslässt.

Immer größer wurde Benjamins Unzufriedenheit. Als 1898 der Spanisch-Amerikanische Krieg ausbrach, hatte sein Heim so sehr allen Reiz für ihn verloren, dass er beschloss, in die Armee einzutreten. Seine geschäftlichen Verbindungen verhalfen ihm zum Rang eines Captains, und dank seiner großen Anpassungsfähigkeit wurde er bald schon zum Major und schließlich gar zum LieutenantColonel befördert, und dies gerade noch rechtzeitig genug, um an der berühmten Erstürmung des San Juan Hill teilzunehmen. Dabei wurde er leicht verwundet und erhielt einen Orden.

Von da an fühlte sich Benjamin so sehr zum Soldatenalltag und zu den aufregenden Seiten eines Lebens in Uniform hingezogen, dass er sich nur ungern davon verabschiedete, allein, er musste sich wieder seinen Geschäften widmen, und darum quittierte er den Dienst und kehrte heim. Am Bahnhof wurde er mit klingendem Spiel empfangen, und die Kapelle geleitete ihn bis zu seinem Haus.

VIII

 

Auf der Veranda erwartete ihn Hildegarde, die eine große seidene Fahne schwenkte, und schon als er sie küsste, spürte er beklommen, dass diese drei Jahre ihren Tribut gefordert hatten. Sie war jetzt eine Frau von vierzig Jahren, und auf ihrem Kopf erspähte er eine zaghafte Schützenlinie von grauen Haaren. Was für ein niederschmetternder Anblick!

Oben in seinem Zimmer sah er sein Bild in dem vertrauten Spiegel – er trat näher heran, betrachtete besorgt und prüfend sein Gesicht, verglich es einen Moment später mit einer Fotografie, auf der er in Uniform abgebildet war und die er unmittelbar vor dem Kriege hatte aufnehmen lassen.

»Gütiger Gott!«, sagte er laut. Der Prozess ging weiter. Kein Zweifel – er sah jetzt wie ein Dreißigjähriger aus. Doch statt dass er sich freute, war ihm unbehaglich zumute – er wurde jünger. Bis jetzt hatte er immer gehofft, der Einfluss jenes grotesken Phänomens, das seiner Geburt anhaftete, werde sich legen, sobald sein Körper einmal das Alter erlangt hätte, das seinen Jahren entsprach. Ihm schauderte. Sein Schicksal kam ihm schrecklich vor, unfassbar.

Er ging wieder hinunter, wo Hildegarde schon auf ihn wartete. Sie schien verärgert zu sein, und er fragte sich, ob ihr wohl endlich aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte. Als er die Angelegenheit beim Abendessen zur Sprache brachte, und zwar auf eine, wie er meinte, taktvolle Art und Weise, tat er es in dem Bemühen, die zwischen ihnen bestehenden Spannungen zu mildern.

»Nun ja«, bemerkte er leichthin, »alle sagen, ich sehe jünger aus als je zuvor.«

Hildegarde sah ihn höhnisch an. »Ach, und nun meinst du, du müsstest dich damit brüsten?«, schnob sie.

»Ich brüste mich doch gar nicht«, widersprach er befangen.

Sie schnob abermals. »Allein der Gedanke«, sagte sie, und ein paar Sekunden später fuhr sie fort: »Ich habe geglaubt, du hättest genügend Stolz im Leibe, um endlich damit aufzuhören.«

»Aber wie soll ich denn das machen?«, fragte er.

