Kapitel 4
Meidet Männer, die sich als etwas darstellen,
das sie nicht sind. Auch bei einem Liebhaber ist der Charakter
wichtig, selbst wenn das flüchtige Vergnügen seiner Umarmung alles
ist, was Ihr sucht. Ich habe eine besondere Vorliebe für junge
Lebemänner, denn sie sind aufrichtig und gehen freimütig mit der
flüchtigen Natur ihres Interesses um. Sie sind zudem unbestreitbar
bezaubernd. Wenn Ihr die Frau seid, die schließlich das ernste
Interesse eines Lebemanns fesselt, habt Ihr wirklich Glück.
Aus dem Kapitel »Diese lieben, verruchten
Gentlemen«
Ihre Pferde gingen Seite an Seite, beides
herrliche Tiere, aber wie die Männer, die sie ritten, auch sehr
unterschiedlich. Robert hatte natürlich einen Berberhengst
ausgesucht, seine Lieblingsrasse; das ruhelose Tier erwies sich als
schwer zu kontrollieren, aber es war durchaus den Aufwand wert,
wenn man Ausdauer und Schnelligkeit schätzte. Sein ältester Bruder
ritt – auch das
war keine Überraschung – einen Vollblüter mit schlanken Beinen und
einer kraftvollen Hinterhand, mit breiten Schultern, die für kurze
Distanzen geschaffen waren. Ein außergewöhnlicher Sprinter, der das
Beste vereinigte, was die britischen Zuchtbücher zu bieten hatten.
Nachdem er ein Vermögen an Preisgeldern gewonnen hatte, war Thebes
inzwischen in die Zucht gegangen, aber Colton ritt ihn, weil das
Pferd nicht nur eine Investition war, sondern auch eines seiner
liebsten Tiere.
Sie passen gut zusammen, der Duke und der
geschmeidige Champion, dachte Robert belustigt, obwohl die sonst so
heitere, gut aussehende Miene seines Bruders von einer gerunzelten
Stirn überschattet wurde. »Ich bin wegen meiner Frau in
Verlegenheit.«
»Verwirrt wegen einer Frau?« Es war unmöglich,
nicht zu lachen. »Was für eine originelle Idee.«
Colton warf ihm einen finsteren Blick zu. »Deine
Belustigung ist nicht hilfreich.«
»Willst du Hilfe?«
Nach einem Moment antwortete Colton ausweichend:
»Vielleicht. Sie benimmt sich launisch.«
Der Park war ziemlich voll an einem so schönen
Herbstmorgen, und sie nickten einigen Bekannten zu. Sie schwiegen,
bis sie wieder allein auf dem Weg waren. Ein makelloser, blauer
Himmel spannte sich über ihren Köpfen, nur von zarten
Schleierwolken durchbrochen. Robert sagte vorsichtig: »Brianna
machte auf mich beim Mittagessen zu Großmutters Geburtstag letzte
Woche einen recht normalen Eindruck. Ich würde nicht den Begriff
›launisch‹ verwenden, aber ich sehe sie natürlich nicht jeden
Tag.«
Das stimmte. Robert hatte sein eigenes Stadthaus
und lehnte
es ab, in der ausgedehnten Familienresidenz in Mayfair zu wohnen.
Er war nicht der Duke, er war nicht einmal der Zweite in der
Erbfolge – diese Auszeichnung trug im Moment sein Bruder Damien -,
und Robert lebte gern nach seinen eigenen Vorstellungen.
Erneut spürte er ein gewisses Zögern. Coltons
Hände krampften sich um die Zügel, sodass Thebes seinen Kopf warf.
Entschuldigend tätschelte er den Hals des Pferdes. »Es ist nichts,
was man von außen bemerken würde, aber ich sehe auf jeden Fall
einen Unterschied.«
Es kam nicht oft vor, dass sich sein Bruder so
offensichtlich unwohl in seiner Haut fühlte. Robert musste zugeben,
dass ihn das überaus neugierig machte. Er blickte herüber und
runzelte die Stirn. »Du wirst das schon erklären müssen,
Colt.«
»Ja, zum Teufel, das ist mir bewusst.«
Der Ärger, der in Coltons Antwort mitschwang,
war noch seltsamer als seine ungewöhnliche Anfrage nach einem
gemeinsamen morgendlichen Ausritt. Robert wartete geduldig, während
ihre Pferde entspannt den gewundenen Weg zwischen Rasen und Bäumen
entlangschritten. Er fühlte sich wohl in der Wärme des ungewohnt
milden Wetters.
»Letzte Nacht hat sie … Also, sagen wir einfach,
es kam unerwartet.«
Das war kaum aufschlussreich, aber Robert bekam
immerhin einen Eindruck davon, was Colton mit ihm besprechen – oder
gewissermaßen nicht besprechen – wollte,
denn sein normalerweise so beherrschter Bruder hatte ein leicht
gerötetes Gesicht. »Du meinst im Bett?«, fragte Robert frei
heraus.
