Heißes und kaltes Blut

 

I

 

Die jungen Mathers waren seit etwa einem Jahr verheiratet, als Jacqueline eines Tages in die Räume der Maklerfirma kam, die ihr Ehemann mit mehr als durchschnittlichem Erfolg betrieb. Vor der offenen Tür seines Büros blieb sie stehen und sagte: »Oh, Verzeihung –« Sie hatte eine an und für sich alltägliche und dennoch rätselhafte Szene unterbrochen. Ein junger Mann namens Bronson, den sie flüchtig kannte, stand vor ihrem Mann, der sich von seinem Schreibtisch erhoben hatte. Bronson hielt die Hand ihres Manns und schüttelte sie ernst, ja mehr als ernst. Als die beiden Jacquelines Schritte hörten, drehten sie sich um, und Jacqueline sah, dass Bronsons Augen gerötet waren.

Einen Augenblick später kam er aus dem Zimmer und ging mit einem leicht verlegenen Gruß an ihr vorbei. Sie betrat das Büro ihres Mannes.

»Was wollte Ed Bronson von dir?«, fragte sie neugierig und ohne Umschweife.

Jim Mather lächelte sie an, wobei er seine grauen Augen halb schloss, und zog sie wortlos zu seinem Schreibtisch, bis sie sich auf die Tischkante setzte.

»Er kam nur kurz vorbei«, sagte er leichthin. »Wie steht es zu Hause?«

»Alles in Ordnung.« Sie sah ihn neugierig an. »Was wollte er?«, wiederholte sie beharrlich.

»Ach, er wollte nur etwas mit mir besprechen.«

»Und was?«

»Ach, nichts weiter. Etwas Geschäftliches.«

»Warum hatte er rote Augen?«

»Hatte er das?« Er sah sie unschuldig an – und dann mussten beide lachen. Jacqueline stand auf, ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in Jims Drehstuhl fallen.

»Du erzählst es mir besser gleich«, erklärte sie fröhlich, »denn vorher gehe ich nicht.«

»Na gut –« Er zögerte und runzelte die Stirn. »Er hat mich um einen kleinen Gefallen gebeten.«

Und da begriff Jacqueline – besser gesagt, ihr Verstand erriet eher zufällig die Wahrheit.

»Oh.« Ihre Stimme klang leicht gepresst. »Du hast ihm Geld geliehen.«

»Nur ein bisschen.«

»Wie viel?«

»Nur dreihundert.«

»Nur dreihundert?« Ihre Stimme hatte die Beschaffenheit von ausgekühltem Bessemerstahl. »Wie viel geben wir im Monat aus, Jim?«

»Wieso – nun ja, fünf- bis sechshundert, nehme ich an.« Er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Sei unbesorgt, Jack. Bronson zahlt es zurück. Er steckt gerade in der Klemme. Er hat einen Fehler gemacht mit einem Mädchen in Woodmere –«

»Und er weiß, dass du nicht nein sagen kannst, also kommt er zu dir«, fiel ihm Jacqueline ins Wort.

»Nein.« Er widersprach ihr entschieden.

»Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich dreihundert Dollar auch gut gebrauchen könnte?«, fragte sie. »Was ist mit der Reise nach New York, die wir uns im vergangenen November nicht leisten konnten?«

Das hartnäckige Lächeln schwand von Mathers Miene. Er ging zur Zimmertür und schloss sie.

»Hör mal zu, Jack«, begann er, »das kannst du nicht verstehen. Mit Bronson gehe ich fast jeden Tag zum Lunch. Als Kinder haben wir zusammen gespielt; wir sind zusammen zur Schule gegangen. Verstehst du denn nicht, dass er sich völlig zu Recht an mich wendet, wenn er Schwierigkeiten hat? Und deshalb konnte ich es ihm nicht abschlagen.«

Jacqueline bewegte die Schultern, als wollte sie damit seine Argumente abschütteln.

»Und wennschon«, antwortete sie entschieden. »Ich weiß nur, dass er nichts taugt. Er ist nie nüchtern, und wenn er keine Lust zum Arbeiten hat, dann hat er noch lange kein Recht, von deiner Arbeit zu leben.«

Inzwischen saßen sie einander am Schreibtisch gegenüber und redeten aufeinander ein, als hätte jeder von ihnen ein Kind vor sich. Die Sätze begannen mit »Jetzt hör mal zu!«, und ihre Mienen trugen den Ausdruck erschöpfter Geduld.

»Wenn du es nicht verstehen willst, kann ich dir nicht helfen«, sagte Mather nach einer Viertelstunde abschließend und in einem für seine Verhältnisse gereizten Ton. »Solche Verpflichtungen, denen man sich nicht entziehen kann, gibt es nun einmal unter Männern. Es ist komplizierter, als sich bloß zu weigern, jemandem Geld zu leihen, erst recht in einem Gewerbe wie dem meinen, in dem man von der guten Meinung anderer Geschäftsleute so abhängig ist.«

Mit diesen Worten zog Mather seinen Mantel an. Er wollte mit Jacqueline in der Straßenbahn zum Mittagessen nach Hause fahren. Sie hatten zurzeit keinen eigenen Wagen; den alten hatten sie verkauft, und einen neuen wollten sie im Frühjahr kaufen.