»Ich werde mich nicht mit dir streiten«, gab sie zurück. »Aber man kann die Dinge entweder auf die richtige oder auf die falsche Art tun. Wenn du beschlossen hast, dass du anders sein willst als alle anderen, dann werde ich dich kaum daran hindern können, ich finde das allerdings nicht gerade rücksichtsvoll von dir.«

»Aber Hildegarde, ich kann nichts dagegen tun.«

»Das kannst du wohl. Du bist einfach nur verbohrt. Du bist der Meinung, dass du nicht sein willst wie jeder andere. Das war bei dir schon immer so und wird auch immer so bleiben. Aber stell dir doch bloß einmal vor, wie es wäre, wenn alle anderen die Dinge genauso sehen würden wie du – was meinst du wohl, wie dann die Welt aussähe?«

Das war ein törichtes Argument, auf das es nichts zu erwidern gab, weshalb ihr Benjamin die Antwort schuldig blieb, und von da an wurde die Kluft zwischen ihnen immer tiefer. Er fragte sich, wie es nur möglich war, dass sie ihn einst so sehr bezaubert hatte.

Was den Bruch noch zusätzlich verschlimmerte, war die Tatsache, dass Benjamin immer vergnügungssüchtiger wurde, je näher das neue Jahrhundert heranrückte. In ganz Baltimore gab es kein Fest, gleich welcher Art, bei dem er nicht zugegen war, mit den hübschesten verheirateten jungen Frauen tanzte, mit den am dichtesten umschwärmten Debütantinnen plauderte und ihre charmante Gesellschaft genoss, derweil seine Gattin wie eine unheilschwangere Witwe zwischen den Anstandsdamen saß und bald mit hochmütig-tadelnder Miene, bald mit düster-verwundertem und vorwurfsvollem Blick seinem Treiben folgte.

»Seht nur!«, tuschelten die Leute. »Was für ein Jammer! Ein junger Kerl in seinem Alter und ist an eine Fünfundvierzigjährige gefesselt. Der ist doch sicher zwanzig Jahre jünger als die Frau.« Sie hatten bereits vergessen – wie Menschen nun einmal unweigerlich alles vergessen –, dass sich ihre Mamas und Papas schon anno 1880 über just das nämliche ungleiche Paar die Mäuler zerrissen hatten.

Benjamins zunehmendes häusliches Unbehagen wurde durch seine vielen neuen Interessen aufgewogen. Er begann Golf zu spielen, und das mit großem Erfolg. Tanzen war seine Leidenschaft: 1906 tanzte er den »Boston« wie kein Zweiter, 1908 legte er einen meisterhaften »Maxixe« aufs Parkett, und 1909 beneidete ihn jeder junge Mann in Baltimore um seinen »Castle Walk«.

Natürlich wirkte sich seine gesellschaftliche Betriebsamkeit bis zu einem gewissen Grade negativ auf das Geschäft aus, doch andererseits hatte er fünfundzwanzig Jahre lang hart im Eisenwarengroßhandel gearbeitet und war nun ohnedies entschlossen, die Geschicke der Firma demnächst in die Hände seines Sohnes Roscoe zu legen, der jüngst sein Studium in Harvard abgeschlossen hatte.

Übrigens wurde er häufig mit seinem Sohn verwechselt. Das gefiel Benjamin, und bald vergaß er die heimtückische Furcht, die ihn damals bei seiner Rückkehr aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg beschlichen hatte, und erfreute sich ganz unbekümmert an seiner äußeren Erscheinung. Es gab nur ein einziges Haar in dieser köstlichen Suppe, und das war, dass er es hasste, sich öffentlich mit seiner Frau zu zeigen. Hildegarde war jetzt fast fünfzig, und er kam sich einfach lächerlich vor an ihrer Seite…

IX

 

An einem Septembertag des Jahres 1910 – ein paar Jahre nachdem die Firma Roger Button & Co., Eisenwarengroßhandel an den jungen Roscoe Button übergegangen war – bewarb sich ein Mann von augenscheinlich ungefähr zwanzig Jahren zum Studium an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Er machte nicht den Fehler, irgendjemandem mitzuteilen, dass er die Fünfzig längst überschritten hatte, und auch den Umstand, dass sein Sohn zehn Jahre zuvor an derselben Alma Mater abgeschlossen hatte, ließ er unerwähnt.

