Kapitel 22
Missverständnisse sind unvermeidlich. Sie werden auftauchen, wenn Ihr es am wenigsten erwartet, und sie werden Euch verwirren. Wie Ihr damit umgeht, liegt vor allem daran, wie groß die Zuneigung zueinander ist.
Aus dem Kapitel »Die Kunst des Streitens«
 
Da war er schon wieder! Es schien unglaublich, aber sie wurde offenbar verfolgt.
Sie war sich sicher: Die Gestalt verbarg sich in der Tür des Tabakladens auf der anderen Seite der Straße. Ihre Augen verengten sich. Brianna verspürte eine gewisse Irritation und ein Unbehagen, denn sie fragte sich, ob sie diesen Vorfall den Behörden melden sollte. Schließlich war ihr Gatte ein vermögender Mann, und wenn jemand versuchte, sie zu entführen, sollte sie auf der Hut sein.
Es war der dritte Tag in Folge, dass sie ihn bemerkt hatte. Sie war inzwischen zunehmend überzeugt, der seltsame, kleine Mann mit der braun karierten Mütze beschattete sie. Das erste Mal hatte sie ihn gesehen, als sie ihr Retikül in der Kutsche vergessen hatte und noch einmal nach draußen eilte. Sie war in ihrer Hast fast mit ihm zusammengestoßen. Damals hatte sie dem Vorfall keine Bedeutung beigemessen, aber dann hatte sie ihn am nächsten Tag erneut entdeckt.
Obwohl er sich anders kleidete, war er auch am darauffolgenden Tag da. Als sie ihn das dritte Mal sah, verwandelte sich ihre Neugier in Beunruhigung.
Brianna ging zurück in den Laden und fragte die Gattin des Putzmachers, eine kräftig gebaute Frau, die hinter der Ladentheke des Geschäfts bediente, ob es eine Hintertür gebe, durch die sie den Laden verlassen dürfe. Obwohl die Frau offensichtlich überrascht war, zeigte sie hinter sich auf eine Tür. Sie nahm die Münze, die Brianna ihr zusteckte, und versprach, in etwa einer Stunde Briannas Kutscher durch ihren Angestellten anweisen zu lassen, nach Hause zu fahren. Etwas an der Miene der Frau sagte Brianna, dass man den Einfällen der Reichen und Adeligen nur mit Ergebung begegnen konnte. Brianna schlüpfte in die Gasse hinter dem Ladengeschäft und empfand plötzlich ein gewisses Gefühl von Freiheit.
Sie war nicht sicher, ob ihre List wirklich notwendig war, aber sie trug ein Kind unter ihrem Herzen. Dieses wertvolle Leben, das mit dem Lauf der Zeit immer greifbarer für sie wurde, bedeutete alles für sie. Es war vernünftig, wenn sie vorsichtig war.
Es war ein herrlicher Tag, wenn auch ein bisschen kalt. Der Himmel war blau, und nur wenige Schleierwolken zogen über ihrem Kopf dahin. Als sie ein Stück weit die Gasse entlanggegangen war und einige sehr zweifelhafte Müllberge umrundet hatte, betrat Brianna durch eine Hintertür einen Tabakladen, entschuldigte sich bei dem überraschten Besitzer und trat wieder auf die Straße.
Arabella lebte nicht weit von hier, und da das Wetter recht angenehm war, war es kein großer Umstand, den Weg zum Haus der Bonhams zu laufen, das in der Nähe von St. James lag. Als sie eintraf, wurde ihr zu ihrer Erleichterung ausgerichtet, Lady Bonham sei daheim. Wenige Augenblicke später wurde sie in ein Wohnzimmer im oberen Stockwerk geführt. Ihre Freundin stand auf, um sie zu begrüßen. »Bri, wie schön, dass du vorbeischaust.«
Brianna zwang sich zu einem Lächeln. »Tut mir leid, wenn ich dich so überfalle, aber es schien mir angebracht.«
»Angebracht?« Arabella wies einladend auf einen Stuhl. Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine merkwürdige Art, es auszudrücken.«
Brianna setzte sich. Obwohl sie sich inzwischen an das Unwohlsein gewöhnt hatte und besser damit zurechtkam, hatte sie immer noch hin und wieder eine kleine Übelkeitsattacke. »Könnte ich vielleicht eine Tasse schwachen Tee haben?«
»Natürlich.« Arabella griff nach dem Klingelzug. »Ist es das Baby? Du lieber Himmel, du bist plötzlich so blass. Möchtest du dich hinlegen?«
»Ein bisschen Tee wird seinen Zweck erfüllen«, versicherte Brianna ihr. Als das Gewünschte kam, nippte sie anmutig daran und wartete, bis die Übelkeit schwand. »Ich bin nur ein bisschen durcheinander«, sagte sie und lächelte mit Tränen in den Augen. »Danke, dass du zu Hause bist.«
Während ihres Spaziergangs war ihr ein sehr unangenehmer Verdacht gekommen, und sie musste einfach mit irgendjemandem darüber reden.