Nun war es in der Straßenbahn an diesem Tag ganz besonders unerfreulich. Die Auseinandersetzung im Büro wäre unter anderen Umständen vermutlich vergessen worden, doch was danach geschah, reizte die Stimmung so sehr, dass der kleine Kratzer sich zu einer ernstzunehmenden Infektion auswuchs.

Sie setzten sich in den vorderen Teil des Wagens. Es war Ende Februar, und eine lebhafte, rücksichtslose Sonne verwandelte den spärlichen Straßenschnee in schmutzige Bächlein, die munter im Rinnstein glucksten. Dank dem schönen Wetter war es in der Straßenbahn leerer als sonst, und niemand musste stehen. Der Fahrer hatte sogar sein Fenster geöffnet, und ein warmes Lüftchen blies den letzten Winterhauch aus dem Wagen.

Zufrieden dachte Jacqueline, dass ihr Ehemann, der neben ihr saß, mit seinem attraktiven Aussehen und seinem guten Herzen anderen Männern haushoch überlegen war. Was für eine dumme Idee, ihn ändern zu wollen. Vielleicht würde Bronson das Geld tatsächlich zurückzahlen, und letzten Endes waren dreihundert Dollar kein Vermögen. Natürlich hätte Jim es nicht tun sollen, aber andererseits…

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Schwall von Passagieren sich im Gang drängte. Jacqueline wünschte, die Leute hielten sich beim Husten die Hand vor den Mund, und sie hoffte, dass Jim möglichst bald einen neuen Wagen kaufen würde. Man konnte nie wissen, was für Krankheiten man sich in diesen Straßenbahnen einfing.

Sie wandte sich an Jim, um es ihm zu sagen, doch er war aufgestanden und bot gerade seinen Sitzplatz einer Frau an, die neben ihm im Gang gestanden hatte. Ohne ein Wort des Danks setzte sich die Frau. Jacqueline runzelte die Stirn.

Die Frau war um die fünfzig und unförmig. Als sie sich setzte, gab sie sich zuerst mit dem freien Platz zufrieden, doch schon nach wenigen Sekunden begann sie sich auszubreiten und ihre gewaltigen Fettwülste immer weiter zu verlagern, bis ihr Vorgehen Züge eines eindeutig gewaltsamen Übergriffs annahm. Wenn der Wagen zu Jacquelines Seite schwankte, rutschte die Frau mit, doch wenn er sich in die andere Richtung neigte, gelang es ihr, sich verblüffend raffiniert auf dem eroberten Terrain zu behaupten.

Jacqueline begegnete dem Blick ihres Mannes, der an einem Haltegurt schaukelte, und ihr zorniger Gesichtsausdruck verriet ihm deutlich, was sie von seinem Handeln hielt. Er bat stumm um Verzeihung und richtete seine Aufmerksamkeit umgehend auf eine Reihe Reklametafeln im Wagen. Die kolossale Frau rutschte wieder gegen Jacqueline und saß inzwischen fast halb auf ihr. Dann richtete sie den Blick ihrer verquollenen, unfreundlichen Augen unmittelbar auf Mrs. James Mather und hustete ihr ekelerregend ins Gesicht.

Mit einem unterdrückten Schrei sprang Jacqueline von ihrem Sitz auf, drängte sich schnell und ungestüm an den fetten Knien vorbei und bahnte sich mit zornentbranntem Gesicht einen Weg bis ans Ende des Wagens. Dort hielt sie sich an einem Gurt fest, während ihr beträchtlich beunruhigter Mann sich zu ihr gesellte.

Sie wechselten kein Wort und standen zehn Minuten lang schweigend nebeneinander, während die Männer, die wie aufgereiht vor ihnen saßen, mit ihren Zeitungen raschelten und den Blick sittsam auf die Seite mit den Cartoons gesenkt hielten.

Als sie ausstiegen, konnte Jacqueline nicht länger an sich halten.

»Du Riesenross!«, schrie sie außer sich. »Hast du diese widerwärtige Person gesehen, der du deinen Sitzplatz abgetreten hast? Warum nimmst du nicht ab und zu Rücksicht auf mich statt auf jedes x-beliebige selbstsüchtige Fischweib, das dir über den Weg läuft?«

»Ich konnte doch nicht wissen –«

Aber Jacqueline war so wütend auf ihn wie noch nie in ihrem Leben; es kam selten vor, dass jemand seinetwegen in Rage geriet.

»Ist etwa einer dieser Männer aufgestanden, um mir seinen Platz anzubieten? Kein Wunder, dass du am Montag zu müde warst, um auszugehen. Wahrscheinlich hattest du jemandem deinen Sitzplatz abgetreten – irgendeiner ekelhaften polnischen Putzfrau, die so stark ist wie ein Ochse und der es gar nichts ausmacht, zu stehen!«

Sie gingen die schlammige Straße entlang und traten immer wieder in tiefe Pfützen. Verwirrt und bekümmert fand Mather weder Worte der Entschuldigung noch der Rechtfertigung.

Jacqueline hörte zu schimpfen auf und drehte sich mit einem sonderbaren Funkeln in den Augen zu ihm um. Die Worte, in die sie ihr Fazit kleidete, waren die zweifellos unerquicklichsten, die er je zu hören bekommen hatte.