Colton warf ihm einen knappen Blick zu und
nickte kurz. »Ja.«
»Unerwartet im guten Sinne oder im schlechten?«
Schließlich war es Colton gewesen, der ihm eine Nachricht geschickt
und nach einem Morgenausritt gefragt hatte. Und Colton suchte
seinen Rat. Wenn Robert auf das morgendliche Ausschlafen
verzichtete, um diese Unterhaltung zu führen, sollten sie auch
wirklich über das Thema reden und aufhören,
darum herumzutanzen.
»Gut.« Dann fügte er hinzu: »Sehr gut, wenn du
es unbedingt wissen willst.«
»Ich brauche nicht alles zu wissen, was die
Intimitäten deiner Ehe betrifft, Colt. Aber du hast mit dem Thema
angefangen.«
»Das ist mir bewusst.« Der Duke of Rolthven
klang verstimmt. »Entschuldige«, fügte er versöhnlicher hinzu. »Es
ist das eine, über Frauen im Allgemeinen zu reden, aber meine
Ehefrau ist ein ganz anderes Thema.«
Robert wusste darauf nichts zu erwidern. Bisher
hatte es in seinem Leben noch keine Ehefrau gegeben. Wie konnte er
dann wissen, dass das etwas anderes war?
»Es ist etwas Persönliches.«
»Das würde ich meinen.« Colton behielt allgemein
vieles für sich, weshalb ihre Unterhaltung in diesem Moment noch
interessanter wurde.
Colton starrte gebannt auf das Unterholz einer
Baumgruppe, als wäre dies das Faszinierendste auf Erden. »Zur
Hölle, also gut. Sie … also, sie hat etwas getan, das sie noch nie
getan hat.«
Ach, das brachte sie
wirklich weiter. Robert murmelte: »Hat sie danach Tee bestellt?
Ein Lied gesungen, während sie sich entkleidete? Vollkommen nackt
auf dem Fenstersims getanzt? Ihre Zofe eingeladen, sich zu euch zu
gesellen? Du wirst schon deutlicher werden müssen. Zarte
Andeutungen sind für Frauen, wenn
sie beisammensitzen, am Sherry nippen und Klatschgeschichten
austauschen. Ich kann deine Gedanken jedenfalls nicht lesen.«
»Gut, gut«, brummte Colton. »Brianna hat mich in
den Mund genommen. Mehr noch, sie hat ihre Sache auch noch verdammt
gut gemacht.«
Obwohl sein erster Gedanke war, dass dieses
Ereignis seinen Bruder doch zu einem glücklichen Mann machen
sollte, hielt Robert diese Bemerkung zurück. Vorsichtig fragte er:
»Und du nimmst daran Anstoß?«
»Lieber Himmel, natürlich nicht.« Aber Coltons
Lachen war nur kurz, und in seinen blauen Augen lag ein gequälter
Ausdruck. »Ich frage mich nur, woher sie diese Idee hat.«
»Nicht von dir?«
»Nein, nicht von mir. Sie ist eine Dame. Ich
würde sie nie bitten, so etwas für mich zu tun.«
Jetzt dämmerte es ihm. Robert saß entspannt im
Sattel und musste ein Lachen zurückhalten. »Dir ist aber schon
bewusst, dass du dich über etwas ärgerst, das die meisten Männer
feiern und bejubeln würden? Sex ist ein normaler und instinktiver
Vor- gang. Brianna hat verheiratete Freundinnen. Vielleicht gibt es
da einen Ehemann, der nicht so höflich ist. Frauen reden
untereinander. Es ist einer ihrer liebsten Zeitvertreibe.«
»Sie reden bestimmt nicht über das, was hinter
den verschlossenen Türen ihrer Schlafzimmer geschieht.«
»Warum nicht?«
»Es ist kein angenehmes Thema.«
Ein bestimmter Teil von Robert fragte sich mit
zynischer Belustigung, ob die Aufmerksamkeit eines Mannes dadurch,
dass er im Schatten der ihm bevorstehenden, herzoglichen
Verantwortlichkeiten aufwuchs, so sehr untergraben werden konnte,
dass er die Realität aus dem Blick verlor. »Colt, denk doch mal
nach. Frauen sind von Romantik fasziniert. Von Natur aus sind sie
von diesem Thema viel mehr eingenommen als wir. Nein, ich glaube
nicht, dass sie regelmäßig über die mechanischen Vorgänge reden,
aber warum sollten sie auch? Der Akt selbst ist doch ziemlich
universell. Das eine in das andere. Es fühlt sich für beide Seiten
verdammt gut an, wenn es richtig gemacht wird, und obwohl es einige
Variationen gibt, wird das zugrundeliegende Prinzip immer dasselbe
bleiben. Männer konzentrieren sich auf Dinge wie die Größe der
Brüste oder wie willig oder erfahren ihre Partnerin ist, aber
Frauen gefällt etwas völlig anderes. Zärtliche Worte, die zarte
Berührung deiner Finger in ihrem Haar, poetische Worte über den
Sonnenaufgang, wenn man bei Tagesanbruch zusammen im Bett liegt.