Er bestand die Prüfung und nahm fast schon vom ersten Tage an eine herausragende Stellung unter den Studenten seines Jahrgangs ein, was zum Teil damit zusammenhing, dass er ein wenig älter war als die übrigen Kommilitonen im ersten Semester, deren Alter im Durchschnitt bei achtzehn Jahren lag.

Vor allem aber war sein Erfolg seinem herausragenden Einsatz im Football-Match gegen Yale geschuldet, wo er mit ungeheurem Schneid und eiskalter, unbarmherziger Rage sieben Touchdowns und vierzehn Field Goals für Harvard erzielt und obendrein dafür gesorgt hatte, dass alle elf Spieler von Yale einer nach dem anderen ohnmächtig vom Platz getragen werden mussten. Das machte ihn zum berühmtesten Mann von ganz Harvard.

Im dritten Studienjahr, dem Jahr vor den Abschlussexamina, gelang es ihm merkwürdigerweise gerade noch mit Ach und Krach, überhaupt einen Platz im Team zu ergattern. Die Trainer sagten, er habe abgenommen, und wer genauer hinsah, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er auch nicht mehr ganz so groß war wie früher. Er schaffte keinen einzigen Touchdown – im Grunde hatte man ihn nur darum ins Team geholt, weil man sich erhoffte, dass sein legendärer Ruf das Yale-Team in Angst und Schrecken versetzen und Chaos unter den gegnerischen Spielern stiften werde.

Im letzten Jahr schaffte er es gar nicht mehr in die Mannschaft. Er war mittlerweile dermaßen zart und schmächtig, dass ein paar Leute aus dem zweiten Studienjahr ihn gar für einen Neuling aus dem ersten Semester hielten, was ihn entsetzlich kränkte. Nicht lange, und er galt als eine Art Wunderkind – einer, der kurz vor dem Abschluss stand, obwohl er doch ganz offensichtlich höchstens sechzehn war. Die Weltgewandtheit seiner Kommilitonen schockierte ihn nicht selten; das Studieren fiel ihm immer schwerer – es kam ihm so vor, als ob die anderen alle weiter seien als er selbst. Er hatte gehört, wie sich seine Kommilitonen über St. Midas unterhielten, die berühmte Vorbereitungsschule, an der so viele von ihnen die Universitätsreife erworben hatten, und er nahm sich vor, nach den Abschlussexamina ebenfalls nach St. Midas zu gehen, denn er hatte das Gefühl, dass ihm das wohlbehütete Leben unter gleich großen Knaben eher zusagen werde.

1914 hatte er sein Studium beendet und kehrte mit seinem Harvard-Diplom in der Tasche nach Baltimore zurück. Hildegarde lebte mittlerweile in Italien, und so zog Benjamin bei seinem Sohn Roscoe ein. Dort war er zwar im Großen und Ganzen willkommen, allerdings war nicht zu übersehen, dass Roscoes Verhältnis zu seinem Vater keineswegs von Herzlichkeit geprägt war; vielmehr spürte man ganz deutlich, dass Benjamin, der in seinem pubertären Weltschmerz durchs Haus geisterte, seinem Sohn doch eher etwas im Wege war. Roscoe war inzwischen verheiratet und ein angesehener Mann in der besseren Gesellschaft von Baltimore, und er wollte nicht, dass im Zusammenhang mit seiner Familie irgendwelche Skandale an die Außenwelt drangen.

Benjamin war unterdessen bei den Debütantinnen und beim Klüngel der jüngeren Collegestudenten schon lange in Ungnade gefallen und fühlte sich so ziemlich von aller Welt im Stich gelassen, ausgenommen die drei, vier Fünfzehnjährigen aus der Nachbarschaft, die ihm gern Gesellschaft leisteten. Nun erinnerte er sich wieder seines Vorhabens, an die Schule von St. Midas zu gehen.

