Kapitel 6
Der Begriff ›Ehefrau‹ sorgt unverzüglich für eine gewisse Langeweile. Die meisten Männer sind von Natur aus Jäger, und mit der Eheschließung ist diese Jagd vorbei. Einige Frauen bevorzugen es, sich in die langweilige Rolle als pflichtbewusste Ehefrau zu begeben, aber ich habe nie verstanden, warum sie das tun. Wer will denn bloß einen Ehemann, wenn man stattdessen auch einen heißblütigen Liebhaber haben kann? Wenn sich die Türen zum Schlafzimmer schließen, sollte scharfe Kritik vermieden werden. Denkt daran, dass die Frau keine Hure sein muss, um sich hin und wieder wie eine solche zu verhalten.
Aus dem Kapitel »Ein bisschen Lust kann große Auswirkungen haben«
 
Der Weinpegel im Dekanter war inzwischen merklich gesunken, und ihre Stimmen waren sicher in der Zwischenzeit ebenso um ein paar Dezibel lauter geworden. Aber es war die angenehmste Gesellschaft, die Robert sich vorstellen konnte. Er lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück, das Glas locker mit den Fingern umfasst, und sein Lächeln war aufrichtig. »Es ist gut, dass du zurück bist. Ich bin froh, dass du zuerst hergekommen bist.«
Robert und sein Bruder Damien hatten es sich in dem Raum gemütlich gemacht, den Robert gern als sein Arbeitszimmer bezeichnete. Die Krawatten hatten sie abgelegt, und die Jacketts lagen irgendwo auf dem Durcheinander der Einrichtung verstreut, die einem Junggesellen würdig war: Antiquitäten, einige Stücke aus dem Orient, eine abwechslungsreiche Mischung aus Lacktischchen und alten Eichenholzregalen, die dem Auge schmeichelte – zumindest dem Roberts. Es war kein Geheimnis, dass er den Förmlichkeiten so weit wie möglich aus dem Weg ging.
Damien war ein Jahr älter als er und stand im Moment in der Erbfolge um den Herzogtitel an erster Stelle. Aber er war wie Robert ebenso wenig daran interessiert, diese Position eines Tages einzunehmen. Er grinste. Von den drei Brüdern war Damien der Ruhige. Er war ebenso groß und hatte dieselbe Haarfarbe, aber seine Augen waren dunkler und nicht blau. Er war der geborene Diplomat, und die Stellung, die er für die britische Regierung einnahm, passte hervorragend zu ihm. Weder Coltons anerkannte Autorität noch Roberts eher sorglose Einstellung zum Leben waren in seinem unauffälligen Auftreten spürbar. »Ich versichere dir, ich finde es auch schön, zurück zu sein. Ich habe auch am Grosvenor Square vorgesprochen, aber Colton und seine junge Duchess waren aus.«
»Sie waren zuletzt recht begehrt und erhalten viele Einladungen, daher verwundert mich das nicht.«
»Das kann ich mir denken.« Damien lehnte sich zurück und betrachtete wohlgefällig sein Glas. »Wenigstens warst du daheim – obwohl ich etwas überrascht bin.«
»Entgegen der öffentlichen Meinung genieße ich hin und wieder einen Abend in Einsamkeit. Und ich bin darüber heute verdammt froh, denn schließlich war ich hier, um dich zu begrüßen. Wie lange ist das her? Mehr als ein Jahr, seit du zuletzt deinen Fuß auf englischen Boden gesetzt hast?«
»Mein lieber Lord Wellington kann hin und wieder ein unbarmherziger Arbeitgeber sein.«
Robert hob eine Braue. »Das glaube ich gern.«
»Er gewinnt Schlachten.« Der einfache Satz und das Zucken seiner Schultern schienen die Ansicht seines Bruders passend zusammenzufassen.
»Und ich hoffe, er gewinnt auch diesen verdammten Krieg. Mit Hilfe von Männern wie dir«, fügte Robert hinzu.