»Das Problem mit dir, Jim, und der Grund, warum du für solche Leute so leichte Beute bist, ist, dass du denkst wie ein Studienanfänger – du bist von Berufs wegen ein netter Kerl.«

II

 

Der Zwischenfall und die Verstimmung waren vergessen. Mathers grenzenlose Gutmütigkeit hatte alle Unebenheiten innerhalb einer Stunde geglättet. Zwar wurden im Verlauf der nächsten Tage noch Anspielungen geäußert, doch mit abnehmender Frequenz, bis auch sie verstummten und in die Rumpelkammer des Gedächtnisses verbannt wurden. Ich sage Rumpelkammer und nicht Vergessen, denn leider vergessen wir das, was wir vergessen, nie ganz. Das Thema wurde davon überlagert, dass Jacqueline sich mit ihrem gewohnten Elan und ihrer unerschütterlichen Gelassenheit an die lange, mühsame und kraftraubende Aufgabe machte, ein Kind zu bekommen. Ihre naturgegebenen Charakterzüge und Vorurteile verstärkten sich, und sie war weniger denn je gewillt, fünf gerade sein zu lassen.

Es war April, und sie hatten noch immer keinen neuen Wagen. Mather hatte feststellen müssen, dass er von seinen Einkünften fast nichts sparen konnte, und in einem halben Jahr galt es eine Familie zu ernähren. Das machte ihm Sorgen. Eine Falte – klein, zögerlich, unauffällig – machte sich zum ersten Mal als Schatten um seine offenen, freundlichen Augen bemerkbar. Inzwischen arbeitete er bis tief in die abendliche Frühlingsdämmerung hinein, und oft nahm er mit nach Hause, was am Tag unerledigt geblieben war. Auf den neuen Wagen würden sie noch eine Weile verzichten müssen.

Ein Nachmittag im April, an dem die ganze Stadt in der Washington Street zum Einkaufen unterwegs zu sein schien. Jacqueline ging langsam an den Geschäften vorbei und dachte ohne Angst und ohne Niedergeschlagenheit darüber nach, in was für eine Form ihr Leben nun unwillkürlich gezwungen wurde. Der Wind führte trockenen Sommerstaub mit; das Sonnenlicht wurde lebhaft von den Schaufensterscheiben zurückgeworfen und malte strahlende Regenbogen in die Benzinlachen auf der Straße.

Jacqueline hielt inne. Keine zwei Meter von ihr entfernt parkte ein nagelneuer Sportwagen am Straßenrand. Daneben standen zwei Männer, die sich unterhielten; im selben Augenblick, in dem sie in dem einen der beiden den jungen Bronson erkannte, sagte dieser wie nebenbei zu dem anderen: »Wie finden Sie ihn? Habe ihn heute Morgen bekommen.«

Jacqueline machte brüsk kehrt und ging mit schnellen, festen Schritten zur Firma ihres Ehemanns. Mit ihrem üblichen knappen Nicken an die Adresse der Sekretärin marschierte sie an ihr vorbei zum Büro ihres Mannes. Bei ihrem abrupten Eintreten sah Mather überrascht von seinem Schreibtisch auf.

»Jim«, sagte sie aufgeregt, »hat Bronson dir jemals die dreihundert zurückgezahlt?«

»Also – nein«, antwortete er ausweichend, »noch nicht. Er war letzte Woche hier und hat mir erklärt, dass er im Augenblick Geldschwierigkeiten hat.«

Ihre Augen glänzten in zornigem Triumph.

»Ach nein, wirklich?«, rief sie giftig. »Aber er hat gerade einen Sportwagen gekauft, der mindestens zweieinhalbtausend Dollar gekostet haben dürfte.«

Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen«, bekräftigte sie. »Und ich habe gehört, wie er sagte, dass er den Wagen gerade erst gekauft habe.«

»Er hat mir aber versichert, dass er Geldschwierigkeiten hat«, erwiderte Mather hilflos.

Jacqueline brachte ihre Verzweiflung mit einem Geräusch zum Ausdruck, das eine Mischung aus Seufzen und Stöhnen war.

»Er hat dich benutzt! Er wusste, wie leichtgläubig du bist, und hat dich benutzt. Begreifst du das nicht? Er wollte, dass du ihm den Wagen kaufst, und du hast ihm den Wagen gekauft!«

Sie lachte bitter. »Wahrscheinlich hält er sich den Bauch vor Lachen, wenn er daran denkt, wie leicht es war, dich reinzulegen.«

»O nein«, widersprach Mather mit entsetzter Miene, »du hast ihn sicher mit jemandem verwechselt –«

»Wir müssen zu Fuß gehen, und er fährt auf unsere Kosten«, unterbrach sie ihn erregt. »Oh, es ist wirklich zu komisch, wirklich zu komisch! Wenn es nicht so schrecklich wäre, wäre es einfach absurd. Hör mir jetzt zu!« Ihre Stimme wurde schärfer, beherrschter – und enthielt nun eine Spur Verachtung. »Du verbringst dein halbes Leben damit, Leuten unter die Arme zu greifen, die sich einen feuchten Kehricht darum scheren, wie es dir geht oder was aus dir wird. Du überlässt deinen Sitzplatz in der Straßenbahn Schweinen und kommst so müde nach Hause, dass du dich nicht mehr rühren kannst. Du sitzt in allen möglichen Ausschüssen, was dich jeden Tag mindestens eine Stunde kostet, ohne dass du einen Cent dafür bekommst. Du lässt dich von allen und jedem ausnutzen! Ich mache das nicht mehr mit! Ich dachte, ich hätte einen Mann geheiratet – und nicht einen hauptberuflichen Samariter, der sich für die ganze Welt aufopfern will!«

Nach dieser Schimpftirade begann Jacqueline mit einem Mal zu schwanken, und sie musste sich setzen, so angegriffen waren ihre Nerven.

