Bernice’ Bubikopf

 

I

 

Wer am Samstagabend nach Einbruch der Dunkelheit am ersten Abschlag des Golfplatzes stand, konnte die Fenster des Countryclubs als gelben Streifen über einem sehr schwarzen, welligen Ozean leuchten sehen. Die Wellen dieses Ozeans bestanden sozusagen aus den Köpfen etlicher neugieriger Caddies, einiger besonders vorwitziger Chauffeure sowie der tauben Schwester des Golftrainers. Dazu kamen meist ein paar verirrte, zaudernde Wellen, die hätten hineinschwappen können, wenn ihnen danach gewesen wäre; das war der Balkon.

Der erste Rang war drinnen. Er bestand aus einem Kreis von Korbstühlen, die ringsherum die Wände des kombinierten Club- und Ballsaals säumten. Auf den Samstagabendbällen pflegte er überwiegend weiblich besetzt zu sein: ein großes Babel reiferer Damen mit scharfem Auge und eisigem Herzen hinter Lorgnon und stattlichem Busen. Der erste Rang hatte vorwiegend kritische Funktion. Bisweilen bekundete er widerstrebend Bewunderung, niemals aber Beifall, denn unter Damen jenseits der fünfunddreißig gilt es als ausgemacht, dass das junge Volk, das sich im Sommer zum Tanzen versammelt, dies nur mit den schlechtesten Absichten der Welt tut, und wenn man es nicht mit steinernen Blicken bombardiert, wird so manches verirrte Paar in einer Ecke des Ballsaals seltsame, barbarische Intermezzi tanzen, und die attraktiveren, gefährlicheren Mädchen werden sich womöglich in den draußen geparkten Limousinen ahnungsloser ehrbarer Damen küssen lassen.

Und doch ist dieser Kreis von Kritikerinnen der Bühne nicht nah genug, um die Gesichter der Darsteller zu erkennen und die feiner gesponnene Nebenhandlung zu verfolgen. Er kann nur die Nase rümpfen und raunen, Fragen stellen und aus seinen Axiomen befriedigende Schlüsse ziehen, wie etwa jenen, dass jeder junge Mann mit hohem Einkommen das Leben eines gejagten Rebhuhns führt. Für die Dramatik der wechselvollen und oft grausamen Welt der Heranwachsenden hat er letzten Endes kein Verständnis. Nein; Logen, Orchestergraben, Hauptdarsteller und Chor werden von jenem Potpourri aus Gesichtern und Stimmen gebildet, die sich im wehmutsvollen afrikanischen Rhythmus von Dyers Tanzkapelle wiegen.

Von dem sechzehnjährigen Otis Ormonde, der noch zwei Jahre an der Hill School vor sich hat, bis zu G. Reece Stoddard, über dessen heimischem Schreibtisch ein Diplom der Harvard Law School hängt; von der kleinen Madeleine Hogue, der das hochgesteckte Haar oben auf ihrem Kopf immer noch komisch und nicht geheuer vorkommt, bis zu Bessie MacRae, die schon ein wenig zu lange – seit über zehn Jahren –, der Herzschlag jeder Party ist, beherrscht dieses Potpourri nicht nur das Geschehen auf der Bühne, sondern schließt auch diejenigen ein, die allein eines unverstellten Blicks darauf fähig sind.

Mit Tusch und Paukenschlag endet die Musik. Die Paare tauschen ein gekünsteltes, leichtfertiges Lächeln, summen noch einmal spielerisch »la-di-da-da-dum-dum«, und schon übertönt das Geschnatter junger Frauenstimmen den Applaus.

Ein paar enttäuschte Herren, die noch mitten auf der Tanzfläche standen, wo sie eben ein Mädchen hatten abklatschen wollen, zogen lustlos von dannen, denn hier ging es nicht zu wie auf den wilden Weihnachtsbällen – diese sommerlichen Tanzereien, auf denen selbst die jüngeren Ehepaare sich zum nachsichtigen Amüsement ihrer jüngeren Geschwister erhoben und altmodische Walzer oder furchtbare Foxtrotts tanzten, galten bloß als angenehm lau und vergnüglich.

Warren McIntyre, der zwanglos in Yale studierte, war einer der glücklosen Herren, und so tastete er in seiner Jackentasche nach einer Zigarette und schlenderte hinaus auf die große, schummrige Veranda, wo überall Pärchen an den Tischen saßen und die laternenbehängte Nacht mit vagen Wörtern und diesigem Gelächter füllten. Hier und da nickte er einem weniger versunkenen Pärchen zu, und alle naselang erstand ein halbvergessenes Fragment irgendeiner Geschichte in seinem Kopf, denn die Stadt war nicht groß, und jeder gehörte ins Who’s who der Vergangenheit aller anderen. Dort zum Beispiel saßen Jim Strain und Ethel Demorest, die seit drei Jahren heimlich verlobt waren. Alle wussten, dass sie ihn heiraten würde, sobald es ihm gelänge, mehr als zwei Monate dieselbe Arbeitsstelle zu behalten. Aber wie gelangweilt sie beide aussahen und wie müde Ethel Jim manchmal anschaute, als fragte sie sich, warum sie die Ranken ihrer Zuneigung an einer so windzerzausten Pappel hochgezogen hatte.

Warren war neunzehn und bedauerte all seine Freunde, die nicht im Osten aufs College gingen. Doch wie die meisten jungen Männer gab er gewaltig mit den Mädchen seiner Heimatstadt an, solange er selber nicht dort war. Da war zum Beispiel Genevieve Ormonde, die regelmäßig bei den Bällen, Privatpartys und Footballspielen in Princeton, Yale, Williams und Cornell auftauchte; oder die schwarzäugige Roberta Dillon, in ihrer Generation ähnlich berühmt wie Hiram Johnson oder Ty Cobb; und natürlich war da Marjorie Harvey, die nicht nur ein feengleiches Gesicht und ein sagenhaftes, verblüffendes Mundwerk hatte, sondern auch, ganz zu Recht, bewundert wurde, weil sie beim letzten Pumps- und Slipperball in New Haven fünf Räder hintereinander geschlagen hatte.

Warren, der als Junge Marjorie gegenüber gewohnt hatte, war lange Zeit »verrückt nach ihr« gewesen. Manchmal schien sie seine Gefühle mit einer gewissen Dankbarkeit zu erwidern, doch sie hatte ihn ihrem unfehlbaren Test unterzogen und ihm dann feierlich mitgeteilt, sie liebe ihn nicht. Der Test war, dass sie ihn vergaß und sich anderen Jungen zuwandte, sobald sie nicht in seiner Nähe war. Warren fand das entmutigend, zumal Marjorie den ganzen Sommer lang kleine Reisen unternommen hatte und er an den ersten zwei oder drei Tagen nach jeder Rückkehr auf dem Tisch in der Harvey’schen Eingangshalle stapelweise in diversen männlichen Handschriften an sie adressierte Briefe liegen sah. Zu allem Überfluss hatte sie den ganzen August über Besuch von ihrer Cousine Bernice aus Eau Claire, und es schien unmöglich, sich allein mit ihr zu treffen. Immer musste er erst jemanden auftreiben, der bereit war, sich mit Bernice abzugeben. Je weiter der August voranschritt, umso schwieriger wurde das.

Sosehr Warren Marjorie auch verehrte, Cousine Bernice fehlte, wenn er ehrlich war, der Pep. Mit ihrem dunklen Haar und der frischen Gesichtsfarbe war sie zwar ganz hübsch, doch auf Partys war nichts mit ihr anzufangen. Jeden Samstagabend tanzte er Marjorie zuliebe einen langen, anstrengenden Tanz mit ihr, aber er hatte sich in ihrer Gesellschaft immer nur gelangweilt.

»Warren« – eine leise Stimme dicht hinter ihm unterbrach ihn in seinen Gedanken. Er drehte sich um und blickte in Marjories Gesicht, lebhaft und strahlend wie immer. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er begann fast unmerklich zu leuchten.

»Warren«, flüsterte sie, »tu mir einen Gefallen – tanz mit Bernice. Sie kommt schon seit einer Stunde nicht von dem kleinen Otis Ormonde los.«

Warrens Leuchten erlosch.

»Ja – natürlich«, sagte er halbherzig.

»Es macht dir doch nichts aus, oder? Ich passe auch auf, dass du nicht bei ihr hängenbleibst.«

»Schon in Ordnung.«

Marjorie lächelte – jenes Lächeln, das Dank genug war.

»Du bist ein Engel, tausend Dank.«

Seufzend schaute der Engel sich auf der Veranda um, doch Bernice und Otis waren nicht in Sicht. Er schlenderte wieder hinein, und dort, vor der Damengarderobe, entdeckte er Otis inmitten einer Gruppe junger Männer, die sich vor Lachen bogen. Otis schwang ein Holzscheit, das er in der Hand hatte, und hielt flammende Reden.

