Kapitel 10
Wenn sein Verhalten sich ändert, notiert das
Datum und analysiert den Grund. Es könnte sein, dass Ihr Eindruck
auf ihn gemacht habt.
Aus dem Kapitel »Ursache und Wirkung«
Ihre Eltern waren nicht gerade die subtilsten
Menschen, die je auf Gottes Erde gewandelt waren, entschied
Rebecca. Sie wäre am liebsten unter den Esstisch gekrochen.
Es war schmerzlich offensichtlich – und Rebecca
hatte das unangenehme Gefühl, dass jeder Anwesende es auch wusste
-, dass sie Damien Northfield vor die Nase gehalten wurde wie eine
preisgekrönte Kuh, die vor einem wohlhabenden Bauern auf und ab
stolzieren musste.
Um die Sache noch schlimmer zu machen, war es
für alle Anwesenden ebenso offensichtlich, dass Mrs. Newman ein
Auge auf Robert geworfen hatte. Ob es nun der ernsthafte Versuch
war, den Wunsch nach einem lustvollen Zwischenspiel zu wecken oder
sich den widerspenstigsten Junggesellen Englands zu angeln, wer
wusste das schon so genau? Aber wenn die Frau allen Ernstes
glaubte, dass sie ihren Absichten gerissen nachging, beging sie
einen schweren Fehler.
Nun ja, aber was war eine Hausparty ohne eine
angemessene Portion Verführung, dachte Rebecca düster. Sie griff
nach ihrem Weinglas. Im Augenblick beugte sich die hübsche Loretta
provozierend weit zu ihrem Opfer herüber und präsentierte ihr
Dekolleté auf die bestmögliche Weise. Die schlaffen Rüschen ihres
Mieders halfen nicht, die Kurven ihrer Brüste zu verbergen.
»Vielleicht möchtet Ihr lieber Euren
Gesichtsausdruck korrigieren.«
Der sanfte Vorschlag ließ Rebecca herumfahren.
Der Wein schwappte gefährlich am Rand ihres Glas hoch. Damien, der
dank der Machenschaften ihrer Mutter neben ihr saß, beugte sich zu
ihr herüber, als wollte er ihr eine Intimität zuflüstern. »Er redet
zwar mit ihr, aber zugleich beobachtet er Euch. Ich habe mich seit
Jahren nicht mehr so gut unterhalten gefühlt.«
Robert beobachtete sie? Sie konnte es nicht
beurteilen, aber andererseits gab sie sich auch große Mühe, nicht
ständig zu ihm hinüberzuschauen. »Und was ist mit meinem
Gesichtsausdruck?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
»Ihr seht aus, als wolltet Ihr der Dame das Herz
herausreißen. Das wäre beim Dinner vermutlich eher fehl am
Platze.«
»Eure Belustigung ist sehr auffällig,
Mylord.«
Damien lachte leise, ehe er seine Aufmerksamkeit
wieder auf den Fischgang richtete.
Verflucht sollte er sein. Sie genoss es, im
Stillen diese Verwünschung auszusprechen, obwohl sie zugleich
innerlich aufstöhnte, weil er diese scharfsichtige Beobachtung
gemacht hatte. Auf der anderen Seite des Tisches hatte ihre Mutter
den privaten Austausch zwischen Damien und ihr bemerkt. Sie
strahlte.
Lieber Gott, was für ein Albtraum.
Rebecca attackierte ihren gebackenen Dorsch in
Buttersoße mit falscher Begeisterung. Sie verspürte keinen Hunger,
schaffte es aber dennoch, ein paar Bissen herunterzuwürgen. Sie
starrte auf ihren Teller, um bloß nicht zu Robert zu blicken. Das
Kerzenlicht trieb ein paar üble Scherze mit seinem Gesicht, betonte
seine eleganten Wangenknochen und die verführerische Linie seines
Mundes.
Hör auf damit, befahl
sie sich. Hör auf, bevor du dich in
Verlegenheit bringst und es auch anderen auffällt.
Was würde wohl Lady Rothburg in dieser Situation
raten? Würde sie dasselbe kokettierende, mit den Wimpern klappernde
Verhalten empfehlen, das Mrs. Newman auf der anderen Seite des
Tisches demonstrierte? Bestimmt gab es eine bessere Möglichkeit.
Rebecca hatte bloß keine Ahnung, wie die aussehen könnte.
Vielleicht sollte sie heute Abend doch Brianna um das Buch bitten.
