Kapitel 22
Missverständnisse sind unvermeidlich. Sie werden
auftauchen, wenn Ihr es am wenigsten erwartet, und sie werden Euch
verwirren. Wie Ihr damit umgeht, liegt vor allem daran, wie groß
die Zuneigung zueinander ist.
Aus dem Kapitel »Die Kunst des Streitens«
Da war er schon wieder! Es schien unglaublich,
aber sie wurde offenbar verfolgt.
Sie war sich sicher: Die Gestalt verbarg sich in
der Tür des Tabakladens auf der anderen Seite der Straße. Ihre
Augen verengten sich. Brianna verspürte eine gewisse Irritation und
ein Unbehagen, denn sie fragte sich, ob sie diesen Vorfall den
Behörden melden sollte. Schließlich war ihr Gatte ein vermögender
Mann, und wenn jemand versuchte, sie zu entführen, sollte sie auf
der Hut sein.
Es war der dritte Tag in Folge, dass sie ihn
bemerkt hatte. Sie war inzwischen zunehmend überzeugt, der
seltsame, kleine Mann mit der braun karierten Mütze beschattete
sie. Das erste Mal hatte sie ihn gesehen, als sie ihr Retikül in
der Kutsche vergessen hatte und noch einmal nach draußen eilte. Sie
war in ihrer Hast fast mit ihm zusammengestoßen. Damals hatte sie
dem Vorfall keine Bedeutung beigemessen, aber dann hatte sie ihn am
nächsten Tag erneut entdeckt.
Obwohl er sich anders kleidete, war er auch am
darauffolgenden Tag da. Als sie ihn das dritte Mal sah, verwandelte
sich ihre Neugier in Beunruhigung.
Brianna ging zurück in den Laden und fragte die
Gattin des
Putzmachers, eine kräftig gebaute Frau, die hinter der Ladentheke
des Geschäfts bediente, ob es eine Hintertür gebe, durch die sie
den Laden verlassen dürfe. Obwohl die Frau offensichtlich
überrascht war, zeigte sie hinter sich auf eine Tür. Sie nahm die
Münze, die Brianna ihr zusteckte, und versprach, in etwa einer
Stunde Briannas Kutscher durch ihren Angestellten anweisen zu
lassen, nach Hause zu fahren. Etwas an der Miene der Frau sagte
Brianna, dass man den Einfällen der Reichen und Adeligen nur mit
Ergebung begegnen konnte. Brianna schlüpfte in die Gasse hinter dem
Ladengeschäft und empfand plötzlich ein gewisses Gefühl von
Freiheit.
Sie war nicht sicher, ob ihre List wirklich
notwendig war, aber sie trug ein Kind unter ihrem Herzen. Dieses
wertvolle Leben, das mit dem Lauf der Zeit immer greifbarer für sie
wurde, bedeutete alles für sie. Es war vernünftig, wenn sie
vorsichtig war.
Es war ein herrlicher Tag, wenn auch ein
bisschen kalt. Der Himmel war blau, und nur wenige Schleierwolken
zogen über ihrem Kopf dahin. Als sie ein Stück weit die Gasse
entlanggegangen war und einige sehr zweifelhafte Müllberge umrundet
hatte, betrat Brianna durch eine Hintertür einen Tabakladen,
entschuldigte sich bei dem überraschten Besitzer und trat wieder
auf die Straße.
Arabella lebte nicht weit von hier, und da das
Wetter recht angenehm war, war es kein großer Umstand, den Weg zum
Haus der Bonhams zu laufen, das in der Nähe von St. James lag. Als
sie eintraf, wurde ihr zu ihrer Erleichterung ausgerichtet, Lady
Bonham sei daheim. Wenige Augenblicke später wurde sie in ein
Wohnzimmer im oberen Stockwerk geführt. Ihre Freundin stand auf, um
sie zu begrüßen. »Bri, wie schön, dass du vorbeischaust.«
Brianna zwang sich zu einem Lächeln. »Tut mir
leid, wenn ich dich so überfalle, aber es schien mir
angebracht.«
»Angebracht?« Arabella wies einladend auf einen
Stuhl. Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine merkwürdige Art, es
auszudrücken.«
Brianna setzte sich. Obwohl sie sich inzwischen
an das Unwohlsein gewöhnt hatte und besser damit zurechtkam, hatte
sie immer noch hin und wieder eine kleine Übelkeitsattacke. »Könnte
ich vielleicht eine Tasse schwachen Tee haben?«
»Natürlich.« Arabella griff nach dem Klingelzug.
