Kapitel 12
Je mehr er sich bemüht, Euch zu verführen, um so
mehr solltet Ihr darüber nachdenken, ob er ernste Absichten
hegt.
Aus dem Kapitel »Wenn es keine Liebe ist – was
dann?«
Der barocke Salon war am frühen Abend ziemlich
warm. Oder war er vielleicht nervös?, gestand sich Robert zögerlich
ein. Nervös genug jedenfalls, dass er glaubte, seine Krawatte säße
zu eng, obwohl er sie bereits zweimal gelockert hatte. Er stimmte
nicht oft zu, vor Publikum zu spielen, auch nicht, wenn es ein so
kleines war wie bei Briannas Party. Hin und wieder spielte er für
seine Familie, wenn seine Großmutter ihn darum bat. Und er hatte
auf der kleinen, diskreten Hochzeit seiner Mutter mit dem
italienischen Grafen gespielt. Lazarro hatte sich natürlich Vivaldi
gewünscht, und es war Robert ein Vergnügen gewesen, da dies einer
seiner Lieblingskomponisten war. Und als seine Mutter anschließend
mit Tränen in den Augen zu ihm getreten war und ihn bewegt an sich
gedrückt hatte, sah sie in ihrem Hochzeitskleid so jung und hübsch
aus, dass sogar ihm etwas melancholisch zumute wurde. Denn er
liebte sie, und es war bewegend, zu sehen, wie sie nach dem
verheerenden Verlust seines Vaters wieder glücklich geworden
war.
»Man stelle sich vor: Londons erster Lebemann,
der angeblich hübschen Frauen und dem Kartenspiel verfallen ist,
der jeden Skandal magnetisch anzieht, spielt auf einer ländlichen
Hausparty mit einer jungfräulichen, jungen Dame ein Duett. Und das
nur, um seiner Schwägerin einen Gefallen zu tun.«
Damiens sarkastische Beobachtung unterbrach
Roberts Gedanken. Er blickte zu seinem Bruder auf, der auf ihn
zuschlenderte und neben ihm stehen blieb. »Niemand wird das
glauben«, antwortete Robert. »Darum bin ich ziemlich sicher, dass
ich weiterhin meinen schlechten Ruf behalten darf.«
Damiens Miene war ausdruckslos, aber das war
kaum etwas Neues. »Ich finde ja auch, dass es schwer zu glauben
ist. Erzähl mir, geht es dabei um ein bezauberndes Paar blaugrüner
Augen,
das dich dazu treibt, mit deinem Talent so großzügig umzugehen?
Brianna hat mir erzählt, sie wäre hoch erfreut gewesen, dass
Rebecca dich überreden konnte, für uns zu spielen. Ich habe gehört,
wie du Colton gegenüber betont hast, Brianna habe dich gebeten, zu
spielen. Tatsächlich hast du also rundheraus gelogen. Das sieht dir
gar nicht ähnlich. Auch spielst du recht selten vor Publikum. Da
die reizende Miss Marston in beiden ungewöhnlichen Fällen der
kleinste, gemeinsame Nenner ist, habe ich mich gefragt, warum das
wohl so ist.«
Er traf mit seinen Worten zu nah ans Schwarze,
um noch angenehm zu sein. Robert warf seinem Bruder einen finsteren
Blick zu. »Beschäftigt es dich nicht genug, deinen Verstand an
Bonaparte zu messen? Mein Privatleben kann da bestimmt nicht
mithalten.«
»Ach, Bonaparte ist weit weg. Du aber, du bist
hier.« Damien lachte leise.
Das Problem war, es hatte tatsächlich etwas mit
einem Paar blaugrüner Augen zu tun, dass Robert so impulsive,
irrationale Dinge tat.Wie zum Beispiel durch vom Mondlicht
beschienene Gärten zu laufen, verflucht noch mal.
Als die Gäste begannen, auf den Stühlen Platz zu
nehmen, die in dem riesigen Raum um das Podium arrangiert waren,
auf dem das Pianoforte stand, schüttelte er diese Gedanken ab. Er
würde diesen verfluchten Satz mit Rebecca spielen, weil er ihr sein
Wort gegeben hatte. Obwohl er froh war, dass sie ihm vorgeschlagen
hatte, es zunächst zu üben. Das Musikstück war ihm unbekannt, aber
nichtsdestotrotz faszinierend.