Entweder, sie verfolgte diesen drastischen Weg, oder sie gab auf
und folgte dem Rat ihrer Eltern, wen sie zum Ehemann erwählen
sollte.
Mit grimmiger Entschlossenheit kämpfte Rebecca
sich durch das Roastbeef und den Kartoffelbrei, obwohl ihr Magen
rebellierte. Erleichterung überschwemmte sie, als das Dessert
aufgetragen wurde. Sobald die Teller leer waren, würde man den
Männern ihren Portwein servieren, und die Damen würden sich
versammeln, um nach dem Dinner ein wenig zu plaudern. Sie konnte
Kopfschmerzen vortäuschen und in ihr Zimmer fliehen.
Es war ein perfekter Plan, zumal ihre Schläfen
tatsächlich unangenehm pochten.
Ein perfekter Plan, bis er geschickt vereitelt
wurde.
Als sie versuchte, sich zu entschuldigen, hätte
der Blick ihrer Mutter einen Berg zu Schutt pulverisieren können.
»Vielleicht brauchst du nur etwas frische Luft. Geh doch ein
bisschen auf die Terrasse, Liebes. Vielleicht könnte Lord Damien
dich begleiten.«
Sie konnte unmöglich vier weitere Tage ertragen,
in denen sie ständig mit ihm verkuppelt wurde. Rebecca räusperte
sich. »Ich bin sicher, er möchte gern mit den anderen Gentlemen
seinen Portwein genießen. Ich brauche keine Begleitung.«
»Ich bin sicher, er wird
darauf bestehen, dich zu begleiten.«
Nun, jetzt hatte er wohl keine andere Wahl,
dachte sie verärgert. Damien neigte den Kopf. »Natürlich wäre ich
erfreut. Aber ich habe Mrs. Newman vorhin bereits versprochen, ich
wolle ihr heute Abend die seltene Karte der Mandschurei zeigen, die
wir in der Bibliothek aufbewahren. Vielleicht könnte stattdessen
Robert Miss Marston nach draußen begleiten?«
Der Blick ihrer Mutter war entsetzt, doch sie
hatte sich schnell wieder im Griff. Rebecca unterdrückte ein lautes
Lachen. Es war natürlich eine Sache, sie am Arm des begehrtesten
Junggesellen, der zugegen war, nach draußen zu schubsen, aber es
war etwas völlig anderes, sie ungeniert mit einem weithin bekannten
Lebemann auf einen Spaziergang zu schicken, selbst wenn die beiden
Männer Brüder waren.
»Ich … also …«
»Natürlich wäre es mir eine Freude.« Robert trat
leise näher. Vielleicht wollte er versuchen, Damien in dieser Sache
beizuspringen. Vielleicht fand er es auch amüsant, ihre Mutter zu
necken, oder … sie zögerte. Sie konnte es nicht glauben. Aber
konnte es sein, dass Damien recht hatte? Konnte Robert wirklich an
ihr interessiert sein? Er murmelte: »Mir wäre auch nach etwas
frischer Luft. Wollen wir?«
Es war so einfach. Rebecca hakte sich bei ihm
unter, und ihr Herz begann angesichts der Aussicht heftig zu
schlagen. Zum Glück stieß sie nicht mit ihm zusammen, als sie den
Speisesaal verließen, sie schafften es diesmal ohne diese
Peinlichkeit, die ihre letzte Begegnung eingeläutet hatte.
Das war ein viel besserer Anfang als das letzte
Mal, als sie allein waren. Es gab keinen beutegierigen Lord Watts,
der ihr auf den Fersen war, dachte sie. Sie war nicht sicher, ob
sie Damien
dankbar sein sollte oder nicht. Bestimmt fand er ihre Verliebtheit
in seinen jüngeren Bruder unterhaltsam genug, um sich einzumischen.
Oder vielleicht versuchte er auch einfach, auf diese Weise den
Kuppelversuchen ihrer Mutter zu entkommen.
Hatte Robert sie wirklich während des Dinners
beobachtet? Rebecca warf dem großen Mann neben sich durch gesenkte
Lider einen neugierigen Blick zu. Wie schon beim letzten Mal war
sie sprachlos. Wenn er sie nur halb so anziehend fand wie sie ihn …
Nun, sie musste einfach wissen, ob es stimmte.
Sie musste einfach wissen, woran sie war.
Ich brauche dieses verflixte Buch …
»Es ist recht kühl hier draußen. Möchtet Ihr
gern eine Stola?«
Seine Stimme ließ sie grundlos zusammenzucken.
