Kapitel 7
Verlangen ist ein Spiel. Man kann es mit
raffinierten Abstufungen oder schamlosem Flirten spielen.
Aus dem Kapitel »Wie man wegläuft und garantiert
gefangen wird«
Brianna griff nach dem Riemen, um sich
festzuhalten, als sie über ein ziemlich unebenes Stück Straße
holperten. Ihr gegenüber bewegte sich Colton kaum auf seiner
Polsterbank. Seine langen Beine hatte er ausgestreckt, sodass seine
Stiefel ihre Röcke berührten, aber seine Miene war abwesend,
während er einen weiteren langen Brief las, den er aus dem Stapel
Korrespondenz gezogen hatte, mit der er die lange Reisezeit
überbrücken wollte. Eine Locke seines kastanienbraunen Haars fiel
ihm hin und wieder jungenhaft in die Stirn, doch er war zu
abgelenkt, um es überhaupt zu bemerken. An der Breite seiner
Schultern
oder der klaren Männlichkeit seiner Gesichtszüge war jedoch
absolut nichts Jungenhaftes.
Schließlich gab sie dem Impuls nach, der sie
seit einigen Meilen immer wieder überkam, und beugte sich vor, um
die eigensinnige Strähne in einer vertraulichen Geste aus seinem
Gesicht zu streichen.
Er blickte von dem Pergament in seiner Hand auf.
Und legte es zu ihrer Erleichterung endlich beiseite. »Ich
ignoriere dich. Entschuldige bitte.«
»Du hast mir ja gesagt, dass du dich trotz der
Landpartie während unseres Aufenthalts in Rolthven um deine
Angelegenheiten kümmern musst, aber ich muss zugeben, dass die
Stille mich allmählich anstrengt.« Brianna erwartete nicht
ernsthaft, dass er ihre Nervosität verstand. Aber es war
schließlich ihr erster richtiger Ausflug in die Welt der großen
Gastgeberin, die sie in den kommenden Tagen spielen würde. Er war
an den Prunk und große Veranstaltungen gewöhnt. Sie bezweifelte, ob
er überhaupt einen zweiten Gedanken daran verschwendete. Himmel,
Colton sprach den Prinzregenten sogar mit Vornamen an.
»Wie war deine Kindheit?« Die Frage schien ihr
angemessen, da sie sich gerade dem Anwesen näherten, auf dem er
aufgewachsen war. Außerdem war sie neugierig.
Coltons Brauen hoben sich leicht. »Meine
Kindheit?«
»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht
war, als ältester Sohn eines Dukes aufzuwachsen.« Sie erinnerte
sich an ihre Nichten und Neffen, die bei ihrem letzten Besuch bei
ihrer Schwester so wild durch den Garten gelaufen waren. Ihre
Kindheit war ebenso wundervoll gewesen. »Wurde dir erlaubt, zu
spielen? Ein Pony zu reiten? Hast du schwimmen gelernt? Durftest du
all die Dinge tun, die Kinder so gern tun?«
»Das durfte ich tatsächlich, ja. Bis zu einem
gewissen Punkt zumindest…« Azurblaue Augen betrachteten sie mit
wachsamem Blick. »Darf ich fragen, warum wir diese Diskussion
führen?«
»Das ist doch wohl kaum eine Diskussion«,
widersprach sie. »Du hast ja gerade mal einen Satz beigetragen. Und
der Grund, warum ich dich frage, ist der, dass du den Vergnügungen
heute so wenig Platz in deinem Tagesablauf einräumst. Ich habe mich
gefragt, ob du in dem Glauben erzogen wurdest, das Leben müsse so
gelebt werden.«
»Du hast wohl meinen Bruder kennengelernt,
oder?« Coltons Stimme klang ironisch. »Es ist doch offensichtlich,
dass wir nicht dazu erzogen wurden, der Frivolität zu entsagen. Ich
will damit nicht sagen, dass Robert ein frivoler Mann ist, aber er
verweigert sich nicht seinen Vergnügungen.«
Aber ebenso wenig ist Robert der älteste Sohn,
überlegte Brianna. Sie betrachtete ihren Mann unter leicht
gesenkten Lidern.