Arabella wirkte besorgt. »Was ist denn bloß los? Du siehst aus, als wärst du nicht Herrin deiner Sinne.«
»Ich bin nicht sicher, wo ich anfangen soll. Oder ob ich überhaupt anfangen soll.«
Ihre Freundin blinzelte verwundert. »Bitte komm zum Punkt. Du drehst dich im Kreis.«
»Das ist nicht meine Absicht, aber es scheint zuletzt eher mein Leben zu sein.« Brianna nahm noch einen Schluck Tee. Jetzt fühlte sie sich genug gestärkt, um die Teetasse beiseitezustellen. »Ich habe Colton erzählt, dass wir ein Kind bekommen werden.«
Arabella nickte zustimmend. »Ich kann mir die Freude deines Mannes vorstellen.«
»Man sollte glauben, er wäre erfreut, ja.«
Die Countess of Bonham runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Er ist doch glücklich, oder nicht?«
»Das behauptet er zumindest.« Brianna wandte den Kopf ab und blickte aus einem der quer unterteilten Fenster. Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Er sagt, er sei glücklich. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Er behandelt mich anders. Und nun das
»Was um alles in der Welt meinst du? Was ist das?«, fragte Arabella nach kurzem Schweigen.
»Ich werde verfolgt. Zumindest glaube ich das. Von so einem kleinen, unheimlichen Mann mit braunem Hut. Ich habe ihn hin und wieder gesehen. Wahrlich, im Laufe des Lebens gibt es ja einige seltsame Zufälle, aber das hier gehört nicht dazu.«
»Ich verstehe nicht.«
Brianna schüttelte den Kopf. »Ich verstehe es ebenso wenig, aber ich kann dir sagen, es würde mich nicht überraschen, wenn Colton etwas damit zu tun hat. Er war zuletzt immer so schlecht gelaunt. Er hat mir diese unglaublich grotesken Fragen gestellt, und er verhält sich zwar, als wäre er glücklich über das Kind, aber zugleich ist er auch wieder nicht glücklich. Ach, ich kann es nicht so gut beschreiben. Aber es reicht wohl, wenn ich sage, es bringt mich in Verlegenheit. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Warum sollte mein Ehemann mich verfolgen lassen?«
Arabella öffnete ihren Mund, um zu einer Antwort anzusetzen, schloss ihn dann jedoch wieder. Errötend blickte sie beiseite und straffte schließlich die Schultern.
Interessiert beobachtete Brianna das Verhalten ihrer Freundin. Ihr innerer Aufruhr versetzte ihren Magen noch immer in Unruhe. »Was?«, fragte sie rundheraus. Weil sie mit Arabella seit Langem vertraut war, genügte dieses eine Wort. Dennoch fügte sie hinzu: »Wenn du etwas weißt, sag es mir bitte.«
»Ich weiß gar nichts, und ich vermute, ich bin auch nicht überrascht, wenn es dir noch nicht eingefallen ist, weil es mir ähnlich ging. Vielleicht kann ich eine Vermutung äußern.« Arabella wandte sich ihr wieder zu. Sie wirkte entschlossen. »Rebecca hat mir das Buch gegeben, nachdem sie damit fertig war, weißt du.«
Brianna nickte. Sie brauchte nicht fragen, um welches Buch es sich handelte. Lady Rothburgs Ratschläge.
Das Buch.