Die Notenblätter, die ihm einer der Lakaien am
Morgen gebracht hatte, waren handgeschrieben und zweifellos kopiert
worden, doch ohne den Namen des Komponisten zu übertragen.
Das würde er nach dem kleinen Konzert ihr gegenüber ansprechen.
Das beinahe Quälende, das aus den Noten sprach, hatte ihn
überrascht, denn zugleich war es sanft und kraftvoll, lyrisch und
bewegend. Ohne Frage hatte er dieses Stück noch nie gehört, und
dabei verfügte er über ein breit gefächertes Repertoire. Es war
verwirrend. Der Stil war einzigartig. Präzise. Einfach
brillant.
»Sie sieht heute Abend unglaublich hübsch aus,
findest du nicht auch?«, fragte Damien ruhig, doch hörte Robert die
darin mitschwingende Vermutung heraus.
»Ja.« Er hoffte, seine Stimme klang normal, aber
er hatte das ungute Gefühl, dass dies misslang.
Rebecca betrat den Raum natürlich zusammen mit
ihren Eltern. Ihr Auftritt schlug ihn in den Bann. Er stand an der
Seite und war einen Moment lang unfähig, sich zu rühren. Ihr
schimmerndes, dunkles Haar war lose hochgesteckt, und einige
Strähnen umspielten die elegante Linie ihres Halses. Ihr Kleid war
aus einem silbrigen, hauchdünnen Stoff geschneidert und unter ihren
vollen Brüsten modisch gerafft. Sie ging sittsam zwischen ihrem
Vater und ihrer Mutter, die etwas sagte, worauf Rebecca leicht
nickte. Dann schritt sie zum Podium und setzte sich an das
Pianoforte. Sie blickte sich erwartungsvoll im Raum um, bis sie ihn
schließlich neben Damien ausmachte.
Es war ein bisschen schwierig, sich unsichtbar
zu machen, wenn man ein Cello hielt. Auch dann, wenn man im
Schatten der Tür stand. Robert neigte seinen Kopf. Nicht, um ihr
Auftreten zu bestätigen, sondern um ihrer atemberaubenden Schönheit
an diesem Abend zu huldigen.
Das brauchte sie ja nicht zu wissen, oder?
Das reizende Lächeln, mit dem sie ihn bedachte,
ließ ihn beinahe
laut fluchen. Das war bestimmt nicht höflich in einem Raum voll
mit Gästen seiner Schwägerin. Aber inzwischen liebte er ihr Lächeln
mehr, als gut für ihn war. Er war wie ein vertrottelter Verehrer,
der unzählige Oden und alberne Knittelverse niederschrieb, um die
herrliche Linie ihrer Lippen zu besingen.
Es war an der Zeit, die Sache hinter sich zu
bringen.
Er durchquerte den Raum, und die leisen
Unterhaltungen verstummten. Einige aus Höflichkeit, die meisten
jedoch wahrscheinlich vor Überraschung über seinen Auftritt. Er
blickte sich um und versicherte sich, dass alle Ladys bereits Platz
genommen hatten, ehe er auf den für ihn bereitgestellten Stuhl
sank.
Verdammt, er war ihr so nah, dass er den Hauch
ihres Parfüms wahrnahm.
Schnell legte er die Notenblätter auf den
Ständer, überprüfte ein letztes Mal seinen Bogen und blickte zu
Rebecca hinüber, um ihr zu zeigen, dass er bereit war. Ihre
schlanken Hände hoben sich, und sie atmete ein letztes Mal tief
durch.
Und dann begann sie zu spielen.
Schon nach zwei Takten wurde ihm bewusst, wie
ungehobelt seine Beleidigung am Vorabend gewesen war. Sie spielte
wie ein Engel, schlug die Tasten feinfühlig an. Die Schönheit der
Töne ließ den kleinen Kreis der Zuhörer vollständig in den
Hintergrund treten. Er wartete mit erhobenem Bogen auf seinen
Einsatz, und als die erste, lang gezogene Note den Saiten seines
Instruments weich und sanft entsprang, musste er sich eingestehen,
dass die Musik ihn an einen Ort führte, an dem ihnen niemand
zuhörte. Niemand atmete dieselbe Luft. Niemand existierte, außer
dieser Frau, die neben ihm saß. Und die Musik, die sie
teilten.