»Ich gehe zu Konzerten, in die Oper und nehme an
anderen Vergnügungen teil. Ich reite jeden Morgen aus, es sei denn,
das Wetter ist schlecht. Ich gehe regelmäßig in den Club.« Colton
zählte langsam die einzelnen Punkte auf. Seine Stimme wurde
leiser.Tiefer. »Ich genieße besonders die Nächte, seit wir
verheiratet sind.«
Eine Erwiderung auf diese anzügliche Bemerkung
musste warten, da die Kutsche jetzt in die lange Zufahrt gelenkt
wurde. Die Fassade von Rolthven Manor war zwar nicht
mittelalterlich, verlieh dem Gebäude jedoch einen Hauch dieser
längst vergangenen Epoche, obwohl es mit den klaren Linien und dem
sauberen, grauen Stein einer späteren Zeit entstammte.Vielleicht
lag es an den Türmen, die sich an den Ecken der lang gestreckten
Front in den Himmel erhoben und an eine Zeit erinnerten, als die
Northfields feudale Herrscher über ihr Land waren. Colton hatte ihr
bei ihrem ersten Besuch erzählt, dass nur wenige Teile der
ursprünglichen Burg erhalten geblieben waren, denn die Haupthalle
war vor einigen hundert Jahren abgerissen und neu erbaut worden.
Eine breite Freitreppe führte zu einer herrlichen Terrasse. Die
massiven Doppeltüren waren mit Buntglas geschmückt und aus dunklem
Holz. Das Familienwappen war in das Portal geschnitzt, um den
Besitzanspruch der herzoglichen Familie auf diesen Landsitz zu
untermalen.
An einem düsteren Tag fand Brianna diesen Ort
von außen etwas erdrückend, obwohl der Rasen gut gepflegt war und
die Blumenrabatten in voller Blüte standen. An einem strahlend
schönen Sommertag jedoch sah es warm und einladend aus, und sie
hoffte, dass ihre Gäste das ebenso empfanden.
Wenn sie das hier für Colton tat, wollte sie es
auch gut machen.
Die Equipage rollte die Einfahrt hinauf, und sie
spürte ein Flattern in ihrem Bauch, wie der Flügelschlag von
Schmetterlingen.
Seine mangelnde Begeisterung für dieses Ereignis
ist ja offensichtlich, dachte sie mit leiser Resignation. Sie war
entschlossen, diese Landpartie für einen Mann, der sich eigentlich
nicht vergnügen wollte, zu einem angenehmen Aufenthalt zu machen.
Ihre Entschlusskraft wurde durch die Erfolge in jüngster Zeit nur
verstärkt, die sie sich ermutigend noch einmal ins Gedächtnis rief.
Bisher drei. Sie hatte sie sogar niedergeschrieben und das
Pergament in Lady Rothburgs verbotenes Buch gelegt.
Eine wilde, erotische Kutschfahrt.
Ein Abend, an dem er … Oje, die Röte stieg ihr
ins Gesicht,
sobald sie daran dachte, aber ein Abend, an dem er sie an einer
Stelle geküsst hatte, von der sie nie geglaubt hätte, dass ein Mann
eine Frau dort küsste. Und es hatte sich herrlich verrucht
angefühlt.
Ein unvergessliches Bad und das anschließende
Zwischenspiel, das sich daraus ergab.
Auf dem Pergament sah das dann so aus: DIE OPER.
SEIN SCHLAFZIMMER. MEIN BAD.
Sie wollte auf keinen Fall irgendwem, der
zufällig ihre Notizen fand, die Gelegenheit bieten, die Worte
richtig zu deuten, denn das würde sowohl Colton als auch sie in
gewisse Verlegenheit stürzen. Und eines war gewiss – er würde es
nicht im Geringsten amüsant finden. Andererseits musste sie ihre
Fortschritte irgendwo aufzeichnen, denn wenn wieder Tage wie dieser
kamen, wenn sie stundenlang gemeinsam in einer geschlossenen
Kutsche saßen und er so beschäftigt war, dass er bis auf die
letzten Meilen kaum ein Wort mit ihr wechselte, musste sie sich an
ihre Ziele erinnern. Sonst würde sein Verhalten sie
entmutigen.