»Sie ist da drinnen und richtet sich das Haar«, verkündete er aufgeregt. »Ich warte hier, um noch eine Stunde mit ihr zu tanzen.«

Erneutes Gelächter.

»Warum tanzt ihr nicht auch mal mit ihr?«, rief Otis empört. »Über etwas mehr Abwechslung würde sie sich freuen.«

»Wieso denn, Otis«, sagte einer seiner Freunde, »du bist doch gerade erst mit ihr warm geworden.«

»Wozu das Holzscheit, Otis?«, fragte Warren lächelnd.

»Das Holzscheit? Ach, das hier? Das ist ein Knüppel. Wenn sie rauskommt, zieh ich ihr eins über und prügel sie wieder rein.«

Warren ließ sich auf ein Kanapee fallen und johlte vor Vergnügen.

»Keine Sorge, Otis«, brachte er schließlich heraus. »Ich erlöse dich dieses Mal.«

Otis simulierte einen plötzlichen Ohnmachtsanfall und reichte Warren das Holzscheit.

»Falls du’s brauchst, Alter«, sagte er heiser.

Wie schön oder blitzgescheit ein Mädchen auch sein mag, der Ruf, nicht oft abgeklatscht zu werden, bringt sie auf jedem Ball in eine schlechte Position. Vielleicht ist den jungen Männern ihre Gesellschaft sogar lieber als die der Schmetterlinge, mit denen sie im Laufe eines Abends ein halbes Dutzend Mal tanzen, doch die Jugend dieser vom Jazz genährten Generation hat ein rastloses Temperament, und der Gedanke, mehr als einen vollständigen Foxtrott mit demselben Mädchen aufs Parkett zu legen, ist ihnen unangenehm, um nicht zu sagen zuwider. Kommt es zu mehreren Tänzen, einschließlich der Pausen, kann das Mädchen ziemlich sicher sein, dass ihr der junge Mann, einmal erlöst, nie wieder auf den störrischen Zehen herumtrampeln wird.

Warren tanzte den ganzen nächsten Tanz mit Bernice und begleitete sie schließlich, dankbar für die Pause, an einen Tisch auf der Veranda. Ein kurzes Schweigen trat ein, während sie wenig überzeugend mit ihrem Fächer wedelte.

»Es ist heißer hier als in Eau Claire«, sagte sie.

Warren unterdrückte einen Seufzer und nickte. Selbst wenn das stimmte, was kümmerte es ihn. Er fragte sich gelangweilt, ob sie schlecht Konversation machte, weil sie wenig Aufmerksamkeit bekam, oder ob sie wenig Aufmerksamkeit bekam, weil sie schlecht Konversation machte.

»Bleiben Sie noch lange hier?«, fragte er und wurde ziemlich rot. Womöglich ahnte sie, warum er das wissen wollte.

»Eine Woche noch«, antwortete sie und starrte ihn an, als wollte sie sich auf seine nächste Bemerkung stürzen, sobald sie seine Lippen verließ.

Warren wurde unruhig. Dann beschloss er aus einer plötzlichen barmherzigen Laune heraus, es mit einem Teil seiner Masche bei ihr zu probieren. Er wandte sich ihr zu und schaute ihr in die Augen.

»Sie haben wirklich einen Mund zum Küssen«, begann er leise.

Das sagte er manchmal auf Collegebällen zu den Mädchen, mit denen er sich in genau solchem Halbdunkel wie hier unterhielt. Bernice zuckte sichtlich zusammen. Sie wurde ganz ohne Charme rot und hantierte linkisch mit ihrem Fächer. So etwas hatte noch nie jemand zu ihr gesagt.

»Frechheit!« – das Wort rutschte ihr so heraus, und sie biss sich auf die Lippen. Zu spät versuchte sie, amüsiert zu tun und ihm ein verwirrtes Lächeln zu schenken.

Warren ärgerte sich. Er war es gewohnt, dass seine Bemerkung nicht ernst genommen wurde, doch meistens erntete er ein Lachen oder ein paar Sätze gefühlsseliger Plänkelei. Und er mochte es überhaupt nicht, wenn man ihn frech nannte, außer, es war scherzhaft gemeint. Seine barmherzige Laune verflog, und er wechselte das Thema.

»Jim Strain und Ethel Demorest hocken wieder mal zusammen«, sagte er.

Das lag schon mehr auf Bernice’ Linie, doch in ihre Erleichterung mischte sich ein leises Bedauern, als die Unterhaltung eine neue Wendung nahm. Männer sprachen mit ihr gemeinhin nicht über Münder, die zum Küssen waren, aber dass sie mit anderen Mädchen so oder ähnlich sprachen, das wusste sie durchaus.

»O ja«, sagte sie und lachte. »Angeblich krebsen sie seit Jahren ohne einen roten Heller herum. Ist das nicht albern?«

Warrens Ärger wuchs. Jim Strain war ein enger Freund seines Bruders, und er hielt es ohnedies für schlechten Stil, sich über Leute lustig zu machen, weil sie wenig Geld hatten. Aber Bernice hatte gar nicht die Absicht gehabt, sich lustig zu machen. Sie war nur nervös.

II

 

Als Marjorie und Bernice gegen halb eins nach Hause kamen, wünschten sie sich oben an der Treppe gute Nacht. Sie waren zwar Cousinen, aber keine Freundinnen. Genau genommen hatte Marjorie keine einzige Freundin – sie fand Mädchen dumm. Bernice dagegen hatte sich während ihres ganzen von den Eltern arrangierten Besuchs durchaus danach gesehnt, jene mit Gekicher und Tränen gewürzten Vertraulichkeiten auszutauschen, die sie für einen unverzichtbaren Bestandteil allen weiblichen Miteinanders hielt. In dieser Hinsicht erschien ihr Marjorie jedoch eher kalt; irgendwie fiel es Bernice genauso schwer, mit ihr zu reden wie mit Männern. Marjorie kicherte nie, hatte nie Angst, war selten verlegen und besaß überhaupt wenige jener Eigenschaften, die Bernice bei einer Frau als geziemend und segensreich erachtete.

Während sie mit Zahnbürste und Zahnpasta hantierte, fragte sie sich zum hundertsten Mal, warum man ihr nie Beachtung schenkte, wenn sie von zu Hause fort war. Darauf, dass ihre Familie die reichste in Eau Claire war; dass ihre Mutter als großartige Gastgeberin galt, vor jedem Ball ein kleines Abendessen für ihre Tochter gab und ihr ein eigenes Auto gekauft hatte, hätte sie ihren gesellschaftlichen Erfolg daheim nie zurückgeführt. Wie die meisten Mädchen war sie mit der warmen Milch Annie Fellows Johnstons großgezogen worden und mit Romanen, in denen die weibliche Hauptperson geliebt wurde, weil sie gewisse geheimnisvolle frauliche Eigenschaften besaß, die stets erwähnt, aber nie zur Schau getragen wurden.

Bernice verspürte einen leisen Schmerz, weil sie gegenwärtig alles andere als umschwärmt war. Sie wusste nicht, dass sie ohne Marjories Fürsprache den ganzen Abend mit ein und demselben Mann getanzt hätte; wohl aber, dass sich selbst in Eau Claire Mädchen von geringerer Stellung und Schönheit eines stürmischeren Andrangs erfreuten als sie. Ihrer Meinung nach lag das an einer subtilen Gewissenlosigkeit, die diesen Mädchen eigen war. Es hatte ihr nie Sorgen bereitet, und wäre es anders gewesen, hätte ihre Mutter ihr versichert, solche Mädchen würdigten sich selbst herab und die Männer würden eigentlich Mädchen wie Bernice viel mehr Achtung entgegenbringen.

Sie löschte das Licht im Bad und beschloss aus einer Laune heraus, zu ihrer Tante Josephine hineinzugehen, bei der noch Licht brannte. Ihre weichen Pantoffeln trugen sie lautlos über den mit Teppich ausgelegten Flur, doch als sie hinter der halb geöffneten Tür Stimmen hörte, blieb sie stehen. Dann schnappte sie ihren eigenen Namen auf, und ohne es vorgehabt zu haben, lauschte sie an der Tür – und der Gesprächsfaden wirkte sich in ihr Bewusstsein, als zöge ihn jemand mit der Nadel hindurch.

»Sie ist ein vollkommen hoffnungsloser Fall!« Das war Marjories Stimme. »Ja, ja, ich weiß schon, was du sagen willst! Etliche Leute haben dir erzählt, wie hübsch sie sei und wie lieb und wie gut sie kochen könne! Na und? Sie amüsiert sich kein bisschen. Die Männer mögen sie nicht.«

»Was zählt schon ein bisschen billige Beliebtheit?«

Mrs. Harvey klang verärgert.