Er hatte nicht einmal bemerkt, dass das
Musikstück schon fast
zu Ende war, bis die letzte, bebende Note erstarb. Robert riss
seinen Blick von den Noten vor ihm los und wandte sich zu ihr um.
Rebecca saß noch immer über die Tasten gebeugt da, verharrte
reglos. Ihr Gesicht war das einer Träumenden. Die Zuhörer brachen
in lauten, schmeichelnden Applaus aus. Dann war es vorbei.
Er konnte jetzt die Flucht ergreifen. Eigentlich
sollte er sich freuen.
Doch viel lieber würde er weiter bei ihr sitzen
und noch einmal spielen.
Aber sie hatten nur über ein Musikstück
gesprochen. Darum stand er auf, beugte sich anmutig über ihre Hand,
und weil er wirklich nicht wusste, was er noch sagen konnte, stieg
er vom Podium und nahm im Publikum Platz.
Zu seinem Missfallen stand der leere Stuhl neben
der jüngeren Miss Campbell. Als er sich setzte, wedelte sie mit den
Händen und strahlte ihn an. »Gut gemacht, Lord Robert. Ich hatte ja
keine Ahnung, dass Ihr so gut spielt.« Sie kicherte. »Ich hatte in
Wahrheit überhaupt nicht gewusst, dass Ihr ein Instrument
spielt.«
Der Herr möge ihn vor kichernden Frauen
bewahren. Robert lächelte. Aufmerksam lauschte er, als Rebecca ein
neues Stück zu spielen begann.
Er erkannte auch diese Sonate nicht. Ebenso
erging es ihm mit der nächsten. Zum Ende spielte sie noch ein paar
Stücke von Mozart und Scarlatti, aber einen Großteil ihrer
Vorstellung bestritt sie mit Musik, die er noch nie gehört hatte.
Und ausnahmslos jedes Stück trug sie großartig vor.
Nach der letzten Note stand sie auf und errötete
aufs Vorteilhafteste, als man ihr so begeistert zujubelte. Es war
nun an der
Zeit, sich in den Speisesaal zu begeben. Er war gezwungen, Miss
Campbell anzubieten, sie dorthin zu geleiten. Sie stand neben ihm
und blickte ihn erwartungsvoll an.
Um die Sache noch schlimmer zu machen, fand er
sich schließlich am langen Tisch neben Rebeccas Mutter wieder. Lady
Marston kaschierte ihre Missbilligung nur oberflächlich, und er
hätte es sonst vielleicht sogar amüsant gefunden, doch empfand er
es heute Abend als äußerst irritierend. Widerwillig sprach sie ihm
ihr Kompliment für die Vorstellung aus. Die Ungläubigkeit, die in
ihrer Stimme mitschwang, war wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was
ihn erwartete, sobald er nach London zurückkehrte.
Als er ihr gegenüber etwas über Rebeccas
außergewöhnliches Talent sagte, sah sie ihn abweisend an und winkte
ab. »Es ist natürlich nur ein Zeitvertreib. Alle anständigen jungen
Mädchen sollten in der Lage sein, hinlänglich zu spielen.«
»Hinlänglich?«, protestierte er erstickt, ehe er
sich zurückhalten konnte. Vielleicht lag es an dem Glas Wein, das
er gerade mit einem einzigen Schluck heruntergestürzt hatte.
»Madam, sie ist ebenso bemerkenswert wie schön. Der Komponist würde
vor Freude weinen, wenn er gehört hätte, dass sein Werk so gekonnt
vorgetragen wurde.«
Er hätte wohl gut daran getan, nicht so vehement
seine Gedanken auszusprechen. Aber die Teilnahmslosigkeit der Frau
verärgerte ihn. Rebeccas Mutter sah ihn an, als würde sie in ihm
nicht mehr bloß einen jungen Mann von zweifelhaftem Ruf sehen,
sondern unter Umständen sogar eine ernsthafte Gefahr. Er musste
sich unwillkürlich fragen, was ihr Mann ihr erzählt hatte. Oder
auch nicht erzählt hatte.