Nichts davon ist taktlos.«
»Was meine These stützt«, erwiderte Colton
bitter. »Wer könnte ihr gegenüber angedeutet haben, ich könne so
ein schamloses Verhalten mögen?«
»Ich dachte, du hast gerade noch zugegeben, dass
es dir gefallen hat.«
»Darum geht es nicht, Robbie.«
Eigentlich war genau das das Thema, aber Robert
beließ es dabei. Stattdessen erklärte er geduldig: »Selbst wenn sie
sexuelle Beziehungen anders sehen als wir, scheint es mir eine
natürliche Erklärung zu sein, dass eine ihrer Bekannten vielleicht
erwähnt hat, wie gebannt ein Mann reagiert, wenn eine schöne Frau
an seinem Schwanz lutscht. Natürlich reden die Frauen darüber nicht
so wie wir, sondern viel feinfühliger und diskreter. Ich kann mir
gut vorstellen, dass sie darüber reden, was uns gefällt. Während
wir eher darüber nachdenken, was uns
gefällt, sind Frauen viel selbstloser. Wir bestehen darauf.«
Sein älterer Bruder warf ihm einen missmutigen
Blick zu. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
Robert war durch und durch ein Mann, aber er
erkannte durchaus die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern,
nicht nur im Bett, sondern auch außerhalb. »Auf unserer natürlich«,
behauptete er. »Aber lass uns ehrlich sein. Wir haben die
Kontrolle. Intelligente Frauen wissen das. Wenn sie uns glücklich
machen, ist ihr Leben einfacher. Besonders, wenn sie unserer Gnade
ausgeliefert sind, zum Beispiel unsere Frauen.«
»Brianna ist nicht
meiner Gnade ausgeliefert.« Colton rutschte im Sattel hin und her,
stellte eindrucksvoll seine herzogliche Verachtung zur Schau:
Augenbrauen gehoben, ein hochmütiger Gesichtsausdruck. »Sie ist
meine Frau, keine Gefangene oder Sklavin.«
Robert konnte sein Vergnügen kaum verhehlen.
»Ich bin sicher, du gewährst ihr ein großzügiges Taschengeld, aber
ich bin mir auch ebenso sicher, dass du überwachst, wofür sie es
ausgibt. Ebenso gestattest du ihr, Einladungen zu verschiedenen
Festlichkeiten für euch beide anzunehmen … Aber ich wette, du
nimmst für dich das Recht in Anspruch, ihren Entscheidungen
zuzustimmen oder sie abzulehnen. Sie darf allein ausgehen, aber
nur, wenn sie von ihrer Zofe oder einem angemessenen Ersatz
begleitet wird. Allein ist also relativ, richtig?«
»Ich bin kein despotischer …«
»Nein«, unterbrach Robert ihn, »bist du nicht.
Du bist einfach ein typischer Ehemann. Wir machen die Frauen sehr
abhängig von uns, oder? Was wir als Schutzmaßnahme betrachten, kann
leicht auch als erdrückende Vorherrschaft interpretiert
werden.«
Nach einem Moment ließ Colton ein langes Seufzen
entweichen,
in dem eine gewisse Verbitterung mitschwang. »Angenommen, ich
stimme darin mit dir überein. Aber Brianna hat sich nicht ein
einziges Mal über eine dieser kleinen Regeln beschwert …«
Robert schnaubte unelegant bei dem Wörtchen
»klein«. Was ihn betraf, so wäre er unglaublich verärgert, wenn
jemand überhaupt versuchte, ihn anzuweisen, wie er sein Geld
verwenden durfte, oder sich über seine Entscheidungen hinwegsetzte
– selbst, wenn es um so triviale Dinge ging wie die Frage, ob er
lieber ein Theaterstück besuchen oder zu einer Soiree gehen sollte.
Andererseits war er ein Mann, und sobald er mündig geworden war,
hatte er die Blankovollmacht, sein Leben nach seinen Vorstellungen
zu leben. Aber es war ein Fakt, dass bei verheirateten Paaren immer
der Mann das letzte Wort hatte.Verheiratete Frauen waren abhängiger
als unverheiratete, die sich ihren Vätern beugen mussten.
Sein älterer Bruder überging das spöttische
Schnauben und fuhr resolut fort: »Ich sage immer noch, dass sie
sich merkwürdig verhält.«
»Und ich sage, dass sie einfach ausgelassen und
abenteuerlustiger ist, als du zunächst gedacht hast. Warum sollst
du dir über etwas so Herrliches wie eine begeisterungsfähige Frau
in deinem Bett den Kopf zerbrechen? Noch dazu, wenn sie deine Frau
ist?«
Colton rieb sich mit der behandschuhten Hand das
Kinn und kniff gegen die tief stehende Sonne die Augen zu. »So
gesehen ist es wirklich lächerlich, meine Zeit damit zuzubringen,
mich deshalb zu sorgen.Aber ich muss gestehen, dass sie mich sehr
unvorbereitet getroffen hat. Als ich sie fragte, woher die Idee für
ihr Verhalten stammte, reagierte sie ausweichend.«
Robert kämpfte gegen den Drang, in einen
Lachanfall auszubrechen. »Nur du schaffst es, nach einer besonders
befriedigenden sexuellen Begegnung eine Befragung zu wagen, Colt.
