Der Riffpirat
I
Diese unglaubliche Geschichte beginnt auf einem traumhaft blauen, wie blauseidene Damenstrümpfe changierenden Meer und unter einem Himmel, so blau wie die Iris von Kinderaugen. Von der westlichen Himmelshälfte her streute die Sonne goldene Plättchen auf die Wasserfläche; und wer ganz genau hinsah, konnte erkennen, wie sie von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften, um sich zu guter Letzt zusammenzuscharen und jenes breite Halsband von eitel Gold zu formen, aus dem am Ende eine halbe Meile voraus ein strahlend schöner Sonnenuntergang werden sollte. Ungefähr auf halbem Wege zwischen der Küste von Florida und jenem goldenen Halsband schwoite, sehr jung und anmutig, eine weiße Dampfyacht um ihren Anker, und achtern auf dem Deck lag unter einer blauweißen Markise ein Mädchen mit flachsblondem Haar auf einem Korbsofa und las Aufruhr der Engel von Anatole France.
Sie mochte vielleicht neunzehn Jahre alt sein, rank und schlank, mit einem ebenso verwöhnten wie verführerischen Mund und lebhaften grauen, vor Neugier leuchtenden Augen. Ihre unbestrumpften, von blauen, lässig von den Zehen herabwippenden Satinpantoffeln weniger verhüllten als vielmehr gezierten Füße ruhten auf der Armlehne eines zweiten Sofas unmittelbar neben dem ihren. In der Hand hielt sie eine halbe Zitrone, an der sie ab und zu genüsslich leckte, um sich beim Lesen zu erfrischen. Die andere Hälfe der Zitrone lag ausgelutscht auf dem Boden und schaukelte leise im Rhythmus der kaum wahrnehmbaren Strömung hin und her.
Das Fruchtfleisch der zweiten Zitronenhälfte war beinahe aufgezehrt, und das goldene Halsband hatte erstaunlich an Weite gewonnen, als auf einmal schwere Schritte die in schläfriger Stille dahindämmernde Yacht aufstörten und ein mit einem ordentlich gescheitelten Grauschopf versehener und mit einem weißen Flanellanzug bekleideter älterer Herr oben an der Kajütstreppe erschien. Dort verharrte er einen Moment, bis sich seine Augen an die Sonne gewöhnt hatten, dann sah er das Mädchen unter der Markise und gab ein leises, langgezogenes und missfälliges Knurren von sich.
Sollte er damit die Absicht verfolgt haben, irgendeine Art von Aufschreckung zu bewirken, so wurde er enttäuscht. Das Mädchen blätterte seelenruhig zwei Seiten gleichzeitig um, schlug dann eine wieder zurück, hob die Zitrone gedankenverloren auf Zungenhöhe und gähnte – ganz leicht nur, aber doch unmissverständlich.
»Ardita!«, sagte der Grauschopf streng.
Ardita machte einen kurzen Laut, aus dem sich nichts entnehmen ließ.
»Ardita!«, wiederholte er. »Ardita!«
Ardita hob träge die Zitrone zum Mund und ließ sich, kurz bevor sie mit der Zunge drüberfuhr, zu einem knappen Dreiwortsatz herbei:
»Halt die Klappe.«
»Ardita!«
»Was denn?«
»Willst du mir jetzt zuhören – oder muss ich erst einen Diener holen, damit er dich festhält, während ich mit dir rede?«
Die Zitrone vollführte eine langsame, sarkastische Abwärtsbewegung.
»Gib’s mir doch schriftlich.«
»Würdest du wohl so viel Anstand haben, dieses abscheuliche Buch zu schließen und diese blöde Zitrone für zwei Minuten aus der Hand zu legen?«
»O Mann, kannst du mich denn nicht mal eine Sekunde in Ruhe lassen?«
»Ardita, ich bekam soeben einen Telefonanruf von Land –«
»Telefon?« Zum ersten Mal zeigte sie einen Anflug von Interesse.
»Ja, es war –«
»Soll das heißen«, fiel sie ihm erstaunt ins Wort, »hier draußen gibt’s ’ne Leitung?«
»Ja, und soeben –«
»Und da kommt einem kein andres Schiff in die Quere?«
»Nein. Die geht ja auf dem Grund entlang. Vor fünf Mi–«
»Mein lieber Scholli! Hut ab! Ein Wunderwerk der Technik, was?«
»Würdest du mich jetzt bitte einmal ausreden lassen?«
»Schieß los!«
»Also, es ist – also, ich bin hier heraufgekommen, um –« Er unterbrach sich und schluckte ein paarmal vor Verlegenheit. »Ah, ja. Junge Dame, Colonel Moreland hat noch einmal angerufen, er hat mich dringend gebeten, dich zu diesem Dinner mitzubringen. Sein Sohn Toby ist extra aus New York angereist, um dich kennenzulernen, und es sind auch noch eine Menge andere junge Leute eingeladen. Zum letzten Male, wirst du –«
»Nein«, sagte Ardita kurz, »ich denk nicht dran. Du weißt doch, dass ich diese blöde Kreuzfahrt überhaupt nur mitmache, weil sie nach Palm Beach gehen soll, aber irgendeinen blöden alten Colonel oder irgendeinen blöden jungen Toby oder irgendwelche blöden jungen Leute kennenzulernen, das lehne ich rundheraus ab, und ich denke gar nicht daran, auch nur einen Fuß in irgendeine andre blöde alte Stadt in diesem durchgedrehten Bundesstaat hier zu setzen. Entweder du bringst mich nach Palm Beach, oder du hältst die Klappe und schiebst ab.«
»Sehr gut. Damit hast du das Fass zum Überlaufen gebracht. So vernarrt, wie du in diesen Mann bist – diesen Mann, der ein berüchtigter Wüstling ist, diesen Mann, dem dein Vater nicht einmal erlaubt haben würde, auch nur deinen Namen auszusprechen –, so vernarrt wie du in diesen Mann bist, das ist allenfalls der Halbwelt würdig, aber nicht den Kreisen, in denen du ja doch wohl aufgewachsen bist. Von heute an –«
»Ja, ja«, fiel ihm Ardita spöttisch ins Wort, »›von heute an sind wir geschiedene Leute‹. Du wiederholst dich. Aber weißt du was? Nichts, was mir lieber wäre.«
»Von heute an«, erklärte er pathetisch, »habe ich keine Nichte mehr. Ich –«
»A-a-a-ah!« So klang der Schmerzensschrei einer verlorenen Seele, der sich Arditas Brust entrang. »Jetzt hör doch mal auf, mir auf die Nerven zu gehn! Schieb endlich ab! Von mir aus kannst du über Bord springen und ersaufen! Muss ich dir erst das Buch hier an den Kopf schmeißen?«
»Wehe, du wagst es –«
Klatsch! Der Aufruhr der Engel flog durch die Luft, verfehlte sein Ziel nur um die Länge eines kurzen Näschens und hüpfte fröhlich die Kajütstreppe hinunter.
Der Grauschädel trat instinktiv einen Schritt zurück und dann vorsichtig zwei Schritte nach vorn. Ardita sprang auf, reckte sich zu ihrer vollen Länge von einem Meter fünfundsechzig empor und starrte ihn mit ihren grauen, vor Empörung flackernden Augen trotzig an.
»Hau ab!«
»Wie kannst du es wagen!«, schrie er.
»Verdammt noch mal, ich mach, was mir gefällt!«
»Du wirst immer unerträglicher! Dein Charakter…«
»Selber schuld! Wenn ein Kind einen schlechten Charakter hat, dann ist das einzig und allein die Schuld seiner Familie! Schließlich habt ihr mich doch zu dem gemacht, was ich bin.«
Da drehte sich ihr Onkel brabbelnd und brummelnd um und machte sich, laut nach der Barkasse rufend, davon. Doch dann kam er noch einmal zurück. »Ich gehe jetzt an Land«, sagte er in bedächtigem Ton zu Ardita, die inzwischen wieder unter der Markise Platz genommen hatte und mit ihrer Zitrone beschäftigt war. »Heute Abend um neun bin ich wieder an Bord. Und danach fahren wir unverzüglich heim nach New York. Dort werde ich dich deiner Tante übergeben. Bei der kannst du dann bis ans Ende deiner Tage bleiben und dein tristes, oder besser: dein wüstes Leben fristen.«
Doch plötzlich hielt er inne und fasste sie ins Auge, und beim Anblick ihrer Schönheit, die etwas so unerhört Kindliches hatte, krampfte sich ihm das Herz zusammen, sein Groll erschlaffte wie ein aufgeblasener Reifen, aus dem die Luft entweicht, und er stand da und kam sich hilflos vor, unsicher und vollkommen töricht.
»Ardita«, sagte er nicht unfreundlich, »ich bin nicht von gestern. Ich bin herumgekommen in der Welt. Ich kenne die Männer. Und, Kind, so ein eingefleischter Libertin, der ändert sich nicht einfach, es sei denn, er wird müde – und dann ist er nicht mehr der, der er mal war, dann ist er nur noch eine leere Hülle, ein Schatten seiner selbst.« Er sah sie an, als hoffte er auf ihre Zustimmung, doch als nichts dergleichen zu sehen oder zu hören war, fuhr er fort. »Durchaus möglich, dass der Mann dich liebt, das ist nicht auszuschließen, nur: Er hat schon viele Frauen geliebt, und er wird noch viele lieben. Nicht einmal einen Monat ist es her, Ardita, nicht mal einen Monat, dass er diese allseits bekannte Affäre mit dieser Rothaarigen hatte, dieser Mimi Merril; das Diamantarmband hat er ihr versprochen, das der russische Zar seiner Mutter geschenkt hat. Das weißt du doch – das hast du doch in der Zeitung gelesen.«
»Sensationelle Skandale – erzählt von einem ängstlichen Onkel«, gähnte Ardita. »Lass die Story doch verfilmen. Hintertückischer Lebemann macht jungfräulichem Bubikopf schöne Augen. Verführt schlussendlich jungfräulichen Bubikopf mit Hilfe seiner finsteren Vergangenheit. Bubikopf hat die Absicht, sich in Palm Beach mit ihm zu treffen. Plan wird von ängstlichem Onkel vereitelt.«
»Himmelherrgott, kannst du mir vielleicht mal sagen, warum du ihn heiraten willst?«
»Eher nicht«, entgegnete Ardita kurz. »Vielleicht, weil er von allen Männern, die ich kenne – egal, ob gut, ob schlecht –, der einzige ist, der Phantasie hat und den Mut, eine eigene Meinung zu vertreten. Vielleicht, damit ich diese ganzen jungen Trottel los bin, die nichts Besseres zu tun haben, als mir landauf, landab hinterherzurennen. Aber was das russische Armband angeht, in dem Punkt kannst du ganz beruhigt sein. Das wird er mir nämlich in Palm Beach schenken – wenn du auch nur ein Fitzelchen Verstand beweist.«
»Und was ist mit der – mit der Rothaarigen?«
»Die hat er seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen«, sagte sie wütend. »Du glaubst doch wohl nicht etwa, ich hätte nicht den nötigen Stolz, um solche Dinge vorab klarzustellen? Hast du denn immer noch nicht kapiert, dass ich die Kerle allesamt nach Lust und Laune um den Finger wickeln kann?«
Sie reckte das Kinn empor wie die berühmte Frankreich-in-Aufruhr-Büste von Jo Davidson, vermasselte allerdings die Pose ein klein wenig, indem sie die Zitrone hob, um abermals zur Tat zu schreiten.