Sie murmelte: »Ich danke Euch, Mylord. Ich werde
meiner
Tochter Eure Würdigung ihrer Fähigkeiten am Pianoforte
übermitteln.«
Mit anderen Worten: Robert brauchte es Rebecca
nicht persönlich zu sagen. Aber was um alles in der Welt hatte er
auch erwartet, fragte er sich. Selbst wenn ihn und Sir Benedict
eine herzliche Bekanntschaft verbinden würde, hatte doch inzwischen
jeder zweite geeignete Junggeselle ganz Londons um Rebeccas Hand
angehalten, und jeder war abgewiesen worden. Ihre Eltern waren
offenbar wählerisch. Und das sollten sie auch sein. Rebecca Marston
bot alles, was sich ein Mann von seiner Ehefrau nur wünschen
konnte. Schönheit, Haltung, Perfektion. Und dann war da noch dieses
unbewusste, verführerische Lächeln...
Wenn ein Mann eine
Ehefrau wollte.
Es war kaum von Bedeutung. Er wollte keine Frau.
Jetzt nicht, nicht in seinem Alter. Nicht, solange er sein Leben
unabhängig führen wollte.
Er wollte keine
Frau.
Oder doch?
Er war an diesem Abend zu sündig attraktiv
gewesen. Zu nah in dieser kleinen Gesellschaft. Zu sehr er selbst.
Rebecca konnte noch immer die vibrierenden Saiten hören, mit denen
ein anderer zum ersten Mal ihre Musik gespielt hatte. Sie konnte
die behutsame Berührung seiner schlanken Finger sehen, die sich auf
die Saiten seines Cellos gelegt hatten. Den intensiven,
konzentrierten Ausdruck auf seinem Gesicht. Den Schwung seines
Bogens.
Jemand anderes spielte
ihre Musik. Nicht irgendjemand. Robert. Wie schwierig es auch für
sie war, weil sie eine Vernarrtheit in ihn entwickelt hatte, blieb
ihr letztendlich doch das geheime
Vergnügen, ihn ihre Noten spielen zu hören. Er hatte sie bei etwas
so Persönlichem, so Intimem begleitet. In gewissem Sinne fühlte es
sich im Nachhinein für sie an, als wären sie für diese kurze Zeit
Liebende gewesen.
Denn ihr war klar, dass er die Musik liebte. Sie
hatte es an seiner Miene gesehen, an seinen hypnotisierenden,
blauen Augen. An seiner Haltung und daran, wie wunderschön er
gespielt hatte.
Hatte sie es bereits bei ihrer ersten Begegnung
bei ihm gespürt? Vielleicht war es diese gefühlvolle, unglaubliche
Gemeinsamkeit, die sie anfangs zu dem berüchtigten Robert
Northfield hingezogen hatte.
Vor ihrem gemeinsamen Spiel war sie verliebt
gewesen. In sein gutes Aussehen, sein berauschendes Lächeln, das
Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte, wie auch in seine sinnliche
Männlichkeit.
Aber durch ihre Musik … ihre zweite Liebe … war
sie vollkommen verloren.
Das Buch lag in ihren Händen. Sie hatte es noch
nicht aufgeschlagen. Rebecca saß in Nachthemd und Morgenrock auf
der Bettkante. Eine Lampe war heruntergedreht, damit sie im
schwachen Schein noch lesen konnte. Behutsam berührte sie den
dünnen Ledereinband von Lady Rothburgs
Ratschläge und hob den Buchdeckel an. Dann wählte sie zufällig
eine Stelle in der Mitte des Buchs aus. Wenn es die Möglichkeit für
eine richtige Romanze geben konnte, dann mit diesem Buch.
… ist nicht kitzlig, sondern eher empfindlich.