»Ähm, nein... nein, danke. Es war ziemlich warm im Haus. Kühl
klingt wunderbar.«
»Eure Wangen sind leicht gerötet.«
Natürlich waren sie das. Wie Damien es so schön
ausgeführt hatte, errötete sie ständig in Roberts Gegenwart. Es war
äußerst ärgerlich, dass sie es nicht kontrollieren konnte, und
jetzt war es sogar ihm aufgefallen. Wie demütigend. »Ich versichere
Euch, es geht mir gut.« Das klang schärfer, als sie beabsichtigt
hatte.
»Gewiss.« Robert folgte ihr nach draußen. Er
wirkte in seinem maßgeschneiderten Abendanzug wie der
liebenswürdige Lebemann, der er war. Ein leises Lächeln umspielte
seinen Mund. »Also, erzählt mir doch, Miss Marston. Genießt Ihr die
Party bisher? Ich habe gemerkt, dass meine Schwägerin Euch den
Gefallen getan hat, den hartnäckigen Lord Watts von der Gästeliste
zu streichen.«
»Das hat Brianna nur getan, weil sie genau
wusste, dass ich sie erwürgt hätte, wenn sie ihn eingeladen hätte«,
sagte sie inbrünstig.
»Meine Eltern halten ihn für einen sehr geeigneten
Heiratskandidaten. Ich bin da etwas anderer Meinung.«
Die kühle Luft trug bereits einen Hauch Herbst
mit sich, aber sie fühlte sich herrlich an, als sie über ihre
nackten Schultern strich. Im Laufe des Tages waren Wolken
heraufgezogen, die den Mond jetzt verdunkelten. Ihre Schritte
hallten auf dem glatten Stein wider. Außer ihnen war die
weitläufige Terrasse verlassen.
Sie waren allein.
Nun, zumindest für den Moment. Ihre Mutter war
mit dieser Situation bestimmt nicht allzu lang zufrieden. Rebecca
wollte nicht mal darüber nachdenken, was ihr Vater vielleicht tun
könnte.
Robert hob amüsiert eine Augenbraue. »Und jetzt
scheinen sie Damien zu favorisieren.«
»Ja«, murmelte Rebecca. »Armer Mann.«
Robert lachte.
Sein Lachen hatte etwas Unwiderstehliches. Sie
wünschte, es in Musik einfangen zu können. Es lag zudem ein
besonderer Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn er ihr dieses
strahlende, einmalige Grinsen schenkte, das ihre Knie immer weich
werden ließ. Seine beiden Brüder waren ebenso attraktiv wie er,
aber Roberts Charisma war es, das sie magisch anzog. Es war eine
Energie, eine lebendige Kraft, und obwohl sie kaum als Expertin auf
dem Gebiet der sexuellen Verführung bezeichnet werden konnte,
vermutete sie, dass er seinen Erfolg bei Frauen vor allem auf diese
Anziehungskraft zurückführen konnte.
»Er wird es überleben. Man neigt dazu, es zu
vergessen, aber mein älterer Bruder ist der Ratgeber eines der
wichtigsten Männer unserer Zeit«, kommentierte Robert, während sie
zur Balustrade schritten. Er lehnte sich dagegen und drehte sich zu
ihr
um. »Damien sieht nicht so verschlagen aus, aber ich versichere
Euch, er ist es. Wie geschickt er die Angelegenheit doch vorhin
geregelt hat! Eine schnelle Rettung mithilfe eines kleinen, aber
wirkungsvollen Tricks.«
Rebecca verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Ich vermute, mit der ›Rettung‹ meint Ihr, dass er sich der mehr
als offensichtlichen Taktik meiner Mutter entzogen hat.«
»Tatsächlich habe ich dabei an mich und die zu
allem entschlossene Mrs. Newman gedacht. Habt Ihr wirklich gedacht,
sie interessiert sich für eine Karte der Mandschurei? Ich bezweifle
das. Ich würde nicht darauf tippen, dass Geografie eines ihrer
Interessengebiete ist. Sie scheint sich mehr für die neuesten
Hutmoden zu interessieren und nicht für die Höhenzüge in entfernten
Ländern.«
»Ich habe gedacht, Ihr mögt sie.« Das hätte
Rebecca besser nicht sagen sollen, aber es entschlüpfte ihr gegen
ihren Willen. Hastig fügte sie hinzu: »Zumindest war das mein
Eindruck.«
»Ist das so?« Seine Stimme klang ironisch, und
sein Blick huschte über die nebelverhangenen Gärten, die sich
hinter dem Haus erstreckten. »Bei den meisten Dingen im Leben kann
der Anschein trügen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich möchte
keineswegs unhöflich klingen. Sie ist eine recht angenehme, junge
Frau.«
Erleichterung überkam sie, denn das klang für
sie kaum nach der Beobachtung eines Liebhabers.Wenn sie sich
tatsächlich vorher schon heimlich für ein romantisches Stelldichein
entfernt hätten, würde er jetzt bestimmt nicht so gleichgültig von
ihr reden. Er mochte den zweifelhaften Ruf genießen, sich oft in
unbedeutende Affären zu stürzen, aber sie hatte auch noch nie davon
gehört, dass er eine Spur aus gebrochenen Herzen hinter
sich her zog. Falls er so herzlos war, wäre er nicht überall so
beliebt. Wenn also das sorglose Zucken seiner breiten Schultern ein
Hinweis war, hatte dieser kleine Flirt bisher nicht zu mehr
geführt.