»Und das gerade jetzt«, sagte sie mit unterdrücktem Schluchzen, »wo ich dich brauche. Ich brauche deine Kraft und deine Gesundheit und deine Arme, die mich halten. Aber wenn du – wenn du dich an jeden verschwendest, dann bleibt fast nichts mehr für mich übrig –«

Er kniete sich neben sie und legte ihren müden jungen Kopf sanft an seine Schulter.

»Es tut mir leid, Jacqueline«, sagte er demütig. »Ich werde mir mehr Mühe geben. Mir war nicht klar, was ich dir antue.«

»Du bist der liebste Mensch auf der Welt«, flüsterte Jacqueline heiser, »aber ich will dich und das Beste an dir für mich haben.«

Er strich ihr immer wieder über die Haare. Ein paar Minuten lang verharrten sie schweigend in diesem Nirwana des Friedens und des Verständnisses, das sie erreicht hatten. Dann hob Jacqueline widerstrebend den Kopf, als Miss Clancy in der Tür erschien und die Stille unterbrach.

»Oh, entschuldigen Sie die Störung.«

»Worum geht es?«

»Ein Junge ist mit Kartons gekommen. Lieferung per Nachnahme.«

Mather erhob sich und folgte Miss Clancy in ihr Büro.

»Es macht fünfzig Dollar.«

Er sah in seiner Brieftasche nach, doch er hatte am Morgen vergessen, Geld abzuheben.

»Warten Sie eine Sekunde«, sagte er geistesabwesend. Seine Gedanken waren mit Jacqueline beschäftigt, mit Jacqueline, die in ihrem Kummer so verlassen wirkte und in seinem Zimmer auf ihn wartete. Er ging in den Flur, öffnete die Tür der Maklerfirma Clayton & Drake gegenüber, schob ein niedriges Gitter auf und ging zu einem Mann an einem Schreibtisch.

»Morgen, Fred«, sagte Mather.

Drake, ein kleiner Mann von dreißig Jahren mit Kneifer und Kahlkopf, erhob sich und gab Jim die Hand.

»Morgen, Jim. Kann ich was für Sie tun?«

»Bei mir ist ein Bote mit einer Nachnahmesendung, und ich habe keinen Cent bei mir. Könnten Sie mir bis heute Nachmittag einen Fünfziger auslegen?«

Drake starrte Mather an. Langsam und erschreckend bewegte er dann seinen Kopf – nicht auf und ab, sondern hin und her.

»Tut mir leid, Jim«, antwortete er steif, »aber ich habe es mir zur Regel gemacht, unter keinen Umständen jemandem privat Geld zu leihen. Ich habe schon zu oft erlebt, wie Freundschaften auf diese Weise zerstört wurden.«

»Was?«

Mather war aus seiner Geistesabwesenheit aufgewacht, und die einsilbige Antwort drückte sein Entsetzen unumwunden aus. Doch sofort machte sich sein angeborenes Taktgefühl bemerkbar, das ihm automatisch die nächsten Worte diktierte, obwohl sein Gehirn wie betäubt war. Instinktiv wollte er Drake beruhigen.

»Oh, ich verstehe.« Er nickte, als teilte er die Ansicht des anderen, als hätte er schon oft mit dem Gedanken gespielt, diese Regel auch zu befolgen. »Oh, ich verstehe, was Sie meinen. Tja, ich – ich möchte natürlich um nichts in der Welt schuld daran sein, dass Sie Ihre Regel brechen. So eine Regel ist sicher eine gute Sache.«

Sie unterhielten sich noch ein wenig. Drake rechtfertigte seinen Standpunkt gewandt, und es war nicht zu übersehen, dass er in dieser Rolle eine Menge Übung hatte. Er schenkte Mather ein ausgesprochen offenes Lächeln.

Mather verabschiedete sich höflich, ging in sein Büro zurück und ließ Drake unter dem Eindruck zurück, er, Drake, sei der taktvollste Geschäftsmann der ganzen Stadt. Mather verstand es, in anderen solche Gefühle zu wecken. Als er jedoch sein Büro betrat und seine Frau sah, die trübsinnig aus dem Fenster in das Sonnenlicht starrte, ballte er die Fäuste, und sein Mund bewegte sich auf ungewohnte Weise.

»In Ordnung, Jack«, sagte er langsam, »ich glaube, du hast in den meisten Dingen recht gehabt, und ich war ein ausgemachter Esel.«

III

 

Während der nächsten drei Monate dachte Mather an die vergangenen Jahre zurück. Er hatte ein außergewöhnlich glückliches Leben geführt. Jene Reibungen zwischen Einzelnen oder zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, welche die meisten von uns zu einer barschen, zynischen und streitbaren Verfassung verhärten, waren in seinem Leben ausgesprochen selten gewesen. Nie hatte er darüber nachgedacht, dass er für dieses Privileg einen Preis bezahlt hatte, doch nun wurde ihm bewusst, dass er immer wieder und in den unterschiedlichsten Situationen freiwillig die unbequemere Straßenseite gewählt hatte, um Anfeindungen, Streitigkeiten oder auch nur Fragen aus dem Weg zu gehen.