»Hör zu«, sagte er eines Tages zu Roscoe, »ich hab dir doch schon mehr als einmal gesagt, dass ich auf eine Vorbereitungsschule gehen möchte.«

»Na, dann geh doch«, entgegnete Roscoe kurzerhand. Er fand das alles sehr unangenehm und wollte sich auf keine Diskussion einlassen.

»Aber alleine kann ich da nicht auftauchen«, sagte Benjamin hilflos. »Du musst mich anmelden und mich begleiten.«

»Ich habe keine Zeit«, erklärte Roscoe brüsk. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete seinen Vater mit sichtlichem Unbehagen. »Also weißt du«, fügte er hinzu, »ich finde, du solltest wirklich endlich aufhören mit diesem Unfug. Du solltest endlich die Bremse ziehen. Du solltest… du solltest« – er hielt inne, sein Gesicht lief puterrot an, als fehlten ihm die Worte –, »du solltest endlich kehrtmachen und noch mal von vorne anfangen. Du bist zu weit gegangen, das ist kein Scherz mehr. Das ist nicht mehr komisch. Du – du solltest endlich anfangen, dich anständig zu benehmen!«

Benjamin war den Tränen nahe; er sah seinen Sohn an.

»Und noch etwas«, fuhr Roscoe fort, »ich möchte, dass du, wenn wir Gäste haben, ›Onkel‹ zu mir sagst, nicht ›Roscoe‹, sondern ›Onkel‹, hast du mich verstanden? Es hört sich einfach albern an, wenn mich ein Fünfzehnjähriger bei meinem Vornamen ruft. Vielleicht solltest du überhaupt immer ›Onkel‹ zu mir sagen, damit du dich daran gewöhnst.«

Roscoe funkelte seinen Vater böse an und ließ ihn stehen…

X

 

Nach dieser Unterhaltung schlich sich Benjamin bedrückt die Treppe hinauf und sah sich unverwandt im Spiegel an. Er hatte sich seit drei Monaten nicht mehr rasiert, und doch fand er in seinem Gesicht nichts als einen dünnen weißen Flaum, der wahrlich nicht der Mühe wert war. Als er aus Harvard zurückkam, hatte Roscoe ihm den Vorschlag unterbreitet, er möge sich doch eine Brille aufsetzen und einen künstlichen Backenbart ankleben, und einen Moment lang war es ihm so vorgekommen, als ob die Farce seiner frühen Jahre von neuem aufgeführt werden sollte. Doch der Backenbart hatte gejuckt und war ihm peinlich gewesen. Er hatte geweint, und Roscoe hatte widerwillig klein beigegeben.

Benjamin schlug ein Buch mit Geschichten für Knaben auf, Die Pfadfinder von Bimini Bay, und fing an zu lesen. Doch er musste immer wieder an den Krieg denken. Im vorangegangenen Monat hatte sich Amerika auf die Seite der Alliierten gestellt, und Benjamin wollte zu den Fahnen eilen, doch leider war das Mindestalter sechzehn Jahre, und er sah nicht wie sechzehn aus. Wobei ihn sein wahres Alter, nämlich siebenundfünfzig, freilich ebenso untauglich für den Dienst gemacht hätte.

Da klopfte es an der Türe, und der Butler erschien mit einem Brief, in dessen einer Ecke ein großes Amtssiegel prangte und der adressiert war an Mr. Benjamin Button. Neugierig riss Benjamin den Umschlag auf und las entzückt, was dort geschrieben stand. Man teilte ihm mit, dass zahlreiche Reserveoffiziere aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg mit ihrer erneuten Einberufung in einen höheren Rang befördert worden seien und er nunmehr Brigadegeneral der Armee der Vereinigten Staaten sei und den Befehl habe, umgehend einzurücken.