»Ist es das russische Armband, das dich so fasziniert?«
»Nein, ich versuche lediglich, dir ein Argument zu liefern, das deiner Intelligenz entspricht. Und ich möchte, dass du endlich abschiebst«, sagte sie, nahe daran, von neuem die Geduld zu verlieren. »Du weißt doch, dass ich prinzipiell nie meine Meinung ändere. Seit drei Tagen langweilst du mich jetzt mit dieser Sache und machst mich ganz verrückt. Ich gehe nicht an Land! Niemals! Verstehst du? Nie und nimmer!«
»Na gut«, sagte er, »aber nach Palm Beach gehst du auch nicht. So was Selbstsüchtiges, Verwöhntes, Unerzogenes und Unerträgliches wie du ist mir wirklich noch nicht –«
Batsch! Die Zitronenhälfte erwischte ihn im Genick. Gleichzeitig kam von unten her ein Ruf.
»Die Barkasse ist bereit, Mr. Farnam.«
Zu voll der Worte und des Zorns, um noch etwas sagen zu können, warf Mr. Farnam seiner Nichte einen zutiefst verächtlichen Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und kletterte hastig die Leiter hinunter.
II
Die fünfte Stunde wälzte sich von der Sonne herab und plumpste ohne einen Laut ins Meer. Das goldene Halsband weitete sich aus und wurde zu einem glitzernden Eiland, und die sanfte Brise, die eben noch mit den Säumen der Markise gespielt und den einen baumelnden Pantoffel gewiegt hatte, trug mit einem Mal ein Lied heran. Gesungen wurde es von einem Männerchor, der perfekt mit dem Rhythmus der Ruder harmonierte, welche die blauen Wasser teilten und den Gesang begleiteten. Ardita hob den Kopf und horchte.
»Erbsen und Speck,
Bohnen sind weg,
Schweine an Deck,
Kommt, Geselln – oh!
Tretet den Balg,
Tretet den Balg,
Tretet den Balg!
Wind macht schnell – oh.«
Verwundert kräuselte Ardita ihre Brauen. Ganz still saß sie da und lauschte angestrengt dem Chor, der eine zweite Strophe sang.
»Zwiebeln und Bohn’,
Marschall samt Sohn,
Goldberg und Cohn
Und Costello.
Tretet den Balg,
Tretet den Balg,
Tretet den Balg!
Wind macht schnell – oh.«
Mit einem Ausruf des Erstaunens warf sie ihr Buch auf den Boden, wo es bäuchlings liegenblieb, und stürzte an die Reling. Fünfzehn Meter voraus näherte sich ein großes Ruderboot mit sieben Mann Besatzung, von denen sechse singend ruderten und einer aufrecht achtern stand und mit einem Dirigentenstab den Takt schlug.
»Austern à jour,
Sägemehl pur,
Wer baut ’ne Uhr
Um zum Cello? –«
Und dann ruhten die Augen des Anführers plötzlich auf Ardita, die sich, wie gebannt vor Neugier, über die Reling beugte. Er machte eine schnelle Bewegung mit seinem Taktstock, und sogleich verstummte der Gesang. Ardita sah, dass er der einzige Weiße auf dem Boot war – die sechs Ruderer waren allesamt schwarz.
»Ahoi Narcissus!«, rief er höflich.
»Was soll denn dieser ganze Krach bedeuten?«, fragte Ardita fröhlich. »Ist das die Schulmannschaft der örtlichen Klapsmühle?«
Unterdessen schrammte das Boot den Rumpf der Yacht, ein baumlanger, kräftig gebauter Neger, der vorn am Bug stand, drehte sich um und griff nach der Leiter. Der Anführer verließ seinen Posten hinten auf dem Heck, kletterte, noch ehe Ardita begriff, was er vorhatte, eilig die Leiter hoch und stand, vollkommen außer Atem, vor ihr an Deck.
»Frauen und Kinder werden verschont!«, erklärte er forsch. »Sämtliche schreienden Babys werden unverzüglich ertränkt und alle Männer doppelt in Ketten gelegt!«
Ardita vergrub die Hände vor Aufregung in den Taschen ihres Kleides und starrte ihn in sprachlosem Erstaunen an.
Er war ein junger Mann mit dunklem Teint und einem feingeschnittenen Gesicht, hatte einen spöttischen Zug um den Mund und die leuchtend blauen Augen eines gesunden Säuglings. Sein Haar war pechschwarz, feucht und gelockt wie das einer sonnengebräunten griechischen Statue. Er war gut gebaut, gut gekleidet und anmutig wie ein behender Quarterback.
»Heiliges Kanonenrohr!«, sagte sie ganz benommen.
Sie fassten einander kühl ins Auge.
»Übergeben Sie das Schiff?«
»Soll das ein Heiterkeitsausbruch sein?«, fragte Ardita. »Sie sind doch wohl nicht ganz bei Troste – oder sind Sie kürzlich irgendeiner Bruderschaft beigetreten?«
»Ich frage Sie, ob Sie das Schiff übergeben.«
»Ich hab gedacht, in diesem Lande herrscht Prohibition«, sagte Ardita von oben herab. »Sie haben wohl Nagellack getrunken oder was? Sehn Sie bloß zu, dass Sie von dieser Yacht hier runterkommen!«
»Wie bitte?« Im Ton des jungen Mannes drückte sich Verblüffung aus.
»Haben Sie nicht gehört? Sie sollen runter von der Yacht!«
Er sah sie einen Moment an, als ließe er sich ihre Worte durch den Kopf gehen.
»Nein«, kam es dann bedächtig aus seinem spöttischen Mund; »nein, ich geh nicht runter von der Yacht. Gehn Sie doch runter, wenn es Ihnen Spaß macht.«
Dann trat er an die Reling und gab ein kurzes Kommando, und im nächsten Augenblick kletterte die Crew des Ruderbootes die Leiter hoch und stellte sich in einer Reihe vor ihm auf, an einem Ende ein stämmiger, kohlschwarzer Nigger und am anderen ein Mulattenzwerg, der knapp eins fünfzig maß. Sie waren, gleichsam uniform, mit blauen Anzügen bekleidet, die Staub, Schlamm und diverse Risse zierten; jeder hatte über der Schulter einen kleinen weißen, sichtlich schwergewichtigen Beutel hängen, und unterm Arm trugen sie große schwarze Kästen, in denen sich allem Anschein nach ihre Musikinstrumente befanden.
»Aaach-tonk!«, kommandierte der junge Mann und schlug dabei selber zackig die Hacken zusammen. »Reeechs-omm! Augen graade-oss! Vortreten, Babe!«
Der kleinste Schwarze trat rasch einen Schritt nach vorn und salutierte.
»Jassaah!«
»Du übernimmst das Kommando, runtergehn, die Crew gefangennehmen und alle Männer fesseln, bis auf den Maschinisten. Den bringst du rauf zu mir. Ach ja, und eure Beutel, die könnt ihr da drüben an der Reling stapeln.«
»Jassaah!«
Babe salutierte abermals, machte kehrt und gab den fünf anderen ein Zeichen, sich um ihn zu scharen. Flüsternd berieten sie sich einen Augenblick und stiegen dann alle miteinander lautlos und im Gänsemarsch die Kajütstreppe hinunter.
»So«, sagte der junge Mann frohgemut zu Ardita, die der Szene starr und stumm beigewohnt hatte, »wenn Sie mir bei Ihrer Bubikopf-Ehre – die allerdings eh nicht viel wert sein dürfte – schwören, dass Sie Ihr verwöhntes kleines Mäulchen achtundvierzig Stunden lang ganz fest geschlossen halten, dann können Sie von mir aus jetzt in unserm Ruderboot ans Ufer rudern.«
»Und wenn nicht?«
»Wenn nicht, dann fahren Sie mit einem Schiff aufs offene Meer hinaus.«
Mit einem kleinen, einer gut gemeisterten Krise wohl angemessenen Seufzer ließ sich der junge Mann auf das Korbsofa fallen, von dem Ardita kürzlich aufgestanden war, und streckte faul die Arme aus. Er musterte die bunt gestreifte Markise, das blank geputzte Messing und die ganze luxuriöse Ausstattung an Deck, seine Züge entspannten sich, und um die Mundwinkel spielte etwas wie Anerkennung. Sein Blick fiel auf das Buch, dann auf die ausgelutschte Zitrone.
»Hm«, sagte er, »Stonewall Jackson hat behauptet, von Zitronensaft kriegt er einen klaren Kopf. Und Sie? Schön klar im Kopf, ja?«
Ardita würdigte ihn keiner Antwort.
»Weil, in den nächsten fünf Minuten müssen Sie eine klare Entscheidung treffen, ob Sie hier verschwinden oder bei uns bleiben wollen.«
Er hob das Buch vom Boden auf und schaute neugierig hinein.
»Aufruhr der Engel. Klingt ja richtig gut. Französisch, was?« Er starrte sie mit wiedererwachtem Interesse an. »Sind Sie Französin?«
»Nein.«
»Wie heißen Sie eigentlich?«
»Farnam.«
»Farnam – wie noch?«
»Ardita Farnam.«
»Na schön, Ardita, also, hier herumzustehn und sich die Backentaschen abzukauen hat keinen Sinn. Gewöhnen Sie sich diese nervösen Marotten lieber ab, solange Sie noch jung sind. Kommen Sie mal her hier, setzen Sie sich mal da hin.«
Ardita holte ein geschnitztes Jadekästchen aus der Tasche, entnahm ihm eine Zigarette und zündete sie mit bewusst gelassener Pose an, obwohl sie durchaus merkte, dass ihr ein bisschen die Hände zitterten; dann ging sie mit geschmeidig-federndem Schritt zu dem anderen Sofa hinüber, nahm darauf Platz und blies eine Rauchwolke zur Markise hinauf.
»Sie werden mich nicht von der Yacht vertreiben«, sagte sie entschlossen. »Und wenn Sie wirklich glauben, Sie kommen damit durch, dann kann’s ja mit Ihrem Verstand nicht allzu weit her sein. Mein Onkel wird nämlich spätestens um halb sieben kreuz und quer über den Ozean Funksprüche losgelassen haben.«
»Hm.«
Ein rascher Blick in sein Gesicht genügte ihr, um seine Furcht zu sehen, die sich in einem minimalen Abwärtsgleiten seiner Mundwinkel bemerkbar machte.
»Mir kann’s ja egal sein«, sagte sie achselzuckend. »Ist ja nicht meine Yacht. Von mir aus können wir hier ruhig eine kleine Kreuzfahrt machen. Ich pump Ihnen sogar mein Buch, damit Sie nachher auf dem Zollboot, das Sie nach Singsing bringt, was zu lesen haben.«
Er lachte höhnisch.
»Falls das ein guter Rat sein sollte – keine Bange. Das Ganze ist Teil eines Plans, den es schon gab, als ich noch nicht mal wusste, dass diese Yacht überhaupt existiert. Und wenn’s nicht diese hier gewesen wär, wär’s halt die nächste gewesen, an der wir unterwegs vorbeigekommen wären, es liegen ja genug davon an diesem Küstenstrich vor Anker.«
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Ardita plötzlich. »Und was sind Sie?«
»Sie haben also beschlossen, nicht an Land zu gehen?«
»Ich denk nicht mal im Traum daran.«
»Man kennt uns allgemein, uns alle sieben«, sagte er, »als Curtis Carlyle und die Six Black Buddies, zuletzt zu sehn am Broadway in Minskys Winter Garden und im Midnight Frolic an der Forty-second Street.«
»Ihr seid Sänger?«
»Wir waren es – bis heute. Momentan sind wir auf der Flucht vor der Justiz – wegen der weißen Beutel da drüben –, und ich müsste mich schwer irren, wenn die auf unsere Ergreifung ausgesetzte Belohnung nicht mittlerweile schon die 20000-Dollar-Marke erreicht hat.«
»Und was ist in den Beuteln drin?«, fragte Ardita neugierig.