Zum Beispiel hatte er viel Geld an Bekannte verliehen, alles in allem etwa dreizehnhundert Dollar – Geld, das er, wie sein neues Bewusstsein ihm klarmachte, nie wiedersehen würde. Jacqueline mit ihrer härteren, weiblichen Intelligenz hatte das sofort begriffen. Erst jetzt, da er es Jacqueline schuldig gewesen wäre, Geld auf dem Konto zu haben, fehlten ihm diese Geldbeträge.

Er sah ein, wie berechtigt ihr Vorwurf war, dass er ständig anderen diesen oder jenen kleineren oder größeren Gefallen tue; die Summe der vergeudeten Zeit und Kraft war erschreckend. Er hatte es gern getan. Es erwärmte ihm das Herz, wenn andere ihn schätzten, doch nun fragte er sich, ob er damit nicht lediglich einer egoistischen Eitelkeit gefrönt hatte. Mit diesem Argwohn war er sich selbst gegenüber wie üblich ungerecht, denn in Wahrheit war Mather einfach nur überaus romantisch.

Er gelangte zu dem Schluss, dass er sich verausgabt hatte und deshalb abends müde war, in der Arbeit weniger leistete als früher und Jacqueline nicht genügend unterstützte, die im Verlauf der Monate schwerfälliger und übellauniger geworden war und während der langen Sommernachmittage auf der überdachten Veranda saß und auf seine Schritte am Ende des Wegs wartete.

Damit diese Schritte ihre Festigkeit nicht verloren, verzichtete Mather auf vieles, unter anderem auf den Vorsitz der Vereinigung von Collegeabsolventen seines Jahrgangs. Auch weniger begehrenswerte Ämter gab er auf. Wenn er in ein Komitee gewählt wurde, ernannten die anderen ihn gern zum Vorsitzenden und zogen sich in den Hintergrund zurück, wo sie in der Regel schwer zu finden waren. So etwas ließ er jetzt nicht mehr mit sich machen. Leuten, die so aussahen, als wollten sie ihn um einen Gefallen bitten, ging er aus dem Weg, und er mied die appellierenden Blicke, die ihm manche Grüppchen in seinem Club zuwarfen.

Die Veränderung in ihm ging langsam vor sich. Er war nicht etwa ausnehmend weltfremd; unter anderen Umständen hätte Drakes Weigerung ihn keineswegs überrascht. Hätte er sie als Anekdote gehört, hätte er kaum einen Gedanken daran verschwendet. Doch sie war mit aller Härte und Unmittelbarkeit gegen seine Gedankenwelt geprallt, und dieser Schock verlieh ihr eine machtvolle und unmittelbare Bedeutung.

Inzwischen war es Mitte August und der letzte Tag einer glühend heißen Woche. Die Vorhänge der weitgeöffneten Fenster seines Büros hatten sich den ganzen Tag kaum bewegt und hingen wie schlaffe Segel warm und eng vor den erstickenden Fliegengittern. Mather machte sich Sorgen – Jacqueline hatte sich überanstrengt und büßte dafür mit heftigen Übelkeitsanfällen und Kopfschmerzen, und die Geschäfte hatten einen apathischen Stillstand erreicht. An diesem Vormittag war er zu Miss Clancy so unfreundlich gewesen, dass sie ihn überrascht angesehen hatte. Er hatte sich sofort entschuldigt und sich hinterher darüber geärgert. Trotz der Hitze arbeitete er unermüdlich; warum sollte er nicht das Gleiche von ihr verlangen?

Sie kam zu seiner Tür, und er sah mit leicht gerunzelter Stirn auf.

»Mr. Edward Lacy.«

»Schon gut«, antwortete er gleichgültig. Den alten Lacy kannte er flüchtig. Eine traurige Gestalt – einst in den Achtzigern eine brillante Karriere und nun ein Wrack. Was sollte Lacy anderes wollen als ihn anbetteln?

»Guten Tag, Mr. Mather.«

Ein kleiner grauhaariger Mann mit ernster Miene stand auf der Schwelle. Mather erhob sich und begrüßte ihn höflich.

»Sind Sie beschäftigt, Mr. Mather?«

»Na ja, nicht sonderlich.« Er betonte das Adverb leicht.

Mr. Lacy setzte sich. Ihm war offensichtlich unbehaglich zumute, denn er behielt den Hut in den Händen und klammerte sich daran, als er zu sprechen begann.

»Mr. Mather, wenn Sie fünf Minuten Zeit erübrigen können, möchte ich Ihnen etwas sagen, was – was für mich unter den gegebenen Umständen sehr wichtig ist.«

Mather nickte. Sein Instinkt warnte ihn, dass man ihn um einen Gefallen bitten wollte, aber er war müde; erschöpft stützte er das Kinn auf die Hand, dankbar für jede Abwechslung von seinen unmittelbareren Sorgen.

»Sie müssen wissen«, fuhr Mr. Lacy fort, und Mather sah, dass die Hände, mit denen er die Hutkrempe knetete, zitterten, »dass Ihr Vater und ich damals im Jahr 1884 gute Freunde waren. Sie haben ihn sicherlich von mir sprechen hören.«

Mather nickte.

