Die Kristallschüssel

 

I

 

Es gab eine Altsteinzeit, eine Jungsteinzeit und eine Bronzezeit, und viele Jahre später gab es eine Kristallzeit. In der Kristallzeit setzten sich junge Damen, wenn sie junge Männer mit langen, geschwungenen Schnurrbärten überredet hatten, sie zu heiraten, einige Monate nach der Hochzeit hin und schrieben Dankesbriefe für all die Geschenke aus Kristallglas – Punschschüsseln, Fingerschalen, Wassergläser, Weingläser, Eisbecher, Pralinenteller, Karaffen und Vasen –, denn Kristall war zwar in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts durchaus nichts Neues, jedoch gerade zu dieser Zeit fand es seine Bestimmung darin, von Back Bay in Boston bis zu den wuchtigen Herrenhäusern im Mittleren Westen den Glanz der Mode zu reflektieren.

Nach dem Fest wurden die Punschschüsseln auf der Anrichte aufgestellt, die größte stets in der Mitte, die Gläser kamen in die Porzellanvitrine, die Kerzenleuchter fanden ihren Platz an den beiden Enden eines Möbelstücks – und dann begann der Kampf ums Überleben. Der Pralinenteller verlor seinen Griff und zog als Nadelteller in den ersten Stock; eine herumstreichende Katze schob die kleine Schüssel von der Anrichte, und das Dienstmädchen stieß mit der Zuckerdose an die mittelgroße, so dass ein Stück herausbrach; die Weingläser erlitten Beinbrüche, und sogar die Wassergläser verschwanden eines nach dem anderen wie die zehn kleinen Negerlein – das letzte endete verkratzt und ramponiert als Zahnputzglas neben anderen heruntergekommenen Vornehmheiten auf dem Bord über dem Waschbecken. Aber als dies alles geschah, war die Kristallzeit ohnehin vorüber.

Sie hatte ihren Höhepunkt bereits deutlich überschritten, als die neugierige Mrs. Roger Fairboalt die schöne Mrs. Harold Piper besuchte.

»Meine Liebe«, sagte die neugierige Mrs. Roger Fairboalt, »Ihr Haus gefällt mir ja so. Ich finde es so künstlerisch.«

»Das freut mich sehr«, sagte die schöne Mrs. Harold Piper, und ihre jungen, dunklen Augen leuchteten, »und Sie müssen unbedingt öfter kommen. Ich bin nachmittags fast immer allein.«

Mrs. Fairboalt hätte am liebsten bemerkt, dass sie das ganz und gar nicht glaubte und auch keinen Grund sah, warum sie es hätte glauben sollen – schließlich wusste die ganze Stadt, dass Mr. Freddy Gedney seit sechs Monaten an fünf Nachmittagen pro Woche Mrs. Piper mit seinem Besuch beehrte. Mrs. Fairboalt war in jenem reifen Alter, in dem sie allen schönen Frauen misstraute…

»Am besten gefällt mir das Esszimmer«, sagte sie. »All das wunderschöne Porzellan und diese riesige Kristallschüssel.«

Mrs. Piper lachte so hübsch, dass Mrs. Fairboalts noch bestehende Vorbehalte hinsichtlich der Freddy-Gedney-Gerüchte beinahe weggeblasen waren.

»Ach, die große Schüssel!« Mrs. Pipers Mund war wie eine lebende Rosenblüte. »Dazu gibt es eine Geschichte.«

»Ach ja?«

»Erinnern Sie sich an den jungen Carleton Canby? Nun, er hat sich früher einmal sehr um mich bemüht, und an dem Abend vor sieben Jahren – das war zweiundneunzig –,als ich ihm sagte, dass ich Harold heiraten würde, richtete er sich auf und sagte: ›Evylyn, ich werde Ihnen etwas schenken, das ebenso hart und schön und leer und leicht zu durchschauen ist wie Sie.‹ Er hat mir ein bisschen Angst gemacht, seine Augen waren so schwarz. Ich dachte, er würde mir ein Geisterhaus überschreiben oder etwas, das explodiert, wenn man es öffnet. Aber dann kam diese Schüssel, und sie ist wirklich schön. Ihr Durchmesser oder Umfang oder wie man das nennt beträgt fünfundsiebzig Zentimeter – oder waren es hundert? Jedenfalls ist sie eigentlich zu groß für die Anrichte – sie steht ja über.«

»Was für eine eigenartige Geschichte, meine Liebe! Ungefähr um diese Zeit ist er auch fortgegangen, nicht?« Mrs. Fairboalt machte sich in Gedanken eifrig Notizen, in Kursivschrift: hart und schön und leer und leicht zu durchschauen.

»Ja, er ging in den Westen oder in den Süden, irgendwohin«, antwortete Mrs. Piper und verströmte jene göttliche Unbestimmtheit, die der Schönheit hilft, über die Zeit erhaben zu sein.

Mrs. Fairboalt zog ihre Handschuhe an und lobte den Eindruck von Größe und Weiträumigkeit, den der offene Durchgang vom geräumigen Musikzimmer zur Bibliothek erzeugte, von wo man einen Teil des Esszimmers sehen konnte. Es war wirklich das hübscheste kleinere Haus der Stadt, und Mrs. Piper hatte erwähnt, dass sie und ihr Mann ein größeres an der Devereaux Avenue beziehen wollten. Harold Piper musste das Geld nur so scheffeln.

Als sie im schwindenden Licht des Herbstnachmittags auf den Bürgersteig trat, nahm ihr Gesicht jenen missbilligenden, ein wenig unangenehmen Ausdruck an, den beinahe alle erfolgreichen vierzigjährigen Frauen auf der Straße aufsetzen.

Wenn ich Harold Piper wäre, dachte sie, würde ich ein bisschen weniger Zeit im Büro und ein bisschen mehr Zeit zu Hause verbringen. Ein Freund sollte mal mit ihm sprechen.

Doch wenn Mrs. Fairboalt fand, es sei ein erfolgreicher Nachmittag gewesen, so hätte sie ihn, wäre sie noch zwei Minuten länger geblieben, als triumphal bezeichnet. Denn noch während ihre schwarze Silhouette, kaum hundert Meter entfernt, die Straße hinunter entschwand, bog ein sehr gut aussehender, verzweifelter junger Mann auf den Weg zum Haus der Pipers ein. Mrs. Piper öffnete selbst die Tür und führte ihn rasch in die Bibliothek, wobei sie ein recht bestürztes Gesicht machte.

»Ich musste dich sehen«, stieß er hervor. »Dein Brief hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Hat Harold dich dazu gezwungen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist vorbei, Fred«, sagte sie langsam, und ihre Lippen hatten für ihn noch nie eine solche Ähnlichkeit mit den abgezupften Blütenblättern einer Rose gehabt wie jetzt. »Als er gestern Abend heimgekommen ist, war er außer sich. Jessie Pipers Pflichtgefühl war zu groß, und so hatte sie ihn im Büro aufgesucht und ihm alles gesagt. Er war verletzt und… Ach, ich kann nicht anders, ich verstehe ihn, Fred. Er sagt, wir sind den ganzen Sommer das Gespräch in allen Clubs gewesen, und er hat es nicht gewusst, aber jetzt begreift er manches, was er hier und da aufgeschnappt hatte, auch die Andeutungen, die man über mich gemacht hat. Er ist furchtbar wütend, Fred, und er liebt mich, und ich liebe ihn… irgendwie.«

Gedney nickte langsam und schloss halb die Augen.