Umfasst seinen Hodensack zärtlich mit der Hand, und dann berührt
die zarte Haut dahinter. Streichelt ihn mit einem Finger. Ich
verspreche Euch, dass er auf diese Liebkosung überaus erfreulich
reagieren wird …
Rebecca klappte mit einem leisen Keuchen das Buch
zu. Das Klopfen an die Tür ihres Schlafzimmers ließ sie
zusammenzucken. Sie blickte auf die reich verzierte Uhr, die auf
dem Sims über dem Kamin stand, und fragte sich, wer zu dieser Zeit
wohl durch die Gänge geistern konnte. Währenddessen schob sie
hastig das Buch unter ihr Kissen. Sie hatte ihre Zofe für heute
Abend bereits entlassen, daher knotete sie den Gürtel ihres
Morgenrocks um ihre Taille fest und ging zur Tür.
Gott sei Dank war es nur Brianna, die noch immer
ihr elegantes Abendkleid trug. »Ich habe gehofft, dass du noch wach
bist.«
»Ja, ich habe gelesen.« Rebecca lachte verlegen
und entspannte sich. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, die
Genitalien eines Mannes zu berühren – abgesehen von griechischen
Statuen hatte sie auch noch nie welche gesehen -, aber, du lieber Himmel, war der Rest des
Buchs auch so?
»Ich verstehe.« Briannas Mund zuckte. Sie
grinste wissend. »Das erklärt, dass du irgendwie schuldbewusst
aussiehst, vermute ich mal. Darf ich für einen Augenblick
hereinkommen? Ich verspreche dir, ich bleibe nicht zu lange.«
»Natürlich darfst du.« Rebecca trat einen
Schritt beiseite und bat Brianna herein. Sie freute sich immer über
die Gesellschaft ihrer Freundin. Als Kinder hatten sie oft
beieinander übernachtet, und besonders in den Sommern waren sie
unzertrennlich gewesen. Manchmal wurden sie von den Gouvernanten
gemeinsam unterrichtet, was sich für Rebecca als großer Vorteil
erwiesen hatte. Denn es war Briannas Gouvernante, die aus einer
musikalischen Familie stammte und sie nicht nur im Klavierspiel
unterrichtet, sondern ihr auch die Musiktheorie und eher technische
Aspekte vermittelt hatte. Nachdem sie Miss Langfords Wissen
ausgeschöpft hatte, bettelte Rebecca bei ihren Eltern um einen
eigenen Musiklehrer. Ihre Eltern waren mehr als glücklich, als sie
einen fanden. Sie förderten ihre Liebe zur Musik, weil sie der
Meinung waren, es handle sich um etwas, das jede junge Lady
beherrschen sollte. Erst als sie jeden Tag Stunden um Stunden nicht
nur damit zubrachte, zu spielen, sondern auch Musik zu komponieren,
reagierten sie beunruhigt.
Junge Frauen sollten in der Lage sein, eine
hübsche Melodie zu spielen. Aber nur Männer komponierten Musik. Das war die Einstellung ihrer
Eltern. Es war eine geistig anspruchsvolle Aufgabe, und sie war
wohl kaum angemessen für eine Lady der höheren Gesellschaft.
Komponisten waren doch wie Maler und Bildhauer. Es mochte sich um
künstlerische Bestrebungen handeln, doch waren sie der arbeitenden
Klasse vorbehalten.
Brianna setzte sich auf die Bettkante. Sie
wirkte ganz wie das spitzbübische Mädchen, an das sich Rebecca aus
ihrer Jugendzeit erinnerte, mit einer Miene, als wären sie mit
etwas davongekommen, das sie ohne die Erlaubnis der Eltern nicht
hätten tun dürfen. »Und? Wie fühlst du dich? Es war ein Triumph.
Heute Abend hat jeder für deine Vorstellung geschwärmt. Sie haben
während des Abendessens ständig darüber gesprochen, und mehr als
ein Gast hat mich gebeten, dich zu bitten, noch einmal für uns zu
spielen.«
»Ist das der Teil, wo du gleich bemerkst: ›Ich
hab es dir doch gesagt‹? Ich denke, darauf hast du Anspruch. Wenn
du nicht gewesen wärst, würden Bella und du weiterhin der
beschränkte Kreis meiner Zuhörer bleiben.« Rebecca umarmte ihre
Freundin rasch und innig. »Ich danke dir.«
»Dank nicht mir. Wie viele Gastgeberinnen können
schon von sich behaupten, dass die talentierte Rebecca Marston für
ihre
Hausparty gespielt hat und es ein berauschender Erfolg war?«
Brianna lächelte. »Es war ein gelungener Streich. Übrigens, wie um
alles in der Welt hast du Robert dazu gebracht, mit dir zu spielen?