»Ich wurde gebeten, Sargträger zu sein. Ja, früher waren wir – enge Freunde. Deshalb wende ich mich heute an Sie. Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich an jemanden wenden müssen, wie ich mich jetzt an Sie wende, Mr. Mather – an einen Fremden. Doch wenn man alt wird, sterben die Freunde oder ziehen fort, oder Missverständnisse entfremden sie einem. Und die eigenen Kinder sterben, wenn man nicht das Glück hat, vor ihnen zu gehen, und irgendwann ist man dann allein und hat überhaupt keine Freunde mehr. Man ist allein.« Er lächelte schwach. Inzwischen zitterten seine Hände heftig.

»Vor fast vierzig Jahren hat Ihr Vater mich einmal um tausend Dollar gebeten. Ich war einige Jahre älter als er, und obwohl ich ihn nur flüchtig kannte, hielt ich sehr viel von ihm. Damals war das viel Geld, und er hatte keine Sicherheiten anzubieten, er hatte nichts als einen Plan in seinem Kopf, aber mir gefiel die Art, wie er einen ansah – Sie werden verzeihen, wenn ich sage, dass Sie ihm nicht unähnlich sehen –, und ich lieh ihm das Geld ohne Sicherheiten.«

Mr. Lacy hielt inne.

»Ohne Sicherheiten«, wiederholte er. »Damals konnte ich mir das leisten. Und ich wurde nicht enttäuscht. Er hat es noch vor Ende des Jahres mit sechs Prozent Zinsen zurückgezahlt.«

Mather hielt den Blick auf seine Schreibunterlage gerichtet und malte mit dem Bleistift kleine Dreiecke darauf. Er wusste, was kommen würde, und seine Muskeln spannten sich an, als er seine Kräfte für die Ablehnung sammelte, die er aussprechen musste.

»Jetzt bin ich ein alter Mann, Mr. Mather«, sprach die brüchige Stimme weiter. »Ich bin bankrott, ein Wrack, aber das müssen wir jetzt nicht vertiefen. Ich habe eine Tochter, unverheiratet, die mit mir zusammenwohnt. Sie arbeitet als Sekretärin und ist sehr gut zu mir. Wir wohnen zusammen in der Selby Avenue, in einer Wohnung, einer sehr netten Wohnung.«

Der alte Mann seufzte, seine Stimme bebte. Er versuchte sich zu seiner Bitte vorzutasten, doch zugleich fürchtete er sich davor. Offenbar ging es um eine Versicherung. Er hatte eine Zehntausend-Dollar-Police, hatte sie bis zum Limit beliehen und lief nun Gefahr, den ganzen Betrag zu verlieren, wenn es ihm nicht gelang, vierhunderfünfzig Dollar aufzutreiben. Er und seine Tochter besaßen zusammen ungefähr fünfundsiebzig Dollar. Freunde hatten sie nicht – das hatte er erklärt –, und es war ihnen unmöglich gewesen, das Geld aufzutreiben…

Mather konnte die Elendsgeschichte nicht länger mit anhören. Er konnte das Geld nicht erübrigen, aber er wollte dem alten Mann wenigstens die schmachvolle Qual ersparen, darum zu bitten.

»Es tut mir leid, Mr. Lacy«, unterbrach er ihn so rücksichtsvoll wie möglich, »aber ich kann Ihnen das Geld nicht leihen.«

»Nein?« Der alte Mann sah ihn mit verblassten, blinzelnden Augen an, die keinen Schock mehr empfinden konnten, die allem Anschein nach fast überhaupt keine menschlichen Gefühle mehr empfinden konnten außer unablässiger Sorge. Die einzige Veränderung seiner Miene war, dass sein Mund sich leicht öffnete.

Mather hielt den Blick entschlossen auf seine Schreibunterlage gerichtet.

»Wir werden in wenigen Monaten ein Kind bekommen, dafür spare ich. Es wäre meiner Frau gegenüber nicht fair, ihr – oder dem Kind – gerade jetzt das Geld wegzunehmen.«

Seine Stimme wurde zu einem Murmeln. Er hörte sich die Platitüde sagen, dass die Geschäfte schlecht gingen, und sie kam ihm mit widerwärtiger Geläufigkeit über die Lippen.

Mr. Lacy erhob keinen Einwand. Er stand auf, scheinbar unbeteiligt. Nur seine Hände zitterten noch immer, und das beunruhigte Mather. Der alte Mann entschuldigte sich, bedauerte, ihn in dieser Situation belästigt zu haben. Vielleicht würde sich etwas ergeben. Er habe nur gedacht, wenn Mr. Mather zufällig über größere Geldbeträge verfügte, nun ja, dann hätte er sich an ihn gewandt, weil er der Sohn eines alten Freundes war.

Als Mr. Lacy das Büro verließ, hatte er Schwierigkeiten, die Tür zum Flur zu öffnen. Miss Clancy half ihm. Abgerissen und kummervoll trat er auf den Flur hinaus und blinzelte mit seinen verblichenen Augen, während sein Mund noch immer leicht geöffnet war.

Jim Mather stand an seinem Schreibtisch und hielt sich die Hand vor das Gesicht; ihn schauderte plötzlich, als wäre ihm kalt. Doch die spätnachmittägliche Luft draußen war so heiß wie die einer tropischen Mittagsstunde.