»Und dir.« Damien trank einen Schluck. »Spiel deine Leistung im Dienste der Krone nicht herunter, Robbie. Gott allein weiß, wie dankbar wir dir für deinen kompliziert denkenden Verstand sind.«
Seiner Meinung nach tat er nicht allzu viel. Er diente gelegentlich als Ratgeber für das Kriegsministerium. Obwohl niemand es für nötig hielt, es zu erwähnen, hatte er in Cambridge einen erstklassigen Abschluss in Mathematik gemacht. Die Gesellschaft redete vor allem über sein zügelloses Privatleben und spekulierte über die Zahl der Frauen, die er ins Bett nahm. Obwohl er sich rein theoretisch gesehen nichts aus der beschränkten Sichtweise machte, die die Gesellschaft in Bezug auf ihn pflegte, fühlte er sich immer noch leicht verletzt, da niemand Interesse an seinem Verstand zeigte. Damien aber hatte Roberts Geschick nicht vergessen, mit dem er scheinbar unmögliche, kleine Rätsel in Rekordzeit zu lösen verstand. Vor einigen Jahren hatte er Robert behutsam zu einer Stellung verholfen. Seitdem wurden ihm verschlüsselte Botschaften der Franzosen geschickt, die niemand zu entziffern vermochte. Die Herausforderung war belebend, und obwohl Robert nie den Wunsch verspürt hatte, als Soldat zu dienen, konnte er seinem Land wenigstens auf diese Weise helfen. Sobald er den Code geknackt hatte, schickte er die Information zurück nach Spanien, und sie wurde genutzt, um abgefangene Nachrichten zu entschlüsseln.
»Mein Dienst«, murmelte er, »ist gering genug, aber danke. Erzähl mir von Badajoz. Ich habe wahre Schauergeschichten über die Belagerung gehört.«
Die nächste Stunde verbrachten sie mit einer angeregten Diskussion über den Feldzug auf der Halbinsel, und Robert öffnete zwischendurch eine zweite Flasche Claret. Er war entspannt und hatte ein gewisses Mitteilungsbedürfnis. Zu den besten Dingen seines Lebens gehörte das Verhältnis zu seinen zwei Brüdern, und es war gut, Damien zurück in London zu wissen, auch wenn er nicht allzu lange bleiben konnte.
»Um mal vom Krieg auf ein anderes, angenehmeres Thema zu kommen: Soweit ich weiß, gibt es zu Colts Geburtstag eine Party?« Damien ließ die rubinrote Flüssigkeit im Glas kreisen. In seinen Augen blitzte es belustigt. »Ich habe von seiner jungen Frau eine Einladung erhalten, als ich meine persönliche Korrespondenz abholte. Ich muss zugeben, ich war überrascht, dass er sich zu so einer Veranstaltung bereit erklärt hat. Aber vielleicht hat ja die Ehe auf unseren älteren Bruder eine mildernde Wirkung.«
Robert konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als er sich an die diversen Gelegenheiten erinnerte, bei denen Colton seine Verwirrung über Briannas Verhalten zum Ausdruck gebracht hatte. »Ich glaube nicht, dass es genau so läuft, wie er es erwartet hat. Seine Frau hat etwas Unabhängiges, das ebenso fesselnd ist wie ihre Schönheit. Du weißt doch, Colton mag sein Leben lieber geordnet und logisch. Auch wenn Brianna intelligent und gewitzt ist, bleibt sie zumindest unberechenbar. Stell dir also unseren manchmal etwas strengen Bruder vor, der mit einem Wesen Umgang hat, das von ihm Spontaneität fordert. Und nicht nur das: Er soll es auch noch genießen. Diese Hausparty ist ein gutes Beispiel dafür.Wenn ich mir anhöre, wie widerwillig er ist, glaube ich, dass sie die Landpartie einfach ohne seine Erlaubnis geplant hat. Sie hat sogar ihm eine Einladung geschickt, und so hat er überhaupt erst davon erfahren.«
Damien lachte leise. »Vielleicht ist sie genau das, was er braucht. Diese Ehrbarkeit kann es durchaus vertragen, hin und wieder erschüttert zu werden.«
Robert dachte an das tief ausgeschnittene Abendkleid, über das noch immer geredet wurde, obwohl dieser skandalöse Abend bereits einige Wochen zurücklag, und er selbst nicht Zeuge des Ereignisses gewesen war. Da Brianna seine Schwägerin war, vermieden seine männlichen Bekannten, in seiner Gegenwart allzu laut darüber zu sprechen. Aber er hatte dennoch ein paar obszöne Bemerkungen von denjenigen gehört, die hofften, dass die schöne Duchess of Rolthven sich in naher Zukunft in einem ähnlichen Kleid der Öffentlichkeit zeigte. »Sie gibt ihr Bestes.«