»Ja«, sagte er, »ja, ich habe dasselbe Problem wie du: Ich verstehe andere Leute immer nur zu gut.« Seine grauen Augen blickten offen in ihre dunklen. »Dann ist es also vorbei. Mein Gott, Evylyn, ich habe den ganzen Tag im Büro gesessen und den Briefumschlag angestarrt und angestarrt und –«

»Du musst jetzt gehen, Fred«, sagte sie bestimmt, und der leise Unterton, mit dem sie ihn zur Eile drängte, traf ihn empfindlich. »Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben, dass ich nicht mehr mit dir sprechen würde. Ich weiß, wie weit ich bei Harold gehen kann, und heute Abend mit dir zusammen zu sein gehört zu den Dingen, die ich nicht tun darf.«

Sie standen sich gegenüber, und während sie sprach, machte sie eine kleine Bewegung zur Tür. Gedney sah sie unglücklich an und versuchte, jetzt, da es zu Ende war, ein letztes Bild von ihr als Schatz zu bewahren, als sie unvermittelt Schritte auf dem Weg hörten und zu Statuen erstarrten. Sogleich packte sie ihn am Revers und schob und zerrte ihn durch die große Tür zum dunklen Esszimmer.

»Ich werde dafür sorgen, dass er hinaufgeht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Rühr dich erst von der Stelle, wenn er auf der Treppe ist. Dann geh zur Vordertür hinaus.«

Kurz darauf war er allein und hörte, wie sie ihren Mann in der Eingangshalle begrüßte.

Harold Piper war sechsunddreißig, neun Jahre älter als seine Frau. Er sah gut aus – mit kleinen Abstrichen: Seine Augen standen zu dicht beieinander, und sein Gesicht hatte im Ruhezustand etwas Hölzernes. Seine Haltung in dieser Gedney-Sache war typisch für ihn. Er hatte Evylyn gesagt, er betrachte die Angelegenheit als erledigt und werde sie ihr in Zukunft weder vorwerfen noch in irgendeiner Weise darauf anspielen. Und sich selbst sagte er, dass dies eine recht großherzige Ansicht war, die Evylyn sicher sehr beeindrucken würde. Doch wie alle von ihrer Großzügigkeit eingenommenen Männer war er in Wirklichkeit außergewöhnlich engstirnig.

Er begrüßte Evylyn betont herzlich.

»Du musst dich schnell umziehen, Harold«, sagte sie drängend. »Wir sind doch bei den Bronsons eingeladen.«

Er nickte.

»Ich brauche nicht lange, um mich umzuziehen, Liebes«, sagte er und ging in die Bibliothek. Evylyns Herz schlug laut.

»Harold…«, begann sie, und ihre Stimme war etwas belegt. Sie folgte ihm. Er zündete sich eine Zigarette an. »Du musst dich beeilen, Harold«, brachte sie den Satz zu Ende.

»Warum?«, fragte er, ein wenig ungeduldig. »Du bist ja selbst noch nicht umgezogen, Evie.«

Er setzte sich in einen Sessel und schlug die Zeitung auf. Ihr sank das Herz: Das würde jetzt mindestens zehn Minuten dauern – und Gedney stand mit angehaltenem Atem im Nebenzimmer. Wenn Harold sich nun, bevor er hinaufging, einen Drink aus der Karaffe auf der Anrichte einschenken wollte… Ihr kam der Gedanke, sie könne dem zuvorkommen, indem sie ihm die Karaffe und ein Glas brachte. Zwar fürchtete sie, dadurch seine Aufmerksamkeit auf das Esszimmer zu lenken, doch das andere Risiko erschien ihr zu groß.

In diesem Augenblick legte Harold die Zeitung beiseite, stand auf und kam zu ihr.

»Evie, Liebes«, sagte er, beugte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. »Ich hoffe, du denkst nicht an gestern Nacht…« Sie schmiegte sich zitternd an ihn. »Ich weiß«, fuhr er fort, »was dich betrifft, war es nur eine Freundschaft, die die Grenzen des Erlaubten überschritten hat. Wir alle machen mal einen Fehler.«

Evylyn hörte ihn kaum. Sie fragte sich, ob sie imstande war, ihn durch ihre Umarmung aus dem Raum und nach oben zu ziehen. Sie erwog, einen Schwächeanfall vorzutäuschen und ihn zu bitten, sie hinaufzutragen, doch leider wusste sie, dass er sie auf das Sofa betten und ihr einen Whiskey bringen würde.

Plötzlich steigerte sich ihre Anspannung um einen letzten, eigentlich unmöglichen Grad. Sie hatte das leise, aber unverkennbare Knarren einer Diele im Esszimmer gehört. Fred versuchte, sich zur Hintertür hinauszuschleichen.

Ihr Herz machte einen Satz, als ein dumpfer, an einen Gong gemahnender Ton durch das Haus hallte. Gedneys Arm war an die Kristallschüssel gestoßen.

»Was war das?«, rief Harold. »Wer ist da?«

Sie klammerte sich an ihn, aber er riss sich los, und der Raum schien rings um sie einzustürzen. Sie hörte die Tür der Vorratskammer, ein Rumpeln, das Klappern eines Topfes. In blinder Verzweiflung rannte sie in die Küche und zündete die Gaslampe an. Ihr Mann löste seinen Griff um Gedneys Hals und stand reglos da. Die Verwunderung, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete, wich langsam einem Ausdruck von Schmerz.

»So was!«, sagte er verblüfft und wiederholte es: »So was!«

Er machte eine Bewegung, als wollte er sich abermals auf Gedney stürzen, hielt jedoch inne, seine Muskeln entspannten sich sichtlich, und schließlich stieß er ein kurzes, bitteres Lachen aus.

»Ihr… ihr zwei…« Evylyn schlang die Arme um ihn und sah ihn flehend an, doch er schob sie fort und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Sein Gesicht wirkte wie aus Porzellan. »Was sind das für Spielchen, Evylyn? Du kleiner Teufel! Du kleiner Teufel

Er hatte ihr noch nie so leid getan, sie hatte ihn noch nie so sehr geliebt.

»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Gedney recht zerknirscht. »Ich bin einfach gekommen.« Doch Piper schüttelte den Kopf, und als er aufsah, war auf seinem Gesicht ein Ausdruck, als hätte sein Geist aufgrund irgendeines Unfalls zeitweilig aufgehört zu funktionieren. Sein mit einem Mal herzzerreißender Blick schlug eine tief verborgene, bislang stumme Saite in Evylyn an – und zugleich stieg eine wilde Wut in ihr auf. Ihre Augenlider brannten, sie stampfte auf, ihre Hände strichen über den Tisch, als tastete sie nach einer Waffe, und dann stürzte sie sich auf Gedney.