Er genoss die Nächte. Leidenschaft war schön und
gut, aber es ging nicht nur darum. Es ging
auch um Freundschaft. Und letztlich auch um Liebe.
Die Kutsche kam ruckartig zum Stehen.
Sie hoffte inständig, nach dieser Hausparty
ihrer Liste weitere Erfolge hinzufügen zu können.
»Wir sind da!«, verkündete sie fröhlich.
»Das hoffe ich«, erwiderte ihr Mann, und ein
leises Lächeln umspielte seinen Mund. »Denn andernfalls wären wir
ohne Grund stehen geblieben.«
Den vernichtenden Blick, den sie ihm zuwarf,
hatte er durchaus
verdient, aber er bemerkte ihn gar nicht. Colton stieg aus und bot
ihr die Hand, um ihr aus der Kutsche zu helfen.
Eine Reihe Diener hatte auf der Treppe
Aufstellung genommen, doch er würdigte ihr Auftauchen nur mit einem
knappen Nicken und einem Winken, als er Brianna zur Eingangstür
führte. Die Fahne, die über dem Haus wehte, zeigte an, dass er sich
zurzeit auf dem Anwesen aufhielt. Sie wusste, dass das nicht allzu
oft passierte.
Warum sollte er auch dieses schöne Haus auf dem
Lande besuchen und hier Entspannung suchen, wenn er sich doch in
seinem tristen Arbeitszimmer in London vergraben kann?, dachte sie
ironisch. Es war ja nicht so, dass er nicht hin und wieder nach
Rolthven Manor kam, aber die Ausflüge waren bisher eher flüchtiger
Natur gewesen, und Brianna hatte das Gefühl, das sei die Regel.
Bestimmt beklagte seine Großmutter seine ständige Abwesenheit, wann
immer sich ihr die Gelegenheit bot.
»Ich hoffe für uns und unsere Gäste, dass das
Wetter so gut bleibt«, bemerkte sie, als der Butler mit Schwung die
Tür aufriss.
Colton machte ein nichtssagendes Geräusch und
wandte sich an den ältlichen Diener. »Wie geht es Ihnen,
Lynley?«
»Sehr gut, Euer Gnaden.« Der Mann verneigte sich
höflich. Sein silbriges Haar glomm in der späten Nachmittagssonne
auf. »Es ist schön, Euch so schnell wiederzusehen.«
»Nun, diese schnelle Wiederholung meines Besuchs
haben Sie wohl meiner Frau zu verdanken.« Coltons Blick streifte
sie nicht einmal. »Sagen Sie, ist schon jemand von den anderen
eingetroffen?«
»Die Herren Lord Robert und Lord Damien sind
schon hier, Sir. Kamen vor etwa einer Stunde.« Lynley hatte
tadellose Manieren,
und seine elegante Kleidung konnte mit der eines Adeligen
mithalten. Er ging beiseite, damit sie in die riesige Eingangshalle
treten konnten.
Der große Raum entfaltete auch dann noch seine
beeindruckende Wirkung, wenn man schon einige Male hier gewesen
war. Es gab nicht weniger als sechs Kamine, unzählige alte und
vermutlich unbezahlbare Wandteppiche, die die hohen Wände
bedeckten, und längs unterteilte Fenster, die das Licht gedämpft
einließen, um den riesigen Raum – wenn man eine so ausgedehnte
Räumlichkeit noch Raum nennen konnte – in angenehmes Licht zu
tauchen. Das Merkwürdigste aber war, dass die Halle trotz ihrer
Größe geradezu gemütlich wirkte, obwohl Brianna keine Ahnung hatte,
wie das möglich war. Es konnte an der Gruppierung der eleganten
Möbel liegen, die hier und da standen und zu privaten Gesprächen in
kleinem Kreis ermutigten. Oder doch an den dicken Teppichen, die
auf den glänzenden Holzdielen lagen? Sie war sich nicht sicher.