»Nennen wir’s fürs Erste Schlamm«, sagte er. »Florida-Schlamm.«
III
Zehn Minuten nach der kleinen Unterredung, die Curtis Carlyle mit dem völlig verängstigten Maschinisten der Yacht gehabt hatte, war der Anker gelichtet, und die Narcissus dampfte durch die milde tropische Abenddämmerung gen Süden. Der kleine Mulatte Babe, der offenbar Carlyles bedingungsloses Vertrauen genoss, war ganz Herr der Lage. Mr. Farnams Kammerdiener und der Koch, die Einzigen von der Crew, die außer dem Maschinisten Widerstand geleistet hatten, lagen inzwischen sicher vertäut unten in ihren Kojen und konnten sich die Sache noch mal in aller Ruhe überlegen. Trombone Mose, der größte der sechs Schwarzen, war mit einer Büchse Farbe dabei, den Namen Narcissus am Bug zu überpinseln und durch den Namen Hula Hula zu ersetzen, und die Übrigen hatten sich achtern versammelt und spielten hingebungsvoll Craps.
Carlyle hatte angeordnet, dass das Essen zubereitet und um neunzehn Uhr dreißig an Deck serviert werden sollte, und sich dann wieder zu Ardita gesellt, war auf seinem Sofa in die Polster gesunken und mit halb geschlossenen Augen in einen Zustand abgrundtiefer Geistesabwesenheit verfallen.
Ardita betrachtete ihn mit prüfendem Blick und sortierte ihn sogleich unter der Rubrik »romantische Charaktere« ein. Er wirkte wie jemand, der ein maßloses, allerdings auf äußerst wackligen Füßen stehendes Selbstvertrauen besitzt –unmittelbar unter der Oberfläche jeder seiner Entscheidungen erkannte sie ein Zögern, das im krassen Gegensatz zu seinen arrogant geschürzten Lippen stand.
›Der ist nicht so wie ich‹, dachte sie. ›Irgendwo ist da ein Unterschied.‹
Als Egozentrikerin erster Güte, die sie war, dachte Ardita häufig über sich selber nach, und da sie nie auf die Idee gekommen war, ihr egozentrisches Verhalten selbstkritisch in Frage zu stellen, geschah dies vollkommen natürlich und ohne ihrem unbestreitbaren Charme in irgendeiner Weise Abbruch zu tun. Sie war neunzehn, wirkte aber wie ein überaus lebhaftes altkluges Kind, und im strahlenden Widerschein ihrer jugendlichen Gegenwart und Schönheit waren alle Leute, die sie traf, egal, ob Männer oder Frauen, einfach nur Treibholz auf den kräuselnden Gewässern ihrer Launen. Sie hatte auch schon andere Egozentriker kennengelernt – ja, sie hatte sogar die Feststellung gemacht, dass selbstsüchtige Menschen sie nicht ganz so arg langweilten wie selbstlose –, doch war sie bislang noch niemandem begegnet, der sich am Ende nicht geschlagen gab und ihr zu Füßen lag.
Zwar hatte sie den Mann da auf dem Sofa nebenan sogleich als Egozentriker erkannt, doch anders als sonst hatte sie diesmal nicht das Gefühl, dass ihr Verstand die Schotten dicht, das Schiff also gefechtsklar machte; vielmehr verriet ihr der Instinkt, dass der Bursche irgendwie vollkommen sturmreif war und völlig wehrlos. Wenn Ardita den gesellschaftlichen Konventionen trotzte, was neuerdings ihr bevorzugter Zeitvertreib war, so tat sie dies aus einem starken Drang heraus, sie selbst zu sein, und sie merkte sehr wohl, dass dieser Mann im Gegensatz zu ihr allein mit seinem eigenen Trotz beschäftigt war.
Ihr Interesse an ihm war viel größer als das an ihrer eigenen Situation, die sie nicht mehr bewegte, als ein zehnjähriges Kind die Aussicht bewegen mag, am Nachmittag ins Theater zu gehen. Sie vertraute blind auf ihre Fähigkeit, in jeder Lebenslage für sich selbst zu sorgen.
Die Nacht wurde tiefer. Mit dunstverhangenen Augen lächelte der fahle neue Mond hinunter auf das Meer, und während die Küste nach und nach im Dämmerlicht verschwand und dunkle Wolken wie Herbstlaub über den fernen Horizont trieben, ergoss sich plötzlich ein großer Schwall von Mondlicht über die dahineilende Yacht und breitete eine breite, glitzernde Bahn aus lauter ganz, ganz feinen, silbrig schimmernden Ketten vor ihr aus. Ab und zu flackerte ein Streichholz auf, und einer der Männer zündete sich eine Zigarette an, doch außer dem leisen Stampfen der Motoren und dem gleichmäßigen Schlagen der Wellen vorn um den Bug war es auf der Yacht so still wie auf einem Traumschiff, das am Firmament entlangzieht auf seiner Reise zu den Sternen. Von allen Seiten her umwehte sie Geruch der nächtlichen See, der eine endlos große Sehnsucht mit sich trug.
Schließlich brach Carlyle das Schweigen.
»Sie Glückliche«, seufzte er. »Ich wollte immer reich sein – und mir all diese Schönheit kaufen.«
Ardita gähnte.
»Ich würde gerne mit Ihnen tauschen«, sagte sie frei heraus.
»Na klar – so ungefähr für einen Tag. Aber für einen Bubikopf sind Sie ganz schön mutig.«
»Ich mag’s nicht, wenn man mich als Bubikopf bezeichnet.«
»Oh, Pardon.«
»Und was den Mut angeht«, fuhr sie bedächtig fort, »der ist ja meine einzige Rettung. Ich fürchte weder Tod noch Teufel.«
»Hm, ich schon.«
»Um sich zu fürchten«, sagte Ardita, »muss man entweder sehr groß und stark sein – oder aber ein Feigling. Ich bin weder das eine noch das andere.« Sie überlegte einen Moment und sprach dann in eiferndem Ton weiter. »Aber ich will mit Ihnen reden. Was um alles in der Welt haben Sie denn bloß angestellt – und wie haben Sie’s angestellt?«
»Und warum?«, fragte er zynisch. »Sie wollen wohl ein Drehbuch schreiben über mich?«
»Na los schon«, drängte sie. »Lügen Sie mir nur was vor im Mondenschein. Denken Sie sich irgendeine phantastische Geschichte aus.«
Einer von den Schwarzen erschien, knipste die kleine Lichterkette unter der Markise an und begann den Korbtisch fürs Abendessen zu decken. Und während sie Scheiben von kaltem Huhn, Salat, Artischocken und Stachelbeermarmelade aus der reich gefüllten Vorratskammer im Unterdeck aßen, fing Carlyle an zu erzählen, zunächst noch zögernd, doch dann, als er ihr aufrichtiges Interesse spürte, mit wachsendem Eifer. Ardita rührte ihr Essen kaum an; sie war vollauf damit beschäftigt, sein dunkles junges Gesicht zu betrachten – sein hübsches, spöttisches, etwas unscheinbares Gesicht.
Begonnen habe er sein Leben, sagte er, als armer Leute Kind in einer Stadt in Tennessee, so arm, dass er und seine Familie die einzigen Weißen in ihrer Straße waren. Er könne sich nicht erinnern, irgendwelche gleichaltrigen Weißen gekannt zu haben – aber dafür gab es ein Dutzend kleine Negerkinder, die ihm unweigerlich auf Schritt und Tritt nachgelaufen kamen, leidenschaftliche Bewunderer, die er mit seiner lebhaften Phantasie bei der Stange hielt und damit, dass sie alle naselang seinetwegen in der Patsche saßen und er sie jedes Mal wieder herausholte. Und anscheinend hatte diese Verbindung ein ziemlich ungewöhnliches musikalisches Talent in recht eigenartige Bahnen gelenkt.
Da sei so eine Farbige namens Belle Pope Calhoun gewesen, die auf den Festen für die weißen Kinder Klavier spielte – die netten weißen Kinder, die für Curtis Carlyle höchstens ein verächtliches Schniefen übrig hatten. Doch der zerlumpte kleine »Pfui-bah-bah-Weiße« saß immer stundenlang neben ihr am Piano und versuchte, mit dem Kazoo, auf dem die kleinen Jungs so gerne tröten, eine ordentliche Altbegleitung hinzukriegen. Er war noch keine dreizehn, da tingelte er schon, um sich über Wasser zu halten, durch die kleinen Cafés von Nashville und entlockte seiner ramponierten alten Geige einen richtig juckigen Ragtime. Acht Jahre später hatte das Ragtimefieber das ganze Land erfasst, und er tourte mit sechs Schwarzen durch die berühmten Orpheum-Vaudeville-Theater. Mit fünfen davon war er zusammen aufgewachsen, und der sechste war Babe Divine, jener kleine Mulatte, ein Niggerzwerg aus der New Yorker Ecke und früher mal, vor langer Zeit, Arbeiter auf einer Plantage in Bermuda, bis er seinem Herrn ein Stilett mit einer Zwanzig-Zentimeter-Klinge von hinten zwischen die Rippen gejagt hatte. Carlyle hatte noch gar nicht richtig kapiert, was für ein Glückspilz er war, da trat er schon am Broadway auf, bekam von allen Seiten Angebote und Engagements und viel mehr Geld, als er sich jemals hätte träumen lassen.
Ungefähr um diese Zeit fing es an, dass eine grundlegende Veränderung mit ihm vor sich ging, eine ziemlich eigenartige Veränderung, die keineswegs eine Veränderung zum Besseren war. Damals sei ihm klargeworden, dass er seine besten Jahre damit verplemperte, mit ein paar schwarzen Tagedieben auf irgendwelchen Bühnen herumzualbern. Die Nummer selber war an sich ganz gut – drei Posaunen, drei Saxophone und dazu Carlyle mit seinem Kazoo –, wobei natürlich das Entscheidende sein ganz spezielles Gefühl für den Rhythmus war; nur wurde er sonderbarerweise immer empfindlicher, und mit der Zeit grauste es ihm regelrecht, wenn er bloß daran dachte, auf die Bühne zu müssen, und seine Angst vorm Auftreten wurde von Tag zu Tag größer.
Geld machten sie wie Heu – mit jedem Vertrag, den er unterschrieb, erhöhten sich die Beträge –, doch wenn er zu den Managern ging und ihnen erklärte, er wolle sich von seinem Sextett trennen und als normaler Pianist weitermachen, lachten sie ihn aus und erklärten ihn für verrückt – das wäre »künstlerischer Selbstmord«. Er selber musste später lachen über dieses Wort vom »künstlerischen Selbstmord«. Alle waren sie ihm damit gekommen.