Du hast diese Tendenz, zu viel nachzudenken. Hattest du schon
immer.«
»Ich bin eher an erfahrene Frauen gewöhnt«,
murmelte sein Bruder. »Das ist alles neu für mich, und vielleicht
hast du recht, es könnte absolut natürlich sein, dass sie mit den
Intimitäten der Ehe vertrauter wird. Jedenfalls sind ihre engsten
Freundinnen Bonhams neue Countess und Rebecca Marston. Ich glaube
nicht, dass Bonham seine Frau in solchen Dingen unterweist, denn
sie sind einen Monat kürzer verheiratet als Brianna und ich. Miss
Marston ist unverheiratet, wird von ihrem beschützenden Vater
überallhin begleitet und ist eine sehr gebildete, junge Dame. Keine
scheint mir eine geeignete Kandidatin, um skandalöse Vorschläge ins
Ohr meiner Frau zu flüstern, und ich kann mir sonst niemanden
vorstellen, mit dem Brianna etwas so Privates diskutieren könnte.
Ich habe überlegt, ob meine Schwägerin vielleicht etwas gesagt hat,
aber sie ist eine wahrlich respektable Mutter mit drei
Kindern.«
Die Erwähnung der hübschen Rebecca mit ihren
meergrünen Augen und dem schimmernden, dunklen Haar brachte die
Erinnerung daran zurück, wie Robert sie in die Hecke gedrückt und
seinen Mund an ihren gelegt hatte. Wie ihr wohlgeformter Körper
sich gegen seinen schmiegte. Der Vorfall war bedeutungslos, nichts
als ein paar Augenblicke höflichen Gesprächs, gefolgt von der
Flucht, um dem zudringlichen Lord Watts zu entgehen. Robert hatte
sich jedoch mehr als einmal in den letzten Tagen dabei ertappt, wie
er daran zurückdachte. Es verwirrte ihn, dass er diese Sache nicht
einfach ausblenden konnte.
Dieses verdammte Jasminparfüm, dachte er
ironisch. Es rief Fantasien von exotischen Gärten, weicher, glatter
Haut und einem einzelnen, atemlosen Seufzen hervor …
Er musste wirklich übersättigt sein, wenn er
auch nur einen Gedanken an die verbotene Miss Marston
verschwendete. Heiratsfähig, erinnerte er
sich und erstickte auch nur den kleinsten Hinweis auf ein amouröses
Interesse. Im Übrigen konnte ihr Vater Sir Benedict nach jenem Zwischenfall kaum höflich zu Robert zu
sein, wenn sie sich gelegentlich begegneten.
»Wenn du meine Meinung hören willst, Colt,
solltest du die Sache ruhen lassen«, sagte Robert lapidar. »Sonst
riskierst du, deine junge, hübsche Frau in Verlegenheit zu bringen.
Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich ihr sagen, sie kann ihr
Taschengeld so verwenden, wie sie wünscht, solange sie nicht zu
viel ausgibt. Auch in anderen Fragen solltest du ihr Zugeständnisse
einräumen, soweit sie dir nicht zu schaffen machen. Ist doch
offensichtlich, dass sie dir gefallen will. Erwidere diesen
Gefallen.« Er hieb seinem Pferd die Fersen in die Flanken. »Wie
wär’s? Wollen wir galoppieren? Ich hätte Lust, Sahir gegen Thebes
laufen zu lassen. Er hat heute ein feuriges Gemüt.«
Das Musikzimmer war still. Die langen, hellen
Samtvorhänge waren vor die Fenster gezogen, um die Akustik zu
verbessern und eine Atmosphäre der Ungestörtheit zu schaffen. Ein
Tintenfässchen und einige linierte Blätter lagen auf dem
Pianoforte, aber nur ein paar unbefriedigende Noten waren auf die
Linien gekritzelt, und das einzige Geräusch war das gelegentliche
Quietschen der Bank, wenn Rebecca ihre Sitzposition
veränderte.
Ihre Muse war an diesem Morgen launisch, gestand
sie sich
mit einem Seufzen ein. Dieser Zustand dauerte bereits seit einigen
Tagen an. Ihre neue Routine machte ihr zu schaffen. Jeden Morgen
betrat sie das Zimmer und begann mit denselben Vorbereitungen: Sie
spitzte ihren Bleistift, rückte die Bögen gerade, damit sie die
Noten niederschreiben konnte, sobald sie ihren Kopf erfüllten und
in ihre Finger flossen, setzte sich auf die Bank und ordnete
züchtig ihre Röcke. Ihre Hände schwebten über den Tasten des
Pianoforte.
Aber nichts passierte. Nicht die gewohnte
Freude. Statt sich ganz der Leidenschaft an der Musik hinzugeben,
fand sie eine andere Leidenschaft, die nun ihre Gedanken in Besitz
nahm. Es war ungeheuer ablenkend.