Von fieberhafter Begeisterung gepackt, sprang Benjamin auf. Genau das hatte er sich gewünscht. Er griff nach seiner Mütze, und zehn Minuten später betrat er einen großen Schneidersalon in der Charles Street und verlangte mit seiner kieksenden Knabenstimme, dass man ihm eine Uniform anmessen solle.

»Na, Jungchen, willst wohl Soldat spielen, was?«, fragte der Angestellte leichthin.

Benjamin wurde rot. »Also hören Sie mal! Das geht Sie überhaupt nichts an, was ich will!«, entgegnete er ärgerlich. »Mein Name ist Button, ich wohne am Mt. Vernon Place, bloß, damit Sie Bescheid wissen, dass ich über die entsprechenden Mittel verfüge.«

»Schon gut«, lenkte der Angestellte zögernd ein, »und wenn nicht du, dann doch gewiss der Herr Papa, vermute ich.«

Benjamin wurde Maß genommen, und eine Woche später war seine Uniform fertig. Er hatte seine liebe Not, die ordentlichen Generalsabzeichen zu bekommen, denn der Händler wollte ihn unbedingt überreden, doch lieber eine hübsche Anstecknadel vom Christlichen Verein Junger Frauen zu nehmen, die würde genauso nett aussehen und wäre ja zum Spielen noch viel lustiger.

Ohne Roscoe Bescheid zu sagen, verließ Benjamin eines Nachts das Haus und fuhr mit der Eisenbahn nach Camp Mosby in South Carolina, wo er das Kommando über eine Brigade der Infanterie übernehmen sollte. An einem schwülen Apriltag hielt er vor dem Eingang des Camps, bezahlte das Taxi, das ihn vom Bahnhof hierhergebracht hatte, und sprach den diensthabenden Wachsoldaten an.

»Rufen Sie jemanden, der sich um mein Gepäck kümmert!«, sagte er forsch.

Der Wachhabende musterte ihn mit tadelndem Blick. »He da, Kleiner«, sagte er, »wo willst du denn hin mit deiner Generalsmontur?«

Mit feurigem Blick, aber leider auch mit seiner kieksenden Knabenstimme, wirbelte Benjamin, der Veteran des Spanisch-Amerikanischen Krieges, herum und sah den Mann an.

»Nehmen Sie gefälligst Haltung an!«, versuchte er zu donnern; er hielt inne, um nach Luft zu schnappen, und auf einmal sah er, wie der Wachhabende die Hacken zusammenschlug und sein Gewehr präsentierte. Benjamin lächelte dankbar, wenn auch verhalten, doch als er sich umsah, erstarb sein Lächeln, denn nicht ihm galt der Gehorsam des Soldaten, sondern einem ehrfurchtheischenden Colonel der Artillerie, der hoch zu Rosse näher kam.

»Colonel!«, rief Benjamin schrill.

Der Colonel kam heran, zog die Zügel an, schaute gelassen zu ihm hinab und zwinkerte ihm zu. »Na du, wessen Söhnchen bist du denn?«, fragte er freundlich.

»Verdammt noch mal, Sie sollen gleich erfahren, wessen Söhnchen ich bin!«, entgegnete Benjamin scharf. »Absitzen! Wird’s bald?!«

Der Colonel brüllte vor Lachen.

»Sie wollen den Gaul wohl selber haben, was, General?«

»Hier!«, schrie Benjamin verzweifelt. »Lesen Sie.« Und damit streckte er dem Colonel seinen Einberufungsbefehl entgegen. Der Colonel las, und seine Augen wurden immer größer. »Wo hast du das denn her?«, fragte er und versenkte das Dokument in seiner Rocktasche.