»Alles, wenn man achtzehn ist«, sagte Marjorie entschieden. »Ich habe mein Bestes gegeben. Ich war nett zu ihr, ich habe die Männer gebeten, mit ihr zu tanzen, aber sie haben einfach keine Lust, sich zu langweilen. Wenn ich bloß an diesen schönen Teint denke, der an so eine graue Maus verschwendet ist, und daran, was Martha Carey daraus machen könnte – ach!«

»Es gibt heutzutage keinen Anstand mehr.«

Mrs. Harveys Stimme ließ erkennen, dass ihr die heutigen Zustände nicht in den Kopf wollten. Als sie jung war, hatten sich alle jungen Damen, die aus guten Familien stammten, prächtig amüsiert.

»Also«, sagte Marjorie, »kein Mädchen kann einer lahmen Ente von einem Gast ständig auf die Sprünge helfen. Heutzutage muss jedes Mädchen allein zurechtkommen. Ich habe ja sogar versucht, ihr kleine Tipps zu geben, für ihre Kleidung und so, aber da ist sie wütend geworden und hat mich ganz komisch angeguckt. Sie ist feinfühlig genug, um zu merken, dass sie hier nicht gut abschneidet, aber ich wette, sie tröstet sich damit, dass sie ja ach so tugendhaft ist, während ich viel zu leichtlebig und oberflächlich bin und es böse mit mir enden wird. Alle unbeliebten Mädchen denken so. Saure Trauben! Sarah Hopkins nennt Genevieve und Roberta und mich die Gardenienmädchen! Ich wette, sie würde zehn Jahre ihres Lebens und ihre europäische Ausbildung dafür geben, ein Gardenienmädchen zu sein, in das drei oder vier Männer gleichzeitig verliebt sind und das alle paar Schritte von einem anderen aufgefordert wird!«

»Mir scheint«, unterbrach Mrs. Harvey sie ziemlich müde, »du müsstest imstande sein, etwas für Bernice zu tun. Ich weiß wohl, dass sie nicht sehr lebhaft ist.«

Marjorie stöhnte auf.

»Lebhaft! Du liebe Zeit! Ich habe sie noch nie etwas anderes zu einem Jungen sagen hören, als dass es ja so heiß sei oder die Tanzfläche so voll oder dass sie nächstes Jahr in New York aufs College gehen werde. Manchmal fragt sie sie auch, was für einen Wagen sie fahren, und erzählt ihnen, was sie für einen hat. Wie aufregend!«

Ein kurzes Schweigen trat ein, ehe Mrs. Harvey ihren Refrain wieder anstimmte:

»Ich weiß nur, dass nicht halb so liebenswerte und reizvolle Mädchen wie sie auch Erfolg haben. Martha Carey zum Beispiel ist stämmig und laut, und ihre Mutter ist entschieden gewöhnlich. Und Roberta Dillon sieht dieses Jahr so mager aus, als müsste sie mal zur Kur nach Arizona. Sie tanzt sich noch zu Tode.«

»Aber Mutter«, entgegnete Marjorie gereizt, »Martha ist fröhlich und wahnsinnig schlagfertig und sieht wahnsinnig schick aus, und Roberta ist eine phantastische Tänzerin. Sie wird schon seit Ewigkeiten von allen umschwärmt!«

Mrs. Harvey gähnte.

»Ich glaube, es ist dieses komische indianische Blut in Bernice’ Adern«, fuhr Marjorie fort. »Vielleicht kommen bei ihr die Gattungsmerkmale wieder durch. Indianerfrauen haben auch immer nur dagesessen und nichts gesagt.«

»Jetzt aber ab ins Bett mit dir, du dummes Kind«, lachte Mrs. Harvey. »Wenn ich geahnt hätte, dass du dir so etwas merkst, hätte ich’s dir nicht erzählt. Und das meiste von dem, was du sagst, halte ich für baren Unsinn«, fügte sie schläfrig hinzu.

Wieder trat ein Schweigen ein, während Marjorie sich fragte, ob es einen Versuch wert war, ihre Mutter von ihrer Ansicht zu überzeugen. Leute über vierzig lassen sich selten dauerhaft von etwas überzeugen. Mit achtzehn sind unsere Überzeugungen Anhöhen, von denen wir herabblicken; mit fünfundvierzig sind es Höhlen, in denen wir uns verstecken.

Nachdem sie zu diesem Schluss gelangt war, sagte Marjorie ihrer Mutter gute Nacht. Als sie auf den Flur hinaustrat, war er ganz leer.

III

 

Während Marjorie am nächsten Morgen spät beim Frühstück saß, kam Bernice herein, sagte förmlich guten Morgen, setzte sich ihr gegenüber, schaute sie aufmerksam an und befeuchtete sich ein wenig die Lippen.

»Was hast du denn?«, fragte Marjorie verwirrt.

Bernice zögerte, bevor sie ihre Handgranate warf.

»Ich habe gehört, was du gestern Abend zu deiner Mutter über mich gesagt hast.«

Marjorie erschrak, doch ihre Wangen röteten sich nur leicht, und als sie antwortete, war ihre Stimme ganz ruhig.

»Wo warst du denn?«, fragte sie.

»Im Flur. Ich wollte nicht lauschen – zuerst.«

Nachdem sie ihr unwillkürlich einen verächtlichen Blick zugeworfen hatte, schlug Marjorie die Augen nieder und schien auf einmal sehr damit beschäftigt, einen einzelnen Cornflake auf dem Finger zu balancieren.

»Ich fahre wohl besser wieder nach Eau Claire zurück – wenn ich so lästig bin.« Bernice’ Unterlippe zitterte heftig, und sie fuhr mit bebender Stimme fort: »Ich habe mir Mühe gegeben, nett zu sein, aber – aber erst hat man mich nicht beachtet und dann auch noch beleidigt. Keiner, der bei mir zu Gast war, ist je so behandelt worden.«

Marjorie schwieg.

»Aber ich sehe ja, dass ich hier im Weg bin. Ich störe dich. Deine Freunde mögen mich nicht.« Sie schwieg einen Moment; dann fiel ihr eine weitere Kränkung ein. »Natürlich war ich wütend, als du letzte Woche angedeutet hast, mein Kleid sei unvorteilhaft. Meinst du denn, ich wüsste nicht, wie man sich anzieht?«

»Nein«, murmelte Marjorie kaum hörbar.

»Was?«

»Ich habe nichts angedeutet«, sagte Marjorie knapp. »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich gesagt, es sei besser, ein vorteilhaftes Kleid dreimal hintereinander anzuziehen, als es abwechselnd mit zwei schrecklichen zu tragen.«

»Findest du, das war besonders nett?«

»Es sollte ja gar nicht nett sein.« Nach einer kleinen Pause fragte sie: »Wann reist du ab?«

Bernice zog scharf die Luft ein.

»Oh!«, entfuhr es ihr.

Marjorie blickte überrascht auf.

»Hast du nicht gesagt, du wolltest abreisen?«

»Ja, aber –«

»Ach so, du hast nur geblufft!«

Einen Moment lang starrten sie einander über den Frühstückstisch hinweg an. Vor Bernice’ Augen zogen kleine Schleierwolken vorbei, während Marjories Miene jenen harten Ausdruck annahm, den sie aufsetzte, wenn leicht berauschte junge Collegestudenten ihr den Hof machten.

»Du hast also geblufft«, wiederholte sie, als wäre das zu erwarten gewesen.

Bernice gestand es ein, indem sie in Tränen ausbrach. Marjorie blickte sie gelangweilt an.

»Du bist meine Cousine«, schluchzte Bernice. »Ich bin dein Ga-hast. Ich wollte einen Monat hierbleiben, und wenn ich jetzt nach Hause fahre, weiß meine Mutter sofort Bescheid und wird sich fra-hagen –«

Marjorie wartete ab, bis der Schwall gebrochener Wörter sich in kleine Schnieflaute auflöste.

»Ich gebe dir mein Taschengeld für diesen Monat«, sagte sie kalt, und: »Du kannst die letzte Woche verbringen, wo du willst. Es gibt da ein sehr schönes Hotel…«

Bernice’ Schluchzer kletterten auf Flötentonhöhe, dann stand sie unvermittelt auf und flüchtete aus dem Zimmer.

Eine Stunde später, als Marjorie in der Bibliothek damit beschäftigt war, einen jener unverbindlichen, sagenhaft vagen Briefe aufzusetzen, wie nur ein junges Mädchen sie schreiben kann, tauchte Bernice ziemlich rotäugig und bemüht ruhig wieder auf. Sie würdigte Marjorie keines Blickes, sondern nahm ein beliebiges Buch aus dem Regal und setzte sich hin, um darin zu lesen. Marjorie schien in ihren Brief vertieft und schrieb weiter. Als die Uhr zwölf schlug, klappte Bernice mit einem Knall ihr Buch zu.

»Ich besorge mir jetzt wohl besser meine Fahrkarte.«

Das war nicht der Anfang der Rede, die sie oben auf ihrem Zimmer einstudiert hatte; doch da Marjorie all ihre Einsätze verpasste – sie nicht drängte, vernünftig zu sein; es sei alles ein Missverständnis –, war es die beste Eröffnung, die ihr einfiel.