Das Ereignis wird in die Geschichtsbücher eingehen. Ich vermute,
ihr zwei werdet mit Anfragen bestürmt werden, sobald das in London
die Runde macht.«
Ihr zwei. Als wären sie ein Paar. Es war eine
trügerische Hoffnung, aber Rebecca mochte den Klang dieser
Worte.
Sie setzte sich neben Brianna und lachte. »Ich
habe eine altbewährte Methode benutzt. Schuldbewusstsein. Er machte
die Beobachtung – und ich stimme ihm insgeheim darin zu -, dass
einigen jungen Ladys nie gestattet werden sollte, die Musik in der
Öffentlichkeit zu entweihen. Als ich ihm darauf erklärte, dass
ich spielen würde, war er über seinen
Fauxpas bestürzt. Ich habe ihm schamlos die Buße auferlegt, als
Ausgleich dafür mit mir ein Duett zu spielen.«
»Also, ich finde, es war spektakulär.« Brianna
drückte ihre Hand. »Perfekt. Colton hat mir versichert, dass Robert
sein musisches Talent gern zu einem großen Geheimnis macht. Darum
danke ich dir herzlich für diese kleine Erpressung.«
»Er spielt sehr gut.«
»Ja, tatsächlich. Man würde es nicht erwarten
von einem Mann mit seinem … Nun, sagen wir einfach, dass sein Ruf
sich eher auf seine Talente in anderen Bereichen konzentriert«,
bemerkte Brianna trocken. »Er hat mehr Tiefgang, als man auf den
ersten Blick denken könnte. Das hat ja dieser Abend bewiesen. Er
ist sehr gut mit seinen Brüdern befreundet, und man kann auch
sagen, dass er ganz vernarrt in seine Großmutter ist. Er neckt sie
ständig, und sie hat auf ihre würdige Art einen Narren an ihm
gefressen.«
Das Letzte, was Rebecca brauchte, war jemand,
der seine Tugenden hervorhob. Sie wechselte das Thema und kam
wieder auf die Musik zu sprechen. »Ich würde nur zu gern ein
zweites Mal spielen, aber ich sollte meinen Eltern vermutlich
versprechen, mich dann auf Mozart und Bach zu beschränken. Ich bin
nicht sicher, ob er bemerkt hat, wie viele der Stücke aus meiner
Feder stammten, aber mein Vater wusste, dass einige von mir sind.
Ich habe gespürt, wie er mich bei Tisch mit gewissem Missfallen
betrachtete.«
Es war ermüdend, dass sie als Frau von beinahe
einundzwanzig Jahren ihrem Vater für beinahe jede Entscheidung, die
sie im Leben traf, Rechenschaft ablegen musste. Aber so war es nun
mal für die jungen Ladys ihres Stands. Vom Vater ging die
Verantwortung zum Ehemann über, und immer wäre sie dem Geheiß eines
Mannes ausgeliefert, der sie dominierte. Nicht einmal Brianna, die
das Ansehen als Ehefrau eines sehr reichen Peer des Reichs genoss,
verfügte über echte Unabhängigkeit. Sie hatte Rebecca aber kürzlich
anvertraut, dass ihr Mann ihr aus für sie unersichtlichen Gründen
erklärt hatte, er würde nicht länger ihre Ausgaben überwachen, und
sie könne ihr Geld ausgeben, wofür sie wolle.
»Ich will nicht der Grund für irgendwelche
Konflikte sein, darum spiel einfach, was du spielen willst.«
Brianna stand auf und gähnte. »Ach Liebes, ich bin in letzter Zeit
so müde. Das muss die Landluft sein. Nach dem Plausch mit dir und
Bella heute Nachmittag habe ich ein Nickerchen gemacht. Ich war so
überrascht, weil ich geglaubt hatte, ich würde mich nur eine Minute
hinlegen und ein wenig ruhen. Ich habe doch noch nie am helllichten
Tag einfach einschlafen können. Vielleicht sollte ich mich besser
zur Ruhe begeben.«
»Ich kann mir vorstellen, dass dein Mann deine
Gesellschaft schätzen wird.« Rebecca grinste.