»Raus!«, schrie sie. Ihre dunklen Augen funkelten, ihre kleinen Fäuste schlugen hilflos auf seinen ausgestreckten Arm ein. »Du bist schuld! Raus hier! Raus! Raus! Raus!«

II

 

Die Meinungen über die fünfunddreißigjährige Mrs. Harold Piper waren geteilt: Sie habe sich gut gehalten, sagten die Frauen, während die Männer fanden, sie sei nicht mehr die Hübscheste. Der Grund dafür war vermutlich, dass sich jene Merkmale ihrer Schönheit, die Männer anziehend fanden und Frauen fürchteten, verflüchtigt hatten. Ihre Augen waren so groß und dunkel und traurig wie eh und je, doch sie bargen kein Geheimnis mehr; ihre Traurigkeit war nicht mehr unendlich, sondern nur noch menschlich, und sie hatte die Angewohnheit angenommen, die Augenbrauen zusammenzuziehen und zu blinzeln, wenn sie verblüfft oder verärgert war. Auch ihr Mund hatte sich zum Nachteil verändert: Das Rot der Lippen war verblasst, und der leichte Abwärtsschwung der Mundwinkel beim Lächeln, der die Traurigkeit der Augen unterstrichen und unbestimmt spöttisch und schön gewirkt hatte, war spurlos verschwunden. Wenn sie jetzt lächelte, bogen sich die Mundwinkel nach oben. In jener vergangenen Zeit, als sie ihre Schönheit genossen hatte, war ihr dieses Lächeln leicht über die Lippen gegangen – sie hatte es betont. Als sie aufhörte, es zu betonen, verschwand es und mit ihm Evylyns Geheimnis.

In dem Monat nach dem Ende der Affäre mit Freddy Gedney hatte sie aufgehört, ihr Lächeln zu betonen. Äußerlich ging alles genauso weiter wie zuvor. Doch in den wenigen Minuten, in denen ihr bewusst geworden war, wie sehr sie ihren Mann liebte, hatte sie auch gemerkt, wie unendlich tief sie ihn verletzt hatte. Einen Monat lang kämpfte sie gegen sein quälendes Schweigen, seine bitteren Vorwürfe an – flehend umschmeichelte sie ihn mit stillen kleinen Zärtlichkeiten, über die er nur bitter lachte –, und dann zog auch sie sich nach und nach ins Schweigen zurück, und zwischen ihnen senkte sich eine schattenhafte, unüberwindliche Barriere herab. Die Liebe, die in ihr erwacht war, schenkte sie Donald, ihrem kleinen Sohn, der, wie sie beinahe verwundert feststellte, ein Teil ihres Lebens war.

Im folgenden Jahr brachten gemeinsame Interessen und Verantwortlichkeiten sowie ein leises Aufflackern vergangener Gefühle die beiden wieder zusammen, doch nach einer recht armseligen Aufwallung von Leidenschaft begriff Evylyn, dass ihre große Gelegenheit vorüber war. Es war einfach nichts mehr übrig. Sie hätte genug Jugend und Liebe für sie beide gehabt, doch jene Zeit des Schweigens hatte die Quellen der zärtlichen Zuneigung austrocknen lassen, und ihr Wunsch, aus ihnen zu trinken, war verschwunden.

Zum ersten Mal in ihrem Leben suchte sie Freundinnen, las Bücher, die sie bereits kannte, und setzte sich mit Näharbeiten irgendwohin, wo sie ihre Kinder, die sie vergötterte, im Auge hatte. Sie sorgte sich um Kleinigkeiten – wenn sie auf dem Esstisch Krümel entdeckte, schweiften ihre Gedanken von der Unterhaltung ab: Sie trat langsam ein in die mittleren Jahre des Lebens.

An ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag hatte sie besonders viel zu tun, denn die Pipers hatten für den Abend kurzfristig Gäste eingeladen, und als sie am späten Nachmittag am Schlafzimmerfenster stand, stellte sie fest, dass sie sehr müde war. Zehn Jahre zuvor hätte sie sich hingelegt und etwas geschlafen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, dass die Dinge beaufsichtigt werden mussten: Unten putzten die Dienstmädchen, alles Mögliche lag herum, und gewiss kamen von diversen Lebensmittelläden Lieferanten, denen man nichts durchgehen lassen durfte – und dann musste sie noch einen Brief an Donald schreiben. Er war jetzt vierzehn und in seinem ersten Jahr im Internat.

Dennoch war sie beinahe entschlossen, sich ein wenig auszuruhen, als sie plötzlich von unten Julie schreien hörte. Sie presste die Lippen zusammen, runzelte die Stirn und blinzelte.

»Julie!«, rief sie.

»Auuaa!«, schrie Julie klagend. Dann trieb die Stimme von Hilda, dem zweiten Dienstmädchen, die Treppe herauf.

»Sie hat sich ’n bisschen geschnitten, Mis’ Piper.«

Evylyn rannte zum Nähkorb, kramte ein zerrissenes Taschentuch heraus und eilte die Treppe hinunter. Sekunden später hielt sie die weinende Julie in den Armen und suchte nach dem Schnitt, der schwache, unschöne Spuren auf dem Kleid des Mädchens hinterlassen hatte.

»Mein Daumen!«, schluchzte Julie. »Auu, es tut so weh!«

»Es war die Schüssel, die große«, sagte Hilda entschuldigend. »Ich hatt’ sie auf’n Boden gestellt, als ich die Anrichte geputzt hab, und Julie hat damit rumgespielt, und dabei hat sie sich ’n bisschen geschnitten.«

Evylyn sah Hilda mit gerunzelter Stirn an, zog Julie entschlossen auf ihren Schoß und begann, das Taschentuch in Streifen zu reißen.

»Na, dann lass mal sehen, Schätzchen.«

Julie hielt den Daumen hoch, und Evylyn nahm die Sache in Angriff.

»So!«

Julie musterte den verbundenen Daumen mit zweifelndem Blick. Sie knickte ihn ab, er wackelte. Auf ihrem tränenverschmierten Gesicht erschien ein zufriedener, interessierter Ausdruck. Sie schniefte und wackelte noch einmal mit dem Daumen.

»Mein Schatz!«, rief Evylyn und küsste sie, doch bevor sie hinausging, bedachte sie Hilda erneut mit einem Stirnrunzeln. Verantwortungslos! Aber so war das Personal heutzutage. Wenn sie doch nur eine gute Irin bekommen könnte! Aber man kriegte keine mehr – und diese Schwedinnen…

Um fünf kam Harold nach Hause und hinauf in ihr Zimmer und drohte, verdächtig gut gelaunt, sie zu ihrem Geburtstag fünfunddreißigmal zu küssen. Sie wehrte ihn ab.

»Du hast getrunken«, sagte sie schroff und fuhr in milderem Ton fort, »ein bisschen jedenfalls. Du weißt, dass ich diesen Geruch nicht ertrage.«

»Evie«, sagte er nach einer kurzen Pause und setzte sich in den Sessel am Fenster, »ich habe Neuigkeiten. Ich nehme an, du weißt, dass es in der Firma in letzter Zeit nicht so gut gelaufen ist.«

Sie stand am Fenster und kämmte sich, doch bei seinen Worten drehte sie sich um und sah ihn an.

»Wie meinst du das? Du hast doch immer gesagt, die Stadt ist groß genug für mehr als einen Eisenwarengroßhändler.« Sie klang beunruhigt.