Doch sie wusste, dass sie Rolthven Manor mochte und wünschte, dass
Colton sich mehr Zeit hier gönnte.
»Wollen wir nach oben gehen und uns umziehen?«,
fragte ihr Mann. Seine Hand umschloss ihren Ellbogen, und er schob
sie zu der Treppe, die sich am anderen Ende der Halle befand. Nahm
er die herrliche Umgebung überhaupt wahr? Sie wusste es nicht. »Ich
für meinen Teil möchte mich waschen und dann einen Brandy zu mir
nehmen.«
Heißes Wasser und ein Kleiderwechsel klangen
verlockend, weshalb Brianna zustimmend nickte. Sie ließ sich von
ihm die linke Treppe hinaufführen, die in einem weiten Bogen wie
ihr rechtes Gegenstück in das obere Stockwerk führte. Sie betraten
ihre Räumlichkeiten, die ebenso herrlich waren wie der Rest
des Hauses.Vielleicht war es hier sogar etwas zu viel des Guten.
Sie war nicht so versessen auf die dunklen, schweren Möbel und das
Fehlen duftiger Spitze in ihrem Schlafzimmer. Coltons Mutter aber,
die sich inzwischen neu verheiratet hatte und mit ihrem zweiten
Ehemann, einem italienischen Grafen, in der Nähe von Florenz lebte,
hatte offenbar die Farbe Lavendel geliebt. Brianna war darin nicht
annähernd so vernarrt, und auch wenn Colton ihr mit einem sorglosen
Abwinken versprochen hatte, sie könne die Gemächer nach ihren
Wünschen umgestalten, waren sie noch nie lange genug geblieben,
dass sie dieses Projekt angehen konnte. Vielleicht konnte sie ihn
überzeugen, London häufiger hinter sich zu lassen, wenn ihm dieser
kleine Ausflug gefiel.
Sie war fest entschlossen, dass er es auf jeden
Fall genoss.
Ihre Zofe und Coltons Leibdiener waren ihnen mit
dem Gepäck vorausgereist. Ihre Koffer waren bereits ausgepackt,
stellte Brianna zufrieden fest, und ihre Bürsten und andere
Toilettenartikel lagen auf dem verzierten Frisiertisch. Die hohen
Fenster standen offen und ließen den warmen Nachmittag ein. Die
zarten Vorhänge bewegten sich in der leichten Brise, die vom grünen
Park hereinwehte.
»Euer heißes Wasser sollte in Kürze hier sein,
Euer Gnaden.« Ihre Zofe, ein Mädchen aus Cornwall, das immer mit
leiser Stimme sprach, trat zu ihr, um ihr beim Ausziehen zu helfen.
»Welches Kleid möchtet Ihr gern heute Abend tragen?«
»Nichts Lavendelfarbenes«, murmelte sie und
schaute sich um. »Vielleicht das Kleid aus eisblauer Seide. Heute
Abend ist es nur ein ungezwungenes Essen im Kreis der Familie. Die
Gäste werden nicht vor morgen ankommen.«
»Natürlich, Euer Gnaden.«
Nachdem sie den Reisestaub abgewaschen und sich
wieder angezogen hatte, bürstete Brianna ihr Haar und steckte es
mit Mollys Hilfe zu einem losen Knoten im Nacken hoch. Sie saß vor
dem reich verzierten, vergoldeten Spiegel und fragte sich, wann
wohl der richtige Zeitpunkt war, um ihren Mann mit dem verruchten
Geburtstagsgeschenk zu überraschen, das sie für ihn geplant
hatte.
Die Wahl des richtigen Zeitpunkts war von
entscheidender Bedeutung.
Wenn es nach ihr ging, würde er sich für den
Rest seines Lebens an diesen Tag erinnern.
Die gebrechlich wirkende Frau mit der Wolldecke
über den Knien und einem Monokel vor einem Auge trug wie immer
kultivierten Missmut zur Schau. »Nett, dass du endlich auch für
deine Familie Zeit findest«, bemerkte sie schroff.