»Warte kurz, bis ich den Brief fertig habe«, sagte Marjorie, ohne sich umzublicken. »Ich möchte, dass er mit der nächsten Post mitgeht.«

Nach einer weiteren Minute, in der ihr Füller eifrig über das Papier kritzelte, drehte sie sich um und lehnte sich mit einer ›Zu-Diensten‹-Miene entspannt zurück. Erneut musste Bernice das Wort ergreifen.

»Möchtest du, dass ich nach Hause fahre?«

»Na ja –«, sagte Marjorie und überlegte. »Wenn du dich nicht amüsierst, wäre es doch wohl besser. Was bringt es schon, unglücklich zu sein.«

»Findest du nicht, es wäre ein Gebot der Höflichkeit…«

»Ach, bitte zitiere nicht aus Betty und ihre Schwestern!«, rief Marjorie gereizt. »Das ist Schnee von gestern.«

»Meinst du?«

»Ja, natürlich! Welches Mädchen könnte heute noch so leben wie diese albernen Weibsbilder?«

»Für unsere Mütter waren sie Vorbilder.«

Marjorie lachte. »Ja, das waren sie – nicht! Im Übrigen waren unsere Mütter ja auf ihre Art völlig in Ordnung, aber über die Probleme ihrer Töchter wissen sie sehr wenig.«

Bernice richtete sich auf. »Bitte rede nicht über meine Mutter.«

Marjorie lachte. »Ich glaube nicht, dass ich sie erwähnt habe.«

Bernice hatte das Gefühl, dass sie von ihrem Anliegen abgelenkt wurde. »Findest du, du hast mich gut behandelt?«

»Ich habe getan, was ich konnte. Du bist ein ziemlich harter Brocken.«

Bernice’ Augenlider röteten sich.

»Ich finde, du bist hart und selbstsüchtig, und du hast keine einzige weibliche Tugend in dir.«

»O mein Gott!«, rief Marjorie voller Verzweiflung. »Du dummes Ding! Mädchen wie du sind schuld an all diesen langweiligen, farblosen Ehen; all diese scheußlichen Unzulänglichkeiten, die als weibliche Tugenden durchgehen! Was für ein Schlag für einen Mann mit Phantasie, wenn er das hübsche Kleiderbündel heiratet, um das er seine Ideale gerankt hat, und merkt, dass es bloß eine schwache, wehleidige, feige Anhäufung von Posen ist!«

Bernice’ Mund stand mittlerweile halb offen.

»Die frauliche Frau!«, fuhr Marjorie fort. »Verbringt ihre ganze frühe Jugend mit wehleidiger Kritik an Mädchen wie mir, die sich wirklich gut amüsieren.«

Bernice’ Unterkiefer klappte weiter herunter, während Marjories Stimme anstieg.

»Ein hässliches Mädchen kann ja von mir aus wehleidig sein. Wenn ich hässlich gewesen wäre, richtig hässlich, dann hätte ich meinen Eltern nie verziehen, dass sie mich auf die Welt gebracht haben. Aber du trittst dein Leben ohne jedes Handicap an –« Marjorie ballte ihre kleine Faust. »Wenn du von mir erwartest, dass ich in dein Gejammer einstimme, muss ich dich enttäuschen. Geh oder bleib, ganz wie du willst.« Darauf nahm sie ihre Briefe vom Tisch und verließ den Raum.

Bernice schützte Kopfschmerzen vor und erschien nicht zum Mittagessen. Sie hatten am Nachmittag eine Verabredung fürs Theater, doch da die Kopfschmerzen anhielten, entschuldigte Marjorie ihre Cousine bei einem nicht allzu niedergeschlagenen jungen Mann. Als sie jedoch am späten Nachmittag heimkam, fand sie Bernice mit seltsam gefasster Miene in ihrem Schlafzimmer vor, wo sie auf Marjorie gewartet hatte.

»Ich bin zu dem Schluss gekommen«, sagte Bernice ohne Umschweife, »dass du vielleicht recht hast – sicher bin ich mir nicht. Aber wenn du mir sagen könntest, warum deine Freunde sich nicht – sich nicht für mich interessieren, würde ich eventuell tun, was du für richtig hältst.«

Marjorie stand vor dem Spiegel und schüttelte ihr Haar aus.

»Meinst du das ernst?«

»Ja.«

»Ohne Einschränkungen? Bist du bereit, genau das zu tun, was ich dir sage?«

»Na ja, ich –«

»Nichts ›na ja‹! Bist du bereit, genau das zu tun, was ich sage?«

»Wenn es vernünftig ist.«

»Das ist es nicht! Vernunft ist das Letzte, was du brauchst.«

»Wirst du mich – wirst du mir empfehlen –«

»Ja, alles. Wenn ich sage, du sollst Boxen lernen, lernst du Boxen. Schreib deiner Mutter, dass du zwei Wochen länger bleibst.«

»Und wenn du sagst –«

»Also gut – ich gebe dir schon mal ein paar Beispiele. Erstens hast du kein unbefangenes Auftreten. Warum? Weil du dir deiner nicht sicher bist. Ein Mädchen, das sich perfekt frisiert und gekleidet fühlt, kann diesen Teil von sich vergessen. Das ist Charme. Je mehr von dir du vergessen kannst, umso größer dein Charme.«

»Sehe ich denn nicht gut aus?«

»Nein; zum Beispiel pflegst du deine Augenbrauen nicht. Sie mögen schwarz und glänzend sein, aber wenn sie in alle Richtungen abstehen, sind sie ein Makel. Sie wären sehr hübsch, wenn du dir für ihre Pflege ein Zehntel der Zeit nehmen würdest, die du mit Nichtstun verbringst. Du wirst sie bürsten, damit sie alle in eine Richtung wachsen.«

Bernice runzelte besagte Brauen.

»Heißt das etwa, dass Männer auf Augenbrauen achten?«

»Ja – unbewusst. Und wenn du wieder zu Hause bist, solltest du dir die Zähne ein wenig richten lassen. Es fällt kaum auf, aber –«

»Ich dachte«, unterbrach Bernice sie verwirrt, »du verachtest solche kleinen weiblichen Geziertheiten.«

»Ich verachte geziertes Denken«, antwortete Marjorie. »Aber äußerlich muss ein Mädchen geziert sein. Wer umwerfend aussieht, kann sich auch erlauben, über Russland, Pingpong oder den Völkerbund zu reden.«

»Was noch?«

»Oh, ich fange gerade erst an! Als Nächstes kommt die Art, wie du tanzt.«

»Tanze ich denn nicht gut?«

»Nein. Du stützt dich auf den Mann; doch, doch – ein ganz klein wenig. Es ist mir aufgefallen, als wir gestern zusammen beim Tanzen waren. Und du hältst dich vollkommen gerade, anstatt dich ein wenig vorzuneigen. Wahrscheinlich hat dir mal eine alte Dame vom Rand des Parketts aus zugeschaut und gesagt, du sähst so vornehm dabei aus. Aber wenn das Mädchen nicht zufällig sehr klein ist, hat der Mann es auf die Weise viel schwerer, und er ist schließlich derjenige, auf den es ankommt.«

»Weiter.« Bernice schwirrte der Kopf.

»Du musst lernen, auch zu den armen Teufeln nett zu sein. Du siehst immer aus, als hätte man dich beleidigt, sobald du an einen gerätst, der nicht zu den meistumschwärmten Jungen gehört. Aber, Bernice, ich werde alle paar Schritte abgeklatscht – und von wem wohl am häufigsten? Von besagten armen Teufeln natürlich. Kein Mädchen kann es sich leisten, sie zu übergehen. Sie bilden den größten Teil jeder Menge. Unreife, schüchterne Jungen, die den Mund nicht aufkriegen, sind das beste Konversationstraining. Ungeschickte Jungen sind die besten Tanzlehrer. Wenn du ihren Schritten folgen kannst und trotzdem graziös aussiehst, kannst du einem Panzer durch einen Wolkenkratzer aus Stacheldraht folgen.«

Bernice seufzte tief, doch Marjorie war noch nicht fertig.

»Wenn du auf einem Ball bist und vielleicht drei arme Teufel, die mit dir tanzen, richtig gut unterhältst; wenn du so amüsant mit ihnen plauderst, dass sie nicht merken, wie lange sie bei dir hängenbleiben, hast du schon einiges erreicht. Sie werden dich das nächste Mal wieder auffordern, und nach und nach werden so viele arme Teufel mit dir tanzen, dass die attraktiven Jungen keine Angst mehr haben müssen hängenzubleiben – und dann fordern sie dich auf.«

»Ja«, sagte Bernice matt. »Ich glaube, ich verstehe allmählich, was du meinst.«

»Und irgendwann«, sagte Marjorie abschließend, »werden sicheres Auftreten und Charme sich von selbst einstellen. Eines Morgens wirst du aufwachen und wissen, dass du beides hast, und auch die Männer werden es wissen.«

Bernice stand auf. »Das war furchtbar nett von dir – aber so hat noch nie jemand mit mir geredet; ich bin ein bisschen durcheinander.«

Marjorie gab keine Antwort, sondern betrachtete nachdenklich ihr eigenes Spiegelbild.