Sie hatte kein Recht, deswegen erleichtert zu
sein, ermahnte sie sich.
Sie hatte überhaupt keine Rechte, wenn es um den
Mann ging, der jetzt neben ihr stand.
»Ich verstehe.« Das war kaum eine geistreiche
Entgegnung, aber sie war nicht sicher, ob geistreich überhaupt das
richtige Wort war, um sie in seiner Gesellschaft passend zu
beschreiben.
»Versteht Ihr wirklich?«, fragte er mit leiser
Stimme. Er sah sie auf eine Weise an, dass der Puls in ihrem Hals
unangenehm flatterte.
Er konnte das gut, rief sie sich scharf in
Erinnerung. Er kann mit nur einem Blick verführen, mit einem
Lächeln, einer Berührung. Es musste nicht heißen, dass Damien mit
seiner Vermutung recht hatte.
Aber es gab ihr die Hoffnung, dass er es
vielleicht doch tat.
»Ich glaube schon. Wir lassen uns manchmal zu
sehr von den Regeln der Höflichkeit fesseln«, murmelte seine
Begleiterin. »Es könnte so manchen ermutigen, zu glauben, dass ein
ernsthaftes Interesse besteht, obwohl das Gegenüber in Wahrheit nur
höflich ist.«
Robert hörte kaum, was sie sagte.
Zobelbraun. Das war die Farbe ihres Haars. Er
hatte den ganzen Abend schon versucht, die Farbe zu benennen.
Dicht, dunkel und schimmernd. Es bildete einen Kontrast zu ihrer
reinen, hellen Haut, und diese von langen Wimpern beschatteten,
wasserblauen Augen komplettierten das verführerische Bild. Robert
fluchte im Stillen. Damien glaubte sicher, dass er ihm geholfen
hatte, indem er Mrs. Newman ablenkte.
Es half ihm nicht im Geringsten, denn
stattdessen wurde ihm eine Versuchung direkt vor die Nase
gesetzt.
Auch wenn es so verdammt dumm war, hatte Robert
festgestellt, dass er sich seit ihrer Ankunft am Vortag allzu sehr
der hübschen Rebecca bewusst war, die mit ihren Eltern im
Schlepptau angereist war. Diese beispiellose Anziehungskraft einer
unverheirateten jungen Lady irritierte ihn unsäglich. Und er
wurde von ihr angezogen. Wenn Rebecca nicht
wäre, hätte er vermutlich Mrs. Newmans unausgesprochene Einladung
in ihr Bett angenommen und eine sehr lustvolle Nacht mit ihr
verbracht.
Es war sehr beunruhigend für ihn, dass seine
augenblickliche Faszination für Rebecca das Interesse an anderen
Frauen ausschloss. Und ein Moment wie dieser half nicht gerade.
Rebecca stand vor ihm und blickte zu ihm auf. Das gedämpfte Licht
umspielte ihr Gesicht. Ihr weicher Mund war leicht geöffnet, und er
musste sich bewusst davon abhalten, sich nicht vorzubeugen und von
ihrem zarten Duft zu trinken. Zu seinem Glück war die Reaktion
ihrer Mutter kein Geheimnis gewesen, und er bezweifelte, dass ihr
kleiner Spaziergang allzu lang dauern würde, ehe man jemanden
hinter ihnen herschickte, um die unschuldige, holde Maid aus seinen
ruchlosen Klauen zu befreien.