»Ich habe die Hochzeit verpasst.« Damien klang ernstlich zerknirscht. »Der Krieg wartet auf keinen von uns. Erzähl mir von ihr. Ich muss zugeben, dass ich neugierig bin.«
»Stell dir goldblondes Haar vor, eine taufrische Haut und einen Körper, um den Venus sie beneiden würde.« Robert dachte einen Augenblick nach. »Aber unter diesen herrlichen Rundungen und hinter diesen bezaubernd blauen Augen ruht ein interessantes Wesen. Ich mag Brianna, und nicht nur wegen ihres guten Aussehens. Sie ist sehr nett, hat Sinn für Humor und ist offensichtlich auch abenteuerlustig. Unser Bruder tut sein Bestes, diese Abenteuerlust zu bremsen, auch wenn er damit bisher nicht weit gekommen ist.«
Damien lachte. »Das klingt wundervoll. Ich kann kaum erwarten, sie kennenzulernen.«
»Obwohl Colton nicht sehr erfreut darüber ist, wird diese Geburtstagsfeier eine gute Gelegenheit bieten. Schließlich sind wir endlich wieder alle beisammen. Großmutter freut sich auch schon darauf. Du weißt, wie sehr sie den Trubel einer Familienfeier liebt. Sie ist ja inzwischen leider zu schlecht zu Fuß, um viel zu reisen. Sie vermisst London.«
»Es wird schön sein, sie wiederzusehen. Und ich wette, es wird unterhaltend sein zu sehen, wie die neue Duchess of Rolthven mit Colton umgeht.« In Damiens dunklen Augen blitzte etwas Nachdenkliches auf. »Ich gestehe, mich hat es überrascht, als ich hörte, dass es eine Liebesheirat war. Ich hätte mir nie vorgestellt, dass unser älterer Bruder etwas so Sentimentales tun würde.«
Das war ein Gedanke, der auch Robert mehr als einmal gekommen war, und wenn er ehrlich war, bereitete ihm die Vorstellung ein gewisses Unbehagen.Wenn es sogar Colton passierte … nun, dann konnte es jedem passieren.
Vielleicht sogar ihm?
Er erwiderte trocken: »Ich glaube nicht, dass er seine Ehe jetzt schon so betrachtet. Er denkt wahrscheinlich eher, er habe eine praktische Wahl getroffen. Brianna ist jung, schön und stammt aus guter Familie. Das sind die drei Anforderungen, die er an eine Braut stellt. Und wenn man es so betrachtet, sieht es tatsächlich so aus, als hätte er seine Pflicht erfüllt und eine Frau zur Duchess gemacht, die seinem illustren Titel dient. Wie auch immer: als einer der Menschen, die diese Beziehung beobachten, seit sie einander vorgestellt wurden, kann ich gewiss mit Fug und Recht behaupten, dass er inzwischen anders auf sie reagiert. Vollkommen anders jedenfalls als auf jene einfältig lächelnden Mädchen, die ihm ständig von den übereifrigen Müttern unter die hochgetragene Nase gerieben wurden. Er zeigte sogleich Interesse an ihr, und ich bin glücklich, sagen zu dürfen, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Eins der Dinge, die ich an Brianna am meisten mag, ist, glaube ich, die Tatsache, dass sein Titel für sie unbedeutend ist.«
»Als Mann, der zurzeit der Erbe des herzoglichen Titels ist, lässt sie das in meiner Achtung steigen.« Damien nahm einen ordentlichen Schluck Claret und fügte hinzu: »Junge Damen, die auf der Jagd nach Titeln und Vermögen sind, beängstigen mich auf eine Weise, die keine Abteilung des französischen Heers überbieten könnte.«
»Glücklicherweise sind wir vor solchen jungen Damen sicher, sobald Brianna Colton einen Erben schenkt.«
»Lass uns hoffen, dass das bald geschieht.«
Da er sich jetzt wieder an Coltons Beunruhigung erinnerte, mit der er sich über die Abenteuerlust seiner Frau im Bett geäußert hatte, musste Robert leise lachen. »Ich glaube, sie arbeitet tatsächlich daran.«
Damien hob die Brauen. »Sie klingt wie eine wirklich bezaubernde junge Dame. Erzähl mir, wer steht sonst noch auf der Gästeliste für die Landpartie?«
»Ich habe nicht gefragt, aber soweit ich Colton verstanden habe, werden nur Familienmitglieder und einige enge Freunde zugegen sein.«
Enge Freunde. Während er es aussprach, fragte Robert sich müßig, ob wohl auch die hübsche, blauäugige Miss Marston zur Landpartie eingeladen war. Wenn er Colton glauben konnte, war die junge Lady eine von Briannas Vertrauten, zusammen mit der Countess of Bonham. Andrew Smythe, der Earl of Bonham, hatte gestern Abend am Rande erwähnt, dass er und seine junge Braut an den Festlichkeiten teilnehmen würden. Dann war vielleicht auch Rebecca Marston dort?