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass wir drei es gelesen haben. Unsere Mütter würden in Ohnmacht fallen, wenn sie es wüssten. Aber … ich … Oh, Liebes, es gibt keinen leichten Weg, das zu sagen. Ich …«
»Bella, ich liebe dich, aber bitte sag mir einfach, was los ist, bevor ich laut schreie.«
»Ich habe diese Sache in Kapitel zehn gemacht.«
Kapitel zehn. Brianna rief sich das Kapitel in Erinnerung und überlegte, was ihre Freundin meinte. Nur mühsam hielt sie ein Keuchen zurück. Sie hatte sich an Kapitel zehn noch nicht herangetraut, darum verstand sie vollkommen, warum Arabella errötete. »Ich verstehe.«
»Es war nicht annähernd so unangenehm, wie es sich angehört hat«, fuhr Arabella fort. »Und …«
»Wenn du mir nicht sofort erklärst, wie das mit meiner Situation zusammenhängt, verliere ich noch den Verstand.« Brianna spürte, wie sie die Zähne zusammenbiss. Ihr empfindlicher Magen half auch nicht gerade.
»Andrew hat verlangt zu erfahren, woher die Idee dazu kam. Es hat ihm gefallen, aber auch wieder nicht, wenn du verstehst, was ich meine.« Arabella lehnte sich zurück. Sie wirkte trotz ihrer rosigen Wangen zu allem entschlossen.
»Nein, ich fürchte, das verstehe ich nicht.«
»Keine Sorge. Deinen Namen habe ich aus der Sache herausgehalten. Aber schließlich musste ich ihm gestehen, dass ich das Buch gelesen habe, weil mein Mann das Thema nicht ruhen ließ. Er war zu erleichtert, um danach noch wütend zu sein.«
»Erleichtert?« Der Logik konnte Brianna nicht folgen. »Warum?«
»Sein erster Gedanke war, ich hätte diese Technik unter Umständen von einem anderen Mann gelernt.«
Brianna war völlig sprachlos.
Arabella blickte sie mitfühlend an. »Ich glaube, mein Gesichtsausdruck ähnelte dem, den du gerade trägst. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie er zu diesem Schluss kommen konnte. Ich meine, wie konnte Andrew bloß so etwas von mir glauben? Seine Antwort war, er könne sich nicht vorstellen, wie ich mir etwas so Verruchtes selbst ausdenken konnte. Das Problem war, er hatte recht! Das könnte ich auch nicht. Ich wusste nicht einmal, dass Frauen so etwas machen. Ohne das Buch wäre es mir auch nie in den Sinn gekommen. Vielleicht ist Colton zu demselben Schluss gekommen wie Andrew, und er lässt dich deswegen beschatten.«
Lieber Gott, Colton glaubte doch nicht allen Ernstes, dass sie eine Affäre unterhielt, oder? Brianna saß stocksteif da. Ihre Gedanken rasten, während sie über die letzten Wochen nachdachte.
Er hatte sie, nachdem sie den Rat aus Kapitel zwei angewendet hatte, gefragt, woher diese Idee kam. Aber sie hatte sich der Frage entzogen. Anders als Andrew war Colton kein Mann, der ein Thema weiterverfolgte. Er hatte es fallen lassen.
Und dann … lieber Himmel, dann hatte sie ihn am Abend seines Geburtstags gefesselt. Und jetzt, da sie darüber nachdachte, hatte er sich danach verändert.
Du hast nichts Falsches getan, meine Liebe. Oder?
Die Verletzlichkeit in seinem Blick hatte sie getroffen. Und war da nicht auch etwas Vorwurfsvolles in seinen Augen gewesen?
Ihre Hand zitterte wie ein Blatt im Wind, als sie sie hob, um eine Haarsträhne von ihrer Wange zu streichen. Sie ließ die Hand in ihren Schoß fallen und sagte mit einer Stimme, die sie nicht wiedererkannte: »Wenn ich darüber nachdenke, könntest du recht haben. Oh, Bella. Sind denn alle Männer vollkommen verrückt?«
»Das glaube ich auch immer wieder«, erwiderte ihre Freundin trocken. »Was wirst du jetzt unternehmen?«
»Mord ist in England wohl immer noch ein Verbrechen?«, murmelte Brianna.