»Wenigstens scheint Brianna es nicht darauf
abgesehen zu haben, jeden Moment mit Aktivitäten auszufüllen, die
abzulehnen wir viel zu höflich sind.« Sie bedachte ihn mit einem
reizenden Lächeln.
Es war der schüchterne, süße Schwung ihres
Mundes, der ihm erst in diesem Moment bewusst werden ließ, wie
wenig er im
Grunde über naive, junge Frauen wusste. In seinem Leben legte er
großen Wert darauf, genau das nicht zu
wissen. Er hatte keine Schwester, und er war nicht viel mehr als
ein Junge gewesen, als er sich auf Elise einließ. Von da an schien
sein Weg vorgezeichnet zu sein. Nicht notwendigerweise in die
falsche Richtung – so hatte er bisher geglaubt. Aber jetzt fiel auf
ihn zurück, dass er allzu leichtfertig mit seinen Entscheidungen
Türen hinter sich zugeschlagen hatte. Ehrbarkeit war ein Wort, das
er stets mit Amüsement betrachtet hatte. Colton war ehrbar genug
für sie alle.
Es war nur unglücklich, dass seine ganze
Aufmerksamkeit jetzt auf Rebeccas Lippen und ihr verführerisches
Lächeln gerichtet war. Es wäre besser gewesen, wenn er damals nicht
beinahe von ihr hätte kosten dürfen.
Er wäre verflucht, wenn er nicht mehr wollte.
Wie es wohl wäre, der Mann zu sein, der die reizende Rebecca in die
Freuden sexueller Lust einführen durfte? Also, das war doch mal eine neue, erotische Fantasie.
Jungfrauen hatten ihn noch nie interessiert. Nicht, solange es so
viele erfahrene Geliebte gab, die jederzeit bereit waren, mit ihm
eine unverbindliche Liaison einzugehen. Aber etwas war an ihr,
neben ihrem gertenschlanken Körper und ihren zugegeben
atemberaubenden Brüsten. Eine unbewusste, sinnliche Aura
vielleicht, die ihm sagte, dass sie eine sehr befriedigende
Bettgefährtin wäre, wenn man sie richtig unterwies.
Bettgefährtin für einen anderen Mann, ermahnte
er sich scharf. Er fragte sich, was zum Teufel mit ihm nicht
stimmte, dass er so etwas dachte. Für ihren Ehemann wäre sie eine wunderbare Gefährtin. Nicht
für ihn.
Robert hob eine Braue und bemühte sich, auf ihre
Bemerkung gelassen zu antworten. »Das ist einer der Vorteile, wenn
man zur Familie gehört. Ich würde mich zurückziehen, wenn Brianna
versucht, mich zu einer Partie Scharade oder einem ähnlich öden
Zeitvertreib zu bewegen. Soweit ich weiß, wird uns keine der
üblichen Beleidigungen unserer Sinne zugemutet, außer einem
Musikabend morgen. Ich glaube, eines der Campbell-Mädchen wird
Haydn oder die Arbeit eines anderen Komponisten verstümmeln. Der
Komponist sollte froh sein, wenn er tot ist und das Sakrileg nicht
mit anhören muss.«
Etwas flackerte in Rebeccas Blick auf. Dann
sagte sie ruhig: »Tatsächlich werde ich
morgen spielen.«
Er hatte augenblicklich das Gefühl, sich wie ein
Idiot benommen zu haben.Verdammt, er sollte doch so bezaubernd wie
nur möglich sein und sich nicht wie ein Dummkopf benehmen, der
junge Frauen beleidigte. In diesem Fall hatte er sogar eine
ziemlich faszinierende und schöne Frau beleidigt. Brianna hatte ihm
anscheinend nicht gesagt, welche der jungen Damen vorspielen würde,
denn in seinem anhaltenden Zustand, der offenbar an Vernarrtheit
grenzte, hätte er sich daran erinnert, wenn sie Rebecca erwähnt
hätte. Jemand anderes musste etwas über die Campbell-Schwestern
gesagt haben, und er hatte es falsch verstanden.