»Ist es das Baby? Du lieber Himmel, du bist plötzlich so blass.
Möchtest du dich hinlegen?«
»Ein bisschen Tee wird seinen Zweck erfüllen«,
versicherte Brianna ihr. Als das Gewünschte kam, nippte sie anmutig
daran und wartete, bis die Übelkeit schwand. »Ich bin nur ein
bisschen durcheinander«, sagte sie und lächelte mit Tränen in den
Augen. »Danke, dass du zu Hause bist.«
Während ihres Spaziergangs war ihr ein sehr
unangenehmer Verdacht gekommen, und sie musste einfach mit
irgendjemandem darüber reden.
Arabella wirkte besorgt. »Was ist denn bloß los?
Du siehst aus, als wärst du nicht Herrin deiner Sinne.«
»Ich bin nicht sicher, wo ich anfangen soll.
Oder ob ich überhaupt anfangen soll.«
Ihre Freundin blinzelte verwundert. »Bitte komm
zum Punkt. Du drehst dich im Kreis.«
»Das ist nicht meine Absicht, aber es scheint
zuletzt eher mein Leben zu sein.« Brianna nahm noch einen Schluck
Tee. Jetzt fühlte sie sich genug gestärkt, um die Teetasse
beiseitezustellen. »Ich habe Colton erzählt, dass wir ein Kind
bekommen werden.«
Arabella nickte zustimmend. »Ich kann mir die
Freude deines Mannes vorstellen.«
»Man sollte glauben, er wäre erfreut, ja.«
Die Countess of Bonham runzelte die Stirn. »Was
soll das heißen? Er ist doch glücklich, oder nicht?«
»Das behauptet er zumindest.« Brianna wandte den
Kopf ab und blickte aus einem der quer unterteilten Fenster. Sie
kämpfte gegen die Tränen an. »Er sagt, er sei glücklich. Aber ich
bin mir da nicht so sicher. Er behandelt mich anders. Und nun
das.«
»Was um alles in der Welt meinst du? Was ist
das?«, fragte Arabella nach kurzem
Schweigen.
»Ich werde verfolgt. Zumindest glaube ich das.
Von so einem kleinen, unheimlichen Mann mit braunem Hut. Ich habe
ihn hin und wieder gesehen. Wahrlich, im Laufe des Lebens gibt es
ja einige seltsame Zufälle, aber das hier gehört nicht dazu.«
»Ich verstehe nicht.«
Brianna schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es
ebenso wenig, aber ich kann dir sagen, es würde mich nicht
überraschen, wenn Colton etwas damit zu tun hat. Er war zuletzt
immer so schlecht gelaunt. Er hat mir diese unglaublich grotesken
Fragen gestellt, und er verhält sich zwar, als wäre er glücklich
über das Kind, aber zugleich ist er auch wieder nicht glücklich. Ach, ich kann es nicht so gut
beschreiben. Aber es reicht wohl, wenn ich sage, es bringt mich in
Verlegenheit. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Warum sollte mein
Ehemann mich verfolgen lassen?«
Arabella öffnete ihren Mund, um zu einer Antwort
anzusetzen, schloss ihn dann jedoch wieder. Errötend blickte sie
beiseite und straffte schließlich die Schultern.
Interessiert beobachtete Brianna das Verhalten
ihrer Freundin. Ihr innerer Aufruhr versetzte ihren Magen noch
immer in Unruhe.
»Was?«, fragte sie rundheraus. Weil sie mit Arabella seit Langem
vertraut war, genügte dieses eine Wort. Dennoch fügte sie hinzu:
»Wenn du etwas weißt, sag es mir bitte.«
»Ich weiß gar nichts,
und ich vermute, ich bin auch nicht überrascht, wenn es dir noch
nicht eingefallen ist, weil es mir ähnlich ging. Vielleicht kann
ich eine Vermutung äußern.« Arabella wandte sich ihr wieder zu. Sie
wirkte entschlossen. »Rebecca hat mir das Buch gegeben, nachdem sie
damit fertig war, weißt du.«
Brianna nickte. Sie brauchte nicht fragen, um
welches Buch es sich handelte. Lady Rothburgs
Ratschläge.
Das Buch.