»Unglücklicherweise, ja«, sagte Arabella. In ihrer Stimme schwang Lachen mit. »Einen ehrenwerten Duke seiner gerechten Bestrafung zuzuführen, würde dennoch eine ziemlich hohe Strafe nach sich ziehen, egal wie dickköpfig er vorher vielleicht war.«
»Es ist nur allzu verlockend.«
»Ich kann es mir vorstellen. Ich war ebenso aufgebracht wie du jetzt. Naja, vielleicht nicht ganz so. Andrew ist nicht so weit gegangen, mich verfolgen zu lassen.«
Ihr Mann hatte sie beschatten lassen. Es war einfach unfassbar.
Brianna blickte ihre Freundin an und straffte den Rücken. »Ich glaube, Colton wird schon bald merken, dass ich, anders als er, nicht abgeneigt bin, gewisse unbequeme Themen zu diskutieren. Wenn du das Buch noch hast, hätte ich es gern zurück.«
»Ich habe es in meinem Zimmer versteckt. Ich hole es dir.« Anmutig erhob Arabella sich und verließ den Raum. Wenige Minuten später kam sie mit dem in Leder gebundenen Buch zurück und reichte es Brianna mit funkelnden Augen. »Was genau hast du vor?«
Brianna stand auf. Sie war wütender als je zuvor in ihrem Leben. »Ich werde meinem verärgerten Mann eine Lektion erteilen, welchen Wert Ehrlichkeit haben sollte.«
 
Die Tür zu seinem Arbeitszimmer flog mit so viel Schwung auf, dass sie gegen die Vertäfelung der danebenliegenden Wand schlug. Kein Klopfen, keine Frage um Erlaubnis, eintreten zu dürfen. Überrascht blickte Colton auf. Sein Sekretär, der die Statur einer schmächtigen Vogelscheuche hatte, sprang hastig auf und stolperte über seinen eigenen Stuhl. Höflich und etwas langsamer stand auch Colton auf. Er bemerkte die aufgeregte Röte, die die Wangen seiner Frau überzog, als sie den Raum betrat. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, der eine drohende Katastrophe ankündigte. So beruhigend wie möglich begrüßte er sie: »Guten Tag, meine Liebe.«
»Hier.« Sie marschierte direkt zu seinem Schreibtisch und warf ein Buch auf den Stapel Korrespondenz, den er gerade durchging.
Was zum Teufel geht hier vor?
Brianna trug ein pfirsichfarbenes Kleid. Der modische Schnitt war sittsam, doch schmiegte sich der Stoff anregend an ihre üppigen Kurven. Ihre schönen Augen blitzten vor Wut. Was auch immer das Problem war, er schien aktuell nicht in ihrer Gunst zu stehen. Colton räusperte sich und sagte knapp: »Mills, Sie können einstweilen gehen. Und bitte schließen Sie die Tür hinter sich.«
Der junge Mann gehorchte mit beinahe drolliger Eile, und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, bemerkte Colton kalt: »Du bist wütend auf mich, so viel ist offensichtlich. Aber du weißt, ich mag keine Gefühlsausbrüche in Gegenwart der Bediensteten, Brianna.«
»Ihr mögt überhaupt keine Gefühlsausbrüche, Euer Gnaden«, informierte seine schöne Frau ihn mit offenem Sarkasmus. »Aber ich habe gedacht, ich könnte dich ändern. Ich glaube, das war mein Fehler, denn alles, was ich für meine beträchtlichen Mühen bekommen habe, ist dein Misstrauen.«
Misstrauen. Der Nebel lichtete sich, und er verfluchte im Stillen Hudson and Sons, die ihren Teil des Handels, unsichtbar zu bleiben, offenbar nicht hatten einhalten können.
Das war wirklich eine Katastrophe.
»Mich ändern?« Er starrte sie an. Die Tränen, die in ihren Augen schimmerten, überraschten ihn.