Ein halbes Dutzend Mal spielten sie auf privaten Tanzpartys – für dreitausend Dollar am Abend, und irgendwie hatte er das Gefühl, als sei es ihm erst da so richtig klargeworden, wie satt er diese Art des Broterwerbs inzwischen hatte. Stattgefunden hatten diese Partys in Clubs und Häusern, zu denen ihm bei Tageslicht der Zutritt verwehrt worden wäre. Er spielte schließlich nur den Part des ewigen Affen, ein männliches Revuegirl sozusagen, nur eben etwas besser. Allein schon der Geruch, der im Theater herrschte, widerte ihn an, dieser Gestank nach Rouge und Puder, der Tratsch im Künstlerzimmer und der gönnerhafte Beifall aus den Logen. Es war ihm nicht mehr möglich, mit Leib und Seele bei der Sache zu sein. Der Gedanke, dass er sich langsam, aber sicher dem Luxus des Müßiggangs näherte, machte ihn rasend. Natürlich ging er auf diesen Zustand zu, aber eher so wie ein Kind, das Eis isst und zu langsam leckt, um den Geschmack richtig genießen zu können.
Er habe sich danach gesehnt, einen Haufen Geld und Zeit zu haben, nach Lust und Laune lesen und spielen zu können und mit Männern und auch Frauen von der Sorte zu verkehren, die er niemals kriegen würde – der Sorte, die ihn wohl für unter ihrer Würde hielt, sofern sie überhaupt einen Gedanken an ihn verschwendete; kurzum, er wollte all das haben, was er mittlerweile begonnen hatte, unter dem Sammelbegriff Aristokratie zusammenzufassen, einer Aristokratie, die, wie es schien, mit jedem Geld zu kaufen war, nur nicht mit einem Geld, das auf die Art verdient wurde, auf die er seins verdiente. Da war er fünfundzwanzig, hatte weder Familie noch eine Ausbildung noch irgendeine Aussicht, als Geschäftsmann Karriere zu machen. Er fing an, wie wild draufloszuspekulieren, und hatte binnen drei Wochen seine gesamten Ersparnisse verloren, bis auf den letzten Cent.
Dann kam der Krieg. Er ging nach Plattsburg, und selbst dort verfolgte sein Beruf ihn noch. Ein Brigadegeneral befahl ihn ins Stabsquartier und erklärte ihm, als Kapellmeister könne er seinem Lande besser dienen – und so verbrachte er den Krieg damit, hinter den Linien mit seinem Stabsmusikkorps für die Unterhaltung der hohen Tiere zu sorgen. Das war gar nicht mal so übel – er wäre halt hinterher nur lieber einer von den vielen Infanteristen gewesen, die hinkend aus den Schützengräben heimkehrten. Es kam ihm so vor, als wären der Schweiß und der Schlamm, den sie an sich hatten, nur eines jener nicht in Worte zu fassenden, für ihn auf ewig unerreichbaren Symbole der Aristokratie.
»Den Ausschlag gaben schließlich die privaten Tanzpartys. Nachdem ich aus dem Krieg zurück war, ging die alte Leier wieder los. Wir hatten ein Angebot von einer Hotelkette in Florida. Alles andere war dann bloß noch eine Frage der Zeit.« Er verstummte; Ardita sah ihn erwartungsvoll an, doch er schüttelte nur den Kopf.
»Nein«, sagte er, »das behalt ich lieber für mich. Darüber freue ich mich nämlich ganz unbändig, und ich hab Angst, wenn ich die Freude mit jemand anders teile, könnt mir vielleicht ein Stück davon verlorengehn. Ich will mich daran festhalten, an diesen paar atemlosen, heroischen Augenblicken, wenn ich da draußen stand, vor all den Leuten, und ihnen zeigen konnte, dass ich mehr bin als bloß ein herumzappelnder, kreischender Clown.«
Vom Vordersteven her war plötzlich leises Singen zu vernehmen. Die Schwarzen hatten sich an Deck versammelt, und ihre Stimmen verschmolzen zu einer eindringlichen, in herzzerreißenden Akkorden mondwärts brandenden Melodie. Ardita lauschte ganz verzückt.
»Oh down –
Oh down,
Mammy wanna take me down a milky way,
Oh down –
Oh down,
Pappy say to-morra-a-a-ah!
But mammy say to-day,
Yes – mammy say to-day!«
Carlyle seufzte und schwieg einen Moment; er schaute hinauf zum warmen Himmel, wo in dichtgedrängter Schar die Sterne funkelten wie lauter kleine Soffitten. Der Gesang der Neger war in ein wehmütiges Summen übergegangen, und es kam ihm vor, als nähmen die Helle und die große Stille von Minute zu Minute zu, bis er fast schon meinte, die Meerjungfrauen bei ihrer mitternächtlichen Toilette zu belauschen und zuzuhören, wie sie sich die Silbertropfen aus den Locken kämmten und einander dabei aufgekratzt von ihren schönen Wracks erzählten, in denen sie hausten, da unten auf dem Meeresgrund, in den grün schillernden Alleen.
»Sehen Sie«, sagte Carlyle leise, »das ist die Schönheit, die ich will. Schönheit muss erstaunlich sein, verblüffend – sie muss dich packen wie ein Traum, wie die wundervollen Augen eines Mädchens.«
Er drehte sich zu ihr herum, doch sie war still.
»Nicht wahr, Sie können das verstehen, Anita – ich meine, Ardita?«
Auch diesmal gab sie keine Antwort. Sie hatte eine Weile tief und fest geschlafen.
IV
In der prallen, gleißenden Mittagssonne des folgenden Tages erwies ein rätselhaftes Etwas vor ihnen auf dem Meer sich wie von ungefähr als kleine, grünlich graue Insel, die an ihrem nördlichen Ende aus einem großen granitenen Riff zu bestehen schien, welches nach Süden hin, quer durch einen etwa eine Meile breiten Streifen von sattgrün leuchtenden Sträuchern und Gräsern, abfiel, hin zu einem Sandstrand, der sachte in die Brandung überging. Ardita, die lesend auf ihrem Lieblingssofa saß, hatte soeben die letzte Seite von Aufruhr der Engel hinter sich gebracht; sie schlug das Buch zu und blickte auf und sah das Inselchen, und da stieß sie einen Freudenschrei aus und rief nach Carlyle, der trübsinnig an der Reling stand.
»Ist es das da? Ist das der Ort, wo Sie hinwollten?«
Carlyle zuckte gleichgültig die Achseln.
»Sie haben mich ertappt.« Er hob die Stimme und rief nach dem Burschen, der den Skipper spielte: »Ach, sag mal, Babe, ist das da deine Insel?«
Der Mulatte steckte seinen winzigen Kopf hinterm Ruderhaus hervor.
»Jassah! Die da issis, oh jah!«
Carlyle setzte sich zu Ardita aufs Sofa.
»Sieht doch ganz anständig aus, nicht wahr?«
»Ja, das schon«, stimmte sie ihm zu, »als Versteck find ich sie allerdings ein bisschen klein.«
»Sie hoffen wohl immer noch auf die Funksprüche, die Ihr Onkel kreuz und quer über den Ozean loslassen wollte?«
»Nein«, erwiderte Ardita freiheraus. »Ich bin ganz auf Ihrer Seite. Ich tät mich wirklich freuen, wenn Sie’s schaffen und davonkommen.«
Er lachte.
»Sie sind unsere Glücksfee. Ich schätze, wir müssen Sie bei uns behalten, als Maskottchen – jedenfalls fürs Erste.«
»Sie können mich ja nicht gut bitten zurückzuschwimmen«, sagte sie kühl. »Und wenn Sie’s dennoch tun, dann fang ich an, basierend auf Ihrer nicht enden wollenden Lebensgeschichte, die Sie mir gestern erzählt haben, Groschenromane zu schreiben.«
Er wurde rot und zuckte leicht zusammen.
»Tut mir wirklich leid, dass ich Sie gelangweilt habe.«
»Aber nicht doch, Sie haben mich nicht gelangweilt – höchstens ganz zum Schluss, wo’s darum ging, dass Sie wütend waren, weil Sie nicht mit den feinen Damen tanzen durften, für die Sie Ihre Musik gespielt haben.«
Ärgerlich stand er auf.
»Sie sind ein widerliches kleines Schandmaul.«
»Oh, Verzeihung«, sagte sie und ließ die Worte in ein Lachen überfließen, »ich bin es nicht gewohnt, mich von Männern mit Geschichten über ihre Lebensziele ergötzen zu lassen, zumal, wenn dieses Leben so todplatonisch ist.«
»Ach ja? Und womit ergötzen die Männer Sie sonst so?«
»Ach, na ja, die reden halt von mir«, sagte sie gähnend. »Die sagen mir, ich sei der Inbegriff der Jugend und der Schönheit.«
»Und was sagen Sie dann?«
»Nun ja, ich stimme ihnen wortlos zu.«
»Sagt Ihnen denn tatsächlich jeder Mann, dem Sie begegnen, dass er Sie liebt?«
Ardita nickte.
»Warum denn nicht? Das ganze Leben ist doch weiter nichts als ein Hinstreben zu und ein Wiederabstandnehmen von dem einen Satz ›Ich liebe dich‹.«
Carlyle setzte sich lachend hin. »Stimmt! In der Tat! Das ist – das ist nicht schlecht. Haben Sie sich das selber ausgedacht?«
»Ja, genauer gesagt, ich hab’s herausgefunden. Das hat aber nichts weiter zu bedeuten. Es ist einfach bloß geistreich.«
»Es ist eine Bemerkung, die typisch ist für Ihre Kreise«, sagte er ernst.
»Ach nein«, fiel sie ihm unwirsch ins Wort, »jetzt fangen Sie bloß nicht schon wieder damit an, mir Vorträge über die Aristokratie zu halten! Leuten, die sich so früh am Morgen schon ereifern können, trau ich nicht übern Weg. Das ist so eine milde Form von Wahnsinn – eine Art Frühstücksrausch. Am Morgen soll man schlafen, schwimmen und sich keine Sorgen machen.«
Zehn Minuten später waren sie in einem weiten Bogen herumgeschwenkt, als wollten sie die Insel von Norden her ansteuern.
»Irgendwo ist da ein Trick dabei«, kommentierte Ardita nachdenklich das Manöver. »Er kann doch nicht im Ernst an diesem Riff dort ankern wollen.«
Inzwischen nahmen sie geradewegs Kurs auf den massiven Felsen, der mit Sicherheit einiges über dreihundert Meter hoch war, und erst als sie nur noch fünfzehn Meter davon entfernt waren, begriff Ardita, was sie vorhatten. Da klatschte sie vor Freude in die Hände. In dem Riff gab es einen Spalt, der aber völlig unsichtbar war, weil ihn ein sonderbar geformter Felsvorsprung verdeckte; durch diesen Spalt gelangte die Yacht hinein und durchquerte ein schmales, von hohen grauen Wänden gesäumtes Seegatt, das kristallklares Wasser führte. Schließlich gingen sie in einer eigenen kleinen Welt in Grün und Gold vor Anker, einer spiegelglatten, golden glänzenden, ringsherum von winzig kleinen Palmen eingerahmten Bucht; das Ganze sah aus wie jene Landschaften, die Kinder mit Spiegeln als Seen und aus Zweigen gebastelten Bäumchen im Sandkasten errichten.
»Gar nicht mal so übel!«, rief Carlyle aufgeregt. »Ich würde sagen, unser kleiner Nigger hier kennt sich verdammt gut aus in dieser Ecke vom Atlantik.«
Sein Überschwang schien anstreckend zu sein, denn auch Ardita war ganz aus dem Häuschen.
»Das ist ein absolut todsicheres Versteck!«
»Ach je, gewiss doch! Ganz genauso wie die Inseln in den Büchern, die Sie immer lesen.«
Das Beiboot wurde in den goldenen See gelassen, sie ruderten an Land.