Nicht, dass es wirklich wichtig wäre, ob sie kommt oder nicht, dachte Robert. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und streckte die Beine aus. Das Interesse, das sie bei ihm geweckt haben mochte, war nur erwacht, weil sie auf eine unschuldige, rehhafte Art attraktiv war. Vielleicht war er so sehr an die weltgewandten Praktiken seiner Gefährtinnen gewohnt, dass der Unterschied etwas in ihm berührt hatte.
Aber er dachte weiterhin über sie nach. Schlimmer noch, er hatte auf den letzten Abendveranstaltungen, an denen er teilnahm, nach ihr Ausschau gehalten. Mit dem dunklen Haar und der eleganten Gestalt war sie leicht auszumachen, und er fragte sich, warum er ihr in der Vergangenheit nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Gestern Abend hatte er – nach dem Genuss einiger Brandys allerdings – sogar darüber nachgedacht, sie um einen Tanz zu bitten.
Zum Glück war diese Verrücktheit nur von kurzer Dauer, obwohl er den Ballsaal bereits halb durchquert hatte, ehe er erkannte, was er da gerade tat, und er wieder zu Sinnen kam. Die Kolumnisten der Klatschblätter hätten großes Vergnügen daran gehabt, wenn man ihn mit einer unschuldigen, jungen Lady tanzen gesehen hätte, deren Keuschheit bisher außer Frage stand.
»Eine kleine Party?«, unterbrach Damien seine Gedankengänge. »Das passt mir besser als eine große Veranstaltung. Ich bin völlig aus der Übung, was den gesellschaftlichen Umgang betrifft. Bitte sag mir, dass keine heiratsfähigen, jungen Frauen zugegen sind, obwohl ich das verdammte Gefühl habe, dass genau das der Fall sein wird. Was ist schon eine Hausparty ohne ein paar einfältig lächelnde, junge Mädchen?«
Rebecca würde niemals einfältig lächeln. Das war eine beunruhigende Überzeugung, denn schließlich kannte Robert sie kaum. »Keine, von der ich wüsste«, konnte er also ehrlich zugeben.
Wenn er ehrlich zu sich war, wünschte er, dass er ihr den Kuss gestohlen hätte, als sich ihm die Gelegenheit bot.Vielleicht wäre seine Neugier dann befriedigt, und er könnte sie sich aus dem Kopf schlagen.
Er schob den Gedanken an die verbotene Miss Marston zugunsten eines weiteren Glases Wein beiseite.
 
Sie zerbrach sich den Kopf, was sie anziehen sollte. Nicht bloß für ihre Ankunft, sondern für jede einzelne Minute ihres Aufenthalts in Rolthven Manor. Das geschah natürlich erst, nachdem sie sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob ihr Vater ihrer Teilnahme zustimmen würde. Schließlich hatte er nachgegeben. Rebecca war sich nicht mal sicher, ob sie wirklich mitfahren sollte.
Es war ein teuflisches Dilemma.
»Dieses hier, Miss?« Ihre Zofe hielt ein zartes Abendkleid aus silbrigem Stoff hoch, das sie besonders liebte, weil es das gewagteste Kleid war, das sie besaß. Nicht, dass »gewagt« im Zusammenhang mit ihrer Garderobe, die mit großer Sorgfalt von ihrer Mutter ausgewählt wurde, viel bedeutete. Aber es war das Kleid, das am wenigsten konservativ war.