Sie legte ihre Hände auf seinen Schreibtisch und lehnte sich leicht vor. Ihre Wut war geradezu greifbar. »Hast du jemanden angeheuert, damit er mich beschattet, Colton? Hast du wirklich gedacht, ich habe eine Affäre mit einem anderen Mann?«
Erleichterung durchströmte ihn. Es war offensichtlich, wie echt ihre Wut war. Der Gedanke, sie könne den sprunghaften Anstieg ihres sexuellen Wissens im Bett eines anderen Mannes finden, hatte ihn mit jedem Tag zunehmend wahnsinnig vor Eifersucht gemacht. Jetzt war er es, der leicht errötete. Plötzlich fühlte sich seine Krawatte zu eng an. »Vielleicht sollten wir uns hinsetzen und das in aller Ruhe besprechen.«
»Nein.« Um ihren weichen Mund lag ein eigensinniger Zug. Brianna schüttelte den Kopf. »Ich bin überhaupt nicht ruhig, und ich bin nicht daran interessiert, so zu tun, als ob. Anders als du bin ich durchaus bereit, anderen meine Gefühle zu zeigen.«
»Ich bin schon immer zurückhaltend gewesen, Brianna«, sagte er steif. Die in ihren Worten mitschwingende Kritik an ihm tat mehr als nur ein bisschen weh. »Das hast du gewusst, ehe du meinen Heiratsantrag angenommen hast. Es tut mir leid, wenn ich dich enttäusche.«
»Ihr seid mehr als nur zurückhaltend, Sir. Ihr seid verklemmt
»Verklemmt?« Colton hob langsam eine Braue. Sie sprach die Anschuldigung so beleidigend aus, dass es sich anfühlte, als versetze sie ihm eine Ohrfeige. »Ich verstehe.«
Schlimmer noch, er verdiente es. Ein Teil von ihm wünschte beinahe, sie würde die Satisfaktion suchen und ihn wirklich schlagen.
»Ja, aber du hast Fortschritte gemacht, allein aufgrund dieses Buchs.« Sie wies auf den Band, der inmitten seiner verstreuten Papiere lag.
Wovon zur Hölle redete sie?
Zum ersten Mal schaute er auf den Schreibtisch. Er erkannte den Titel, der in roten Buchstaben auf den Ledereinband gedruckt war. »Oh Gott«, murmelte er. »Wo um alles in der Welt hast du das her?«
»Ist es denn so wichtig, wo ich es gefunden habe? Was zählt, ist doch, dass es sehr informativ war.«
Er hielt sich nur mit Mühe davon ab, seiner wunderschönen Gattin zu erklären, keine Frau von Stand sollte das Buch einer gefallenen Frau lesen, die zu ihrer Zeit ihren Lebensunterhalt damit verdient hatte, sexuelle Gefälligkeiten zu verkaufen, nur um später die Unverfrorenheit zu besitzen, Details über ihre Heldentaten zu veröffentlichen. Stattdessen kam er zu einer unangenehmen Einsicht, die eine weitere Frage aufwarf.»Warum hast du geglaubt, du müsstest dich informieren?«, fragte er. Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihm, seine Stimme versöhnlich klingen zu lassen.
»Weil ich keine Lust hatte, wie Lord Farringtons Frau zu enden. Ich will nicht gezwungen sein, dich mit deiner Mätresse am Arm in der Oper zu treffen.«
Erleichtert brachte er hervor: »Brianna, ich habe keine Mätresse.«
»Schön, das zu wissen.« Ihre Unterlippe zitterte leicht, und sie atmete tief durch. »Aber was geschieht in Zukunft? Du hast mir gegenüber oft genug erwähnt, dass es vielen Ehen in unseren Kreisen an Treue mangelt, und ich habe Ohren. Ich höre den Klatsch. Ich will nicht irgendwann erfahren, dass du das Bett einer anderen Frau aufsuchst, weil dir in meinem langweilig wird.«
Sie wirkte so bewundernswert ernst. Colton musste gegen den Drang kämpfen, sie sofort in seine Arme zu reißen und ihr auf überaus körperliche Weise zu beweisen, dass keine Gefahr bestand, er könne eine andere Frau begehren. Allerdings hatte er den Eindruck, im Augenblick würde sie seinen Aufmerksamkeiten nicht mit ungeteilter Begeisterung begegnen. Zuerst musste er den Schaden beheben, den er angerichtet hatte.