»Das hoffe ich.« Brianna erwiderte das Lächeln,
ihre Augen funkelten vergnügt. »Ich werde bestimmt daran arbeiten,
dass es so weitergeht.«
»Wenn der Duke je herausfindet, dass du das Buch
gekauft hast …«
»Er wird es nicht herausfinden. Warum sollte er?
Im Übrigen, ist es nicht hinreißend?«
Da sie bisher noch keine Gelegenheit gehabt
hatte, mehr als diesen einen, verdorbenen Abschnitt zu lesen, wich
Rebecca aus. »Ich glaube einfach nicht, dass es ihm gefallen
würde.«
»Er kann ein wenig autoritär sein, aber ich
weigere mich, mir Sorgen um irgendwelche Konsequenzen zu machen,
weil ich das Buch gekauft habe«, erklärte Brianna. »Wir sehen uns
morgen früh.«
Nachdem sie gegangen war, schloss Rebecca rasch
ihre Tür und holte das Buch wieder hervor. Sie lehnte sich gegen
die Kissen und öffnete vorsichtig den schmalen Band. Sie blätterte
rasch zu dem Kapitel, das Brianna ihr vorgeschlagen hatte.
Vergesst nie, dass Ihr
besser wisst, was er will
Meine liebe Leserin. Zweifelt Ihr am Interesse des
Mannes, den mit Eurer Aufmerksamkeit zu bedenken Ihr Euch
entschlossen habt? Wenn das so ist, werdet Ihr dieses Kapitel
aufschlussreich finden. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten,
abzuschätzen, wie Euer Zauber auf einen bestimmten Mann wirkt, ohne
dass andere es bemerken. Ein Blick, den Ihr von der anderen Seite
des Raums von ihm auffangt, sein prüfender Blick, der auf Eurem
Busen ruht. Ein gewisses,
erhitztes Leuchten seiner Augen. Dies sind natürlich die subtilen
Nuancen, aber einen eher praktischen Test könnt Ihr auch
machen.
Für dieses Experiment bedürft Ihr dreier Elemente.
Zunächst braucht es Euren Verstand. Dann braucht Ihr Eure
Weiblichkeit. Das dritte Element, das ist am offensichtlichsten,
ist ein Moment, in dem Ihr mit dem Objekt Eurer Begierde ungestört
seid.
Kurz gesagt, Ihr braucht einen Plan, um so
verführerisch wie möglich zu sein. Und um sicherzustellen, dass Ihr
einen geheimen Ort habt, an dem Ihr erproben könnt, ob er sich von
Euch angezogen fühlt.
Wenn es notwendig ist, solltet Ihr auch im Vorfeld
entscheiden, welches Ziel Ihr verfolgt. Was wollt Ihr von diesem
Gentleman? Wünscht Ihr einfach nur, seine Geliebte zu werden?
Wünscht Ihr, dass er Euch zur Mätresse nimmt, Euch mit Geschenken
überschüttet und Eure Lust befriedigt? Oder ist Euer Ziel von eher
dauerhafter Natur?
Letzteres ist, je nachdem, um welchen Mann es sich
handelt, am schwierigsten – aber selten unmöglich.
Himmel, Rebecca hoffte nur, dass die Frau recht
hatte. Sie blätterte weiter. Sogar das Rascheln des Papiers ließ
sie erschreckt und schuldbewusst aufblicken, ob sie wirklich allein
war. So sehr Colton es missbilligen mochte, dass Brianna dieses
Buch gekauft hatte, Rebeccas Eltern würden in tiefe Ohnmacht
sinken, wenn sie es bei ihren Sachen fanden. Es gäbe keine
Möglichkeit, sich zu erklären oder zu entschuldigen. Das nicht. Sie
wären außer sich, und das aus gutem Grund, wenn man die Pikanterie
bedachte, die sie vorhin gelesen hatte.Wenigstens schien dieses
Kapitel nicht ganz so ungeheuerlich zu sein.
Die Umstände, wie genau Ihr sein ungeteiltes
Interesse auf Euch lenkt, liegen ganz bei Euch. Aber Ihr müsst mit
ihm allein sein. Dann ist das Kräfteverhältnis auf Eurer Seite.