Das Kinn in die Handfläche gestützt und einen
Ellbogen auf das Pianoforte gelegt, spielte sie gedankenverloren
immer wieder Fis. Sie hielt die einzelne Note kurz, ehe sie den
Finger hob. Da. Wenigstens konnte sie behaupten, dass sie etwas
anderes getan hatte, außer dazusitzen und über das Unmögliche
nachzudenken.
Und ihre Träume waren
unerreichbar.
Jetzt wusste sie, wie es
war, Robert nahe zu sein. Den sauberen, männlichen Geruch seines
Rasierwassers und des frischen Leinenhemds einzuatmen. Das Gefühl
seiner Lippen, die über ihre Haut streichelten. Die Stärke seines
schlanken Körpers, der sich gegen ihren drückte …
Nun, es machte die Sache um ein Vielfaches
schlimmer, und sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass ihre
hoffnungslose Vernarrtheit in einen erfahrenen Wüstling, für den
eine zwanglose Eroberung zur Tagesordnung gehörte, lächerlich war.
Nicht zu vergessen die Verachtung ihres Vaters für den Mann.
Ein kurzes Klopfen unterbrach ihre
hoffnungslosen Träumereien,
in denen sie in Robert Northfields Armen lag. Rebecca betete, dass
es nicht der Butler oder eine der Zofen war, um ihr mitzuteilen,
dass Lord Watts bei ihr vorsprach. »Ja?«
Die Tür öffnete sich, und zu ihrer Erleichterung
erkannte sie Brianna, die ihren Kopf durch den Türspalt steckte.
»Ich habe mein Glück versucht, ob du zu Hause bist, Beck. Ich habe
Hains gesagt, er solle mich nicht förmlich melden und dich stören.
Wenn du arbeitest, werde ich später vorsprechen, wenn ich wieder in
der Gegend bin.«
Obwohl Rebeccas Eltern das Komponieren für eine
allzu blaustrümpfige Beschäftigung hielten und darüber nicht
sprachen, wussten Arabella und Brianna natürlich von ihrer
Leidenschaft und brachten Verständnis auf. Tatsächlich waren sie
ihr bestes Publikum, wenn sie ein neues Musikstück mit ihnen teilen
wollte. Sie behaupteten wenigstens immer, sie seien beeindruckt und
entzückt. Rebecca schüttelte den Kopf. »Ich versuche zu arbeiten,
aber es gelingt mir überhaupt nicht. Vielleicht ist der Besuch
einer lieben Freundin die willkommene Inspiration. Komm
herein.«
Sie sollte eine Duchess vermutlich in den Salon
bitten. Aber es war Brianna. Und tatsächlich, die erhabene Duchess
of Rolthven setzte sich ungezwungen in einen der bestickten Sessel.
Ihre Röcke wirbelten blau und seidig um sie. Ihr helles Haar war zu
einem schlichten Knoten hochgesteckt; jemand von Briannas
berückender Schönheit brauchte keine komplizierten Frisuren.
Rebecca dachte oft, dass Briannas Genügsamkeit sie noch attraktiver
machte. Das war wohl auch der Grund, warum sie einem der
begehrtesten Junggesellen Englands aufgefallen war. Die
Selbstbeherrschung der Duchess of Rolthven schenkte ihr eine für
ihr Alter überraschend reife Haltung.
In der letzten Saison war den drei Freundinnen
ein bemerkenswerter Erfolg beschieden gewesen. Brianna kam mit
ihrem gut aussehenden Duke zusammen, Arabella fand ihren
freundlichen Earl, und dann war da noch Rebecca. Sie hatte einen
Heiratsantrag nach dem nächsten abgelehnt, weil sie eine krankhafte
Vorliebe für einen unbekümmerten Lebemann hatte, bei dem sie
ziemlich sicher war, dass er sich an jenem Abend nicht einmal an
ihren Namen hatte erinnern können.
Vielleicht war sie doch kein so großer
Erfolg.
»Ich werde eine Hausparty ausrichten.«
Bei der freimütigen Ankündigung blinzelte
Rebecca. »Ja? Ich dachte, du verabscheust Hauspartys.«
Brianna verzog das Gesicht. »Tue ich
normalerweise auch. Das heißt, ich verabscheue eher das
Bogenschießen – darin bin ich entsetzlich schlecht -, die
Musiktheaterstücke und das Schauspielern. Aber auch wenn ich
Hauspartys nicht mag, heißt das nicht, dass es allen so geht. Sie
sind sehr beliebt, besonders jetzt im Herbst. Ich hoffe, Colton
wird angenehm überrascht sein, wenn ich ihm erkläre, ich richte sie
für seinen Geburtstag in einigen Wochen aus. Weißt du, es ist
verflixt schwierig, für einen Mann, dem halb Britannien gehört, ein
Geschenk zu finden. Er besitzt alles, was man sich wünschen kann.