Er räusperte sich. »Ich kann diese Sorge meine Untreue betreffend nachvollziehen, da ich mich selbst mit der Frage gequält habe, wo um alles in der Welt du diese abenteuerlichen Techniken gelernt hast. Vergib mir, wenn ich auch nur einen winzigen Zweifel gehegt habe, aber es war die logische Konsequenz, zu glauben, dich würde jemand unterweisen. Und dieser Jemand war nicht ich.«
Ihre Wimpern senkten sich, und ihre Augen wurden schmal. »Nein, du nicht. Natürlich nicht du. Du hast mir in den ersten Monaten unserer Ehe nicht mal das Nachthemd ausgezogen, wenn wir uns liebten, Colton.«
Das stimmte. Es war eine Tatsache, die ihn in gewisser Weise kränkte, zumal sie von einer jungen Frau ausgesprochen wurde, die es selbst in die Hand genommen hatte, ihre sexuelle Beziehung auszubauen.
Verdammt noch mal, sie war seine Ehefrau. Er hatte doch nur versucht, höflich zu sein und ihre Empfindsamkeit zu schützen.
»Ich habe versucht, ein Gentleman zu sein.« Er fühlte sich in die Ecke gedrängt. Nicht nur, weil das, was er getan hatte, und das, was er hatte tun wollen, zwei völlig unterschiedliche Dinge gewesen waren. Seine Zurückhaltung war doch nur zu ihrem Besten gewesen.
»Lady Rothburg schreibt, im Bett gibt es keine Gentlemen und keine Ladys.«
»Schreibt sie das? So, so.« Er lehnte seine Hüfte gegen die Schreibtischkante und verschränkte die Arme vor der Brust. Nachdenklich blickte er seine eigensinnige Frau an und erinnerte sich wieder an die unfassbar leidenschaftlichen Liebesspiele, die er zuletzt mit ihr hatte genießen dürfen, weil sie den Ratschlägen dieses verruchten Buchs folgte.»Wenn ich es richtig verstehe, hast du nach einer Möglichkeit gesucht, die Dinge zu ändern, weil ich es war, den du langweilig fandest.«
Stille. Kein Leugnen. Wie schmeichelhaft.
Röte stieg ihren anmutigen Hals und bis in ihre Wangen hinauf. Sie stand noch immer auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Nicht langweilig«, gestand sie. »Ich genieße es jedes Mal, wenn du mich berührst. Aber etwas hat gefehlt. Was zwischen uns im Bett passierte, war lustvoll, aber nicht aufregend.«
Er fühlte sich wie ein Idiot. Sie hatte ja so recht. »Du wünschst dir Aufregung, verstehe ich das richtig?«
»Nur mit dir, Colton. Denn ich liebe dich. Aber ja, ich vermute, ich finde es aufregender, wenn du ein bisschen die Kontrolle verlierst. Wenn du mir zeigst, wie sehr du mich begehrst.« Ihr Blick war sehr ernst.
Er schämte sich, und er fühlte sich auch gedemütigt. Denn woher sollte er denn wissen, dass sie ein Exemplar von diesem unerhörten Buch besaß?
»Brianna …«
»Ich werde nicht länger mit dir reden«, verkündete sie ernst.
Und dann drehte sie sich um und verließ ebenso ungestüm das Zimmer, wie sie es betreten hatte. Ehe sie ging, sah er die feuchte Spur einer Träne, die sich ihren Weg über ihre Wange bahnte. Mit beredter Wut wischte sie die Träne mit der Hand weg.
Wenn es etwas Schlimmeres geben konnte, als ein Dummkopf zu sein, war es wohl nur, ein unsensibler Dummkopf zu sein, grübelte er missmutig.
Er musste das wiedergutmachen. Und er hatte absolut keine Ahnung, wie er das konnte. Obwohl er ziemlich wütend auf sich war, weil er seine Frau mit seinen Verdächtigungen so sehr verletzt hatte, sang ein anderer Teil von ihm voller Freude.
Brianna gehörte allein ihm. Das Kind, das sie unter dem Herzen trug, war ein Zeichen ihrer gegenseitigen Liebe. Und auch wenn er einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte, war er noch nie zuvor in seinem Leben so hocherfreut gewesen, sich zu irren.
Neugierig nahm er das schändliche Buch zur Hand und betrachtete die Prägebuchstaben auf dem Einband.Vielleicht lohnte es, das Werk zu lesen, denn wenn Brianna es benutzt hatte, um ihn zu verführen – und das war ihr auf eindrucksvolle Weise gelungen -, konnte ihm Lady Rothburg unter Umständen auch noch etwas beibringen.