Warum sollte sie es nicht mitnehmen? Schließlich hatte Brianna jenes skandalöse Abendkleid in der Oper getragen, und sie hatte erzählt, dass es den Duke zu einem sehr ungewöhnlichen Betragen animiert hatte. Das silberne Kleid war ihre beste Option, wenn sie bemerkt werden wollte. »Ja«, sagte Rebecca, und sie hoffte, ihre Stimme klang beiläufig. »Und das wasserblaue Seidenkleid auch, bitte. Die passenden Schuhe und meinen besten Schal. Die Abende können auf dem Lande doch recht kühl werden.«
»Ja, Miss.« Sally faltete behutsam das silberne Kleid und legte es in den Koffer.
Fünf Tage lang durfte sie in Robert Northfields Nähe sein, im Haus seiner Kindheit am selben Tisch sitzen, mit ihm geistreiche Scherze austauschen …
Nur dass ihre Scherze nicht im Mindesten klug waren, wenn er zugegen war, dachte Rebecca. Es versetzte ihr einen Stich. Wenn er seinem normalen Verhaltensmuster folgte, würde er ihr einfach aus dem Weg gehen, als wäre sie ein von der Pest heimgesuchtes Nagetier.
Wirklich, ein sehr ermutigender Gedanke.
Im Augenblick war sie ziemlich beliebt. Für diese zweite Saison. Junge Männer schmeichelten sich bei ihr ein, aber das waren Gentlemen, die nach einer passenden Frau suchten. Der Himmel möge sie vor politisch ambitionierten Dummköpfen wie Lord Watts bewahren, der nicht bloß ihre Person schätzte, sondern vor allem den Einfluss ihres Vaters.
Der unglaublich gut aussehende, mit einem schlechten Ruf gesegnete Robert Northfield suchte nicht nach einer Frau.
Aber sie würde trotzdem mit nach Essex reisen.
»Ich habe das Kleid mit bernsteinfarbener Spitze, das elfenbeinfarbene Tüllkleid und das pinkfarbene Musselinkleid. Zwei meiner besten Reitkleider und das Reisekleid für die Rückfahrt.« Rebecca kämpfte gegen ein nervöses Stechen in ihrem Magen an. »Ich bin sicher, es wird auf Rolthven Manor sehr förmlich zugehen.«
Sally nickte bloß und setzte ihre Arbeit fort.
Nachdem das Packen erledigt war, überprüfte Rebecca ihr Aussehen im Spiegel. Sie strich über ihr Haar, dann ging sie zum Abendessen nach unten. Es gehörte zur Gewohnheit ihres Vaters, dass sich vor dem Essen alle auf ein Glas Sherry im Salon trafen, und er hasste es, wenn sie sich verspätete. Das führte unweigerlich zu einem Vortrag, und obwohl sie ihn wegen vieler Dinge bewunderte, konnte er manchmal recht lästig sein.
Sie betrat den Salon und sagte fröhlich: »Ich habe gepackt. Komme ich zu spät?«
»Beinahe.« In seiner eleganten Kleidung, die er sogar für ein Abendessen en famille trug, war ihr Vater stets beeindruckend. Er hob ein kleines Kristallglas und reichte es ihr mit einem leisen Nicken. »Zum Glück bedeutet das: nein, nicht zu spät. Du kommst gerade rechtzeitig, meine Liebe.«
»Ich danke dir.« Züchtig nahm sie das ihr angebotene Glas.
»Mein zuvor geäußertes Einverständnis zu diesem Ausflug habe ich nicht ohne Bedenken gegeben.«
Rebecca unterdrückte ein Stöhnen. Das war keine Überraschung. Er hatte ständig irgendwelche Bedenken. »Die Herzoginwitwe …«, begann sie.