Ich glaube, das hier wird ihm gefallen,
obwohl ich nicht sicher bin. Wir können die Hausparty in Rolthven
Manor ausrichten, und seine Großmutter kann mir bei der
Organisation helfen. Sie wird hoch erfreut sein, und wirklich, das
riesige Haus könnte durchaus häufiger genutzt werden. Außer den
Bediensteten hält sie sich den Großteil der Zeit allein dort
auf.«
»Ich dachte, ihr wart gerade erst dort.«
»An ihrem Geburtstag«, bestätigte Brianna. »Das
Anwesen ist
von der Stadt aus bequem zu erreichen, und wir sind nicht lange
geblieben, nur für eine Nacht. Robert war sogar noch kürzer da.
Damien konnte überhaupt nicht kommen, weil er noch in Spanien
weilte. Aber er wird nächste Woche wieder in England sein, habe ich
gehört. Ich werde nur die engsten Freunde und Familienangehörigen
einladen. Es wird also keine von diesen großen Veranstaltungen
sein, die ich so ermüdend finde, sondern hoffentlich einfach eine
angenehme Abwechslung.«
Rebecca versuchte, sich den Duke of Rolthven bei
einer Hausparty vorzustellen. Selbst wenn es seine eigene war,
gelang es ihr nicht. Es war schwer vorstellbar, dass er mit Pfeil
und Bogen auf dem Rasen herumtollte oder beim Blindekuh-Spiel
mitmachte. Er war so würdevoll und reserviert, trug seinen Titel
ohne Mühe, auch wenn sie ihn hin und wieder schon hatte lächeln
sehen, meist in Richtung seiner Frau, und dieses Lächeln ließ eine
Wärme in seiner Miene aufscheinen, die durchaus auf eine andere
Seite an ihm hinweisen konnte. Rebecca kannte ihn nicht gut genug,
um beurteilen zu können, ob er Gefallen an der Aussicht auf eine
Party auf seinem Familiensitz finden würde, aber Brianna schien
begeistert zu sein. Darum sagte Rebecca: »Ich bin sicher, es wird
wunderbar.«
»Das hoffe ich wirklich. Mein Ziel ist es, dass
Colton nicht immer so viel arbeitet.« Briannas Brauen zogen sich zu
einem kleinen Stirnrunzeln zusammen. »Wenn du die Wahrheit hören
willst, bin ich überhaupt nicht sicher, ob er mir dafür dankbar
sein wird. Aber ich bin trotzdem fest dazu entschlossen.Wir sind
seit über drei Monaten verheiratet, und ich kenne ihn noch immer
nicht. Ich muss zugeben, es läuft nicht so, wie ich es erwartet
habe.«
Da auch sie eines Tages einen Ehemann wählen
musste – ihre
Eltern hatten ihr bereits deutlich gemacht, dass sie glaubten,
inzwischen genug Geduld aufgebracht zu haben -, fragte Rebecca frei
heraus: »Was hast du denn erwartet?«
Brianna befingerte mit gedankenverlorener Miene
den Stoff ihres Kleids. »Ich glaube, als er um mich warb, schienen
mir seine Förmlichkeit und seine Distanziertheit normal zu sein. Er
ist beim ersten Kennenlernen in der Tat etwas einschüchternd.
Unglücklicherweise hat sich seit unserer Heirat daran nicht allzu
viel geändert. Oh ja, er ist fast übertrieben höflich und
großzügig. Diese Höflichkeit bringt mich manches Mal dazu, mit den
Zähnen zu knirschen. Ich denke, ich habe mir eine Freundschaft
vorgestellt, die zwischen uns wächst, aber es hat sich kaum etwas
verändert. Wir leben im selben Haus, ich trage seinen Namen, und er
sucht mein Bett auf, aber ansonsten macht es auf mich den Eindruck,
als lebten wir unterschiedliche Leben. Ich weiß, er verbringt mehr
Zeit in seinem Club als mit mir, und er denkt, es sei durchaus
vernünftig, sein Leben so fortzuführen wie vor der Heirat. Colton
hat etwas altmodische Ansichten, was die Beziehung zwischen Mann
und Frau betrifft, glaube ich.«
»Sie sind kaum altmodisch«, erwiderte Rebecca
scharf. »Wenn du damit meinst, dass er glaubt, jede Frau müsse sich
auf bestimmte Weise verhalten, in einem gewissen Alter heiraten und
den Regeln folgen, die ihr von ihrer Familie und der Gesellschaft
vorgeschrieben werden, steht er nicht allein da. Das ist eine
deprimierend übliche Sicht der Dinge.«
Brianna straffte den Rücken und starrte sie an.
»Solche Vehemenz! Was ist passiert? Haben deine Eltern dich erneut
unter Druck gesetzt?«
»Das ist eine Untertreibung. Ich werde jeden Tag
daran erinnert, dass dies meine zweite Saison ist. Es würde
erheblich helfen,
wenn einer der Männer, die sie gutheißen, wenigstens etwas
Eindruck auf mich machen würde.« Obwohl sie sich bemühte, nicht
niedergeschlagen zu klingen, bezweifelte Rebecca, ob ihr das
gelang.
»Ist da niemand?«, fragte Brianna mitfühlend.