»Verzeiht mir bitte.« Er fuhr mit der Hand
durchs Haar und seufzte. »Vergebt mir bitte, wenn Ihr könnt. Ich
habe wohl einmal zu oft einer Vorstellung beigewohnt, nach der
meine Ohren pfiffen und ich den Mann verfluchte, der das Pianoforte
erfunden hat. Das ist aber keine Entschuldigung, dass ich Euch
beleidigt habe, obwohl es nicht absichtlich geschah. Ich vermute,
ich hätte auch nicht eine der Damen Campbell verunglimpfen dürfen,
ohne sie spielen zu hören.«
Statt sich auf dem Absatz umzudrehen und ihn
hochmütig
stehen zu lassen, lachte Rebecca Marston reizend. Die Anspannung
wich aus ihrer Haltung, und in ihrer Miene glitzerte etwas
Schadenfrohes auf. »Ich weiß nicht, Mylord, ob Euch bewusst ist,
dass Ihr mich gerade vor eine Herausforderung stellt. Es scheint
mir, als müsste ich Eure Meinung über junge Ladys und ihre
musikalischen Fähigkeiten ändern. Darf ich Euch auch
herausfordern?«
Die unerwartete Reaktion brachte ihn aus dem
Gleichgewicht. Und er sollte verdammt sein, wenn er noch einmal auf
ihren verführerischen Mund starrte. »Mir scheint, Ihr seid
diejenige, die verletzt wurde, wie kann ich Euch also diesen Wunsch
abschlagen?«
»Spielt mit mir.«
Er starrte sie an. Ihre leise Bemerkung
überraschte ihn. Spielt mit mir? Gott, aber
ja, flüsterte eine eigensinnige Stimme in seinem Kopf.
Ich würde es lieben, mit Euch zu spielen. Mit
Euren vollen, festen Brüsten, von denen ich weiß, dass sie unter
Eurem züchtigen Kleid verborgen sind. Ich will meine Finger in
diesem seidigen Haar vergraben, will Euch besinnungslos küssen,
will Eure Schenkel öffnen und meinen Schwanz tief, tief in Euer
Paradies versenken …
Eine völlig andere Stimme, die eher kalt und
praktisch klang, erinnerte ihn daran, dass es eine ziemlich
schlechte Idee war, mit Jungfrauen dieses Spiel zu spielen. Noch
dazu war es eine der schlechtesten Ideen, die ein Mann haben
konnte, mit einer Jungfrau zu spielen, die einen mächtigen und
beschützenden Vater hatte (der ihn zu allem Überfluss
verabscheute). Im Übrigen war er sicher, dass ihr Vorschlag
überhaupt nichts mit seinen alles andere als züchtigen Gedanken zu
tun hatte.
»Könntet Ihr Euch etwas deutlicher ausdrücken,
Miss Marston?«
»Euer Bruder hat mir erzählt, dass Ihr ein
talentierter Cellist seid. Ich habe zufällig ein Musikstück bei
mir, das für Pianoforte und Cello geschrieben ist. Wie wäre es mit
einem Duett?«
Die Art Duett, die er im Sinn hatte, spielte
weder mit Tasten noch mit Saiten.
Wären sie in London gewesen, hätte er höflich
ablehnen können, weil er sein Instrument nicht bei sich hatte. Aber
es befand sich hier in Rolthven, und auch wenn seine Brüder es
vielleicht nicht wussten, wüsste seine Großmutter es auf jeden
Fall. Er hatte Rebecca bereits einmal gekränkt, und als Gentleman
konnte er die Sünde kaum verschlimmern, wenn er log. Er hatte nicht
viel dafür übrig, öffentlich zu spielen, aber diese Hausparty war
angenehm klein. Außerdem ließ etwas daran, wie sich ihre Augen
unschuldig weiteten, ihn wünschen, ihr diesen Gefallen zu
tun.
Darüber musste er unbedingt später noch
ausgiebig nachdenken.
»Ich habe schon länger nicht mehr gespielt, aber
ich denke, ich könnte Eurem Wunsch entsprechen.«
»Exzellent. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr die
Noten morgen bekommt, damit Ihr sie einüben könnt.« Ein
verführerisches Grübchen tauchte in ihrer Wange auf. »Wir wollen ja
nicht, dass Ihr den Komponisten beleidigt, indem Ihr ein
musikalisches Sakrileg begeht, nicht wahr?«
Sein Lachen war spontan. »Ich vermute nicht,
dass ich diese unglückliche Bemerkung irgendwie ungeschehen machen
kann?«
Er mochte Frauen, die Sinn für Humor hatten. Zum
einen waren sie oft die unterhaltsameren Bettgefährtinnen. Zudem
hatten sie die Angewohnheit, nicht so verwöhnt und hochmütig zu
sein.
Verdammt noch mal, seine Gedanken mussten auf
jeden Fall außerhalb des Schlafzimmers
bleiben, sobald sie sich um Miss Marston drehten.