»Das ist sie auch«, sagte Harold mit Nachdruck, »aber dieser Clarence Ahearn ist ein schlauer Bursche.«

»Ich habe mich gewundert, als du gesagt hast, er würde heute Abend zum Essen kommen.«

»Evie«, sagte er und schlug sich aufs Knie, »ab dem ersten Januar ist die ›Clarence Ahearn Company‹ die ›Ahearn & Piper Company‹, und die Firma ›Piper Brothers‹ gibt es nicht mehr.«

Evylyn war erstaunt. Dass sein Name an zweiter Stelle stand, erschien ihr irgendwie herabsetzend; dennoch strahlte er.

»Ich verstehe nicht, Harold.«

»Na ja, Evie, Ahearn hat schon mit Marx verhandelt. Wenn die beiden sich zusammengetan hätten, wären wir aus den großen Aufträgen herausgedrängt worden. Wir hätten nur noch Kleinkram machen und keine Risiken eingehen können. Es ist eine Frage des Kapitals, Evie, und ›Ahearn & Marx‹ hätten das Geschäft haben können, das jetzt ›Ahearn & Piper‹ haben werden.« Er hielt inne und hüstelte, und eine kleine Whiskeywolke stieg ihr in die Nase. »Um ehrlich zu sein: Ich habe das Gefühl, dass Ahearns Frau was damit zu tun hat. Sie ist ganz schön ehrgeizig, habe ich gehört. Wahrscheinlich hat sie gewusst, dass die Marx-Familie ihr hier nicht weiterhelfen kann.«

»Ist sie… eine gewöhnliche Person?«

»Ich bin ihr zwar noch nie begegnet, aber da gibt es wohl keinen Zweifel. Clarence Ahearn stand fünf Monate auf der Kandidatenliste für den Country Club, aber niemand wollte für ihn bürgen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir haben heute zu Mittag gegessen und die Sache praktisch unter Dach und Fach gebracht, und da dachte ich, es wäre doch nett, ihn und seine Frau heute Abend einzuladen – wir sind dann nur zu neunt, hauptsächlich Familie. Immerhin ist das für mich eine wichtige Angelegenheit, und natürlich werden wir in Zukunft öfter mit ihnen zu tun haben, Evie.«

»Ja«, sagte Evie nachdenklich, »das wird wohl so sein.«

Evylyn machte sich keine Sorgen über den gesellschaftlichen Aspekt der Angelegenheit, aber dass aus »Piper Brothers« nun die »Ahearn & Piper Company« werden würde, erschreckte sie. Es kam ihr vor wie ein Abstieg.

Als sie eine halbe Stunde später begann, sich für das Abendessen umzuziehen, hörte sie Harold von unten rufen: »Evie, komm doch mal runter!«

Sie trat auf den Treppenabsatz und beugte sich über das Geländer. »Was gibt es denn?«

»Ich möchte, dass du mir hilfst, vor dem Essen noch den Punsch zu machen.«

Rasch hakte sie ihr Kleid wieder zu, ging die Treppe hinunter und fand ihn im Esszimmer, wo er die Zutaten auf dem Tisch zusammenstellte. Sie nahm eine der Schüsseln von der Anrichte und platzierte sie auf dem Tisch.

»Aber nein«, protestierte er, »lass uns die große nehmen. Ahearn und seine Frau, du und ich und Milton, das sind schon fünf, Tom und Jessie – sieben –, deine Schwester und Joe Ambler, das macht neun. Du weißt doch, wie schnell das Zeug alle ist, wenn du die Mischung gemacht hast.«

»Wir nehmen diese Schüssel«, beharrte sie. »Die ist groß genug. Du kennst doch Tom.«

Tom Lowrie, Jessies Mann und Harolds Cousin, neigte dazu, alles auszutrinken, was man ihm einschenkt.

Harold schüttelte den Kopf.

»Sei nicht albern. In die Schüssel passen höchstens drei Liter, und wir sind zu neunt. Das Personal wird auch etwas davon haben wollen, und der Punsch wird ohnehin nicht besonders stark. Es ist doch viel schöner, viel zu haben, Evie, und wir brauchen ja nicht alles auszutrinken.«

»Und ich sage, wir nehmen die kleinere Schüssel.«

Hartnäckig schüttelte er den Kopf.

»Jetzt sei doch vernünftig.«

»Ich bin vernünftig«, erwiderte sie knapp. »Ich will keine Betrunkenen in meinem Haus.«

»Das hat ja auch keiner behauptet.«

»Dann nehmen wir also die kleinere Schüssel.«

»Aber Evie…« Er griff nach der Schüssel, um sie zurück auf die Anrichte zu stellen, doch Evie drückte sie auf den Tisch. Es gab ein kurzes Gerangel, dann riss er die Schüssel mit einem entnervten Schnauben auf seine Seite, so dass sie Evies Griff entglitt, und stellte sie wieder auf die Anrichte.

Evie sah ihn an und versuchte, Verachtung in ihren Blick zu legen, doch er lachte nur. Sie sah, dass sie verloren hatte, erklärte jedoch, in dem Fall fühle sie sich nicht mehr für die Zubereitung des Punsches verantwortlich, und verließ den Raum.

III

 

Evylyns Wangen waren gerötet, und auf ihrem aufgesteckten Haar glänzte ein Hauch von Brillantine, als sie um halb acht die Treppe hinunterstieg. Mrs. Ahearn, die ihre leichte Nervosität unter roten Haaren und einem außergewöhnlichen Empirekleid verbarg, begrüßte sie wortreich, wie es sich gehörte. Sie war Evylyn auf Anhieb unsympathisch, im Gegensatz zu Clarence, ihrem Mann, der ihr schon besser gefiel. Er hatte intelligente blaue Augen und ein natürliches Talent, Leute für sich einzunehmen. Das hätte ihm alle Türen öffnen können, hätte er nicht den offensichtlichen Fehler begangen, zu früh zu heiraten.

»Es freut mich, Pipers Frau kennenzulernen«, sagte er einfach. »Wie es aussieht, werden Ihr Mann und ich in Zukunft viel miteinander zu tun haben.«

Sie neigte den Kopf, lächelte freundlich und begrüßte auch die anderen Gäste: Milton Piper, Harolds stillen, unauffälligen jüngeren Bruder, die beiden Lowries Jessie und Tom, ihre eigene unverheiratete Schwester Irene und schließlich Joe Ambler, einen überzeugten Junggesellen, der seit ewigen Zeiten Irenes Liebhaber war.

Harold führte die Gäste zu Tisch.

»Wir machen einen Punschabend«, verkündete er gutgelaunt – Evylyn bemerkte, dass er seine Mischung bereits ausgiebig verkostet hatte. »Es gibt also keine Cocktails, sondern nur Punsch. Es ist die Spezialität meiner Frau, Mrs. Ahearn – wenn Sie wollen, wird sie Ihnen das Rezept gern geben –, aber aufgrund einer kleinen« – er fing einen Blick seiner Frau auf und hielt kurz inne – »Unpässlichkeit bin ich heute Abend für den Punsch verantwortlich. Darf ich um Ihre Gläser bitten?«

Während des ganzen Essens gab es Punsch, und Evylyn, die bemerkte, dass Milton Piper und die anwesenden Damen den Kopf schüttelten, wenn das Hausmädchen nachschenken wollte, sah ihre Befürchtungen bestätigt: Die Schüssel war noch halb voll. Sie beschloss, Harold gleich nach dem Essen darauf hinzuweisen, doch als die Tafel aufgehoben wurde, nahm Mrs. Ahearn sie in Beschlag, und sie musste sich, höfliches Interesse heuchelnd, mit ihr über diverse Städte und Damenschneider unterhalten.