»Ist alt«, vollendete er ihren Satz. »Obwohl ich das nicht despektierlich meine. Deine Mutter und ich haben daher beschlossen, die Einladung anzunehmen und dich zu begleiten. Es kommt zwar in letzter Minute, aber ich habe der Duchess of Rolthven heute früh eine Nachricht geschickt. Sie hat gnädigerweise sogleich geantwortet, dass wir auch so spät noch herzlich willkommen seien. Die Sache ist also beschlossen.«
Rebeccas Herz sank. In Begleitung ihrer Eltern reisen zu müssen war wirklich demütigend. Sie war tatsächlich ein paar Monate älter als Brianna, aber dennoch wurde sie wie ein Kind verzärtelt, während ihre Freundin Partys gab und tragen konnte, was sie wollte, und … Oh, es war äußerst ärgerlich. Rebecca straffte sich und sank auf einen bestickten Stuhl. Die kühle Förmlichkeit des Raums betonte nur ihre Rolle als Gefangene ihrer Eltern, die sie faktisch war.
In diesem Augenblick hatte sie eine kleine Offenbarung.Vielleicht war es auch eine etwas größere. Sie wusste nur, dass dieser Gedanke sie zutiefst erschütterte, denn es war eine Erkenntnis, der sie seit Monaten zu entgehen versuchte.
Unabhängigkeit war ein wertvolles Gut. Sie sehnte sich danach, aber die einzige, für sie gangbare Möglichkeit, ihren Eltern zu entkommen, wäre, einen Ehemann auszuwählen. Die Zeit lief ihr davon. So einfach war das.
Sie starrte ihr Glas an. »Dann verstehe ich das richtig, dass ihr mir nicht vertraut? Bri kann munter Partys geben und einladen, wen sie will. Aber mir, die ich nicht den Vorteil eines Mannes habe, der jeden meiner Schritte führt, wird nicht einmal insoweit vertraut, dass ich auch nur einen Moment ohne meine über mir schwebenden Eltern sein darf?«
»Deine Freundin ist kein unverheiratetes Mädchen mehr«, sagte ihr Vater nach kurzem Zögern. »Ihre Handlungen werden von ihrem Ehemann beeinflusst. Du kannst das von dir nicht behaupten. Wenn du es kannst, sei versichert, dass wir dann in den Hintergrund treten werden.«
»Das ist also eine Bestrafung, weil ich noch nicht geheiratet habe?« Sie hob absichtlich ihre Augenbrauen. Das Sherryglas kippte bedenklich in ihren Händen.
»Die Gesellschaft deiner Eltern auf einer Landpartie ist für dich eine Strafe?«
Nun, ihr Vater war Politiker, und eine seiner besonderen Fähigkeiten war es, geschickt den Spieß umzudrehen. Aber Rebecca freute sich überhaupt nicht darauf, den Versuch zu unternehmen, vor ihren Eltern zu verbergen, wie sehr sie sich Roberts Gegenwart bewusst war. Noch dazu in so kleinem Kreis. Ihre Eltern hatten die Sache gerade nur zusätzlich verkompliziert. »Nein, natürlich nicht.«
»Dann sind wir uns ja einig.«
So würde sie die Situation nicht gerade beschreiben, doch sie entschied, die Bemerkung nicht zu kommentieren.
»Was ist mit Damien Northfield?«
Rebecca erstarrte. »Damien Northfield? Was meinst du? Was soll mit ihm sein?«
»Er ist aus Spanien zurückgekehrt.«
Sie starrte ihre Mutter sprachlos an.
Ihre Mutter wirkte nachdenklich. »Ich habe darüber vorher noch nie nachgedacht, aber er ist ein sehr geeigneter Kandidat. Und im Moment ist er sogar noch Rolthvens Erbe …«
Der Gedanke war so lächerlich, dass Rebecca ihr das Wort abschnitt. »Das ist doch ein Scherz!«
Meine Güte, sie unterbrach ihre Mutter nie. Als sie sah, wie ihr Vater missbilligend die Stirn runzelte, fügte sie hastig hinzu: »Ich meine, ich kenne ihn doch überhaupt nicht.«
Außerdem war er Roberts Bruder. Aber das konnte sie wohl kaum als Argument vorbringen. Stattdessen nahm sie einen undamenhaft großen Schluck Sherry.