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass wir
drei es gelesen haben. Unsere Mütter würden in Ohnmacht fallen,
wenn sie es wüssten. Aber … ich … Oh, Liebes, es gibt keinen
leichten Weg, das zu sagen. Ich …«
»Bella, ich liebe dich, aber bitte sag mir
einfach, was los ist, bevor ich laut schreie.«
»Ich habe diese Sache in Kapitel zehn
gemacht.«
Kapitel zehn. Brianna
rief sich das Kapitel in Erinnerung und überlegte, was ihre
Freundin meinte. Nur mühsam hielt sie ein Keuchen zurück. Sie hatte
sich an Kapitel zehn noch nicht herangetraut, darum verstand sie
vollkommen, warum Arabella errötete. »Ich verstehe.«
»Es war nicht annähernd so unangenehm, wie es
sich angehört hat«, fuhr Arabella fort. »Und …«
»Wenn du mir nicht sofort erklärst, wie das mit
meiner Situation zusammenhängt, verliere ich noch den Verstand.«
Brianna spürte, wie sie die Zähne zusammenbiss. Ihr empfindlicher
Magen half auch nicht gerade.
»Andrew hat verlangt zu erfahren, woher die Idee
dazu kam. Es hat ihm gefallen, aber auch wieder nicht, wenn du
verstehst, was ich meine.« Arabella lehnte sich zurück. Sie wirkte
trotz ihrer rosigen Wangen zu allem entschlossen.
»Nein, ich fürchte, das verstehe ich
nicht.«
»Keine Sorge. Deinen Namen habe ich aus der
Sache herausgehalten. Aber schließlich musste ich ihm gestehen,
dass ich das Buch gelesen habe, weil mein Mann das Thema nicht
ruhen ließ. Er war zu erleichtert, um danach noch wütend zu
sein.«
»Erleichtert?« Der Logik konnte Brianna nicht
folgen. »Warum?«
»Sein erster Gedanke war, ich hätte diese
Technik unter Umständen von einem anderen Mann gelernt.«
Brianna war völlig sprachlos.
Arabella blickte sie mitfühlend an. »Ich glaube,
mein Gesichtsausdruck ähnelte dem, den du gerade trägst. Ich konnte
einfach nicht begreifen, wie er zu diesem Schluss kommen konnte.
Ich meine, wie konnte Andrew bloß so etwas von mir glauben? Seine
Antwort war, er könne sich nicht vorstellen, wie ich mir etwas so
Verruchtes selbst ausdenken konnte. Das Problem war, er hatte
recht! Das könnte ich auch nicht. Ich wusste nicht einmal, dass
Frauen so etwas machen. Ohne das Buch wäre es mir auch nie in den
Sinn gekommen. Vielleicht ist Colton zu demselben Schluss gekommen
wie Andrew, und er lässt dich deswegen beschatten.«
Lieber Gott, Colton glaubte doch nicht allen
Ernstes, dass sie eine Affäre unterhielt, oder? Brianna saß
stocksteif da. Ihre Gedanken rasten, während sie über die letzten
Wochen nachdachte.
Er hatte sie, nachdem
sie den Rat aus Kapitel zwei angewendet hatte, gefragt, woher diese
Idee kam. Aber sie hatte sich der
Frage entzogen. Anders als Andrew war Colton kein Mann, der ein
Thema weiterverfolgte. Er hatte es fallen lassen.
Und dann … lieber Himmel, dann hatte sie ihn am
Abend seines Geburtstags gefesselt. Und jetzt, da sie darüber
nachdachte, hatte er sich danach verändert.
Du hast nichts Falsches getan, meine Liebe.
Oder?
Die Verletzlichkeit in seinem Blick hatte sie
getroffen. Und war da nicht auch etwas Vorwurfsvolles in seinen
Augen gewesen?
Ihre Hand zitterte wie ein Blatt im Wind, als
sie sie hob, um eine Haarsträhne von ihrer Wange zu streichen. Sie
ließ die Hand in ihren Schoß fallen und sagte mit einer Stimme, die
sie nicht wiedererkannte: »Wenn ich darüber nachdenke, könntest du
recht haben. Oh, Bella. Sind denn alle Männer vollkommen
verrückt?«
»Das glaube ich auch immer wieder«, erwiderte
ihre Freundin trocken. »Was wirst du jetzt unternehmen?«
»Mord ist in England wohl immer noch ein
Verbrechen?«, murmelte Brianna.