»Wir sind oft umgezogen«, plapperte Mrs. Ahearn, und ihre rote Frisur nickte heftig. »Bisher sind wir nie besonders lange an einem Ort geblieben, und nun hoffe ich, dass wir nicht mehr von hier fortziehen. Es ist ein so netter Ort, finden Sie nicht auch?«

»Nun, ich bin hier geboren, müssen Sie wissen, und darum…«

»Aber natürlich«, sagte Mrs. Ahearn und lachte. »Clarence sagt immer, er braucht eine Frau, zu der er sagen kann: ›Wir ziehen morgen nach Chicago, also mach dich ans Packen.‹ Darum habe ich mich nie darauf eingestellt, irgendwo länger zu bleiben.« Abermals stieß sie dieses kleine Lachen aus; Evylyn nahm an, dass es ihr Gesellschaftslachen war.

»Ihr Mann scheint sehr tüchtig zu sein.«

»O ja«, versicherte Mrs. Ahearn ihr mit Nachdruck. »Clarence ist nicht auf den Kopf gefallen. Mit Begeisterung bei der Sache und voller Ideen, wissen Sie. Er überlegt sich, was er will, und dann geht er hin und holt es sich.«

Evylyn nickte. Sie fragte sich, ob die Männer, die im Esszimmer geblieben waren, weiter Punsch tranken. Mrs. Ahearn breitete Stück für Stück ihre Geschichte vor ihr aus, doch Evylyn hörte kaum noch zu. Die ersten Zigarrenrauchschwaden zogen durch den Raum. Es war wirklich kein besonders großes Haus, dachte sie; an Abenden wie diesem war die Luft in der Bibliothek manchmal blau vor Rauch, und am nächsten Tag musste man stundenlang lüften, um den schalen Geruch aus den Vorhängen zu bekommen. Vielleicht würde diese neue Partnerschaft… Sie begann, von einem größeren Haus zu träumen…

Mrs. Ahearns Stimme drang zu ihr durch: »Ich würde dieses Rezept wirklich gern mal ausprobieren. Wenn Sie es irgendwo aufgeschrieben haben…«

Im Esszimmer wurden Stühle gerückt, und die Männer kamen herüber. Evylyn sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Harolds Gesicht war gerötet, und bei jedem Satz, den er sagte, nuschelte er die letzten Worte. Und Tom Lowrie schwankte beim Gehen und wäre, als er sich auf das Sofa sinken ließ, um ein Haar auf Irenes Schoß gelandet. Nun saß er da und blinzelte betrunken in die Runde. Evylyn ertappte sich dabei, dass sie zurückblinzelte, fand daran aber nichts Komisches. Joe Ambler lächelte zufrieden und zog an seiner Zigarre. Nur Ahearn und Milton Piper schienen nüchtern zu sein.

»Das hier ist ’ne ziemlich gute Stadt, Ahearn«, sagte Ambler, »das werden Sie noch merken.«

»Das habe ich schon gemerkt«, sagte Ahearn freundlich.

»Sie werden’s noch mehr merken, Ahearn«, sagte Harold und nickte nachdrücklich.

Er begann mit einem Loblied auf die Stadt, und Evylyn fragte sich peinlich berührt, ob er damit alle so langweilte wie sie. Offenbar nicht – man hörte ihm aufmerksam zu. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit unterbrach sie ihn.

»Wo haben Sie bisher gelebt, Mr. Ahearn?«, fragte sie interessiert. Dann fiel ihr ein, dass Mrs. Ahearn ihr das bereits erzählt hatte, doch das machte nichts. Harold sollte nicht so viel reden. Wenn er getrunken hatte, war er ein solcher Esel. Er riss das Wort sogleich wieder an sich.

»Ich sag Ihnen was, Ahearn, Sie sollten als Erstes ’n Haus auf dem Hügel hier kaufen. Das Stearne-Haus oder das Ridgeway-Haus. Damit die Leute sagen: ›Das da ist das Ahearn-Haus.‹ Das wirkt solide, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Evylyn errötete. Das klang unpassend. Dennoch schien Ahearn keinen Anstoß daran zu nehmen, sondern nickte nur ernst.

»Haben Sie sich denn schon –« Doch ihre Worte wurden von Harold übertönt.

»Sie brauchen ’n Haus – das ist der Anfang. Dann müssen Sie Leute kenn’lernen. Die sind bei Zugezogenen ganz schön hochnäsig, aber das gibt sich schnell, wenn sie Sie erst mal kenngelernt haben. Bei Leuten wie Ihnen« – er zeigte mit einer ausladenden Geste auf Ahearn und dessen Frau – »kein Problem. Wenn das Eisch… das Eisch« – er meisterte endlich die Hürde, sagte »Eis« und wiederholte es gleich noch einmal – »mal gebrochen ist, sind die Leute hier herzlich wie nur was.«

Evylyn sah ihren Schwager flehend an, doch bevor dieser intervenieren konnte, gab Tom Lowrie ein kaum verständliches Gemurmel von sich, das durch die erkaltete Zigarre, auf die er biss, noch undeutlicher war.

»Huma uma ho huma ahdy um…«

»Wie bitte?«, fragte Harold ernsthaft.

Ergeben und mit gewissen Schwierigkeiten nahm Tom die Zigarre aus dem Mund – das heißt, er nahm einen Teil der Zigarre aus dem Mund und spuckte den Rest mit einem schmatzenden Geräusch quer durch den Raum. Er landete feucht in Mrs. Ahearns Schoß.

»Tschuldigung«, murmelte er und erhob sich in der unbestimmten Absicht, ihn zu bergen. Milton zog ihn rechtzeitig am Jackett, so dass er auf das Sofa zurückfiel, während Mrs. Ahearn den Stummel, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, nicht unelegant auf den Boden schnippte.

»Bevor das passiert is« – er machte eine unbestimmte, entschuldigende Handbewegung in die Richtung von Mrs. Ahearn –, »wolltich sag’n«, fuhr Tom mit schwerer Zunge fort, »dass ich über die Sache im Country Club Bescheid weiß.«

Milton beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Lass mich«, sagte er eigensinnig, »ich weiß, was ich tue. Desweg’n sind die doch hier.«

Panik ergriff Evylyn. Sie versuchte, etwas zu sagen, und sah den spöttischen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Schwester. Mrs. Ahearn war puterrot geworden. Ihr Mann fingerte an seiner Uhrkette herum und betrachtete sie nachdenklich.

»Ich weiß, wer dafür gesorgt hat, dass Sie nich aufgenomm’ wer’n, und er is kein bisschen besser als Sie. Ich hätt die ganze Sache ins Reine bring’ könn’, aber ich kannte Sie ja noch nich. Harold hat mir erzählt, dass Sie sich ganz schön geärgert ham –«

Milton Piper stand plötzlich und ungeschickt auf. Im nächsten Augenblick hatten sich alle erhoben und standen angespannt da. Milton sagte in aller Eile, er müsse unbedingt sofort gehen. Die Ahearns hörten ihm mit ungeteiltem Interesse zu. Mrs. Ahearn schluckte und wandte sich mit einem gezwungenen Lächeln zu Jessie. Evylyn sah, dass Tom sich schwankend auf Mr. Ahearn zubewegte und ihm die Hand auf die Schulter legte – doch plötzlich hörte sie neben sich eine neue, sehr besorgte Stimme, und als sie sich umdrehte, sah sie Hilda, das zweite Dienstmädchen.