IV

 

In der Abenddämmerung eine Stunde später war es noch heißer, als er draußen an der Ecke auf die Straßenbahn wartete. Die Heimfahrt würde fünfundzwanzig Minuten dauern, und er kaufte eine auf rosa Papier gedruckte Zeitung, um seinen ermatteten Geist zu beleben. In letzter Zeit erschien ihm das Leben weniger heiter, weniger herrlich als früher – vielleicht weil er die Dinge inzwischen nüchterner sah, vielleicht weil die Herrlichkeit sich mit den davoneilenden Jahren nach und nach verflüchtigte.

So etwas wie an diesem Nachmittag war ihm zum Beispiel noch nie widerfahren. Es gelang ihm nicht, den alten Mann aus seinen Gedanken zu verbannen. Er stellte ihn sich vor, wie er sich in der ermüdenden Hitze nach Hause schleppte, vermutlich zu Fuß, um Geld zu sparen; wie er die Tür der stickigen kleinen Wohnung öffnete und seiner Tochter gestand, dass der Sohn seines Freundes ihm nicht hatte helfen können. Den ganzen Abend würden sie sich vergeblich den Kopf zerbrechen, bis sie einander gute Nacht sagten – Vater und Tochter, durch Zufall völlig allein in dieser Welt – und in erbärmlicher Einsamkeit wach in ihren Betten liegen würden.

Mathers Straßenbahn kam, und er fand einen Sitzplatz vorne im Wagen neben einer alten Dame, die ihn vorwurfsvoll ansah, als sie zur Seite rutschte. An der nächsten Haltestelle füllte ein Schwarm Mädchen aus dem Ladenviertel den Gang, und Mather entfaltete seine Zeitung. In letzter Zeit hatte er darauf verzichtet, anderen seinen Platz anzubieten. Jacqueline hatte recht; normale junge Mädchen konnten genauso gut stehen wie er. Seinen Sitz anzubieten war albern, eine bloße Geste. Unter zwölf Frauen fand sich heutzutage nicht eine, die auf die Idee gekommen wäre, ihm dafür zu danken.

Im Wagen war es erstickend heiß, und Mather wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Gang drängten sich die Fahrgäste, und eine Frau, die neben seinem Sitz stand, wurde gegen seine Schulter gedrückt, als der Wagen um die Ecke fuhr. Mather nahm einen tiefen Atemzug der heißen, übelriechenden Luft, die wie eine Wolke in dem Wagen hing, und versuchte sich auf einen Cartoon oben auf der Sportseite zu konzentrieren.

»Bitte weitergehen!« Heiser und gereizt durchdrang die Stimme des Schaffners die dichtgedrängte Menge. »Genug Platz für alle!«

Die Menge unternahm den kläglichen Versuch, sich vorwärtszuschieben, was zum Scheitern verurteilt war, weil es keinen freien Raum gab. Der Wagen bog erneut um eine Ecke, und wieder wurde die Frau neben Mather an seine Schulter gedrückt. Normalerweise hätte er seinen Sitzplatz aufgegeben, allein schon, um nicht dauernd an ihre Gegenwart erinnert zu werden. Er kam sich unerfreulich kaltblütig vor. Und in der Straßenbahn war es abscheulich, einfach abscheulich. An so schwülen Tagen sollten mehr Wagen eingesetzt werden.

Zum fünften Mal sah er sich die Bilder des Comicstrips an. Auf dem zweiten Bild war ein Bettler zu sehen, und Mr. Lacys zitternde Gestalt nahm beharrlich die Stelle des Bettlers ein. Großer Gott! Angenommen, der alte Mann würde verhungern, angenommen, er würde sich in den Fluss stürzen.

»Früher einmal«, dachte Mather, »hat er meinem Vater geholfen. Hätte er es nicht getan, hätte mein eigenes Leben vielleicht einen völlig anderen Verlauf genommen. Aber Lacy konnte es sich damals leisten, und ich kann es eben nicht.«

Um sich von Mr. Lacys Bild zu befreien, versuchte Mather an Jacqueline zu denken. Er sagte sich immer wieder, dass es bedeutet hätte, Jacqueline für einen ausgebrannten Mann zu opfern, der seine Chance gehabt und sie verspielt hatte. Doch Jacqueline brauchte ihre Chance – jetzt mehr denn je.

Mather sah auf die Uhr. Er saß seit zehn Minuten in der Straßenbahn. Noch fünfzehn Minuten Fahrt, und die Hitze war so drückend, dass es einem den Atem raubte. Die Frau wurde wieder gegen ihn gedrückt, und aus dem Fenster sah er, dass sie um die letzte Ecke der Innenstadt bogen.

Er überlegte, ob er nicht doch besser der Frau seinen Platz anbieten sollte – das letzte Mal, als sie gegen seine Schulter getaumelt war, hatte sie besonders erschöpft gewirkt. Wenn er sicher gewesen wäre, dass es sich um eine ältere Frau handelte – doch der Stoff ihres Kleides, den seine Hand berührt hatte, machte irgendwie den Eindruck, als wäre sie noch jung. Er wagte nicht aufzublicken, um sich zu vergewissern. Er fürchtete sich vor dem Flehen, das er in ihren Augen lesen könnte, wenn es alte, und vor der unverhüllten Verachtung, wenn es junge Augen waren.