»Nicht, wenn man so eine Bemerkung jemandem
gegenüber macht, der die Musik ernst nimmt«, erklärte sie. »Ich
fürchte, das ist bei mir der Fall.«
Faszinierend. Auch er nahm die Musik ernst,
obwohl er diese Leidenschaft nur mit wenigen Leuten teilte. Für ihn
war es ein privates Vergnügen, sich der Schönheit einer Kadenz
hinzugeben. Musik war Balsam für seine geschundene Seele. »Ist das
so?«
»Ja, wirklich.« Die Überzeugung in ihrer Stimme
war unüberhörbar, und es schien ihm, als wollte sie noch etwas
hinzufügen. Doch sie schwieg.
Die Luft roch bereits nach Herbst, stellte er
fest, und er versuchte, seine Sinne auf etwas anderes zu
konzentrieren als auf die junge Frau neben ihm. Es roch leicht nach
verrottenden Blättern und nach feuchter Erde, und dieser Geruch
wurde von einem Hauch Rauch überlagert. Der Duft von Herbst auf dem
Lande. London stank die meiste Zeit weniger erbaulich. Als er
jünger war, hatte er es kaum abwarten können, Rolthven zu verlassen
und in die Stadt zu fahren. Aber jetzt empfand er die friedvolle
Umgebung ansprechender, als er sie in Erinnerung hatte. Vielleicht
schwand ja seine jugendliche Rastlosigkeit mit zunehmendem
Alter.
Konnte es sein, dass er sich zu einem weniger
ruhelosen, eher gesetzten Mann wandelte? Nahm es solche Ausmaße an,
dass er sogar ein berechtigtes Interesse an einer jungen,
unverheirateten Lady entwickelte?
Nein. Er vertrieb augenblicklich diesen
Gedanken, weil vor seinem inneren Auge plötzlich Bilder von einem
Rosenpfad und
einer Kathedrale voller Hochzeitsgäste auftauchten, dicht gefolgt
vom Bild lächelnder, plumper Babys, die vor seinen Augen tanzten.
Er dachte kurz nach. Miss Marston brachte all diese Dinge mit sich,
und er war längst nicht so weit, seine Freiheit aufzugeben.
Im Übrigen konnte er sich nur allzu deutlich an
die entgeisterte Miene von Lady Marston erinnern, als es Damien
gelang, für ihre Tochter einen anderen Begleiter ins Spiel zu
bringen. Vielleicht wusste sie von der Kluft zwischen Robert und
ihrem Mann. Oder vielleicht war es auch nur sein Ruf, der sie so
entsetzte. Was es auch war, Roberts Werben um sie – wenn er je
diesen Wahnsinn in Erwägung zog – wäre nicht willkommen.
»Wie lange wird es wohl dauern, bis Eure Mutter
eine Entschuldigung gefunden hat, uns zu folgen?«, fragte er
belustigt und verbarg nicht den Zynismus, der in seiner Stimme
mitschwang. Er war im Grunde ein Realist, aber für den Augenblick
wollte er bloß Rebeccas Profil betrachten.
»Ich bin überrascht, dass sie nicht schon hier
draußen aufgetaucht ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind
allerdings gut zu sehen, daher denke ich, dass sie uns
beobachtet.«
Er mochte ihre Ehrlichkeit. Vielleicht war es
das, was ihn so anzog. Schönheit gepaart mit einem erfrischenden
Mangel an Doppelzüngigkeit. Sie war ungekünstelt. Nicht eitel,
nicht einfältig, nicht oberflächlich.
»Vielleicht sollten wir ihre Sorgen zerstreuen.
Ich werde Euch zurück ins Haus bringen, ehe sie einen Schlaganfall
erleidet.« Er warf einen Blick auf die ausgedehnte Steinterrasse,
und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Obwohl dies kaum ein
bequemer Ort wäre, um mich an Euch zu vergehen, habe ich das ungute
Gefühl, sie fürchtet, dass ich es dennoch versuchen könnte.«
Vielleicht sollte Lady Marston sich zu Recht
Sorgen machen …
Rebecca lachte erstickt. »Sicher wäre für einen
Wüstling Eures Rangs ein Steinfußboden nicht abschreckend.«
Man könnte das natürlich tun, wenn man wollte.
Er hatte einige Erfahrung darin, eher ungeeignete Orte für kleine
Stelldicheins zu nutzen, aber das würde er kaum laut
aussprechen.
»Habe ich so einen Ruf?«, fragte er und bot ihr
den Arm. Sie wussten beide, dass dies eine rhetorische Frage
war.