»Bitte, Mis’ Piper, ich glaub, Julies Hand hat sich irgendwie entzündet, weil sie is’ ganz geschwollen, und sie is ganz rot im Gesicht und stöhnt immer so –«

»Julie?«, fragte Evylyn scharf. Die Abendgesellschaft rückte plötzlich in die Ferne. Evylyn blickte sich nach Mrs. Ahearn um und ging zu ihr.

»Entschuldigen Sie mich bitte, Mrs. –« Der Name war ihr plötzlich entfallen, doch sie fuhr sogleich fort: »Meine kleine Tochter ist krank geworden. Ich bin gleich wieder da.« Sie drehte sich um, lief eilig die Treppe hinauf und nahm nur noch das verworrene Bild eines Raumes voller Rauchschwaden wahr sowie laute Stimmen, die sich gerade zu einem Streit zu steigern schienen.

Sie schaltete das Licht im Kinderzimmer an. Julie wälzte sich fiebrig hin und her und stieß seltsame kleine Klagelaute aus. Evylyn legte die Hand auf ihre Wangen – sie waren ganz heiß. Mit einem leisen Schreckensschrei tastete sie am Arm entlang unter die Decke, bis sie Julies Hand gefunden hatte. Hilda hatte recht: Der Daumen war bis zum Handgelenk angeschwollen, und in seiner Mitte war eine kleine entzündete Stelle. Blutvergiftung!, hallte es entsetzt in ihrem Kopf wider. Der Verband hatte sich gelöst, und irgendetwas war in die Wunde gekommen. Julie hatte sich um drei Uhr geschnitten – jetzt war es kurz vor elf. Acht Sunden. Eine Blutvergiftung konnte sich doch nicht so schnell entwickeln. Sie eilte zum Telefon.

Dr. Martin, der gegenüber wohnte, war nicht zu Hause. Bei Dr. Foulke, ihrem Hausarzt, meldete sich niemand. Sie zermarterte sich den Kopf und rief in ihrer Verzweiflung schließlich ihren Hals-Nasen-Ohren-Arzt an, während sie im Telefonbuch die Nummern zweier weiterer Ärzte heraussuchte. Die Zeit schien stillzustehen, und Evylyn glaubte, von unten laute Stimmen zu hören, doch sie befand sich im Augenblick in einer anderen Welt. Nach fünfzehn Minuten gelang es ihr, einen Arzt zu erreichen, der mürrisch und verärgert klang, weil man ihn aus dem Bett geholt hatte. Sie eilte zurück ins Kinderzimmer, musterte Julies Hand, die ihr schon etwas dicker schien.

»O Gott!«, rief sie, kniete neben dem Bett nieder und strich immer wieder über Julies Haar. Vielleicht sollte sie heißes Wasser holen, ging ihr durch den Kopf. Sie erhob sich und wollte zur Tür gehen, doch die Spitzenborte ihres Kleides hatte sich im Bettgestell verfangen, und sie stürzte auf Hände und Knie. Sie rappelte sich auf und zerrte verzweifelt an dem Stoff. Das Bett verschob sich, und Julie stöhnte auf. Ruhiger, aber mit zitternden Fingern tastete Evylyn nach der Borte und riss sie einfach ab. Dann stürzte sie hinaus.

Auf dem Treppenabsatz hörte sie von der Eingangshalle eine laute, drängende Stimme, die jedoch verstummte, als Evylyn die Treppe hinunterging. Die Haustür fiel geräuschvoll ins Schloss.

Im Musikzimmer waren nur noch Harold und Milton. Harold lehnte an einem Sessel. Er war sehr blass, sein Kragen stand offen, sein Mund bewegte sich.

»Was ist denn los?«

Milton sah sie bedrückt an.

»Es hat ein bisschen Ärger gegeben…«

Harold bemerkte sie. Er richtete sich mühsam auf und begann zu sprechen. »Beleidigt mein’ eigenen Cousin in mei’m eigenen Haus, verdammter neureicher Emporkömmling. Beleidigt mein’ eigenen Cousin…«

»Tom hat sich mit Ahearn gestritten, und Harold wollte vermitteln«, erklärte Milton.

»Herrgott, Milton«, rief Evylyn, »hättest du denn nicht eingreifen können?«

»Ich hab’s ja versucht, aber –«

»Julie ist krank«, unterbrach sie ihn. »Sie hat eine Blutvergiftung. Bring ihn zu Bett, wenn du kannst.«

Harold sah auf.

»Julie ist krank?«

Evylyn beachtete ihn nicht und ging an ihm vorbei ins Esszimmer. Sie zuckte vor Schreck zusammen, als sie die große Punschschüssel auf dem Tisch sah. Das restliche Eis war geschmolzen und bedeckte ihren Boden. Sie hörte Schritte auf der Treppe – Milton half Harold hinauf – und dann ein gemurmeltes: »Ach was, Julie geht’s prima.«

»Lass ihn nicht ins Kinderzimmer«, rief sie.

Die folgenden Stunden waren ein Alptraum. Der Arzt kam kurz vor Mitternacht und öffnete die Wunde mit einer Lanzette. Er ging um zwei Uhr morgens, nachdem er Evylyn die Telefonnummern zweier Krankenschwestern gegeben hatte, die sie anrufen sollte, und versprach, um sechs Uhr noch einmal zu kommen. Es war tatsächlich eine Blutvergiftung.

Um vier Uhr ließ Evylyn sich von Hilda ablösen und ging in ihr Zimmer, wo sie mit einem Schauder aus ihrem Abendkleid stieg und es mit einem Fußtritt in eine Ecke beförderte. Sie zog ein Hauskleid an und kehrte ins Kinderzimmer zurück. Hilda kochte Kaffee.

Erst gegen Mittag brachte sie es über sich, einen Blick in Harolds Zimmer zu werfen. Er war wach und starrte unglücklich an die Decke. Er wandte den Kopf und sah sie aus leeren, rotgeäderten Augen an. Für einen Augenblick hasste sie ihn so sehr, dass sie kein Wort herausbrachte. Vom Bett ertönte seine heisere Stimme.

»Wie spät ist es?«

»Mittag.«

»Ich hab mich wie ein Idiot –«

»Das ist jetzt egal«, sagte sie schroff. »Julie hat eine Blutvergiftung. Sie wird –« Ihr brach die Stimme. »Sie werden ihr wahrscheinlich die Hand abnehmen müssen.«

»Was?«

»Sie hat sich geschnitten. An dieser… dieser Schüssel.«

»Gestern?«

»Was spielt das für eine Rolle?«, rief sie. »Sie hat eine Blutvergiftung. Hast du nicht gehört?«

Er sah sie verwirrt an und setzte sich auf.

»Ich werde mich anziehen«, sagte er.