»Wie lieb, dass du mir hilfst, du bist ein Schatz«, fuhr Bernice fort.

Marjorie antwortete immer noch nicht, und Bernice fürchtete schon, sie habe zu dankbar gewirkt. »Ich weiß, du magst keine Gefühlsduselei«, sagte sie schüchtern.

Marjorie drehte sich rasch zu ihr um. »Ach, das ist es nicht. Ich habe gerade überlegt, ob wir dir nicht einen Bubikopf schneiden lassen sollten.«

Bernice fiel rückwärts aufs Bett.

IV

 

Am folgenden Mittwochabend fand im Countryclub ein Ball mit gesetztem Essen statt. Als die Gäste hereinschlenderten, suchte Bernice ihre Tischkarte und verspürte leisen Unmut. Zwar saß rechts von ihr G. Reece Stoddard, ein höchst begehrenswerter und vornehmer Junggeselle, doch den alles entscheidenden Platz zu ihrer Linken nahm nur Charley Paulson ein. Charley mangelte es an Körpergröße, gutem Aussehen und gesellschaftlicher Raffinesse, und das Einzige, was ihn nach Bernice’ neuem Wissensstand als ihren Partner qualifizierte, war die Tatsache, dass er noch nie bei ihr hängengeblieben war. Doch mit den letzten Suppentellern verschwand auch ihr Unmut, und Marjories präzise Lektionen fielen ihr wieder ein. Sie schluckte ihren Stolz hinunter, wandte sich Charley Paulson zu und sprang.

»Finden Sie, ich sollte mir einen Bubikopf schneiden lassen, Mr. Charley Paulson?«

Charley blickte überrascht auf. »Warum?«

»Weil ich es erwäge. Es ist eine so einfache und sichere Art, Aufmerksamkeit zu erregen.«

Charley lächelte liebenswürdig. Er konnte nicht ahnen, dass dies einstudiert war. Er antwortete, er wisse nicht viel über Bubiköpfe. Aber Bernice konnte es ihm erklären.

»Ich möchte ein Vamp sein, verstehen Sie«, verkündete sie frech und erklärte ihm dann, der Bubikopf sei der notwendige Auftakt dazu. Sie fügte hinzu, sie wolle seinen Rat einholen, weil sie gehört habe, dass er, was Mädchen betreffe, über ein so gutes Urteilsvermögen verfüge.

Charley, der von der Psychologie der Frauen so viel verstand wie vom Geisteszustand buddhistischer Mönche, fühlte sich vage geschmeichelt.

»Deshalb habe ich beschlossen«, fuhr sie fort und hob ein wenig die Stimme, »Anfang nächster Woche in den Herrensalon im Sevier Hotel zu gehen, dort auf dem ersten Stuhl Platz zu nehmen und mir einen Bubikopf schneiden zu lassen.«

Sie stockte, als sie bemerkte, dass die Leute um sie herum ihre Gespräche unterbrochen hatten und zuhörten; nach einer Sekunde der Verunsicherung jedoch verfing Marjories Nachhilfe wieder, und sie richtete den Rest ihrer Ausführungen an ein größeres Publikum.

»Natürlich verlange ich Eintritt, aber wenn Sie alle kommen und mir Beistand leisten wollen, verteile ich gerne Karten für die Logenplätze.«

Beifälliges Gelächter brandete auf, unter dessen Deckung G. Reece Stoddard sich rasch zu ihr herüberbeugte und ihr ins Ohr flüsterte: »Ich reserviere jetzt schon eine Loge.«

Sie begegnete seinem Blick und lächelte, als hätte er etwas unübertrefflich Geistreiches gesagt.

»Glauben Sie an den Bubikopf?«, fragte G. Reece mit dem gleichen Unterton.

»Ich finde ihn unmoralisch«, antwortete Bernice ernst. »Aber schließlich muss man die Leute entweder unterhalten, bewirten oder schockieren.« Das hatte Marjorie von Oscar Wilde geklaut. Es erntete wohlgefälliges Gelächter von den Männern und eine Reihe rascher, aufmerksamer Blicke von den Mädchen. Und als hätte sie nichts weiter Witziges oder Bedeutsames gesagt, wandte Bernice sich wieder Charley zu und sprach ihm vertraulich ins Ohr. »Ich würde Sie gern nach Ihrer Meinung zu einigen Leuten fragen. Ich stelle mir vor, dass Sie ein hervorragender Menschenkenner sind.«

Charley erbebte leicht – und machte ihr indirekt ein Kompliment, indem er ihr Wasserglas umstieß.

Als Warren McIntyre zwei Stunden später untätig in der Riege der Herren stand, gedankenverloren den Tanzpaaren zuschaute und sich fragte, wohin und mit wem Marjorie verschwunden war, stahl sich nach und nach eine ganz andere Wahrnehmung in sein Bewusstsein – nämlich die, dass Bernice, Marjories Cousine, in den letzten fünf Minuten mehrere Male abgeklatscht worden war. Er schloss die Augen, öffnete sie und schaute erneut hin. Vor ein paar Minuten hatte sie mit einem Jungen von außerhalb getanzt, was leicht zu erklären war; ein Junge von außerhalb wusste es nicht besser. Doch jetzt tanzte sie mit einem anderen, und dort steuerte mit enthusiastischer Entschlossenheit im Blick schon Charley Paulson auf sie zu. Merkwürdig – Charley Paulson tanzte selten mit mehr als drei Mädchen pro Abend.

Warren war doch sehr erstaunt, als er – nach vollzogenem Wechsel – sah, dass der erlöste Mann kein anderer war als G. Reece Stoddard persönlich. Und G. Reece schien von seiner Erlösung keineswegs begeistert. Als Bernice das nächste Mal in seiner Nähe tanzte, betrachtete Warren sie aufmerksam. Ja, sie war hübsch, ausgesprochen hübsch sogar; und heute Abend wirkte ihr Gesicht richtig lebhaft. Sie hatte jenes Aussehen, das keine Frau, und sei sie eine noch so begabte Schauspielerin, erfolgreich vortäuschen kann – sie sah aus, als amüsiere sie sich. Ihm gefiel die Art, wie sie sich die Haare frisiert hatte, und er überlegte, ob es Brillantine war, die es so glänzen ließ. Und das Kleid stand ihr gut – ein dunkles Rot, das ihre schattigen Augen und rosigen Wangen hervorhob. Ihm fiel wieder ein, dass er sie am Anfang, als sie in die Stadt gekommen war, hübsch gefunden und erst später gemerkt hatte, wie langweilig sie war. Schade – langweilige Mädchen waren unerträglich –, aber hübsch war sie schon.

Seine Gedanken wanderten im Zickzack zu Marjorie zurück. Mit ihrem Verschwinden würde es sein wie so oft. Wenn sie wieder auftauchte, würde er sie fragen, wo sie gewesen sei – und sie würde ihm mit aller Deutlichkeit erwidern, das gehe ihn überhaupt nichts an. Wie dumm, dass sie sich seiner so sicher war! Sie sonnte sich in dem Wissen, dass kein anderes Mädchen in der ganzen Stadt ihn interessierte; sie forderte ihn dazu heraus, sich in Genevieve oder Roberta zu verlieben.

Warren seufzte. Der Weg zu Marjories Gefühlen war wirklich ein Labyrinth. Er blickte auf. Bernice tanzte erneut mit dem Jungen von außerhalb. Halb unbewusst tat er einen Schritt aus der Herrenriege heraus in ihre Richtung und zögerte. Dann sagte er sich, es sei ein Akt der Barmherzigkeit. Er ging auf sie zu – und stieß plötzlich mit G. Reece Stoddard zusammen.

»Verzeihung«, sagte Warren.

Doch G. Reece blieb nicht stehen, um sich zu entschuldigen. Er hatte schon wieder Bernice aufgefordert.

Nachts um ein Uhr drehte sich Marjorie, die Hand am Lichtschalter in der Diele, um und schaute noch ein letztes Mal in Bernice’ blitzende Augen. »Es hat also funktioniert?«

»Oh, Marjorie, ja!«, rief Bernice.

»Ich habe gesehen, dass du dich gut amüsiert hast.«

»Das habe ich auch! Das einzige Problem war, dass mir gegen Mitternacht der Gesprächsstoff ausging. Ich musste mich wiederholen – natürlich vor anderen Männern. Ich hoffe, sie tauschen sich nicht aus.«

»Das tun Männer nicht«, sagte Marjorie und gähnte, »und selbst wenn sie es täten – sie würden dich nur für noch raffinierter halten.«

Sie knipste das Licht aus, und als sie die Treppe hinaufstiegen, griff Bernice dankbar nach dem Geländer. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie müde getanzt worden.