»Los, kommen Sie«, sagte Carlyle, als sie im schlammigen Sand auf Grund gelaufen waren, »wir erforschen das Gelände.«
Der Rahmen, den die Palmen bildeten, war seinerseits umrahmt von einem ungefähr eine Meile breiten Streifen Sand. Dem folgten sie nach Süden, durchstreiften einen weiteren Ring von tropischem Bewuchs und kamen schließlich an einem unberührten perlmuttergrauen Strand heraus, wo Ardita ihre braunen Golfschuhe von sich schleuderte – die Angewohnheit, Strümpfe zu tragen, hatte sie anscheinend ein für alle Mal aufgegeben – und ins Wasser watete. Dann schlenderten sie zur Yacht zurück, wo der unermüdliche Babe ihnen schon einen kleinen Imbiss vorbereitet hatte. Oben an der Nordseite des hohen Riffs hatte er einen Späher postiert, der das Meer nach beiden Seiten beobachtete – nur zur Sicherheit, denn eigentlich ging er davon aus, dass dieses Seegatt praktisch unbekannt war; immerhin war es auf keiner einzigen Karte verzeichnet gewesen.
»Wie heißt die eigentlich?«, fragte Ardita. »Ich meine, diese Insel hier.«
»Nix haben kein Name nich«, gluckste Babe. »Heißen einfach Insel und nix weita.«
Am späten Nachmittag saßen sie, mit dem Rücken an mächtige Felsbrocken gelehnt, auf dem höchsten Teil des Riffs, und Carlyle skizzierte Ardita in groben Zügen, was er vorhatte. Er war sich sicher, dass sie unterdessen hinter ihm her waren. Den Gesamterlös des Coups, den er gelandet hatte und über den sie näher aufzuklären er sich nach wie vor weigerte, bezifferte er auf knapp unter einer Million Dollar. Er gedenke, für mehrere Wochen hier unterzutauchen und sich dann unter wohlweislicher Meidung der üblichen Reiserouten gen Süden aus dem Staub zu machen, Kap Horn zu umfahren und Kurs zu nehmen auf Callao in Peru. Die Einzelheiten, beispielsweise die Beschaffung von Kohlen und Proviant, wolle er ganz allein Babe überlassen, der offenbar schon in jeder nur denkbaren Stellung auf diesen Gewässern unterwegs gewesen war, vom Schiffsjungen auf einem Kaffeefrachter bis hin zum Ersten Offizier auf einem brasilianischen Piratenschiff, dessen Kapitän man vor kurzem aufgehängt hatte.
»Als Weißer wär er längst schon König von Südamerika«, sagte Carlyle pathetisch. »So ein intelligenter Bursche! Gegen den ist Booker T. Washington geradezu ein Schwachkopf. Er hat die Arglist sämtlicher Rassen und Völker, deren Blut in seinen Adern fließt, und das sind mindestens ein halbes Dutzend – ungelogen. Mich betet er an, weil ich auf dieser Welt der Einzige bin, der besser Ragtime spielen kann als er. Früher haben wir zusammen unten in New York an den Kais gesessen, er mit seinem Fagott und ich mit meiner Oboe, und haben die tausend Jahre alten afrikanischen Harmonien so lange mit Molltonarten verschnitten, bis die Ratten an den Pfählen hochgekrabbelt kamen und knurrend und quiekend um uns rumsaßen, wie Hunde vor ’nem Grammophon.«
»Man kann nie wissen, vielleicht warn’s ja welche«, platzte Ardita lachend heraus.
Carlyle grinste.
»Ich schwör’s Ihnen, das ist die reine Wah–«
»Und wenn Sie in Callao sind, wie soll’s dann weitergehn?«, fiel sie ihm ins Wort.
»Dann schiff ich mich nach Indien ein. Ich will ein Radscha werden. Im Ernst. Ich lass mich irgendwo in Afghanistan nieder, hab ich mir überlegt, ich kauf mir einen Palast und einen guten Namen, und dann, so nach fünf Jahren ungefähr, tauch ich mit einem fremdländischen Akzent und einer geheimnisvollen Vergangenheit in England wieder auf. Aber erst mal geht’s nach Indien. Wissen Sie, man erzählt sich, das ganze Gold, das in der Welt ist, soll angeblich nach und nach wieder zurück nach Indien fließen. Find ich irgendwie faszinierend. Und außerdem will ich Zeit zum Lesen haben – um Unmengen von Büchern zu lesen.«
»Und danach?«
»Danach«, erwiderte er herausfordernd, »kommt die Aristokratie dran. Lachen Sie mich ruhig aus – ich weiß jedenfalls wenigstens, was ich will, das müssen Sie schon zugeben, und damit weiß ich höchstwahrscheinlich mehr als Sie.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Ardita und holte ihr Zigarettenkästchen aus der Tasche, »zu dem Zeitpunkt, als Sie hier angekommen sind, waren gerade alle meine Freunde und die ganze Verwandtschaft in Aufruhr, weil ich eben sehr wohl wusste, was ich wollte.«
»Nämlich was?«
»Einen Mann.«
Er starrte sie an.
»Sie meinen, Sie waren verlobt?«
»Sozusagen. Eigentlich war ich fest entschlossen, gestern Abend – mir ist, als wär inzwischen eine Ewigkeit vergangen – heimlich an Land zu gehn und mich in Palm Beach mit ihm zu treffen, aber dann kamen Sie an Bord. Er wartet dort auf mich mit einem Armband, das früher der russischen Zarin Katharina gehörte. Jetzt fangen Sie aber nicht gleich wieder an, irgendwas von Aristokratie zu faseln«, warf sie rasch ein. »Ich fand ihn einfach gut, weil er so viel Phantasie gehabt hat und so unheimlich mutig war in seinen Überzeugungen.«
»Aber Ihre Familie war dagegen, ja?«
»Jedenfalls der schäbige Rest von Familie, den ich noch habe, genauer gesagt – mein blöder Onkel und meine noch blödere Tante. Er hat sich anscheinend mit so einer Rothaarigen eingelassen, irgendeiner Mimi Dingsbums – das sei alles schrecklich aufgebauscht worden, sagt er, und mich belügt kein Mann – und außerdem, was früher war, das ist mir eh schnurzpiepegal; für mich zählt einzig und allein die Zukunft. Und wer mich liebt, der amüsiert sich nicht mit anderen. Da tät ich schon drauf achten. Ich hab zu ihm gesagt, er soll sie fallen lassen wie ’ne heiße Kartoffel, und das hat er getan.«
»Sie machen mich ja richtig eifersüchtig«, sagte Carlyle mit finsterer Miene, doch dann lachte er. »Ich schätze mal, ich muss Sie mitnehmen bis nach Callao. Dort leih ich Ihnen dann das nötige Geld für die Rückreise in die Staaten. Und in der Zwischenzeit haben Sie Gelegenheit, sich die Sache mit diesem Herrn da noch mal gründlich durch den Kopf gehn zu lassen.«
»Wie reden Sie denn mit mir?!«, fauchte Ardita. »Ich lasse mich nicht bevormunden, von niemandem! Verstehen Sie?«
Er lachte, aber plötzlich traf ihn ihre eiskalte Wut, und er kühlte ab und schwieg einigermaßen beschämt.
»Tut mir leid«, probierte er es leicht verlegen.
»Ach was, hören Sie auf, sich zu entschuldigen! Ich hasse es, wenn Männer in diesem männlich-zugeknöpften Ton ›Tut mir leid‹ sagen. Halten Sie doch einfach die Klappe!«
Es entstand eine Pause, die Carlyle ziemlich unbehaglich fand, was Ardita freilich gar nicht zu bemerken schien, denn sie saß ganz zufrieden da, ließ sich ihre Zigarette schmecken und schaute auf das glänzende Meer. Und im nächsten Moment krabbelte sie hinaus auf den Felsen, legte sich auf den Bauch und guckte in die Tiefe. Carlyle, der sie beobachtete, wunderte sich, wie graziös sie war, und das buchstäblich in jeder Lebenslage.
»Oh, gucken Sie doch mal, da unten!«, rief sie. »Diese Felsvorsprünge da, das sind ja richtige Stufen. Ganz breit und alle in verschiedenen Höhen.«
Er legte sich neben sie und sah mit ihr zusammen an der schwindelerregend steilen Wand hinunter.
»Heute Nacht gehn wir schwimmen!«, sagte sie aufgeregt. »Im Mondenschein.«
»Wolln Sie nicht lieber vom Strand aus ins Wasser gehn, drüben auf der andern Seite?«
»Kommt gar nicht in Frage. Hechtsprung ist meine Leidenschaft. Sie können den Badeanzug von meinem Onkel nehmen, allerdings sehn Sie da drin wahrscheinlich aus, als ob Sie ’n Jutesack anhaben, mein Onkel ist nämlich sehr schwabbelig. Ich hab so ’n Einteiler, damit hab ich schon an der gesamten Atlantikküste von Biddeford Pool bis runter nach St. Augustine die Eingeborenen geschockt.«
»Ich schätze mal, Sie sind ’ne echte Sportskanone.«
»Ja, ich bin ’ne ziemlich gute Schwimmerin. Und hübsch bin ich auch. Letzten Sommer hat ein Bildhauer oben in Rye zu mir gesagt, meine Waden sind fünfhundert Dollar wert.«
Darauf schien sich jede Antwort zu erübrigen, weshalb Carlyle es vorzog, zu schweigen, und sich lediglich erlaubte, stillvergnügt in sich hineinzulächeln.
V
Als sich die Nacht in Schattenblau und Silbergrau herniedersenkte, ruderten sie durch die enge, schimmernde Wasserrinne, banden das Boot an einem Felsvorsprung fest und kletterten zusammen das Riff hinunter. Die erste von den breiten Stufen, die sie von oben gesehen hatten, befand sich in drei Meter Höhe und bildete so etwas wie ein natürliches Sprungbrett. Dort setzten sie sich im hellen Mondlicht nieder und schauten hinab in die schwache, doch noch immer unermüdliche, wenn auch der einsetzenden Ebbe wegen allmählich schwächer werdende Brandung.
»Sind Sie glücklich?«, fragte er unvermittelt.
Sie nickte.
»Am Meer immer. Wissen Sie, was?«, fuhr sie fort. »Ich denke schon den ganzen Tag darüber nach, dass wir uns irgendwie ähnlich sind, Sie und ich. Wir sind beide Rebellen – nur aus unterschiedlichen Gründen. Vor zwei Jahren, ich war gerade achtzehn geworden, und Sie waren…«
»Fünfundzwanzig.«
»…na ja, da waren wir doch im herkömmlichen Sinne beide sehr erfolgreich. Ich als absolut umwerfende Debütantin und Sie als gefragter Musiker, der soeben eine Festanstellung bei der Army bekommen hatte…«
»Gentleman per Kongressbeschluss«, warf er spöttisch ein.
»Also, jedenfalls haben wir uns beide untergeordnet. So richtig abgeschliffen waren unsere Kanten vielleicht noch nicht, aber zumindest hatten wir sie eingezogen. Tief im Innern aber war bei uns beiden irgendwas, das ließ uns nach mehr Glück verlangen. Ich wusste nicht, was es war, das mir fehlte. Ich ging von einem Mann zum andern, rastlos, ungeduldig, fügte mich von Monat zu Monat immer weniger und wurde immer unzufriedener. Manchmal saß ich da und kaute mir auf den Backentaschen rum und dachte, ich werd verrückt – ich hatte das beängstigende Gefühl, dass alles so entsetzlich flüchtig ist. Ich wollte alles jetzt sofort –jetzt – jetzt! Da stand ich nun mit meiner Schönheit – und ich bin doch wirklich schön, oder etwa nicht?«
»Doch«, stimmte Carlyle versöhnlich zu.