»Unglücklicherweise, ja«, sagte Arabella. In
ihrer Stimme schwang Lachen mit. »Einen ehrenwerten Duke seiner
gerechten Bestrafung zuzuführen, würde dennoch eine ziemlich hohe
Strafe nach sich ziehen, egal wie dickköpfig er vorher vielleicht
war.«
»Es ist nur allzu verlockend.«
»Ich kann es mir vorstellen. Ich war ebenso
aufgebracht wie du jetzt. Naja, vielleicht nicht ganz so. Andrew
ist nicht so weit gegangen, mich verfolgen zu lassen.«
Ihr Mann hatte sie beschatten lassen. Es war
einfach unfassbar.
Brianna blickte ihre Freundin an und straffte
den Rücken. »Ich glaube, Colton wird schon bald merken, dass ich,
anders als er, nicht abgeneigt bin, gewisse unbequeme Themen zu
diskutieren. Wenn du das Buch noch hast, hätte ich es gern
zurück.«
»Ich habe es in meinem Zimmer versteckt. Ich
hole es dir.« Anmutig erhob Arabella sich und verließ den Raum.
Wenige Minuten später kam sie mit dem in Leder gebundenen Buch
zurück und reichte es Brianna mit funkelnden Augen. »Was genau hast
du vor?«
Brianna stand auf. Sie war wütender als je zuvor
in ihrem Leben. »Ich werde meinem verärgerten Mann eine Lektion
erteilen, welchen Wert Ehrlichkeit haben sollte.«
Die Tür zu seinem Arbeitszimmer flog mit so viel
Schwung auf, dass sie gegen die Vertäfelung der danebenliegenden
Wand schlug. Kein Klopfen, keine Frage um Erlaubnis, eintreten zu
dürfen. Überrascht blickte Colton auf. Sein Sekretär, der die
Statur einer schmächtigen Vogelscheuche hatte, sprang hastig auf
und stolperte über seinen eigenen Stuhl. Höflich und etwas
langsamer stand auch Colton auf. Er bemerkte die aufgeregte Röte,
die die Wangen seiner Frau überzog, als sie den Raum betrat. Auf
ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der eine drohende Katastrophe
ankündigte. So beruhigend wie möglich begrüßte er sie: »Guten Tag,
meine Liebe.«
»Hier.« Sie marschierte direkt zu seinem
Schreibtisch und warf ein Buch auf den Stapel Korrespondenz, den er
gerade durchging.
Was zum Teufel geht hier vor?
Brianna trug ein pfirsichfarbenes Kleid. Der
modische Schnitt war sittsam, doch schmiegte sich der Stoff
anregend an ihre üppigen
Kurven. Ihre schönen Augen blitzten vor Wut. Was auch immer das
Problem war, er schien aktuell nicht in ihrer Gunst zu stehen.
Colton räusperte sich und sagte knapp: »Mills, Sie können
einstweilen gehen. Und bitte schließen Sie die Tür hinter
sich.«
Der junge Mann gehorchte mit beinahe drolliger
Eile, und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, bemerkte Colton
kalt: »Du bist wütend auf mich, so viel ist offensichtlich. Aber du
weißt, ich mag keine Gefühlsausbrüche in Gegenwart der
Bediensteten, Brianna.«
»Ihr mögt überhaupt keine Gefühlsausbrüche,
Euer Gnaden«, informierte seine schöne Frau
ihn mit offenem Sarkasmus. »Aber ich habe gedacht, ich könnte dich
ändern. Ich glaube, das war mein Fehler, denn alles, was ich für
meine beträchtlichen Mühen bekommen habe, ist dein
Misstrauen.«
Misstrauen. Der Nebel lichtete sich, und er
verfluchte im Stillen Hudson and Sons, die ihren Teil des Handels,
unsichtbar zu bleiben, offenbar nicht hatten einhalten
können.
Das war wirklich eine
Katastrophe.
»Mich ändern?« Er starrte sie an. Die Tränen,
die in ihren Augen schimmerten, überraschten ihn.