»Ich glaube, die stadtbekannten festen Vorstellungen deines Vaters
darüber, was er für dich für angemessen hält, könnten auf den einen
oder anderen potenziellen Schwiegersohn aus unserem Bekanntenkreis
abschreckend wirken. Aber du hattest bereits über ein Dutzend
Männer, die um deine Hand angehalten haben, Beck. Hat kein Einziger
deinen Gefallen gefunden? Nicht ein einziger, gut aussehender,
junger Gentleman, der dein Herz höher schlagen ließ?«
Das Bild von Robert kam ihr unglücklicherweise
in den Sinn. Wie das Kerzenlicht auf seinem kastanienbraunen Haar
glänzte, die elegante Linie seines Kinns, das schelmische Lächeln,
die anmutige, athletische Leichtigkeit, wenn er tanzte …
Natürlich tanzte er stets mit einer
anderen.
Es war ein Nachteil, wenn man Freunde hatte, die
die eigenen Stimmungen lesen konnten. Rebecca gab sich unbeteiligt.
»Nein«.
Brianna kniff die Augen zusammen. »Unsinn. Du
wirst rot.«
Nun, das kam unpassend. »Es gibt
niemanden.«
»Die roten Flecken auf deinen Wangen stützen
meine Vermutung. Bitte, lass mich nicht weiter im Dunkeln tappen.
Du bist nie so … verunsichert.«
Rebecca sehnte sich danach, irgendwem von ihrer Schwärmerei für Robert
Northfield zu erzählen, aber Brianna war vermutlich die falsche
Person. Rebecca vertraute ihr bedingungslos, aber es ging hier
nicht allein um Vertrauen. Brianna war auch
Roberts Schwägerin. Außerdem war Rebecca nicht sicher, ob Brianna
nicht ebenso entsetzt wäre wie ihr Vater, wenn sie erfuhr, dass
Rebecca eine unvernünftige Leidenschaft für einen stadtbekannten
Lebemann hegte.
Die Verlockung, alles außer seinen Namen zu
gestehen, war trotzdem da. Sie hatte das Geheimnis seit über einem
Jahr bewahrt. Jener Abend im Garten hatte nicht im Geringsten dazu
beigetragen, sie von der Verliebtheit zu heilen. Robert hatte ihr
beherzt geholfen, und er war ihr so nahe gewesen, dass sie noch
immer die muskulöse Stärke seines Körpers spürte. Ihre Münder
hatten sich nicht richtig berührt, aber …
Rebecca räusperte sich und blickte zu einem der
verhüllten Fenster. »Ich bin verliebt. Zumindest vermute ich es. Es
muss so sein, denn ich kann nur noch an ihn denken.«
»Verliebt?«
Rebecca nickte.
»Wie wunderbar, Beck! Wer ist es?«
Rebecca richtete ihren Blick wieder auf ihre
Freundin. »Es ist überhaupt nicht wunderbar, fürchte ich. Großes
Elend beschreibt es besser. Und ich werde dir seinen Namen nicht
nennen. Bitte bedräng mich nicht.«
Bestürzung verdrängte die Lebhaftigkeit von
Briannas hübschem Gesicht. »Elend? Aber warum?«
Weil sie nicht länger still sitzen konnte, stand
Rebecca auf und ging ein paar Schritte zum Fenster. Seufzend drehte
sie sich zu ihrer Freundin um. »Aus ungefähr hundert Gründen. Kurz
gesagt: Es ist unmöglich. Wenn es möglich wäre, wäre es bedeutungslos, denn er erwidert mein
Interesse an ihm überhaupt nicht. Ich glaube, er wäre verblüfft,
wenn er von meiner Verliebtheit erführe. Schlimmer, er wäre eher
belustigt.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann
fragte Brianna zögernd: »Warum ist es unmöglich? Ich verstehe das
nicht.«
Dies war der Punkt, an dem Rebecca wusste, dass
sie in unsichere Gewässer geriet, wenn sie zu viel sagte. Nicht,
dass es keinen Überfluss an ausschweifenden Gentlemen in der
englischen Gesellschaft gab. Seinen schlechten Ruf als Grund
anzubringen, würde den Kreis der Verdächtigen darum nicht allzu
sehr eingrenzen. Robert war berüchtigter als die meisten, aber
nicht einzigartig. Sie sagte ruhig: »Mein Vater würde es nicht
erlauben. Ich bin nicht sicher, warum, aber vertrau mir, er würde
nie gestatten, dass er um mich wirbt. Selbst wenn unsere Gefühle
auf Gegenseitigkeit beruhen würden.«
»Warum nicht? Ist er ein Diener?«
»Nein. Er stammt aus guter Familie.« Tatsächlich gehörst du zu seiner Familie.