Sollte er die Gelegenheit beim Schopfe packen und versuchen, Euch
zu verführen, so habt Ihr Euer Ziel sehr leicht erreicht. Wenn er
es nicht versucht, müsst Ihr erfinderisch werden und ihn davon
überzeugen, dass er sich wünscht, Euch zu verführen. Scheut nicht,
Eure weiblichen Reize einzusetzen, um die Situation unter Eure
Kontrolle zu bekommen. Schließlich ist das Aussehen einer Frau das
Erste, was ein Mann wahrnimmt, wenn er sie kennenlernt. Das
bedeutet nicht zwingend, dass Ihr schön sein müsst, um seine
Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Ehrlichkeit verpflichtet mich, Euch
daran zu erinnern, dass die Tatsache, dass Ihr Frau und Mann seid,
der Hauptgrund ist, der Euch zusammenführt. Es ist eine logische
Schlussfolgerung.
Männer begehren Frauen. Oh ja, auch Frauen
begehren Männer, aber wir sind viel subtiler darin, unser Vorhaben
durchzusetzen. Wo die Männer jemanden verfolgen, deuten wir nur an.
Wo sie zupacken, berühren wir. Wo sie etwas brauchen, wollen wir es
nur.
Ist es nicht ein wunderschöner Tanz der Natur? Und
der Anstand unserer Zeit sorgt nur für eine zusätzliche
Faszination. Wir verschleiern unsere verführerischen Schritte
hinter Höflichkeit und sinnlosem Protokoll, aber niemand wird
tatsächlich getäuscht. Es ist wesentlich, es ist unvermeidlich, und
es dient alles nur unserem Vorteil als Frauen unserer Zeit. Ehrbare
Männer lieben uns, und es ist an uns, zu entscheiden, bis zu
welchem Grad wir ihre Aufmerksamkeit wecken. Sobald Ihr wisst, dass
ein Gentleman interessiert ist, wartet nicht auf ihn. Nehmt die
Sache selbst in die Hand. Schließlich wisst Ihr, was er will.
Frauen unserer Zeit?
Rebecca ließ das Buch sinken. Sie war mehr als
bloß ein bisschen überrascht. Sie hatte ihre Stellung immer so
betrachtet, dass ihr nur wenig Freiheit blieb. Aber vielleicht
hatte die Autorin recht. Robert wusste ziemlich gut, dass er mit
ihr nicht leichtfertig tändeln durfte. Sie musste ihn also
irgendwie von den Vorteilen einer dauerhaften Tändelei
überzeugen.
Und wenn sie nicht irgendetwas unternahm, würde sie sich an der Seite
eines anderen Mannes wiederfinden.
Bisher hatte sie gewartet, bis er den ersten
Schritt machte. Aber warum musste es so sein?
Offenbar musste sie nur versuchen, mit ihm
allein zu sein, um dann abzuwarten, was passierte. An jenem Abend
im Garten war er ihr bloß behilflich gewesen, vor Lord Watts zu
fliehen, aber auf der Terrasse gestern Abend nach dem Dinner hatte
sie das Gefühl gehabt, er verhielte sich anders. Eine gewisse
Anspannung, die unter seinem gewöhnlich so mühelosen Charme
mitschwang. Besonders, als sie an der Balustrade standen und
redeten.
Ein gewisses, erhitztes Leuchten in seinen Augen
…
Möglicherweise hatte sie dieses besondere
Leuchten gesehen.
Rebecca begann nur langsam, sich die Hoffnung zu
erlauben, dass es wahr sein könnte. Nach ihrer Vorstellung heute
Abend hatte er sie gemieden. Eigentlich hatte sie erwartet, er käme
anschließend zu ihr und sagte etwas über die Musik oder das Duett.
Jeder war zu ihr gekommen – nur er nicht. Es war ungewöhnlich für
einen Mann, der sonst so sanft und höflich war.
Bestimmt war das ein gutes Zeichen, wenn er
nicht wagte, in Gegenwart anderer Leute mit ihr zu reden.Was würde
wohl passieren, wenn sie allein waren?
Lady R, wie Brianna sie nannte, war einfach
überwältigend.