Ihre Wut verflog, und eine große Welle von Müdigkeit und Mitleid mit ihm kam über sie. Immerhin war es ja auch sein Kummer.

»Ja«, sagte sie tonlos, »das ist wohl das Beste.«

IV

 

Wenn Evylyns Schönheit in ihren frühen Dreißigern noch gezögert hatte, sich zu zeigen, so kam es bald zu einer abrupten Entscheidung, und sie wich ganz und gar. Das zaghafte Netz aus Falten auf ihrem Gesicht grub sich plötzlich tiefer in die Haut, und ihre Arme, Hüften und Beine wurden rapide fülliger. Ihre Angewohnheit, die Brauen zusammenzuziehen, verfestigte sich zu einem Gesichtsausdruck – er war immer da, ob sie nun las oder sprach, ja sogar wenn sie schlief. Sie war jetzt sechsundvierzig.

Wie die meisten Paare, mit deren Leben es eher bergab als bergauf geht, waren Evylyn und Harold langsam in einem farblosen Gegeneinander versunken. Im Ruhezustand betrachteten sie einander mit jener Nachsicht, die sie für einen alten, zerbrochenen Stuhl aufgebracht hätten. Evylyn sorgte sich ein wenig, wenn Harold krank war, und versuchte, so fröhlich wie möglich zu sein, um der bedrückenden Tristesse, die das Leben mit einem enttäuschten Mann mit sich brachte, zu begegnen.

Der Familien-Bridgeabend war vorbei – sie seufzte erleichtert. Sie hatte mehr Fehler als sonst gemacht, doch das war ihr gleichgültig. Irene hätte nicht diese Bemerkung machen dürfen, dass es bei der Infanterie besonders gefährlich sei. Seit drei Wochen war kein Brief mehr gekommen, und obgleich das nichts Ungewöhnliches war, machte es sie jedes Mal nervös. Natürlich hatte sie nicht mitgezählt, wie oft Kreuz bereits ausgespielt worden war.

Harold war hinaufgegangen, und sie trat auf die Veranda, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Das helle Mondlicht lag in diffusem Schimmer auf Bürgersteig und Vorgärten, und mit einem kleinen Laut, der halb Lachen, halb Gähnen war, erinnerte sie sich an ihre Jugend als einer einzigen vom Mondlicht beschienenen Tändelei. Der Gedanke, dass das Leben einst die Summe ihrer Tändeleien gewesen war, erschien ihr erstaunlich. Jetzt war ihr Leben die Summe ihrer Probleme.

Da war das Problem mit Julie. Sie war jetzt dreizehn und wurde sich in letzter Zeit ihrer Entstellung immer mehr bewusst. Sie blieb stundenlang in ihrem Zimmer und las. Vor einigen Jahren hatte sie Angst vor dem Internat gehabt, und Evylyn hatte es nicht über sich gebracht, sie dorthin zu schicken. So wuchs sie nun im Schatten ihrer Mutter auf – ein bemitleidenswertes Mädchen mit einer Handprothese, die sie nicht gebrauchte, sondern traurig in ihrer Tasche versteckte. Seit kurzem wurde sie im Gebrauch der Prothese unterwiesen, denn Evylyn fürchtete, sie würde den Arm sonst gar nicht mehr benutzen, doch nach den Unterrichtsstunden verschwand die Hand wieder in der Tasche ihres Kleides und kam nur zum Vorschein, wenn Julie sie in gleichgültigem Gehorsam gegenüber den Ermahnungen ihrer Mutter hervorholte. Eine Zeitlang hatte sie nur Kleider ohne Taschen bekommen, doch da war Julie einen ganzen Monat lang so unglücklich im Haus herumgeschlichen, dass Evylyn sich schließlich erbarmt und das Experiment abgebrochen hatte.

Das Problem mit Donald war von Anfang an ganz anders geartet. Evylyns Versuche, ihn in ihrer Nähe zu behalten, waren ebenso gescheitert wie ihre Bemühungen, Julie mehr Selbständigkeit zu vermitteln. Und vor kurzem war ihr das Problem Donald ohnehin aus den Händen genommen worden: Vor drei Monaten hatte man seine Division nach Europa verlegt.

Sie gähnte abermals – das Leben war etwas für junge Leute. Was für eine glückliche Jugend sie doch gehabt hatte! Sie dachte an ihr Pony Bijou und an die Europareise zusammen mit ihrer Mutter, als sie achtzehn gewesen war…

»Sehr, sehr kompliziert«, sagte sie laut und ernst zum Mond. Sie ging wieder hinein und wollte gerade die Tür schließen, als sie ein Geräusch aus der Bibliothek hörte.

Es war Martha, die nicht mehr ganz junge Hausangestellte – sie hatten jetzt nur noch eine.

»Martha!«, sagte Evylyn überrascht.

Martha fuhr herum.

»Ach, ich dachte, Sie wären schon oben. Ich wollte nur –«

»Stimmt etwas nicht?«

Martha zögerte.

»Nein, ich…« Sie stand da und rang die Hände. »Ich suchte nur nach einem Brief, ich muss ihn irgendwo hingelegt haben, Mrs. Piper.«

»Nach einem Brief? An Sie?«, fragte Evylyn und schaltete das Licht an.

»Nein, er war an Sie. Er ist heut Nachmittag gekommen, mit der letzten Post. Der Briefträger hat ihn mir gegeben, und dann hat’s an der Hintertür geläutet. Ich hatte ihn in der Hand, also muss ich ihn hier irgendwo hingelegt haben. Ich dachte, ich seh mal nach.«

»Was für ein Brief war das? Von Mr. Donald?«

»Nein, es war eine Reklame oder eine Rechnung. Es war so ein langer, schmaler Umschlag, das weiß ich noch.«

Sie suchten das Musikzimmer ab, sahen auf Tabletts und auf dem Kaminsims nach und setzten die Suche in der Bibliothek fort, wo sie auf den Bücherreihen nach dem Brief tasteten. Martha hielt entmutigt inne.

»Wo könnte er denn sein? Ich bin in die Küche gegangen – vielleicht ist er im Esszimmer.« Mit neuer Hoffnung wollte sie ins Esszimmer gehen, als ein Keuchen sie herumfahren ließ. Evylyn ließ sich in einen Sessel fallen, zog die Brauen eng zusammen und zwinkerte heftig.

»Ist Ihnen nicht gut?«

Evylyn antwortete nicht sogleich. Sie saß ganz still da. Martha sah, dass ihre Brust sich rasch hob und senkte.

»Ist Ihnen nicht gut?«, wiederholte sie.

»Nein, es ist nichts«, sagte Evylyn langsam, »aber ich weiß jetzt, wo der Brief ist. Gehen Sie nur, Martha. Ich weiß, wo er ist.«

Verwundert ging Martha hinaus. Evylyn blieb sitzen – nur die Muskeln rings um ihre Augen bewegten sich, spannten und entspannten sich ein ums andere Mal. Sie wusste jetzt, wo der Brief war, sie wusste es so gut, als hätte sie ihn selbst dorthin gelegt. Und sie wusste instinktiv und ohne den Hauch eines Zweifels, was darin stand. Der Umschlag war lang und schmal wie der eines Reklamebriefs, doch in einer Ecke stand in Großbuchstaben »Kriegsministerium« und darunter, in kleineren Buchstaben, »Mitteilung«. Sie wusste, dass der Brief in der großen Schüssel lag, dass auf dem Umschlag ihr Name stand und dass er den Todesstoß für ihre Seele enthielt.