Der Verstand seiner Großmutter war trotz ihres
Alters nicht im Geringsten geschwächt, dachte Colton zärtlich. Er
gab sein Bestes, um nicht zu defensiv zu klingen. »Ich bin doch
brav hergekommen, oder nicht?«
Die Herzoginwitwe schnaubte verächtlich. »Aber
auch nur, weil deine hübsche, junge Frau dich dazu gezwungen
hat.«
Brianna lächelte bloß. »Colton ist immer sehr
beschäftigt. Ich bin so froh, dass er zugestimmt hat,
herzukommen.«
Damien lehnte sich zurück, eine seiner Brauen
auf seine typisch rätselhafte Weise hochgezogen. Robert wirkte
amüsiert. Da stehen wir also, dachte Colton, während er nach einer
diplomatischen Antwort suchte. Drei erwachsene Männer, die von
einer alten Frau und einer jungen, sehr ablenkenden Schönheit
übertölpelt wurden. Er räusperte sich. »Ich freue mich
darauf.«
Seine Großmutter kniff ihre scharfsinnigen
blauen Augen zusammen und senkte das Monokel. »Ich bin nicht
sicher, ob ich das tatsächlich glauben kann, aber ich möchte mich
auch nicht streiten. Du bist hier, Damien ist endlich heimgekehrt,
wenn auch nur für kurze Zeit, und Robbie hat den Lustbarkeiten
Londons entsagt, um ein paar Tage auf dem Land zu verbringen. Das
ist nicht mehr passiert, seit …«
Sie verstummte, und Colton beobachtete, wie sie
plötzlich ihren Gehstock zurechtrückte, der neben ihrem Sessel
lehnte, als sei es das Wichtigste auf der Welt, dass der Stock im
richtigen Winkel stand. Ihre Augen glänzten verräterisch. Seit sein
Vater – ihr Sohn – unerwartet an einem plötzlichen Fieber gestorben
war, vollendete er in Gedanken ihren Satz. Colton war damals
zwanzig, Damien hatte gerade seine Studien in Cambridge
aufgenommen, und Robbie war noch in Eton. Für die Beerdigung hatten
sie sich zuletzt als Familie hier versammelt, und er konnte es
nicht fassen, dass sie recht hatte. Danach waren sie zielstrebig
getrennter Wege gegangen, und jeder von ihnen hatte seine
jeweiligen Leidenschaften verfolgt. Er hatte seinen Vater beerbt
und musste lernen, ein Herzogtum zu verwalten, Damien hatte sich
immer danach gesehnt, zu reisen und Ränke zu schmieden. Und Robbie
war der sorglose Charmeur.
Lieber Gott, das schien eine Ewigkeit her zu
sein, seit sie am Grab seines Vaters gestanden und das Gefühl
gehabt hatten, ihre Welt entglitte in eine andere Dimension.
Zumindest hatte er die Trauer so empfunden, und er hatte auch bei
Damien und Robert in der Folge eine Veränderung bemerkt. Die
Wirklichkeit hatte sie ziemlich unsanft ins Gesicht geschlagen, und
sie waren gezwungen, jeder auf seine Art mit dem Unglück
umzugehen.
Wie war deine Kindheit?
War Brianna überhaupt bewusst, wie sehr diese einfache Frage seine
Erinnerungen aufwühlte?
Nach seines Vaters Tod war er eine Zeit lang
überwältigt gewesen, aber er war fest entschlossen, seine
Ländereien und die anderen finanziellen Interessen mit derselben
Effizienz zu führen, wie es alle Dukes of Rolthven vor ihm getan
hatten. Er war so sehr von dieser Aufgabe beansprucht, dass er kaum
bemerkte, als seine Mutter nach ihrer Trauerzeit in die
Gesellschaft zurückkehrte, und darum war er folglich auch
verblüfft, als sie ihm ihren Wunsch verkündete, sich ein zweites
Mal zu verheiraten. Damien war ebenfalls die meiste Zeit abwesend,
und seine Großmutter weilte ständig auf dem Lande, während seine
Verpflichtungen ihn zumeist in London festhielten. Es war Colton
gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er es vermisste, auf Rolthven
zu weilen und seine Familie zu sehen. Robert war der einzige nahe
Angehörige, den er regelmäßig sah, und das geschah zumeist, weil
sich ihre Wege während der gesellschaftlichen Ereignisse
zwangsläufig kreuzten und sie denselben Club besuchten.