»Siehst du«, sagte Marjorie, als sie oben waren, »ein Mann sieht, wie ein anderer dich abklatscht, und denkt, da muss wohl irgendwas dran sein. Also, morgen lassen wir uns was Neues einfallen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Als Bernice ihre Haare löste, ließ sie den Abend noch einmal Revue passieren. Sie hatte sich genau an die Anweisungen gehalten. Selbst als Charley Paulson sie zum achten Mal abklatschte, hatte sie getan, als sei sie hocherfreut, und sich so interessiert wie geschmeichelt gegeben. Sie hatte weder über das Wetter in Eau Claire noch über Autos noch über ihre Schule geredet, sondern die Unterhaltung auf mich, dich und uns beschränkt.

Doch ein paar Minuten bevor sie einschlief, wühlte ein rebellischer Gedanke schlaftrunken in ihrem Kopf – sie war diejenige, die all das vollbracht hatte. Gewiss, Marjorie hatte ihr erklärt, was sie sagen sollte, doch Marjorie hatte das meiste, was sie selber sagte, auch nur irgendwo gelesen. Bernice hatte das rote Kleid gekauft, obwohl es ihr nie besonders schön erschienen war, ehe Marjorie es aus ihrem Koffer ausgrub – ihre Stimme hatte die Sätze gesagt, ihre Lippen hatten gelächelt, ihre Füße getanzt. Marjorie nettes Mädchen – aber eitel – netter Abend – nette Jungen – wie Warren – Warren – Warren – wie hieß er gleich – Warren –

Sie schlief ein.

V

 

Für Bernice war die nächste Woche eine Offenbarung. Mit dem Gefühl, dass es den Leuten wirklich Freude bereitete, sie anzuschauen und ihr zuzuhören, kam das Selbstvertrauen. Natürlich unterliefen ihr am Anfang zahlreiche Fehler. Sie wusste zum Beispiel nicht, dass Draycott Deyo für das Pfarramt studierte; ihr war nicht klar, dass er sie aufforderte, weil er sie für ein stilles, zurückhaltendes Mädchen hielt. Wäre es ihr bewusst gewesen, hätte sie ihn nicht mit dem Spruch »Hallo, Granatenwerfer!« beglückt und nahtlos die Badewannengeschichte angeschlossen: »Im Sommer kostet es mich schrecklich viel Kraft, mir die Haare zu frisieren – ich habe so viele davon –, deshalb frisiere ich sie mir immer zuerst, pudere mir das Gesicht und setze meinen Hut auf; dann steige ich in die Badewanne und kleide mich hinterher an. Meinen Sie nicht auch, das ist die beste Methode?«

Obgleich Draycott Deyo sich gerade mit schwierigen, die Immersionstaufe betreffenden Fragen herumquälte und hier eventuell einen Zusammenhang hätte entdecken können, müssen wir zugeben, dass dem nicht so war. Er betrachtete weibliches Baden als unsittlichen Gesprächsgegenstand und ließ Bernice an einigen seiner Gedanken zur Verkommenheit der modernen Gesellschaft teilhaben.

Doch zum Ausgleich dieses unseligen Zwischenfalls verzeichnete Bernice auf der Habenseite ein paar beachtliche Erfolge. Der kleine Otis Ormonde verzichtete auf eine Reise an die Ostküste und beschloss stattdessen, sich mit welpenhafter Ergebenheit an ihre Fersen zu heften, zum Amüsement seiner Freunde und zur Verärgerung G. Reece Stoddards, dessen nachmittägliche Aufwartungen durch die widerlich zärtlichen Blicke, die Otis auf Bernice richtete, mehrmals vollkommen verdorben wurden. Ja, zum Beweis, wie entsetzlich er und alle anderen sich in ihrem ersten Urteil über sie getäuscht hatten, erzählte er ihr sogar die Geschichte mit dem Holzscheit und der Damengarderobe. Bernice tat den Vorfall mit einem Lachen ab, obwohl es ihr einen kleinen Stich versetzte.

Von allem, was Bernice an Konversationskunst aufbot, war der bekannteste und mit dem größten Beifall aufgenommene Spruch der, dass sie sich einen Bubikopf schneiden lassen würde.

»Ach, Bernice, wann lassen Sie sich endlich einen Bubikopf schneiden?«

»Übermorgen vielleicht«, antwortete sie lachend. »Kommen Sie und schauen es sich an? Ich zähle nämlich auf Sie, müssen Sie wissen.«

»Ob wir kommen? Und ob! Aber beeilen Sie sich lieber.«

Bernice, deren Tonsurabsichten vollkommen unaufrichtig waren, lachte erneut.

»Es ist bald so weit. Sie werden staunen.«

Doch das bedeutsamste Zeichen ihres Erfolgs war womöglich der graue Wagen des über die Maßen kritischen Warren McIntyre, der täglich vor dem Harvey’schen Haus parkte. Zuerst war das Dienstmädchen richtig erschrocken, als er nach Bernice fragte und nicht nach Marjorie; nachdem das eine Woche so gegangen war, erzählte sie der Köchin, Miss Bernice hätte sich doch Miss Marjories besten Fisch geangelt.

Und das hatte Miss Bernice. Vielleicht fing es damit an, dass Warren Marjories Eifersucht wecken wollte; vielleicht war es Marjories vertrauter, wenn auch von ihm nicht erkannter Zungenschlag in Bernice’ Konversationskunst; vielleicht war es beides und ein Quentchen ernsthaftes Interesse dazu. In jedem Fall hatte das kollektive Bewusstsein der jungen Leute innerhalb einer Woche bemerkt, dass Marjories treuester Verehrer eine erstaunliche Kehrtwendung vollzogen hatte und ohne jeden Zweifel Marjories Gast umwarb. Die brennende Frage war, wie Marjorie das aufnehmen würde. Warren rief Bernice zweimal am Tag an, er schickte ihr Nachrichten, und häufig sah man sie zusammen in seinem Roadster sitzen, augenscheinlich in eines jener intensiven, bedeutungsvollen Gespräche darüber vertieft, ob er es ernst meine oder nicht.

Marjorie lachte nur, wenn man sie damit aufzog. Sie sagte, sie freue sich riesig, dass Warren endlich jemanden gefunden habe, der ihn schätze. Daraufhin stimmten die jungen Leute in ihr Lachen ein, nahmen an, dass es Marjorie nicht weiter kümmere, und ließen es dabei bewenden.

Eines Nachmittags – drei Tage vor ihrer Abreise –, wartete Bernice in der Diele auf Warren, mit dem sie zu einer Bridgeparty eingeladen war. Sie fühlte sich großartig, und als Marjorie, die zu derselben Party wollte, neben ihr auftauchte und beiläufig vor dem Spiegel ihren Hut zurechtzurücken begann, war Bernice auf so etwas wie einen Streit nicht im Allergeringsten vorbereitet. Marjorie erledigte die Arbeit sehr kalt und rasch mit drei Sätzen.

»Du kannst dir Warren aus dem Kopf schlagen«, sagte sie knapp.

»Was?« Bernice war vollkommen verblüfft.

»Hör lieber auf, dich wegen Warren McIntyre lächerlich zu machen. Du bist ihm vollkommen schnuppe.«

Einen angespannten Augenblick lang schauten sie einander an – Marjorie trotzig und arrogant, Bernice verblüfft und halb ärgerlich, halb ängstlich. Dann fuhren zwei Wagen vor dem Haus vor, und wildes Hupen ertönte. Die beiden Mädchen keuchten leise, wandten sich um und eilten Seite an Seite hinaus.

Die ganze Bridgeparty hindurch bemühte Bernice sich vergebens, ihr wachsendes Unbehagen zu unterdrücken. Sie hatte Marjorie beleidigt, die Sphinx der Sphinxe. Mit den besten und arglosesten Absichten der Welt hatte sie Marjories Eigentum gestohlen. Auf einmal fühlte sie sich entsetzlich schuldig. Nach dem Bridge, als sie in lockerer Runde beisammensaßen und sich unterhielten, brach der Sturm allmählich los. Es war der kleine Otis Ormonde, der ihn unbeabsichtigt auslöste.

»Wann gehst du wieder in den Kindergarten, Otis?«, hatte ihn irgendjemand gefragt.

»Ich? Sobald Bernice sich einen Bubikopf schneiden lässt.«

»Dann ist deine Ausbildung bereits zu Ende«, sagte Marjorie schnell. »Sie hat nur geblufft. Das hättest du eigentlich merken müssen.«

»Tatsache?«, fragte Otis und bedachte Bernice mit einem vorwurfsvollen Blick.

Bernice bekam glühend rote Ohren, während sie nach einer wirkungsvollen Replik sann. Angesichts dieses Frontalangriffs war ihre Phantasie wie gelähmt.

»Es wird viel geblufft in der Welt«, fuhr Marjorie ganz freundlich fort. »Du bist eigentlich jung genug, um das zu wissen, Otis.«

»Na ja«, sagte Otis. »Mag sein. Aber wirklich – so ein Spruch wie der von Bernice –«

»Ach ja?«, gähnte Marjorie. »Was ist denn ihr neustes Bonmot?«

Niemand schien es zu wissen. Genau genommen hatte Bernice in letzter Zeit, während sie mit dem Verehrer ihrer Muse spielte, nichts Bemerkenswertes mehr von sich gegeben.