»Ich gebe nicht allzu viel darauf, was geredet
wird«, wandte sie ein und widersprach damit ihrer vorhergehenden
Bemerkung.
In gewissem Maße hörte jeder, was geredet wurde,
ermahnte er sich.
Der Klang einer tiefen Stimme, die
unmissverständlich eisig klang, unterbrach ihre Unterhaltung.
»Rebecca. Ich habe gehört, du fühlst dich nicht wohl. Vielleicht
solltest du doch lieber nach oben gehen.«
Rebecca zuckte zusammen. Nicht heftig, aber
Robert spürte, wie sich ihre Finger plötzlich durch seinen
Jackenärmel in seinen Unterarm gruben.
Er drehte sich um und lächelte ihren Vater kühl
an. »Ich wollte sie gerade wieder ins Haus begleiten.«
»Nicht nötig.« Sir Benedict stand mit
undurchdringlicher Miene im Türrahmen. »Ich werde selbst dafür
sorgen.«
Rebecca zögerte einen Moment. Sie machte auf ihn
einen gleichermaßen verlegenen und verwirrten Eindruck, als so
plötzlich – und geradezu greifbar – eine Spannung in der Luft lag.
Sie flüsterte nur noch: »Gute Nacht, Lord Robert.«
»Gute Nacht.« Er beobachtete, wie sie ging und
ihre Seidenröcke dabei anmutig ihren Körper umspielten. Ihr Vater
folgte
ihr, nachdem er einen letzten, verächtlichen Blick in seine
Richtung geworfen hatte.
Er war soeben gewarnt worden.
»Wenn du eine wie auch immer geartete,
romantische Neigung zu Robert Northfield zu entwickeln gedenkst,
kannst du dir das gleich wieder aus dem Kopf schlagen.«
Jedes seiner kurz angebundenen Worte war wie ein
kleiner Hieb. Rebecca kämpfte gleichermaßen gegen ihre Entrüstung,
weil sie in Gegenwart eines anderen wie ein Kind behandelt worden
war – besonders in Roberts Gegenwart! -, wie auch gegen eine
gewisse Verwirrung an. Sie war praktisch die Treppe hinaufgezerrt
und in ihr Zimmer geschoben worden. Das war auch alles andere als
würdevoll. »Es war bloß ein kleiner Spaziergang auf der Terrasse.
Mutter kann dir doch erklären, dass er mich nicht einmal darum
gebeten hat. Es war der Vorschlag seines Bruders.«
»Glaube ja nicht«, sagte ihr Vater mit
derselben, kalten Stimme, »dass ich nicht bemerkt habe, wie du auf
den jungen Mann reagiert hast.«
Das brachte sie in Verlegenheit. Wenn sie es
leugnen könnte, würde sie es tun. Aber sie konnte nicht. Also
bemühte sie sich bloß, nicht über ihre Röcke zu stolpern, während
sie versuchte, sich seinen schnellen, weit ausgreifenden Schritten
anzupassen.
»Er ist als Ehemann völlig inakzeptabel.«
Der Gesichtsausdruck ihres Vaters war
unmissverständlich. Dennoch wagte Rebecca eine Frage, da sie keine
Ahnung hatte, was genau vor sich ging. »Du magst ihn nicht.
Warum?«
»Ich verabscheue ihn«, bestätigte ihr Vater.
»Und ich werde dir den Grund dafür nicht sagen.«
»Du magst den Herzog. Du hast seine
Gastfreundschaft angenommen. Und offenbar genießt auch Lord Damien
dein Ansehen, denn du hast mich mit deiner Begeisterung in die
Verlegenheit gebracht, mit ihm meine Zeit zu verbringen.«
»Keiner von beiden hat etwas mit dieser Sache zu
tun. Robert Northfield hat seinen eigenen Kopf, und es geht dich
nichts an, warum ich ihn nicht mag.«
»Warum nicht?«, fragte sie ungläubig. »Da du
nach nichts mehr als einer einfachen Unterhaltung bereits ein
Ultimatum stellst, will ich den Grund dafür wissen.«
Man hatte ihnen Räume im linken Flügel
zugewiesen. Der lange, elegante Flur, der von Holztüren und
brennenden Lampen auf Tischen gesäumt war, erstreckte sich vor
ihnen. Das Gesicht ihres Vaters war hart wie Granit, als er zu
ihrer Tür stapfte und sie für Rebecca öffnete. »Wir sehen uns dann
morgen früh, meine Liebe.«