Sie legte ihre Hände auf seinen Schreibtisch und
lehnte sich leicht vor. Ihre Wut war geradezu greifbar. »Hast du
jemanden angeheuert, damit er mich beschattet, Colton? Hast du
wirklich gedacht, ich habe eine Affäre mit einem anderen
Mann?«
Erleichterung durchströmte ihn. Es war
offensichtlich, wie echt ihre Wut war. Der Gedanke, sie könne den
sprunghaften Anstieg ihres sexuellen Wissens im Bett eines anderen
Mannes finden, hatte ihn mit jedem Tag zunehmend wahnsinnig vor
Eifersucht gemacht. Jetzt war er es, der leicht errötete. Plötzlich
fühlte sich seine Krawatte zu eng an. »Vielleicht sollten wir uns
hinsetzen und das in aller Ruhe besprechen.«
»Nein.« Um ihren weichen Mund lag ein
eigensinniger Zug. Brianna schüttelte den Kopf. »Ich bin überhaupt
nicht ruhig, und ich bin nicht daran interessiert, so zu tun, als
ob. Anders als du bin ich durchaus bereit, anderen meine Gefühle zu
zeigen.«
»Ich bin schon immer zurückhaltend gewesen,
Brianna«, sagte er steif. Die in ihren Worten mitschwingende Kritik
an ihm tat mehr als nur ein bisschen weh. »Das hast du gewusst, ehe
du meinen Heiratsantrag angenommen hast. Es tut mir leid, wenn ich
dich enttäusche.«
»Ihr seid mehr als nur zurückhaltend, Sir. Ihr
seid verklemmt.«
»Verklemmt?« Colton hob langsam eine Braue. Sie
sprach die Anschuldigung so beleidigend aus, dass es sich anfühlte,
als versetze sie ihm eine Ohrfeige. »Ich verstehe.«
Schlimmer noch, er verdiente es. Ein Teil von
ihm wünschte beinahe, sie würde die Satisfaktion suchen und ihn
wirklich schlagen.
»Ja, aber du hast Fortschritte gemacht, allein
aufgrund dieses Buchs.« Sie wies auf den Band, der inmitten seiner
verstreuten Papiere lag.
Wovon zur Hölle redete sie?
Zum ersten Mal schaute er auf den Schreibtisch.
Er erkannte den Titel, der in roten Buchstaben auf den Ledereinband
gedruckt war. »Oh Gott«, murmelte er. »Wo um alles in der Welt hast
du das her?«
»Ist es denn so wichtig, wo ich es gefunden
habe? Was zählt, ist doch, dass es sehr informativ war.«
Er hielt sich nur mit Mühe davon ab, seiner
wunderschönen Gattin zu erklären, keine Frau von Stand sollte das
Buch einer
gefallenen Frau lesen, die zu ihrer Zeit ihren Lebensunterhalt
damit verdient hatte, sexuelle Gefälligkeiten zu verkaufen, nur um
später die Unverfrorenheit zu besitzen, Details über ihre
Heldentaten zu veröffentlichen. Stattdessen kam er zu einer
unangenehmen Einsicht, die eine weitere Frage aufwarf.»Warum hast
du geglaubt, du müsstest dich informieren?«, fragte er. Nur mit
äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihm, seine Stimme
versöhnlich klingen zu lassen.
»Weil ich keine Lust hatte, wie Lord Farringtons
Frau zu enden. Ich will nicht gezwungen sein, dich mit deiner
Mätresse am Arm in der Oper zu treffen.«
Erleichtert brachte er hervor: »Brianna, ich
habe keine Mätresse.«
»Schön, das zu wissen.« Ihre Unterlippe zitterte
leicht, und sie atmete tief durch. »Aber was geschieht in Zukunft?
Du hast mir gegenüber oft genug erwähnt, dass es vielen Ehen in
unseren Kreisen an Treue mangelt, und ich habe Ohren. Ich höre den
Klatsch. Ich will nicht irgendwann erfahren, dass du das Bett einer
anderen Frau aufsuchst, weil dir in meinem langweilig wird.«
Sie wirkte so bewundernswert ernst. Colton
musste gegen den Drang kämpfen, sie sofort in seine Arme zu reißen
und ihr auf überaus körperliche Weise zu beweisen, dass keine
Gefahr bestand, er könne eine andere Frau begehren. Allerdings
hatte er den Eindruck, im Augenblick würde sie seinen
Aufmerksamkeiten nicht mit ungeteilter Begeisterung begegnen.
Zuerst musste er den Schaden beheben, den er angerichtet
hatte.