»War das wirklich nur ein Spruch?«, wollte Roberta wissen.

Bernice zögerte. Sie spürte, dass irgendetwas Geistreiches von ihr erwartet wurde, doch unter den plötzlich so kalten Augen ihrer Cousine fühlte sie sich dazu vollends außerstande. »Ich weiß nicht«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen.

»Na los!«, sagte Marjorie. »Gib’s zu!«

Bernice sah, dass Warrens Blick sich von der Ukulele, an der er herumgezupft hatte, löste und sich fragend auf sie heftete.

»Ach, ich weiß es nicht!«, wiederholte sie. Ihre Wangen glühten.

»Na los!«, rief Marjorie noch einmal.

»Geben Sie sich einen Ruck, Bernice«, drängte Otis sie. »Zeigen Sie ihr, wo Schluss ist.«

Bernice schaute erneut in die Runde – unfähig, sich Warrens Blick zu entziehen.

»Mir gefällt kurzes Haar«, sagte sie rasch, als hätte er ihr eine Frage gestellt, »und ich werde mir einen Bubikopf schneiden lassen.«

»Wann?«, fragte Marjorie.

»Egal.«

»Am besten sofort«, schlug Roberta vor.

Otis sprang auf. »Tolle Idee!«, rief er. »Wir veranstalten eine Bubikopf-Sommerparty! Im Herrensalon des Sevier Hotels, richtig?«

Augenblicklich waren alle auf den Beinen. Bernice’ Herz hämmerte wie wild. »Was?«, keuchte sie.

Mitten aus der Gruppe ertönte, sehr klar und verächtlich, Marjories Stimme. »Keine Sorge – sie macht noch einen Rückzieher.«

»Kommen Sie schon, Bernice!«, rief Otis und lief zur Tür.

Vier Augen – Warrens und Marjories – starrten sie an, provozierten sie, forderten sie heraus. Eine weitere Sekunde lang schwankte sie heftig. »Na gut«, sagte sie rasch. »Dann mach ich’s eben.«

Als sie eine Ewigkeit von Minuten später neben Warren durch den Spätnachmittag gen Stadt fuhr, von den anderen in Robertas Wagen dicht gefolgt, fühlte Bernice sich ganz und gar wie Marie Antoinette im Schinderkarren auf dem Weg zur Guillotine. Benommen fragte sie sich, warum sie nicht laut hinausschrie, dass dies alles ein Irrtum sei. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich mit beiden Händen ins Haar gegriffen, um es vor einer schlagartig feindlich gewordenen Welt zu beschützen. Doch sie tat beides nicht. Selbst der Gedanke an ihre Mutter war keine Abschreckung mehr. Hier stand ihr Sportgeist auf dem Prüfstand; ihr Recht, unbehelligt in den Sternenhimmel der umschwärmten Mädchen aufzusteigen.

Warren verharrte in mürrischem Schweigen, und als sie beim Hotel ankamen, hielt er am Bordstein und gab Bernice mit einem Nicken zu verstehen, sie solle vor ihm aussteigen. Robertas Wagen entließ eine lachende Meute in das Geschäft, das der Straße zwei kühne Glasfenster präsentierte.

Bernice stand am Bordstein und blickte auf das Schild, Sevier Herrensalon. Es war in der Tat eine Guillotine, und der Henker war der erste Barbier, der, in eine weiße Jacke gekleidet und eine Zigarette rauchend, lässig am ersten Stuhl lehnte. Er hatte bestimmt schon von ihr gehört; hatte bestimmt die ganze Woche gewartet und neben jenem unheilvollen, zu oft erwähnten ersten Stuhl eine Zigarette nach der anderen geraucht. Würde man ihr die Augen verbinden? Nein, aber man würde ihr einen weißen Umhang um den Hals legen, damit kein Blut – Unsinn: Haar – auf ihre Kleider kam.

»Also gut, Bernice«, sagte Warren rasch.

Mit gerecktem Kinn schritt sie über den Gehweg, drückte die Schwingtür auf und hielt, ohne die aufgekratzte, lärmende Meute, die jetzt die Wartebank in Beschlag nahm, eines Blickes zu würdigen, auf den ersten Barbier zu.

»Ich möchte, dass Sie mir einen Bubikopf schneiden.«

Der Mund des Barbiers öffnete sich einen Spaltbreit. Seine Zigarette fiel zu Boden.

»Wie?«

»Meine Haare – schneiden Sie sie ab!«

Ohne sich auf weiteres Vorgeplänkel einzulassen, nahm Bernice hoch oben Platz. Ein Mann auf dem Stuhl neben ihr wandte den Kopf zur Seite und warf ihr einen Blick zu, halb Rasierschaum, halb Erstaunen. Einer der Barbiere erschrak und ruinierte den monatlichen Haarschnitt des kleinen Willy Schuneman. Mr. O’Reilly, der im letzten Stuhl saß, grunzte und fluchte sehr musikalisch in altem Gälisch, als das Rasiermesser ihn in die Wange biss. Zwei Stiefelputzer bekamen große Augen und stürzten auf ihre Füße zu. Nein. Bernice wollte ihre Schuhe nicht poliert haben.

Draußen blieb einer stehen und starrte herein; ein Paar gesellte sich zu ihm; ein halbes Dutzend kleiner Jungensnasen blitzten auf, platt gegen die Fensterscheibe gedrückt; und durch die Fliegengittertür wehte die Sommerbrise den einen oder anderen Gesprächsfetzen herein.

»Guck mal, ’n Junge mit so langen Haaren!«

»Blödsinn! Das ist ’ne bärtige Frau, die er grad fertigrasiert hat.«

Doch Bernice sah nichts und hörte nichts. Ihr einziger noch lebendiger Sinn sagte ihr, dass der Mann in der weißen Jacke ihr erst einen Schildpattkamm und dann einen zweiten aus dem Haar genommen hatte; dass seine Finger sich linkisch an den ungewohnten Haarnadeln zu schaffen machten; dass dieses Haar, ihr wunderschönes Haar, gleich verschwunden sein würde – nie wieder würde sie seine sinnliche Schwerkraft spüren, wenn es ihr in seiner dunkelbraunen Pracht den Rücken herabhing. Eine Sekunde lang war sie kurz davor, klein beizugeben, und dann schwamm ein Bild mechanisch in ihr Gesichtsfeld – Marjories Mund, der sich zu einem leisen, ironischen Lächeln verzog, als wollte sie sagen: »Gib auf und steig da runter! Du wolltest mich übers Ohr hauen, und ich habe dich gezwungen, Farbe zu bekennen. Du siehst, du hast keine Chance.«

Ein letzter Rest Energie regte sich in Bernice, sie ballte unter dem weißen Umhang die Fäuste, und ihre Augen verengten sich auf eine so eigentümliche Weise, dass Marjorie noch lange Zeit danach davon erzählte.

Zwanzig Minuten später schwang der Barbier sie herum, damit sie sich im Spiegel betrachten konnte, und sie zuckte zusammen, als sie das ganze Ausmaß des Schadens erfasste, der hier angerichtet worden war. Sie hatte kein lockiges Haar, und jetzt hing es in strähnigen, leblosen Blöcken zu beiden Seiten ihres erbleichten Gesichts herab. Es war hässlich wie die Sünde – sie hatte es vorher gewusst. Der besondere Charme ihres Gesichts war eine madonnenhafte Schlichtheit gewesen. Davon war nichts mehr übrig, und sie sah – nun ja, entsetzlich mittelmäßig aus, nicht exzentrisch, sondern bloß lächerlich, wie eine Intelligenzbestie aus Greenwich Village, die ihre Brille zu Hause vergessen hatte.

Als sie vom Stuhl hinunterstieg, versuchte sie zu lächeln – was kläglich scheiterte. Sie sah zwei der Mädchen Blicke wechseln, nahm wahr, dass Marjories Mund sich in verhaltenem Spott verzog – und dass Warrens Augen auf einmal sehr kalt waren.

»Sehen Sie« – ihre Worte fielen mitten in ein betretenes Schweigen hinein –, »ich hab’s getan.«

»Ja – das haben Sie«, gab Warren zu.

»Gefällt es Ihnen?«

Zwei oder drei Stimmen brachten ein halbherziges »Klar« hervor, dann herrschte erneut betretenes Schweigen. Schließlich wandte Marjorie sich rasch und mit schlangenhafter Intensität Warren zu.

»Könntest du mich vielleicht bei der Reinigung vorbeifahren?«, fragte sie. »Ich muss vor dem Abendessen unbedingt noch ein Kleid dort hinbringen. Roberta fährt direkt nach Hause, sie kann die anderen mitnehmen.«

Warren blickte geistesabwesend auf irgendeinen unbestimmten Punkt draußen vor dem Fenster. Dann ruhte sein Blick einen Moment lang kalt auf Bernice, ehe er zu Marjorie wanderte.