Obwohl er selten in Gegenwart anderer seine
Zuneigung zeigte, war seine Großmutter eine der wenigen Personen in
seinem Leben, bei denen er sich dazu hinreißen ließ. Colton legte
seine Hand auf ihren von blauen Adern überzogenen Handrücken. »Es
war höchste Zeit, dass wir wieder alle zusammenkommen, Großmutter.
Da hast du recht.«
Sie starrte ihn grimmig an. »Ich habe immer
recht, junger Mann.«
Er war erleichtert zu sehen, dass ihr keine
Tränen mehr in den Augen standen. Er neigte den Kopf. »Ja, Madam.
Ihr habt recht.«
»Immer.«
Er sah, wie ihre Lippen zuckten. Einer seiner
Brüder – er hatte den Verdacht, es war Robert – lachte.
»Immer.«
»Da wir das nun geklärt haben, werde ich dir
erlauben, mich zum Dinner zu geleiten.«
Er gehorchte und bot ihr höflich den Arm. Er
spürte, wie sich ihr leichtes Gewicht auf ihn stützte, als sie sich
erhob und sehr langsam an seiner Seite einherschritt. Ihre Finger
schlossen sich fest um seinen Arm. Hinter ihm konnte Colton hören,
wie Robert etwas sagte und Brianna ihm mit einem wohlklingenden
Lachen antwortete. Wenn er jetzt länger darüber nachdachte, schämte
er sich fast für seine erste Reaktion auf den Vorschlag seiner
Frau. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er sich ständig so
beschäftigt hielt, damit ihm keine Zeit blieb, seine Familie zu
vermissen. Warum hatte er nicht vor dem heutigen Tag darüber
nachgedacht?
Das Speisezimmer konnte man auf keinen Fall als
anheimelnd bezeichnen. Die hohen Decken barsten vor überbordenden
Fresken, die ein italienischer Meister angebracht hatte, dem vor
einigen Jahrhunderten ein Vermögen für die Ausschmückung des Hauses
bezahlt worden war. Darunter erstreckte sich an den Wänden eine
dunkle Holzvertäfelung, die so blank poliert war, dass sie herrlich
schimmerte, und der riesige Tisch bot bis zu dreißig Leuten Platz.
Durch zwei Türen an den Stirnseiten des Raums konnten die Diener
mit den Tabletts ein und aus gehen. Einige massive Kandelaber
verbreiteten angenehmes Licht, und jede Seite des Raums wurde von
einer Feuerstelle geschmückt. An einem Ende des Tischs waren fünf
Plätze gedeckt, die so dicht beisammenlagen, dass sie bequem reden
konnten, ohne die Stimmen erheben zu müssen. Colton führte zunächst
seine Großmutter zu ihrem Platz. Anschließend
drehte er sich mit einer ihm völlig unbekannten Besitzgier, der er
sich bisher nicht bewusst gewesen war, um und zog einen Stuhl für
seine Frau vor, womit er seinem jüngeren Bruder zuvorkam.
Himmel, Brianna sah heute Abend hinreißend aus.
Sie trug ein einfaches Kleid aus blauer Seide, und ihr goldenes
Haar, das sie hochgesteckt trug, schimmerte im Kerzenlicht. Ihre
makellose, blasse Haut glühte, sie war die personifizierte
Weiblichkeit. Seine Frau schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und
setzte sich. Ihr süßes, verlockendes Parfüm umwehte sie.
Später, versprach er sich, würde er großes
Vergnügen daran finden, ihr das Kleid auszuziehen und ihr
herrliches Haar zu lösen. Dann würde er sie zu Bett bringen, und
später würde er hören, wie sie diese kleinen, erregenden Geräusche
von sich gab, die ihm zeigten, dass sie jede einzelne Sache, die er
mit ihr machte, genoss. Dass sie mehr wollte.