Ardita stand unvermittelt auf.
»Moment mal, warten Sie. Ich will dieses herrlich aussehende Meer probieren.«
Sie trat an die äußerste Kante des stufenartigen Felsvorsprungs, und gleich darauf schoss sie hoch über dem Wasserspiegel dahin, rollte sich in der Luft zusammen und überschlug sich, streckte sich dann zu voller Länge aus, tauchte schließlich kerzengerade ins Wasser ein und hatte einen perfekten Hechtsprung hingelegt.
Eine Minute später wehte ihre Stimme zu ihm herauf.
»Verstehen Sie, ich hab bloß noch gelesen, den ganzen Tag und fast die ganze Nacht. Mit der Zeit hab ich schon jegliche Geselligkeit gehasst…«
»Kommen Sie wieder rauf«, unterbrach er sie. »Was, um alles in der Welt, machen Sie denn da unten?«
»Ich lass mich einfach auf dem Rücken treiben. Bin gleich wieder oben. Hören Sie mir doch mal zu. Das Einzige, was mir noch Freude machte, war, andere Leute zu schockieren; wenn ich auf einen Maskenball ging, hab ich irgendetwas angezogen, das vollkommen unmöglich aussah, aber charmant; mit den größten Schürzenjägern von New York bin ich rumgezogen und hab mich mehr als einmal höllisch in was reingeritten und unglaublich in der Tinte gesessen.«
Ihre Worte waren vom Plätschern des Wassers begleitet, und dann hörte er ihren heftigen Atem und sah, wie sie an der Seite hochkletterte und wieder zu ihm heraufkam.
»Na los schon, rein mit Ihnen!«, rief sie.
Gehorsam stand er auf und sprang. Als er pudelnass wieder auftauchte und sich an der Felswand hochzog, sah er, dass Ardita nicht mehr da war, doch dann, nach einer kleinen Schrecksekunde, hörte er drei Meter über sich, wo die nächsthöhere Stufe war, ihr glockenhelles Lachen. Er kletterte zu ihr hinauf, und beide saßen einen Moment lang schweigend da, hatten die Arme um die Knie geschlungen und keuchten noch ein wenig von der Klettertour.
»Meine Familie hat komplett durchgedreht«, sagte sie unvermittelt. »Die wollten mich auf der Stelle unter die Haube bringen. Und als ich schon nahe daran war, zu glauben, dass das Leben weit davon entfernt ist, lebenswert zu sein, da habe ich etwas gefunden« – ihr Blick verklärte sich und ging zum Himmel –, »ja, ich habe etwas gefunden!«
Carlyle wartete ab, bis sie damit herausplatzte.
»Mut – ganz einfach; Mut als Lebensregel, und als etwas, wovon man nie ablassen darf. Und von da an hab ich diesen ungeheuren Glauben in mich selbst entwickelt. Nach und nach erkannte ich, dass meine ganzen Idole von früher immer in irgendeiner Form Mut bewiesen haben und dass genau das mich so an ihnen fasziniert hat. Von da an lernte ich, einen Unterschied zu machen zwischen dem Mut und den anderen Dingen, die es im Leben gibt. Alle möglichen Formen von Mut – der blutüberströmt zu Boden gegangene Preisboxer, der wieder aufsteht, um weiterzumachen – ich ließ mich von Männern zu Boxkämpfen mitnehmen –, die Frau, die bessere Tage gesehn hat und einfach durchrauscht durch ein Katzennest und von oben herab daraufschaut, als ob es Schlamm wär unter ihren Füßen; immer zu dem zu stehen, was einem von jeher lieb und teuer war; absolut nichts auf anderer Leute Meinungen geben – einfach so leben, wie ich immer leben wollte, und auch auf meine eigene Art sterben. – Haben Sie die Zigaretten mit raufgebracht?«
Er reichte ihr eine rüber und hielt ihr schweigend ein Streichholz hin.
»Trotzdem«, fuhr Ardita fort, »standen die Männer weiter Schlange – alte und junge, die mir nicht das Wasser reichen konnten, weder geistig noch körperlich, jedenfalls die meisten, aber alle mit dem dringenden Wunsch, mich zu bekommen – diese doch recht glanzvolle und stolze Tradition, die ich mir um mich herum aufgebaut hatte, in ihren Besitz zu bringen. Verstehen Sie?«
»Im Großen und Ganzen schon. Sie haben nie eine Niederlage erlitten, und Sie haben sich auch nie entschuldigt.«
»Nie!«
Mit einem Satz war sie vorn an der Kante, verharrte einen Augenblick lang, stand wie eine Gekreuzigte vor dem Prospekt des Himmels, beschrieb dann eine dunkle Parabel und tauchte sechs Meter weiter unten zwischen zwei kleinen, silbernen Wellen ins Wasser ein, ohne dass es auch nur einen einzigen Spritzer gab.
Abermals wehte ihre Stimme zu ihm herauf.
»Und Mut, das heißt für mich, dass ich mich durch diesen ganzen trüben grauen Nebel hindurchackere, der sich auf das Leben niedersenkt – dass ich mich nicht nur über Menschen und Umstände hinwegsetze, sondern auch über die Freudlosigkeit des Lebens. Gewissermaßen ein Bestehen auf dem Wert des Lebens und der Kostbarkeit flüchtiger Dinge.«
Sie kam wieder heraufgeklettert, und während sie das letzte Wort sprach, erschien ihr Kopf mit dem feuchten strohblonden, zu beiden Seiten symmetrisch nach hinten anliegenden Haar auf Carlyles Höhe.
»Das ist ja alles schön und gut«, wandte er ein. »Sie können das natürlich gern als Mut bezeichnen, aber das Fundament, auf das Ihr Mut sich gründet, ist doch genau genommen weiter nichts als angeborener Stolz. Sie sind zu dieser aufmüpfigen Haltung erzogen worden. In meinem grauen Leben ist sogar der Mut grau und leblos.«
Ardita saß dicht an der Kante, hielt ihre Knie umschlungen und schaute traumverloren hoch zum weißen Mond; etwas weiter hinten, in eine Felsspalte gequetscht wie ein grotesker Gott, hockte Carlyle.
»Ich will ja hier nicht die Pollyanna spielen«, fing sie an, »aber Sie haben mich immer noch nicht richtig verstanden. Mein Mut ist Glaube – Glaube an die ewige Unverwüstlichkeit meiner selbst – daran, dass die Freude irgendwann zurückkehrt – und die Hoffnung und die Spontaneität. Und bis es so weit ist, das spüre ich, muss ich die Lippen fest geschlossen halten und das Kinn hoch emporrecken und die Augen weit offen halten – albern zu grinsen ist dabei nicht zwingend nötig. Oh, ich bin durch die Hölle gegangen, mehr als einmal, ohne zu jammern – und die weibliche Hölle ist tödlicher als die männliche.«
»Und was, wenn nun der Vorhang für Sie bereits runtergeht – ich meine, endgültig –, bevor die Freude und die Hoffnung und so weiter zurückgekehrt sind?«, wandte Carlyle ein.
Ardita stand auf, ging zur Felswand und kletterte mit einiger Anstrengung auf den nächsten stufenartigen Vorsprung, der noch einmal drei, vier Meter höher lag.
»Na was schon?«, rief sie zurück. »Dann hätte ich gewonnen!«
Er beugte sich so weit nach vorn, dass er sie sehen konnte.
»Von da oben sollten Sie aber lieber nicht springen! Da brechen Sie sich nämlich das Kreuz«, sagte er rasch.
Ardita lachte.
»Ich doch nicht!«
Sie breitete langsam die Arme aus, stand da wie ein Schwan und strahlte in ihrer jugendlichen Vollkommenheit einen Stolz aus, der Carlyle das Herz wärmte.
»Weit die Arme ausgebreitet, durchschreiten wir die schwarzen Lüfte«, rief sie, »strecken nach hinten aus die Beine wie der Delphin die Schwanzflosse und denken uns im Stillen, dass wir dieses Silber dort drunten nie erreichen werden, bis wir auf einmal warm von allen Seiten davon umfangen sind und lauter kleine Wellen küssend uns liebkosen.«
Und damit war sie in der Luft. Carlyle hielt unwillkürlich den Atem an. Ihm war nicht klar gewesen, dass der Sprung weit über zehn Meter in die Tiefe ging. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er das kurze, satte Klatschen hörte, mit dem sie eintauchte.
Und in dem Moment, als ihr leichtes, nasses Lachen seitlich am Riff heraufgeweht kam und an seine besorgten Ohren drang und er zugleich sein eigenes frohes, erleichtertes Seufzen vernahm, in dem Moment wurde ihm klar, dass er sie liebte.
VI
Die Zeit, die keine Hühnchen rupft und keine Süppchen kocht, sie überschüttete die beiden mit drei Tagen Nachmittag. Wenn die Sonne eine Stunde nach Tagesanbruch das Bullauge ihrer Kabine zum Funkeln brachte, stand Ardita fröhlich auf, zog ihren Badeanzug an und ging hinauf an Deck. Sobald die Schwarzen sie erblickten, ließen sie ihre Arbeit sein, versammelten sich lachend und schwatzend an der Reling und schauten zu, wie sie flink wie eine Elritze auf der klaren Wasserfläche oder auch unter Wasser dahinschoss. Und in der Abendkühle ging sie dann noch einmal schwimmen – und lümmelte, mit Carlyle Zigaretten rauchend, auf dem Riff herum; oder sie lagen am Südstrand im Sand, sprachen wenig und schauten zu, wie der Tag mit üppigem Farbenspiel und tragischer Attitüde hinüberglitt in die unendliche Melancholie einer tropischen Nacht.
Und mit den langen, sonnigen Stunden verflüchtigte sich auch Arditas Vorstellung, das Ganze sei nur eine zufällige, verrückte Episode, ein romantisches Frühlingsmärchen im öden Einerlei der Wirklichkeit. Sie hatte schon Angst vor der Zeit, wenn er sich auf den Weg gen Süden machen würde; sie hatte Angst vor all den Eventualitäten, die auf sie einstürmten; plötzlich waren Gedanken sorgenvoll, Entscheidungen verhasst. Wäre in ihrer von heidnischen Ritualen erfüllten Seele Raum gewesen für Gebete, sie hätte darum gebetet, dass das Leben doch nur einmal eine Zeitlang unbehelligt bleiben möge, träge genug, um sich dem rasch dahineilenden, naiven Strom von Carlyles Ideen zu fügen, seiner lebhaften Knabenphantasie und dieser Ader von Besessenheit, von der sein Naturell durchzogen war und die sein ganzes Handeln färbte.
Aber das hier ist weder eine Geschichte von zwei Leuten auf einer Insel, noch geht es hier in erster Linie um eine Liebe, die aus Abgeschiedenheit geboren wird. Es handelt sich vielmehr um die Beschreibung zweier Charaktere, und die idyllische Kulisse und dass die Palmen des Golfstroms die Umrahmung bilden, all das ist ist reiner Zufall. Die meisten von uns sind froh, dass sie am Leben sind und sich vermehren, und kämpfen für das Recht auf diese beiden Dinge; die Zwangsvorstellung aber, man könne selbst sein Schicksal lenken, und der von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuch, es zu tun, das bleibt einer glücklichen – oder auch unglücklichen – Minderheit vorbehalten. Für mich ist an Ardita das Interessante eben ihr Mut, der seinen Glanz verlieren wird, genau wie die Schönheit und die Jugend.