Auf unsicheren Beinen ging sie zum Esszimmer, tastete sich an den Bücherregalen und dem Türrahmen entlang. Sie fand den Schalter und machte Licht.

Da stand die Schüssel und brach das elektrische Licht in roten Vierecken mit schwarzen Rändern und gelben Vierecken mit blauen Rändern, funkelnd und gewichtig, grotesk und triumphierend unheilvoll. Evylyn machte einen Schritt und blieb wieder stehen – beim nächsten würde sie über den Rand der Schüssel sehen können. Noch ein Schritt, und sie würde etwas Weißes erblicken. Noch einer, und… Ihre Hände berührten die rauhe, kalte Oberfläche.

Im nächsten Augenblick riss sie das Kuvert auf, öffnete mit zittrigen Fingern den Brief und starrte ihn an, während das mit Schreibmaschine beschriebene Blatt zurückstarrte und ihr ins Gesicht schlug. Dann segelte es wie ein Vogel zu Boden. Das Haus, das eben noch gesirrt und gesummt hatte, war mit einem Mal ganz still. Ein Lufthauch strich durch die offene Haustür und brachte das Motorengeräusch eines vorbeifahrenden Wagens mit; von oben hörte Evylyn unbestimmte Geräusche, dann ein Knirschen von einem Rohr hinter dem Bücherregal: Harold hatte einen Wasserhahn zugedreht.

Es war, als ginge es in diesem Moment gar nicht um Donald – oder jedenfalls nur insofern, als der Tod ihres Sohnes einen weiteren Augenblick in dem erbitterten Kampf markierte, der nach langen, ereignislosen Zeiten des Abwartens immer wieder ganz plötzlich und heftig zwischen Evylyn und diesem kalten, heimtückischen, schönen Ding ausgefochten wurde, dem bösartigen Geschenk eines Mannes, dessen Gesicht sie längst vergessen hatte. Massig und brütend, lauerte es seit Jahren im Mittelpunkt ihres Hauses und sandte wie aus tausend Augen eiskalte Strahlen aus, heimtückische, miteinander verschmelzende Lichtreflexe, die sich nicht veränderten und nicht alterten.

Evylyn setzte sich auf den Rand des Tischs und starrte fasziniert die Schüssel an, die jetzt zu lächeln schien – ein sehr grausames Lächeln –, als wollte sie sagen: »Sieh nur, auch dieses Mal habe ich dich nicht direkt verletzt. Das war gar nicht nötig. Du weißt, dass ich es war, die dir deinen Sohn genommen hat. Du weißt, wie kalt und hart und schön ich bin, denn du warst einst ebenso kalt und hart und schön.«

Die Schüssel schien sich plötzlich umzudrehen und dann größer zu werden und anzuschwellen, bis sie wie ein großes, gewölbtes Dach war, das glitzernd und bebend über dem Raum, über dem Haus hing, und als die Wände sich in einem Nebel aufzulösen schienen, sah Evylyn, dass die Kristallkuppel sich immer noch ausdehnte und allmählich nicht nur den fernen Horizont, sondern auch Sonnen, Monde und Sterne auslöschte, so dass sie nur noch als undeutliche helle Flecken zu sehen waren. Und unter dieser Kuppel bewegten sich die Menschen, und das Licht, das zu ihnen durchdrang, war vielfach gebrochen und umgelenkt, so dass der Schatten wie Licht war und das Licht wie Schatten – bis schließlich die ganze sichtbare Welt unter dem glitzernden Himmel der Schüssel verändert und entstellt war.

Und dann hörte sie eine entfernte, dröhnende Stimme wie einen dunklen, klaren Glockenklang. Sie kam aus der Mitte der Schüssel, prallte an den gewaltigen Wänden ab und sprang Evylyn an.

»Sieh nur«, rief sie, »ich bin das Schicksal, mächtiger als deine armseligen Pläne. Ich bin das, was aus diesen Plänen wird, und ich bin anders als deine kleinen Träume. Ich bin der Lauf der Zeit und das Ende der Schönheit und des unerfüllten Verlangens, und mir gehören all die Zufälle und Bagatellen und die kurzen Minuten, aus denen die entscheidenden Stunden entstehen. Ich bin die Ausnahme, die keine Regel bestätigt. Ich bin die Grenze dessen, was du bestimmen kannst. Ich bin die Würze des Lebens.«

Das dröhnende Geräusch hatte aufgehört; die Echos hallten zurück zu den Wänden der Schüssel, die die Welt begrenzten, von dort empor und zum Mittelpunkt, wo sie noch einen Augenblick summten und dann erstarben. Dann senkten sich die gewaltigen Wände langsam auf Evylyn herab, rückten näher und näher, als wollten sie sie erdrücken, und während sie die Hände ineinanderkrampfte und auf den heftigen Aufprall des kalten Glases wartete, drehte sich die Schüssel mit einem plötzlichen Ruck wieder um, stand funkelnd und unergründlich auf der Anrichte und sandte aus hundert Prismen unzählige vielfarbige, glitzernde, gleißende, einander kreuzende und überlagernde Lichtstrahlen aus.

Wieder wehte ein kalter Wind durch die offene Haustür. Mit verzweifelter Kraft legte Evylyn die Arme um die Schüssel. Sie musste schnell handeln, sie musste stark sein. Sie spannte die Arme an, bis sie schmerzten, sie straffte die dünnen Muskeln unter der weichen Haut, und mit großer Mühe gelang es ihr, die Schüssel anzuheben und zu halten. Sie spürte den kalten Wind auf dem Rücken, wo das Kleid infolge der Anstrengung aufgeplatzt war, und sie wandte sich um und taumelte unter ihrer Last durch die Bibliothek und zur Haustür. Sie musste schnell handeln, sie musste stark sein. Das Blut pochte dumpf in ihren Armen, und ihre Knie wollten immer wieder einknicken, aber die Kühle des Glases fühlte sich gut an.

Sie wankte durch die Tür zu den steinernen Stufen der Eingangstreppe, und dort nahm sie alle Kraft ihres Körpers und ihrer Seele zusammen und schwang sich in einer letzten Anstrengung halb herum. Sie wollte loslassen, doch ihre Hände lösten sich nicht von der rauhen Oberfläche der Schüssel, und sie rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte, noch immer die Schüssel umklammernd, mit einem verzweifelten Schrei die Treppe hinunter…

Gegenüber wurde Licht gemacht; das Klirren war noch am Ende des Blocks zu vernehmen, und Leute eilten verwundert herbei. Im ersten Stock schrak ein müder Mann hoch, der eben noch im Begriff gewesen war, in den Schlaf zu gleiten, und ein Mädchen wimmerte in einem von schlechten Träumen heimgesuchten Halbschlummer. Und rings um die reglose schwarze Gestalt auf dem mondbeschienenen Bürgersteig reflektierten Hunderte von Prismen, Würfeln und Splittern das Licht in einem zarten Funkeln – blau und schwarz, gesäumt von Gelb, gelb und blutrot, gesäumt von Schwarz.

Winterträume
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