»Das hab ich von der Regierung bekommen, wie Sie bald feststellen werden!«

»Du kommst jetzt mit mir mit«, sagte der Colonel, und dabei sah er ihn so eigentümlich an. »Wir gehen erst mal zum Stab, und dort unterhalten wir uns in Ruhe weiter. Na, komm schon.« Der Colonel wendete sein Pferd, ließ es im Schritt gehen und lenkte es gemächlich zum Stabsquartier. Und Benjamin blieb nichts weiter übrig, als ihm möglichst würdevoll zu folgen und unterwegs im Stillen bittere Rache zu schwören. Doch zu dieser Rache sollte es nicht kommen. Stattdessen kam zwei Tage später sein Sohn Roscoe, erhitzt und mürrisch von der überstürzten Reise, aus Baltimore herbeigeeilt und eskortierte den weinenden General, sans uniforme, zurück nach Hause.

XI

 

1920 kam Roscoe Buttons erstes Kind zur Welt. Während der den Anlass begleitenden Feierlichkeiten indes hielt niemand es »der Rede wert«, etwa zu erwähnen, dass der kleine Rotzbengel von ungefähr zehn Jahren, der im Haus herumrannte und mit Zinnsoldaten und einem Miniaturzirkus spielte, der Großvater des neugeborenen Babys war.

Keiner störte sich an diesem Bürschlein, in dessen frisch-fröhlichem Gesicht doch auch ein Hauch von Traurigkeit zu erkennen war, nur Roscoe Button empfand seine Gegenwart als eine Qual. Der Ausdrucksweise seiner Generation entsprechend, betrachtete Roscoe die ganze Sache als »nicht zweckdienlich«. Damit, dass sich sein Vater weigerte, wie sechzig auszusehen, verhielt er sich aus Roscoes Sicht eben nicht wie ein »richtiger Mann von echtem Schrot und Korn« – eine Redensart, die Roscoe über alles liebte –, sondern legte ein merkwürdiges und widernatürliches Betragen an den Tag. Es trieb Roscoe buchstäblich an den Rand des Wahnsinns, darüber auch nur eine halbe Stunde lang nachzudenken. Er war durchaus der Meinung, dass man die »Lebensdrähte« frisch erhalten müsse, nur dies in einem derartigen Ausmaß zu betreiben, das war – das war – das war einfach nicht zweckdienlich. Und dabei blieb es für Roscoe.

Fünf Jahre später war sein Söhnchen alt genug, um mit dem kleinen Benjamin unter Aufsicht einer gemeinsamen Amme kindliche Spiele zu spielen. Roscoe brachte die beiden am selben Tag in den Kindergarten, und für Benjamin war es die faszinierendste Sache der Welt, aus schmalen Streifen von buntem Papier kleine Matten zu flechten und Ketten zu basteln und allerlei seltsame und schöne Muster damit zu machen. Wenn er einmal ungezogen war und in der Ecke stehen musste, weinte er, meistens aber waren es fröhliche Stunden, die er in jenem heiteren Zimmer verbrachte, wo die Sonne zum Fenster hereinschien und ihm Miss Bailey hin und wieder für einen Augenblick liebevoll mit ihrer Hand durch das zerzauste Haar fuhr.

Nach einem Jahr rückte Roscoes Sohn in die erste Klasse auf, Benjamin aber blieb im Kindergarten. Er war sehr glücklich. Nur hin und wieder, wenn die anderen Knirpse sich darüber unterhielten, was sie später, wenn sie groß wären, einmal werden wollten, huschte ein Schatten über sein kleines Gesicht, als dämmerte ihm irgendwie, auf eine kindlich-verschwommene Weise, dass er an diesen Dingen niemals Anteil haben würde.

In eintöniger Zufriedenheit flogen die Tage dahin. Er ging nun schon das dritte Jahr wieder in den Kindergarten, doch unterdessen war er zu klein, um zu verstehen, was es mit den leuchtend bunten Papierstreifen auf sich hatte. Er weinte, weil die anderen Jungen größer waren als er, und er fürchtete sich vor ihnen. Die Kindergärtnerin redete auf ihn ein, doch sosehr er sich auch Mühe gab, sie zu verstehen, er verstand sie einfach nicht.