»Willst du dich nicht setzen?«
Erst ihre vorsichtig vorgebrachte Frage machte
ihm bewusst, dass er noch immer neben ihrem Stuhl stand und seine
eigene Frau anstarrte wie ein Dummkopf.
Und zugleich stellte er sich in Gegenwart seiner
ganzen Familie, inklusive seiner Großmutter, vor, wie er sie
liebte.
Brianna hatte diese beunruhigende Wirkung auf
ihn.
»Tut mir leid. Ich habe mich nur daran erinnert,
dass ich vergessen habe, vor unserer Abreise etwas zu erledigen.
Egal. Mein Anwalt wird sich darum kümmern«, log Colton und ließ
sich rasch auf den Stuhl am Kopfende des Tisches nieder. Er fühlte
sich wie ein Idiot. Im selben Augenblick trat ein Diener zu ihm und
schenkte Wein ein. Colton nahm dankbar sein Glas und versuchte
Roberts leises Grinsen zu ignorieren. Ob von den anderen
Anwesenden jemand gemerkt hatte, dass er kurzzeitig von seiner
Frau abgelenkt war, wusste er nicht. Robert war es sicher nicht
entgangen. Um seinem Bruder diesen irritierenden Blick
heimzuzahlen, fragte Colton ruhig: »Erzähl mir, meine Liebe, sind
irgendwelche alleinstehende, junge Damen zu dieser Soiree
eingeladen?«
Brianna lächelte schelmisch, was hinreißende
Grübchen auf ihre Wangen zauberte. »Wie könnte ich keine jungen
Damen einladen, wenn doch zwei der begehrtesten Junggesellen
Englands anwesend sind?«
Damien wirkte auf höchst amüsante Weise
beunruhigt. Robert stöhnte unüberhörbar auf. Seine Großmutter
lachte krächzend und bemerkte mit einer gewissen Schärfe: »Gut
gemacht, mein Kind. Ich würde zu gern sehen, dass alle verheiratet
sind, bevor ich diese Erde verlasse.«
»Ich habe schon immer gewollt, dass du ewig
lebst, Großmutter.« Robert hob sein Glas, um einen kleinen Toast
auszusprechen. »Diese Bemerkung verstärkt nur meinen Wunsch.«
»Amen«, murmelte Damien.
»Ich habe doch nur einen Scherz gemacht«,
erklärte Brianna mit vergnügt blitzenden Augen. »Die Gästeliste ist
recht kurz. Neben dem Earl und der Countess of Bonham kommen die
Marstons, Lord Bishop und seine Tochter, Mrs. Newman, die Herren
Lord Knightly und Lord Emerson sowie die Campbell-Schwestern mit
ihren Eltern. Das ist schon alles. Meine Schwester und ihr Mann
konnten leider nicht kommen.«
»Das soll alles sein? Das sind nicht weniger als
fünf unverheiratete junge Damen.« Robert wurde regelrecht grün um
die Nase.
»Aber auch fünf Junggesellen.« Brianna nippte
mit gelassener
Eleganz an ihrem Wein und runzelte die Stirn. »Man kann doch keine
Hausparty geben und nicht ebenso viele Gentlemen wie Damen
einladen. Deine Großmutter hat mir das gesagt, und darum habe ich
die Gästeliste entsprechend ausgearbeitet. Im Übrigen bist du es
doch gewohnt, an Veranstaltungen mit unverheirateten jungen Frauen
teilzunehmen.«
»Nicht fünf von ihnen auf einmal, und auch nicht
fünf Tage lang, an denen sie ständig zugegen sind!«
»Lieber Himmel.« Damien sah bereits aus wie ein
Mann auf der Flucht.
»Ach, jetzt tut doch nicht so, als wäre das so
schrecklich. Ich verspreche euch, dass sie allesamt sehr
liebenswürdig sind. Sonst hätte ich sie doch nie eingeladen.«
Als Colton ihre Miene betrachtete, hatte er das
Gefühl, dass seine Frau hinter der beherrschten Fassade
lachte.