»Ich wollte nur darauf hinweisen, dass das eine gute Gelegenheit ist, seine Bekanntschaft zu machen.Wer weiß?Vielleicht passt ihr zwei ja zusammen.« Ihre Mutter hob die Brauen, und ihre Augen nahmen ein Glänzen an, das Rebecca nur zu gut kannte. »Es ist eine Weile her, seit er sich in der Gesellschaft gezeigt hat, aber wenn ich mich recht entsinne, hat er das gute Aussehen, das allen Northfields zu eigen ist, und er verfügt über ein mehr als bloß respektables Vermögen. Denk dir nur, wie hoch erfreut Brianna wäre, wenn du eine Vorliebe für ihren Schwager entwickelst – und er für dich.«
Ihre Vorliebe für einen der Northfield-Brüder war bereits beschlossene Sache, ob Rebecca es wollte oder nicht. Wenn aber ihre Eltern von ihrer Verliebtheit erfuhren, würden sie nie zustimmen, sie nach Rolthven mitfahren zu lassen, ob nun in Begleitung oder allein. »Ich bin sicher, er ist ein sehr angenehmer Zeitgenosse«, sagte sie neutral. »Aber mir scheint, er wird von der Aufgabe als Adjutant von General Wellington sehr in Anspruch genommen, oder? Ich glaube kaum, dass er sich im Moment nach einer Frau umsieht.«
»Es wird darüber geredet, dass er für seine Verdienste im Auftrag der Krone zum Ritter geschlagen werden soll«, kommentierte ihr Vater und half ihr damit keinen Schritt weiter.
Rebecca warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, als wollte sie sagen: »Verräter!«
Er hob die Brauen. »Ob du Northfield nun magst oder nicht, ich bin sicher, auch andere junge Männer werden dort sein und um dich herumscharwenzeln. Sie werden mich beknien, damit ich ihnen erlaube, dich zu den verschiedenen Vergnügungen begleiten zu dürfen.« Seine Miene wurde ernst. »Das könnte eine hübsche Gelegenheit für dich sein, einige von ihnen jenseits des Gedränges, das auf den Bällen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen herrscht, besser kennenzulernen.«
Seine Folgerung war klar: Die nähere Bekanntschaft mit einigen Männern ermöglichte ihr, eine Entscheidung zu treffen. Diese zweite Saison gefiel ihm nicht, aber bisher hatte er geduldet, dass sie unerbittlich jeden Antrag abwies. Da ihr einundzwanzigster Geburtstag nun drohte, wusste sie, dass er ihr schon bald ein Ultimatum stellen würde.
Und was sollte sie tun, wenn das geschah? Es stand außer Frage: Ihre Eltern wollten, dass sie sich festlegte und in die Sicherheit einer guten Ehe begab. »Ich bin sicher, du hast recht«, sagte sie, ohne sich tatsächlich seinen Wünschen zu beugen. Sie wollte sich darüber im Moment nicht streiten. Wenn sie tatsächlich kämpfen musste – etwa für den Fall, dass Lord Watts ihr als möglicher Ehemann in Aussicht gestellt wurde -, würde sie auch kämpfen, aber sie verspürte nicht den Wunsch, von der Reise abzurücken, auch wenn sie mit ihren aufmerksamen Eltern haderte.
Unglücklicherweise war es schwer, ihren Vater zu täuschen. Ironisch bemerkte er: »Ich fühle mich selten wohl, wenn du mir so bereitwillig zustimmst.«
Sie warf ihm einen unschuldigen Blick zu. »In diesem Fall stimme ich dir wirklich zu. Ich gestehe, dass ich es müde bin, den Wirbel zu ertragen, der in London herrscht. Dieser Ausflug scheint eine angenehme Abwechslung zu sein. Allein die Tatsache, dass ich mit Arabella und Brianna zusammen sein kann, wird es bestimmt zu einem angenehmen Zeitvertreib machen.«
»Und vergiss nicht den jüngeren Bruder des Duke«, erinnerte ihre Mutter sie.
Als könnte ich ihn vergessen, dachte Rebecca mit einem Anflug von Verzweiflung, und sie nippte hastig an ihrem Sherry. Sie dachte jetzt schon zu oft an den jüngeren Bruder des Duke of Rolthven. Aber nicht an den Mann, den ihre Mutter meinte.
Rebecca hatte das ungute Gefühl, dass ihr fünf zermürbende Tage bevorstanden.