»Nimm mich mit«, sagte sie einmal, als sie spät am Abend noch träge im Schatten der ausladenden Palmen saßen. Die Schwarzen hatten ihre Musikinstrumente an Land gebracht, und die bizarren Klänge des Ragtime vermischten sich mit dem warmen Atem der Nacht. »Ich würde furchtbar gerne in zehn Jahren als märchenhaft reiche Oberkasteninderin zurückkehren«, fuhr sie fort.
Carlyle warf einen raschen Blick zu ihr hinüber.
»Weißt du was? Das lässt sich machen.«
Sie lachte.
»Ist das ein Heiratsantrag? Extrablatt! Ardita Farnam wird Piratenbraut. Mädchen aus der High Society von Ragtime-Bankräuber entführt.«
»Es war keine Bank.«
»Und was war’s dann? Warum erzählst du mir nicht, was es war?«
»Weil ich dir deine Illusionen nicht zerstören will.«
»Ich mach mir doch gar keine Illusionen über dich, mein Lieber.«
»Ich meine ja auch deine Illusionen über dich selber.«
Sie blickte verdutzt auf. »Über mich selber?! Was hab ich denn bitte schön mit irgendwelchen Straftaten zu tun, die du hier oder da begangen hast?«
»Das wird sich weisen.«
Sie langte rüber und klopfte ihm auf die Hand.
»Lieber Mr. Curtis Carlyle«, sagte sie mit sanfter Stimme, »sind Sie in mich verliebt?«
»Als ob das wichtig wäre.«
»Aber natürlich ist es das – weil ich in dich verliebt bin, glaube ich.«
Er sah sie spöttisch an.
»Womit deine Bilanz für den Monat Januar auf insgesamt ein halbes Dutzend angestiegen wäre«, mutmaßte er. »Und wenn ich’s nun drauf ankommen lasse und dich wirklich bitte, mich nach Indien zu begleiten?«
»Soll ich?«
Er zuckte die Achseln.
»Wir können in Callao heiraten.«
»Was für ein Leben kannst du mir denn bieten? Sei mir nicht böse, aber mal im Ernst – was sollte denn wohl aus mir werden, wenn dich die Leute, die auf diese zwanzigtausend Dollar Belohnung scharf sind, eines schönen Tages aufstöbern?«
»Ich denke, du hast keine Angst?«
»Hab ich ja auch nicht – aber ich werde nicht, bloß um einem Mann meine Furchtlosigkeit zu beweisen, einfach mein Leben wegwerfen.«
»Ach, wärst du doch bloß arm gewesen! Ein armes, einfaches kleines Mädchen im warmen Land der Kühe, das träumt, es wäre auf der anderen Seite vom Zaun.«
»Wär das nicht schön gewesen?«
»Dann hätt ich meine Freude dran gehabt, dich in Erstaunen zu versetzen – dir dabei zuzuschauen, wie du vor den Dingen stehst und große Augen machst. Ach, wenn es doch bloß Dinge gäbe, die du wirklich haben willst! Verstehst du, was ich meine?«
»Ich weiß schon – wie die Mädchen, die sich an den Schaufensterscheiben der Juweliergeschäfte die Nase platt drücken.«
»Ja – und die die große rechteckige Armbanduhr haben wollen, die aus Platin mit den ganzen Diamanten rund ums Zifferblatt herum. Aber dann würdest du sagen, die ist zu teuer, und würdest dir stattdessen eine aus Weißgold aussuchen, die nur hundert Dollar kostet. Doch ich würde sagen: ›Teuer? Da bin ich aber andrer Ansicht!‹ Und dann würden wir reingehn, und schon würde dieses Platinding an deinem Handgelenk glitzern.«
»Ach, das hört sich so lieb an und so geschmacklos – und lustig, nicht wahr?«, murmelte Ardita.
»Ja, nicht wahr? Kannst du dir nicht vorstellen, wie wir durch die Weltgeschichte reisen und nur so um uns werfen mit dem Geld, und wie wir der Schwarm sämtlicher Kellner und Hotelpagen sind? Oh, selig sind, die einfach reich sind, denn sie werden die Erde besitzen!«
»Ich wünschte ganz ehrlich, wir könnten so sein.«
»Ich liebe dich, Ardita«, sagte er zärtlich.
Da verlor ihr Gesicht auf einmal einen Augenblick lang sein kindliches Aussehen und wurde eigentümlich ernst.
»Ich liebe es, mit dir zusammen zu sein«, sagte sie, »ich kenne keinen Mann, mit dem ich so gerne zusammen bin wie mit dir. Und ich liebe dein Aussehen und dein dunkles altes Haar und die Art, wie du seitwärts über die Reling springst, wenn wir an Land kommen. Ja, wirklich, Curtis Carlyle, ich liebe all die Dinge, die du tust, wenn du vollkommen natürlich bist. Ich glaube, du hast Mut und Kraft, und du weißt ja, wie ich darüber denke. Manchmal spür ich, wenn du da bist, plötzlich die Versuchung, dich zu küssen und dir zu sagen, du bist einfach nur ein idealistischer kleiner Junge mit jeder Menge Kastendenkenquatsch im Kopf. Wenn ich ein klein wenig älter wäre und mich ein kleines bisschen mehr langweilen würde, vielleicht ginge ich dann tatsächlich mit dir mit. So aber mach ich, glaub ich, lieber kehrt und heirate – diesen anderen Mann.«
Drüben, am gegenüberliegenden Ufer des silbernen Sees, bewegten sich die Schwarzen schlängelnd und zuckend im Mondschein, wie Akrobaten, die aus der Übung sind und alle ihre Tricks durchgehen müssen, um ihre überschüssige Energie loszuwerden. Im Gänsemarsch liefen sie herum, in konzentrischen Kreisen, bald den Kopf in den Nacken geworfen, bald über ihre Instrumente gebeugt wie flötende Faune. Und unaufhörlich heulten die Posaune und das Saxophon ihre wimmernde Melodie, mal jubelnd und rebellisch, mal klagend und gespenstisch wie ein Totentanz aus dem Herzen des Kongo.
»Komm, wir tanzen!«, rief Ardita. »Bei diesem wunderbaren Jazz hält es mich einfach nicht auf meinem Platz.«
Er nahm ihre Hand und führte sie zu einem breiten Streifen, der voll im Schein des Mondes lag und wo der Sandboden schön hart und fest war. Wie Motten, die sich treiben lassen, schwebten sie unterm hellen, dunstverhangenen Licht dahin, und während die skurrile Symphonie weinte, frohlockte, bebte und verzweifelt schluchzte, kam Ardita der letzte Rest von Realitätssinn abhanden, sie überließ sich vollends den verträumten Düften des Sommers und der Tropenblumen und den unendlichen bestirnten Weiten über ihr, und ihr war, als würde sie, wenn sie die Augen öffnete, erkennen, dass sie mit einem Geist im Tanz sich wiegte, forttanzte in ein Land, das sie sich selbst mit ihrer Phantasie erschaffen hatte.
»Das nenn ich einen exklusiven Tanzabend im kleinsten Kreis«, flüsterte er.
»Ich komme mir ganz schön verrückt vor – aber wunderbar verrückt!«
»Wir sind verzaubert. Dort oben an der Flanke dieses Riffs, da stehen Generationen und Abergenerationen von Kannibalen und schauen uns zu.«
»Und wetten, dass die Kannibalenfrauen sagen, wir tanzten viel zu eng und ich sei schamlos, weil ich ohne meinen Nasenring gekommen bin.«
Sie lachten leise – doch auf einmal erstarb ihr Lachen, denn dort am anderen Ufer hielten die Posaunen inne, mitten im Takt, und die Saxophone stöhnten erschrocken auf und verstummten.
»Was ist denn los?«, rief Carlyle.
Einen Augenblick war alles still, dann erkannten sie den dunklen Schemen eines Mannes, der im Eilschritt um den See herum auf sie zukam. Als er nah genug heran war, sahen sie, es war Babe, und er war ungewöhnlich erregt. Er blieb vor ihnen stehen, nahm Haltung an und stieß keuchend und ohne zwischendurch auch nur einmal Luft zu holen, seine Nachricht hervor.
»Saah, da draußen zikka halbe Meile voraus is eine Siff. Mose, unsa Wache, meinen, sieht sie aus, wie wenn vor Anka liegt.«
»Ein Schiff?«, fragte Carlyle besorgt. »Was denn für ein Schiff?« Sein Gesicht drückte Bestürzung aus, und als Ardita sah, wie auf einmal seine ganze Miene regelrecht in sich zusammenfiel, krampfte sich ihr das Herz zusammen.
»Er sagt, nix wissen, Saah.«
»Haben sie ein Boot runtergelassen?«
»Nein, Saah.«
»Wir gehen rauf«, sagte Carlyle.
Wortlos, sich noch immer bei den Händen haltend wie vorhin, als sie aufgehört hatten zu tanzen, erklommen sie die Anhöhe. Von Zeit zu Zeit spürte Ardita ein nervöses Zucken in Carlyles Hand, als sei ihm gar nicht mehr bewusst, dass er sie festhielt, doch obwohl er ihr weh tat, unternahm sie keinen Versuch, ihm die ihre zu entziehen. Und als sie endlich oben angekommen waren und vorsichtig um das sich als Silhouette vor ihnen abhebende Plateau herum bis an den Rand des Riffes krochen, da kam es ihr so vor, als habe dieser Anstieg eine ganze Stunde lang gedauert. Carlyle warf einen raschen Blick in die Tiefe und stieß unwillkürlich einen leisen Schrei aus. Es war ein Zollboot, Bug und Heck bestückt mit sechszölligen Kanonen.
»Die wissen Bescheid!«, sagte er und schnappte nach Luft. »Die wissen Bescheid! Irgendwo sind sie uns auf die Spur gekommen.«
»Bist du sicher, dass sie von dem Seegatt wissen? Vielleicht halten sie sich ja auch bloß klar, um sich die Insel morgen früh mal näher anzugucken. Die Spalte unten im Riff kann man doch von deren Position aus gar nicht sehn.«
»Sie könnten Feldstecher haben«, sagte er beklommen. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Kurz vor zwei. Vor Tagesanbruch werden sie jedenfalls nichts mehr unternehmen, so viel ist gewiss. Es besteht natürlich immer noch die Chance, dass sie auf Verstärkung warten müssen oder auf ein Kohlenschiff.«
»Ich finde, wir sollten einfach hierbleiben.«
Die Stunden gingen dahin, die beiden lagen nebeneinander, ganz still, das Kinn in die Hand gestützt, wie zwei verträumte Kinder. Hinter ihnen hockten die Schwarzen, geduldig, resigniert, ergeben in ihr Schicksal, und hin und wieder verriet ein sonores Schnarchen, dass es ihnen selbst im Angesicht der Gefahr nicht glücken wollte, ihr unbezwingliches afrikanisches Schlafbedürfnis zu unterdrücken.
Kurz vor fünf kam Babe zu Carlyle herübergeschlichen. Auf der Narcissus gebe es ein halbes Dutzend Flinten, sagte er. Ob es denn etwa schon beschlossene Sache sei, dass man keinen Widerstand leisten werde? Er denke nämlich, sie müssten nur einen Plan haben, dann könnten sie denen einen ganz anständigen Kampf liefern.