Er fand das tatsächlich faszinierend. Wie zum
Teufel hatte sie ihn überreden können, dieser Veranstaltung
zuzustimmen? Und viel verblüffender war, wie sie seine
gewohnheitsmäßig gleichgültigen Brüder in eine ähnliche Situation
hatte manövrieren können.
»Ihr werdet es sehr genießen, dessen bin ich
sicher«, murmelte er. »Das werden wir alle.«
Robert, der genau wusste, dass Colton kein
Interesse an dieser Party gehabt hatte, warf ihm einen bösen Blick
zu. Damien verzog das Gesicht und winkte nach mehr Wein, da er sein
Glas bereits das erste Mal geleert hatte. Seine Großmutter
beobachtete sie alle mit großem Interesse, und Brianna streckte die
Hand aus und legte sie auf Coltons.
Eine Berührung. Nur ein leichtes Streicheln
ihrer Fingerspitzen. Dennoch prickelte sein Körper. Ihre blauen
Augen waren
leicht verschwommen. »Ich bin so froh, dass du das sagst,
Liebling. Ich habe mir so viele Sorgen um diese Sache
gemacht.«
Liebling. Normalerweise
hätte er es nicht begrüßt, wenn sie ihn in der Öffentlichkeit mit
Kosenamen bedachte, auch dann nicht, wenn es nur in Gegenwart
seiner Familie geschah.Aber ihr Gesichtsausdruck nahm ihn irgendwie
gefangen, und er konnte nicht einmal die Stirn runzeln, um seinem
Missfallen Ausdruck zu verleihen. Im Gegenteil, er war so
unvernünftig, darüber nachzudenken, ob sie ihn schon einmal
Liebling genannt hatte. Nein, nicht soweit er sich erinnerte.
Ich habe mir so viele Sorgen gemacht …
Hatte sie? Die Idee hatte ihn verärgert, und sie
hatte sich Sorgen gemacht. Colton fühlte sich wie ein Mistkerl,
besonders, nachdem er den Blick auffing, den seine Großmutter ihm
zuwarf.
Ja, aber woher sollte er denn wissen, wie ein
verheirateter Mann sich verhalten sollte? Er war darin ebenso
ungeübt wie Brianna. »Ich weiß nicht, warum du dir hättest Sorgen
machen müssen.«
Seine beiden jüngeren Brüder wechselten Blicke,
was ihn ärgerte. Robert sagte: »Vielleicht hat sie gedacht, du
würdest nur widerwillig London hinter dir lassen und dir die Zeit
nehmen, etwas zu entspannen? Ich kann mir unmöglich vorstellen,
warum sie diesen Eindruck haben könnte.«
Colton warf seinem jüngeren Bruder einen eisigen
Blick zu. »An diesem Tisch ist Sarkasmus nicht willkommen,
Robbie.«
»War ich etwa sarkastisch?« Gespielte Unschuld
verlieh Roberts Miene etwas Engelhaftes, obwohl er am weitesten von
ihnen allen davon entfernt war, ein Engel zu sein – es sei denn, es
handelte sich um einen gefallenen.
Der erste Gang wurde aufgetragen, was Colton
davor bewahrte, auf diese Bemerkung etwas zu erwidern. Bis zu einem
gewissen Grad verstand er die Bedenken, die seine Brüder angesichts
der Landpartie hegten, aber andererseits waren die jungen Damen,
die Brianna eingeladen hatte, ihre Freundinnen. Und wenn sie
Verstrickungen mit jungen Frauen im heiratsfähigen Alter vermeiden
wollten, brauchten sie bloß fünf Tage lang höflich sein und wären
dann aus dem Schneider. Seiner Meinung nach wurde nicht viel von
ihnen verlangt. Er war das Oberhaupt der Familie. Er könnte mehr
verlangen.
Verflucht, und vielleicht fand sogar einer von
ihnen eine Frau, dachte er, während er beobachtete, wie Brianna
ihren Löffel in die cremige Suppe tauchte und probierte.
Gott stehe ihnen bei.