Da nahm man ihn aus dem Kindergarten, und nun wurde seine Amme Nana in ihrem gestärkten Gingankleid zum Mittelpunkt seiner winzigen Welt. Bei schönem Wetter gingen sie im Park spazieren; dann zeigte Nana auf ein großes graues Ungeheuer und sagte »Elefant«, und Benjamin sprach ihr nach, und wenn er abends ausgezogen wurde und ins Bettchen musste, sagte er ein ums andere Mal ganz laut zu ihr: »Elifant, Elifant, Elifant.« Manchmal erlaubte Nana ihm, auf dem Bett herumzuhüpfen, was großen Spaß machte, denn wenn man sich dabei so richtig toll auf den Popo plumpsen ließ, schnellte man gleich noch einmal hoch und stand wieder auf den Füßen, und wenn man beim Hüpfen ganz lange »Ah« machte, dann gab es so einen schönen wabbeligen Ton.

Am liebsten nahm er sich einen großen Spazierstock vom Garderobenständer und lief damit umher, schlug auf Stühle und Tische ein und sagte immer: »Kämpfe-kämpfe-kämpfe.« Wenn Besuch da war, machten die alten Damen »Eideidei« zu ihm, was er interessant fand, und die jungen Damen wollten ihn küssen, was er gelinde gelangweilt über sich ergehen ließ. Und wenn der lange Tag abends um fünf zu Ende war, dann ging er mit Nana die Treppe hinauf und wurde löffelweise mit Hafergrütze und schönem süßem Brei gefüttert.

Verstörende Erinnerungen suchten ihn nicht heim in seinem kindlichen Schlummer; es gab keine Reminiszenz an seine heldenhaften Studententage oder an die glanzvollen Jahre, da er die Herzen vieler Mädchen hatte höherschlagen lassen. Es gab nichts als die schützenden weißen Wände seines Bettchens und Nana und einen Mann, der ihn hin und wieder besuchen kam, und einen riesengroßen orangeroten Ball, auf den Nana immer zeigte, ehe es dunkel wurde und sie ihn schlafen legte, und zu dem sie »Sonne« sagte. Und wenn die Sonne weg war, wurden seine Augen schläfrig – Träume gab es keine, ihn suchten keine Träume heim.

Die Vergangenheit – der wilde Sturm an der Spitze seiner Männer den San Juan Hill hinauf, die ersten Jahre seiner Ehe, wenn er an den Sommerabenden noch spät in der geschäftigen Stadt gearbeitet hatte für seine junge Hildegarde, die er liebte, die Zeit davor, wenn er in der Monroe Street in dem düsteren alten Haus der Buttons bis tief in die Nacht hinein rauchend mit seinem Großvater auf der Veranda gesessen hatte –, all das war verblasst, aus seinem Gedächtnis gelöscht wie ein unwirklicher Traum, als ob es nie geschehen wäre.

Er konnte sich an nichts erinnern. Er konnte sich nicht einmal recht daran erinnern, ob die Milch beim letzten Füttern warm oder kalt gewesen war oder wie er die Tage zugebracht hatte – es gab nichts als sein Bettchen und Nanas vertraute Gegenwart. Und dann erinnerte er sich an gar nichts mehr. Wenn er Hunger hatte, schrie er – das war alles. Die Nachmittage über und die Nächte hindurch atmete er, und über ihm gab es leises, kaum hörbares Gebrabbel und Gemurmel und Gerüche, die sich kaum voneinander unterschieden, und Licht und Dunkelheit.

Dann gab es nur noch Dunkelheit, und sein weißes Bettchen, die verschwommenen Gesichter, die sich über ihn beugten, der warme, süße Duft von Milch – all das verblasste und schwand endlich ganz und gar aus seiner Erinnerung.

Winterträume
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