Carlyle schüttelte lachend den Kopf.
»Nein, Babe, das da draußen, das sind nicht irgendwelche hispaniolischen Piffpaffsoldaten. Das ist ein Zollschiff. Das wär, als ob du mit Pfeil und Bogen gegen ein Maschinengewehr antrittst. Wenn du unsre Beutel irgendwo vergraben willst, aber so, dass wir sie später wiederfinden, dann geh und mach das. Aber das wird auch nichts nützen – die werden diese Insel von vorne bis hinten umgraben. Wir haben verloren, Babe, und zwar auf ganzer Linie.«
Wortlos senkte Babe den Kopf und machte sich davon, und Carlyle wandte sich Ardita zu und sprach mit heiserer Stimme: »Der da, das ist der beste Freund, den ich je hatte. Der würde für mich sterben und wär noch stolz darauf, wenn ich ihn ließe.«
»Du willst aufgeben?«
»Was bleibt mir denn weiter übrig? Natürlich gibt es immer einen Ausweg – den sichersten Weg –, aber der kann noch warten. Meinen Prozess will ich um keinen Preis verpassen – das wird ein interessantes Experiment in Sachen traurige Berühmtheit. ›Miss Farnam sagt aus, ihr gegenüber habe der Pirat sich jederzeit wie ein Gentleman verhalten.‹«
»Lass das!«, sagte sie. »Es tut mir schrecklich leid.«
Als die Farbe des Himmels nach und nach von Mattblau in Bleigrau überging, gab es an Deck des fremden Schiffes Bewegung; sie machten eine Gruppe von Offizieren in weißen Segeltuchuniformen aus, die an der Reling beieinanderstanden. Sie hatten Feldstecher in der Hand und suchten aufmerksam die kleine Insel ab.
»Es ist alles aus«, sagte Carlyle düster.
»Verdammt!«, flüsterte Ardita. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Wir gehn zurück auf die Yacht«, sagte er. »Das ist mir lieber, als mich hier jagen zu lassen wie ein Opossum.«
Sie stiegen den Berg hinunter und ließen sich von den schweigenden Negern mit dem Ruderboot über den See setzen und zur Yacht bringen. Dort angekommen, fielen sie bleich und erschöpft auf die beiden Korbsofas und warteten.
Eine halbe Stunde später steckte das Zollboot im trübgrauen Frühlicht seine Nase in das Seegatt und blieb stehen, wohl aus Angst, die Bucht könnte zu seicht sein. Die Yacht mit dem Mann und dem Mädchen auf den beiden Sofas und den neugierig über die Reling gelehnt stehenden Schwarzen machte einen so friedlichen Eindruck, dass offenbar kein Widerstand erwartet wurde, denn man ließ gemächlich zwei Boote zu Wasser, von denen eines mit einem Offizier und sechs Matrosen bemannt war, während sich auf dem anderen vier Ruderer befanden und im Heck zwei Grauschädel in Yachtclubjacketts. Ardita und Carlyle standen auf und gingen langsam, beinah wie ihm Traum, aufeinander zu. Und plötzlich blieb er stehen, griff rasch in seine Tasche, zog etwas Rundes, Glitzerndes hervor und hielt es ihr entgegen.
»Was ist das?«, fragte sie verwundert.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber nach der russischen Gravur da innen drin zu schließen, ist es das Armband, das man dir versprochen hatte.«
»Woher um alles in der Welt…«
»Aus einem von den Beuteln da. Verstehst du, Curtis Carlyle und die Six Black Buddies haben mitten in der Show im Tearoom des Hotels in Palm Beach plötzlich ihre Instrumente gegen automatische Gewehre eingetauscht und die Leute ausgeraubt. Und dieses Armband hier, das hab ich einer hübschen, etwas zu stark geschminkten Frau mit roten Haaren abgenommen.«
Ardita runzelte zuerst die Stirn, und dann musste sie lächeln. »So, das hast du getan! Na, du bist aber mutig!«
Er machte eine Verbeugung.
»Das ist doch eine Eigenschaft, für die das Bürgertum bekannt ist«, sagte er.
Nun stürzte sich der Morgen mit Wucht aufs Deck und schleuderte die Schatten seitwärts in die grauen Ecken. Der Tau stieg auf, verwandelte in goldenen Nebel sich, dünn wie ein Traum, und hüllte beide ein, bis sie aussahen wie unendlich flüchtige und schon verblassende Altweibersommerüberbleibsel der späten Nacht. Für einen Augenblick hielten der Himmel und das Meer den Atem an, das Licht des Morgens schlug die rosige Hand dem Leben vor den jungen Mund, und dann kam das mürrische Ächzen eines Ruderboots über den See heran, und sie hörten das Plätschern der Ruder.
Plötzlich, vor dem goldenen Glühen tief im Osten, verschmolzen die zwei anmutigen Schemen zu einem einzigen: Carlyle gab Ardita einen Kuss auf den verwöhnten jungen Mund.
»Auch eine Art von Ruhm«, murmelte er eine Sekunde später.
Sie lächelte zu ihm empor.
»Na, glücklich, ja?«
Arditas Seufzen war ein Segen – eine ekstatische Versicherung, dass sie wirklich und wahrhaftig die Jugend und die Schönheit war und es nie wieder so sehr sein würde wie gerade jetzt. Noch einen Augenblick lang war das Leben Glanz, die Zeit jedoch nur ein Phantom und endlos ihrer beider Kräfte – dann gab es einen dumpfen Knall, ein schabendes Geräusch, das Ruderboot schrammte den Rumpf der Yacht.
Zuerst kamen die beiden Grauschädel die Leiter hochgeklettert, es folgten der Offizier und die zwei Matrosen, die Hand am Revolver. Mr. Farnam verschränkte die Arme vor der Brust und sah seine Nichte an.
»So«, sagte er und nickte bedächtig.
Seufzend löste Ardita sich von Carlyle, und ihr verklärter Blick, der von weit her zu kommen schien, fiel auf die Neuankömmlinge. Ihr Onkel sah, wie sie langsam die Unterlippe vorschob und jenen hochmütigen Schmollmund machte, den er so gut kannte.
»So«, wiederholte er grimmig. »So, das ist also deine Vorstellung von – von Romantik. Durchbrennen wolltest du, mit einem Piraten auf hoher See.«
Ardita sah ihn völlig unbekümmert an.
»Was bist du doch für ein alter Dummkopf!«, sagte sie seelenruhig.
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Nein«, erwiderte sie, und dann nach kurzem Überlegen: »Nein, da ist noch etwas. Da ist noch der bekannte Satz, mit dem ich in den letzten Jahren den größten Teil unserer Gespräche beendet habe: ›Halt die Klappe!‹«
Und damit drehte sie sich um, musterte die zwei alten Männer, den Offizier und die beiden Matrosen mit einem raschen, verächtlichen Blick und stieg stolz die Kajütstreppe hinunter.
Wäre sie freilich nur einen Augenblick länger oben an Deck geblieben, so hätte sie erleben können, wie ihr Onkel ein Geräusch von sich gab, das in den Zwiegesprächen, die sie mit ihm hatte, nur äußert selten zu hören war. Er machte sich mit einem herzhaften, vergnügten Lachen Luft, und der andere alte Mann – der lachte ebenfalls.
Dann wandte dieser andere sich forsch an Carlyle, der der Szene mit kryptisch belustigter Miene beigewohnt hatte.
»Na, Toby«, sagte er heiter, »du unverbesserlicher Narr, du alter Romantiker, du Phantast, hast du dich nun überzeugt, dass sie diejenige ist, die du gesucht hast?«
Carlyle lächelte selbstbewusst.
»Aber natürlich«, sagte er. »In dem Punkt war ich mir von Anfang an ganz sicher, gleich als mir zu Ohren kam, was für ein Wirbelwind sie ist. Drum hab ich ja auch letzte Nacht Babe raufgeholt, damit er die Rakete steigen lässt.«
»Da bin ich aber wirklich froh«, sagte Colonel Moreland ernst. »Wir sind ziemlich dicht an euch drangeblieben, falls dir diese komischen sechs Nigger irgendwie Scherereien machen sollten. Und was haben wir uns Sorgen gemacht, ob wir euch beide dann auch tatsächlich in einer kompromittierenden Situation erwischen«, seufzte er. »Nun ja, mit Speck fängt man Mäuse!«
»Dein Vater und ich, wir sind die ganze Nacht aufgeblieben und haben gehofft, dass alles gut wird. Aber ob es so nun wirklich gut ist? Gott weiß, wie gerne sie dich mag, mein Junge. Schier in den Wahnsinn hat sie mich getrieben. Hast du ihr schon das russische Armband geschenkt, das diese Mimi Dingsbums meinem Detektiv ausgehändigt hat?«
Carlyle nickte.
»Psst!«, sagte er. »Sie kommt an Deck.«
Ardita tauchte oben an der Kajütstreppe auf und warf unwillkürlich einen raschen Blick auf Carlyles Handgelenke. Erstaunt verzog sie das Gesicht. Achtern hatten die Schwarzen wieder angefangen zu singen, und der kühle, taufrische See ließ ihre tiefen Stimmen fröhlich widerhallen.
»Ardita«, sagte Carlyle zögernd.
Sie schwebte einen Schritt auf ihn zu.
»Ardita«, wiederholte er atemlos, »ich muss dir etwas – etwas sagen – muss ich dir – die Wahrheit. Das war nämlich alles ein ausgemachter Schwindel, Ardita. Ich heiße gar nicht Carlyle. In Wirklichkeit heiße ich Moreland, Toby Moreland. Die ganze Geschichte war frei erfunden – aus der Luft gegriffen, aus der dünnen Luft von Florida.«
Sie starrte ihn an, in ihrer Miene wallten abwechselnd Bestürzung, ungläubiges Erstaunen und Wut auf. Die drei Männer hielten den Atem an. Moreland senior ging einen Schritt auf sie zu; Mr. Farnams Unterlippe klappte leicht herunter, während er, starr vor Entsetzen, auf das Donnerwetter wartete.
Doch es blieb aus. Stattdessen begann Ardita plötzlich übers ganze Gesicht zu strahlen, sie lachte leise, und dann trat sie rasch auf den jungen Moreland zu und blickte zu ihm empor, und in ihren grauen Augen war keine Spur von Zorn.
»Kannst du mir schwören«, sagte sie leise, »dass du dir das alles ganz alleine ausgedacht hast?«
»Ich schwöre es«, sagte der junge Moreland beflissen.
Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und gab ihm einen zärtlichen Kuss.
»Was für eine Phantasie!«, sagte sie leise und beinahe neidisch. »Ich möchte, dass du mich mein ganzes Leben lang so süß belügst; du weißt schon, was ich meine.«
Schläfrig wehten die Stimmen der Neger herüber und verschmolzen zu einer Weise, die Ardita sie schon einmal hatte singen hören.
»’n Dieb ist die Zeit;
Freude und Leid
Welkt und erbleicht
Und wird gelb – oh.«
»Und was war nun in diesen Beuteln drin«, fragte sie sanft.
»Florida-Schlamm«, erwiderte er. »Das war eins von den beiden Dingen, die nicht gelogen waren.«
»Das andere kann ich ja vielleicht erraten«, sagte sie; und dann stellte sie sich zur Veranschaulichung ihrer Worte auf die Zehenspitzen und gab ihm einen zärtlichen Kuss.