»Aber gern«, sagte er langsam.

VI

 

Was für eine abscheuliche Falle man ihr gestellt hatte, wurde Bernice vollends klar, als sie kurz vor dem Abendessen dem fassungslosen Blick ihrer Tante begegnete.

»Aber Bernice!«

»Ich hab’s mir abschneiden lassen, Tante Josephine.«

»Aber Kind!«

»Gefällt es dir?«

»Aber Ber-nice!«

»Jetzt habe ich dich wohl schockiert.«

»Nein, aber was wird Mrs. Deyo morgen Abend denken? Bernice, du hättest bis nach dem Tanzfest bei den Deyos warten sollen – du hättest noch warten sollen, wenn du so etwas machen wolltest.«

»Es war eine spontane Idee, Tante Josephine. Außerdem – warum sollte es gerade Mrs. Deyo etwas ausmachen?«

»Ach Kind«, rief Mrs. Harvey, »beim letzten Treffen des Donnerstagsclubs hat sie in ihrem Vortrag über ›Die Schwächen der jüngeren Generation‹ dem Bubikopf volle fünfzehn Minuten gewidmet. Es ist das Thema, über das sie sich am allerliebsten entrüstet. Und sie gibt dieses Tanzfest für dich und Marjorie!«

»Es tut mir leid.«

»Oh, Bernice, was wird bloß deine Mutter sagen? Sie wird glauben, ich hätte es dir erlaubt.«

»Es tut mir leid.«

Das Abendessen war eine Qual. Sie hatte hastig mit dem Lockenstab experimentiert und sich dabei den Finger und viel Haar verbrannt. Sie sah, dass ihre Tante besorgt und bekümmert war, und ihr Onkel sagte in gekränktem und leicht feindseligem Ton wieder und wieder: »Wie ist das bloß zu fassen.« Und Marjorie saß, hinter einem leichten, einem leicht spöttischen Lächeln verschanzt, ganz still da.

Irgendwie überstand Bernice den Abend. Drei Jungen kamen vorbei; Marjorie verschwand mit einem davon, und Bernice unternahm den lustlosen, vergeblichen Versuch, die beiden anderen zu unterhalten – und seufzte dankbar auf, als sie gegen halb elf hinaufging, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Was für ein Tag!

Während sie sich auszog, öffnete sich die Tür und Marjorie kam herein. »Bernice«, sagte sie. »Das mit dem Tanzfest bei den Deyos tut mir schrecklich leid. Ich hatte es völlig vergessen, Ehrenwort.«

»Schon gut«, gab Bernice knapp zurück. Sie stand vor dem Spiegel und zog mit langsamen Strichen den Kamm durch ihr kurzes Haar.

»Lass uns morgen zusammen in die Stadt gehen«, fuhr Marjorie fort. »Der Friseur wird sich was einfallen lassen, damit du toll aussiehst. Ich hätte nicht gedacht, dass du es machen würdest. Es tut mir wirklich furchtbar leid.«

»Ach, schon gut!«

»Wenigstens ist es dein letzter Abend, da macht es wohl nicht so viel aus.«

Dann zuckte Bernice zusammen, als Marjorie sich das eigene Haar über die Schulter warf und es langsam zu zwei langen, blonden Zöpfen zu flechten begann, bis sie in ihrem cremefarbenen Négligé dem zarten Bildnis einer sächsischen Prinzessin glich. Fasziniert sah Bernice die Zöpfe wachsen. Schwer und üppig bewegten sie sich unter den biegsamen Fingern wie unruhige Schlangen – und Bernice blieben nur diese Reste und der Lockenstab und die Aussicht auf einen Tag voller Blicke. Sie sah es schon vor sich, wie G. Reece Stoddard, der sie mochte, sein Harvard-Gebaren annahm und seiner Tischdame erklärte, man hätte Bernice nicht erlauben sollen, so viel ins Kino zu gehen; sie sah Draycott Deyo Blicke mit seiner Mutter wechseln und sich dann pflichtschuldig ihrer annehmen. Doch vielleicht würde die Neuigkeit ja bis morgen schon an Mrs. Deyos Ohr gedrungen sein; vielleicht würde sie eine eisige kleine Nachricht schicken, Bernice möge bitte davon absehen, bei ihr zu erscheinen – und alle würden hinter ihrem Rücken lachen und wissen, dass Marjorie sie zum Gespött gemacht hatte; dass ihre aufblühende Schönheit der eifersüchtigen Laune eines selbstverliebten Mädchens geopfert worden war. Sie setzte sich plötzlich vor den Spiegel und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange.

»Mir gefällt es«, sagte sie nach einiger Überwindung. »Ich glaube, man wird sagen, dass es mir steht.«

Marjorie lächelte. »Es sieht nicht schlecht aus. Zerbrich dir um Himmels willen nicht den Kopf deswegen!«

»Nein, nein.«

»Gute Nacht, Bernice.«

Doch als die Tür zufiel, zerriss etwas in Bernice. Voller Elan sprang sie auf, ballte die Fäuste und ging rasch und geräuschlos zu ihrem Bett hinüber, um ihren Koffer darunter hervorzuzerren. Sie warf ihre Toilettenartikel und Kleidung zum Wechseln hinein. Dann drehte sie sich zum Schrank um und kippte zwei Schubladen voller Unterwäsche und Sommerkleider in den Koffer. Sie bewegte sich leise, aber mit tödlicher Effizienz, und innerhalb einer Dreiviertelstunde war ihr Koffer verschlossen und verschnürt, und sie selbst hatte ein kleidsames neues Reisekostüm an, das auszusuchen Marjorie ihr geholfen hatte.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und verfasste einen knappen Brief an Mrs. Harvey, in dem sie kurz die Gründe ihrer Abreise skizzierte. Sie versiegelte ihn, adressierte ihn und legte ihn auf ihr Kissen. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr. Der Zug fuhr um eins, und sie wusste, dass sie beim Marlborough Hotel, das nur zwei Querstraßen entfernt war, ohne weiteres ein Taxi bekommen würde.

Plötzlich zog sie scharf die Luft ein, und in ihren Augen blitzte ein Ausdruck auf, den ein im Charakterstudium geübter Beobachter mit jener entschlossenen Miene in Verbindung hätte bringen können, die sie auf dem Friseurstuhl gezeigt hatte – quasi eine Weiterentwicklung derselben. Für Bernice war es ein ganz neuer Ausdruck – und er hatte Folgen.

Sie schlich zu ihrer Kommode, nahm einen dort liegenden Gegenstand in die Hand, löschte alle Lichter und blieb stehen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Behutsam drückte sie die Tür zu Marjories Zimmer auf. Sie hörte den leisen, gleichmäßigen Atem eines Menschen, der mit ruhigem Gewissen schläft.

Einen Augenblick später stand sie sehr besonnen und beherrscht am Bettrand. Sie handelte rasch. Beugte sich vor, fand einen von Marjories geflochtenen Zöpfen und tastete sich mit der Hand daran entlang, bis sie so nah wie möglich am Kopf war, und während sie das Haar möglichst locker hielt, damit die Schlafende kein Ziehen verspürte, fuhr sie mit der Schere nach unten und trennte es ab. Den Zopf in der Hand, hielt sie den Atem an. Marjorie hatte im Schlaf gemurmelt. Bernice amputierte flink und geschickt den anderen Zopf, hielt einen Moment inne und huschte dann rasch und leise wieder in ihr Zimmer.

Unten öffnete sie die große Haustür, zog sie vorsichtig hinter sich ins Schloss und trat, den schweren Koffer wie eine Einkaufstasche schwenkend, mit einem sonderbar freudigen, überschwenglichen Gefühl von der Veranda hinunter ins Mondlicht. Nachdem sie eine Minute forsch vorangeschritten war, stellte sie fest, dass sie die beiden blonden Zöpfe noch in der Hand hielt. Sie lachte unvermittelt auf – musste die Lippen fest zusammenkneifen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Jetzt kam sie an Warrens Haus vorbei, und einer spontanen Eingebung folgend, stellte sie ihren Koffer ab, schwang die Zöpfe wie Taue und schleuderte sie auf die Holzveranda, wo sie mit einem leichten, dumpfen Schlag landeten. Sie lachte erneut, diesmal ohne sich zu bezähmen.

»Hihi!«, kicherte sie wildvergnügt. »Das selbstsüchtige Ding hätten wir skalpiert!«

Dann nahm sie ihren Koffer und setzte, halb im Laufschritt, ihren Weg auf der mondbeschienenen Straße fort.

Winterträume
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_000.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_001.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_002.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_003.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_004.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_005.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_006.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_007.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_008.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_009.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_010.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_011.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_012.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_013.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_014.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_015.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_016.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_017.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_018.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_019.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_020.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_021.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_022.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_023.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_024.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_025.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_026.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_027.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_028.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_029.html
CR!5Z3PYKH69X441AAH93FBKC3K91VM_split_030.html