Er räusperte sich. »Ich kann diese Sorge meine
Untreue betreffend nachvollziehen, da ich mich selbst mit der Frage
gequält habe, wo um alles in der Welt du diese abenteuerlichen
Techniken
gelernt hast. Vergib mir, wenn ich auch nur einen winzigen Zweifel
gehegt habe, aber es war die logische Konsequenz, zu glauben, dich
würde jemand unterweisen. Und dieser Jemand war nicht ich.«
Ihre Wimpern senkten sich, und ihre Augen wurden
schmal. »Nein, du nicht. Natürlich nicht du. Du hast mir in den
ersten Monaten unserer Ehe nicht mal das Nachthemd ausgezogen, wenn
wir uns liebten, Colton.«
Das stimmte. Es war eine Tatsache, die ihn in
gewisser Weise kränkte, zumal sie von einer jungen Frau
ausgesprochen wurde, die es selbst in die Hand genommen hatte, ihre
sexuelle Beziehung auszubauen.
Verdammt noch mal, sie war seine Ehefrau. Er hatte doch nur versucht, höflich zu sein
und ihre Empfindsamkeit zu schützen.
»Ich habe versucht, ein
Gentleman zu sein.« Er fühlte sich in die Ecke gedrängt. Nicht nur,
weil das, was er getan hatte, und das, was er hatte tun wollen,
zwei völlig unterschiedliche Dinge gewesen waren. Seine
Zurückhaltung war doch nur zu ihrem Besten gewesen.
»Lady Rothburg schreibt, im Bett gibt es keine
Gentlemen und keine Ladys.«
»Schreibt sie das? So, so.« Er lehnte seine
Hüfte gegen die Schreibtischkante und verschränkte die Arme vor der
Brust. Nachdenklich blickte er seine eigensinnige Frau an und
erinnerte sich wieder an die unfassbar leidenschaftlichen
Liebesspiele, die er zuletzt mit ihr hatte genießen dürfen, weil
sie den Ratschlägen dieses verruchten Buchs folgte.»Wenn ich es
richtig verstehe, hast du nach einer Möglichkeit gesucht, die Dinge
zu ändern, weil ich es war, den du langweilig fandest.«
Stille. Kein Leugnen. Wie schmeichelhaft.
Röte stieg ihren anmutigen Hals und bis in ihre
Wangen hinauf. Sie stand noch immer auf der anderen Seite des
Schreibtischs. »Nicht langweilig«, gestand sie. »Ich genieße es
jedes Mal, wenn du mich berührst. Aber etwas hat gefehlt. Was
zwischen uns im Bett passierte, war lustvoll, aber nicht
aufregend.«
Er fühlte sich wie ein Idiot. Sie hatte ja so
recht. »Du wünschst dir Aufregung, verstehe ich das richtig?«
»Nur mit dir, Colton. Denn ich liebe dich. Aber
ja, ich vermute, ich finde es aufregender, wenn du ein bisschen die
Kontrolle verlierst. Wenn du mir zeigst, wie sehr du mich
begehrst.« Ihr Blick war sehr ernst.
Er schämte sich, und er fühlte sich auch
gedemütigt. Denn woher sollte er denn wissen, dass sie ein Exemplar
von diesem unerhörten Buch besaß?
»Brianna …«
»Ich werde nicht länger mit dir reden«,
verkündete sie ernst.
Und dann drehte sie sich um und verließ ebenso
ungestüm das Zimmer, wie sie es betreten hatte. Ehe sie ging, sah
er die feuchte Spur einer Träne, die sich ihren Weg über ihre Wange
bahnte. Mit beredter Wut wischte sie die Träne mit der Hand
weg.
Wenn es etwas Schlimmeres geben konnte, als ein
Dummkopf zu sein, war es wohl nur, ein unsensibler Dummkopf zu
sein, grübelte er missmutig.
Er musste das wiedergutmachen. Und er hatte
absolut keine Ahnung, wie er das konnte. Obwohl er ziemlich wütend
auf sich war, weil er seine Frau mit seinen Verdächtigungen so sehr
verletzt hatte, sang ein anderer Teil von ihm voller Freude.
Brianna gehörte allein ihm. Das Kind, das sie
unter dem Herzen trug, war ein Zeichen ihrer gegenseitigen Liebe.
Und auch
wenn er einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte, war er noch
nie zuvor in seinem Leben so hocherfreut gewesen, sich zu
irren.
Neugierig nahm er das schändliche Buch zur Hand
und betrachtete die Prägebuchstaben auf dem Einband.Vielleicht
lohnte es, das Werk zu lesen, denn wenn Brianna es benutzt hatte,
um ihn zu verführen – und das war ihr auf eindrucksvolle Weise
gelungen -, konnte ihm Lady Rothburg unter Umständen auch noch
etwas beibringen.