Die nächsten fünf Minuten quälte er sich auf verworrene und erstickte Weise mit der inzwischen für ihn ins Unermessliche angewachsenen Frage ab, ob er ihr seinen Sitz überlassen sollte. Er hatte das undeutliche Gefühl, damit wenigstens teilweise wiedergutmachen zu können, dass er nachmittags Mr. Lacy mit leeren Händen weggeschickt hatte. Es wäre allzu herzlos, gleich zwei kaltblütige Dinge unmittelbar nacheinander getan zu haben, obendrein an einem solchen Tag.

Er versuchte es nochmals mit dem Cartoon, vergeblich. Er musste sich auf Jacqueline konzentrieren. Inzwischen war er todmüde; wenn er jetzt aufstand, würde er noch müder werden. Jacqueline erwartete ihn, sie brauchte ihn. Sie würde niedergeschlagen sein, und sie würde erwarten, dass er sie nach dem Abendessen eine Stunde lang friedlich in den Armen hielt. Wenn er müde war, war das ziemlich anstrengend. Und wenn sie dann ins Bett gingen, würde sie ihn ab und zu bitten, ihr ihre Arznei oder ein Glas Eiswasser zu holen. Er wollte auf keinen Fall überdrüssig wirken, wenn er ihr diese kleinen Dienste erwies, damit sie sich künftig nicht etwa die Bitte um etwas versagte, was sie benötigte.

Die junge Frau neben ihm schwankte schon wieder gegen ihn, doch diesmal war es, als ließe sie sich gegen ihn fallen. Auch sie war müde. Nun ja, das Arbeiten war ermüdend. Bruchstücke von Sprichwörtern über Mühsal und lange Arbeitstage geisterten ihm durch den Sinn. Alle Menschen waren müde – diese Frau zum Beispiel, deren Körper so ermattet, so eigenartig gegen ihn sackte. Doch an erster Stelle kamen sein Zuhause und sein Mädchen, das er liebte und das zu Hause auf ihn wartete. Er musste seine Kraft für sie aufsparen, und er sagte sich immer wieder, dass er seinen Sitzplatz nicht aufgeben würde.

Da hörte er einen langgedehnten Seufzer, gefolgt von einem Aufschrei, und er merkte, dass das Mädchen nicht mehr an ihm lehnte. Der Aufschrei schwoll zu Stimmengewirr an, dann kam eine Pause, bevor erneut Stimmengewirr ertönte, Rufe und schrille Schreie, die durch den Wagen zum Fahrer vordrangen. Die Glocke wurde heftig geläutet, und die heiße Straßenbahn hielt mit einem Ruck an.

»Mädchen hier drinnen ohnmächtig geworden!«

»Zu heiß für sie!«

»Einfach umgekippt!«

»Gehen Sie zurück! Machen Sie den Gang frei!«

Die Menge wich zurück. Die Fahrgäste vorne im Wagen drängten sich zusammen, und die auf der hinteren Plattform stiegen vorübergehend aus. Neugier und Mitleid wallten auf in den Grüppchen, die sich plötzlich unterhielten. Die Leute wollten helfen, standen im Weg. Dann wurde die Glocke geläutet, und das Stimmengewirr wurde wieder lauter und schriller.

»Ist sie unversehrt rausgekommen?«

»Haben Sie das gesehen?«

»Diese verdammte Straßenbahngesellschaft sollte –«

»Haben Sie den Mann gesehen, der sie rausgetragen hat? Der war so bleich wie ein Gespenst.«

»Ja, aber haben Sie gehört –«

»Was?«

»Dieser Bursche. Der bleiche Bursche, der sie rausgetragen hat. Er hat neben ihr gesessen – und er sagt, er sei ihr Mann!«

Im Haus war es still. Ein leiser Windhauch bewegte die dunklen Blätter der Ranken an der Veranda, so dass dünne gelbe Mondstrahlen auf die Rohrstühle fielen. Jacqueline ruhte friedlich auf der Chaiselongue, den Kopf in Mathers Armen. Nach einiger Zeit bewegte sie sich träge, hob die Hand und tätschelte ihm die Wange.

»Ich glaube, ich gehe langsam ins Bett. Ich bin so müde. Hilfst du mir auf?«

Er hob sie hoch, legte sie aber in die Kissen zurück.

»Ich bin in einer Minute bei dir«, sagte er sanft. »Kannst du die eine Minute warten?«

Er ging in das hell erleuchtete Wohnzimmer, und sie hörte, wie er in einem Telefonbuch blätterte; dann lauschte sie, als er eine Nummer wählte.

»Hallo, ist Mr. Lacy zu sprechen? Wieso – ja, es ist wirklich wichtig, das heißt, wenn er nicht schon im Bett ist.«

Schweigen. Jacqueline hörte die unruhigen Sperlinge im Laub der Magnolie auf der anderen Straßenseite tschilpen, dann sprach ihr Mann ins Telefon: »Spreche ich mit Mr. Lacy? Oh, hier spricht Mather. Also – also wegen der Sache von heute Nachmittag – ich denke, dass ich es doch einrichten kann.« Er sprach etwas lauter, als fiele es jemandem am anderen Ende der Leitung schwer, ihn zu hören. »James Mathers Sohn, sagte ich – wegen der Sache von heute Nachmittag –«

Winterträume
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