»Verheiratet?«
Gott sei Dank konnte Rebecca das ehrlich
verneinen. »Natürlich nicht. Ich würde nie dem Mann einer anderen
Frau hinterherschauen.«
Brianna wirkte erleichtert. »Ich weiß, das
würdest du nicht, aber ich habe mich gefragt, ob da vielleicht
jemand aus der letzten Saison ist, der inzwischen eine andere
geheiratet hat.«
»Das ist nicht der Fall.« Rebecca wirbelte
herum, trat ans Fenster und schob den Vorhang beiseite. Die
spätmorgendliche Sonne flutete herein. »Wenn es so wäre, wäre ich
vermutlich verletzt, aber dann würde ich ihn vergessen. Nein, er
ist nicht verheiratet. Ich wette, das Wort existiert nicht in
seinem Vokabular. Das Problem ist, selbst wenn es so wäre und er
bemerken würde, dass ich mit ihm auf demselben Planeten lebe, würde
mein Vater
unerbittlich gegen jede Andeutung einer möglichen Verbindung
vorgehen. Darum ist jede Überlegung hinfällig.«
Anmutig stand Brianna auf und durchquerte den
Raum. Sie umarmte Rebecca fest. »Nein, ist es nicht. Nicht, wenn du
so elend aussiehst. Du weißt schon, dass mir jetzt manches klar
wird, oder? Bella und ich haben uns bereits die ganze Zeit gefragt,
warum du manchmal so melancholisch wirkst. Wenn ich ehrlich bin,
waren wir beide verblüfft, als du dem Marquess of Highton letztes
Jahr einen Korb gegeben hast. Er war so sehr von dir bezaubert,
außerdem ist er reich, sieht gut aus und ist, was das Wichtigste
ist, so reizend. Ich dachte, du magst ihn.
Zudem weiß ich, dass deine Eltern eine Verbindung mit ihm
befürwortet haben.«
Richard war ein netter Mann. Und Rebecca hatte
ihn gemocht. Das tat sie auch jetzt noch. Sie mochte ihn zu sehr,
um ihn zu heiraten, während sie herumsaß und von einem anderen
träumte. »Es klingt so dumm«, sagte Rebecca mit rauer Stimme. »Aber
Lord Highton war einfach nicht er. Darum
habe ich einen vollkommen vernünftigen Antrag abgelehnt. Obwohl ich
wusste, dass ich keine Chance habe, je zu bekommen, was ich will.
Ich glaube, das macht mich wirklich zu einer Närrin.«
Brianna ließ sie los und erwiderte fest: »Du
bist keine Närrin. Überhaupt nicht.«
»Ich muss eine sein, wenn ich so eine
Vernarrtheit hege. Als ich ihn zum ersten Mal sah …« Rebecca
verstummte, als sie sich an ihre erste Begegnung mit Robert
Northfield erinnerte. Sie und Brianna waren beieinandergestanden,
als Robert und sein älterer Bruder den Ballsaal betraten, beide
fast schon unwirklich attraktiv. Brianna hatte einen Blick auf den
Duke of Rolthven geworfen, und von Stund an hatte kein anderer
Verehrer eine Chance bei ihr gehabt.
Das hatte gut gepasst, denn es stellte sich
heraus, dass Colton ihr Interesse erwiderte. Zu ihrem Unglück
steckte Rebecca in derselben misslichen Lage mit seinem wahnsinnig
attraktiven, aber nicht so ehrenwerten Bruder. Und Robert hatte
nichts erwidert.
Nicht ein Blick. Nicht einmal ein flüchtiger.
Nicht ein nettes Wort. Sie wurden einander erst Wochen später
vorgestellt, und dann auch nur, weil Rebecca in Begleitung von
Brianna war, und nicht auf sein Nachfragen.
Es tat weh. Sie verzehrte sich nach einem Mann,
der vermutlich auch in diesem Augenblick im Bett irgendeiner
anderen Frau lag. Zweifellos war diese Frau hinreißend und
weltgewandt und …
Am besten dachte sie nicht länger darüber
nach.
Brianna neigte den Kopf, als grübelte sie über
etwas. Nachdenklich glitt ihr Blick über Rebeccas Gesicht. »Liebe
auf den ersten Blick ist nicht nur ein romantisches Ideal. Es ist
mir mit Colton passiert, darum kann niemand behaupten, es gebe sie
nicht. Und auch wenn mein Mann nicht perfekt ist, arbeite ich
daran, dass er sein Verhalten ändert. Ich frage mich, ob das Buch
auch dir helfen könnte.«
Rebecca konnte ein bitteres Lachen nicht
unterdrücken. »Wie bitte? Redest du von Lady Rothburgs schamlosen
Schmierereien? Du beliebst zu scherzen.«
»Nein, ich scherze wirklich nicht.« Brianna
drehte sich um und ging zurück zu ihrem Sessel, ihre blauseidenen
Röcke um sie herumwirbelnd. Sie faltete die Hände im Schoß.
»Entgegen der allgemeinen Auffassung geht es in dem Bändchen nicht
allein um sexuelle Themen. Lady R bietet viele Einblicke in die
männliche Seele, und mindestens ein Kapitel ist allein dem Thema
gewidmet, wie du die Aufmerksamkeit des Mannes wecken kannst, den
du begehrst. Als Mätresse so vieler Männer scheint sie einige sehr
gute Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht zu
haben.«
»Du musst mich falsch verstanden haben.«
Brianna winkte mit einer lässigen Geste ab. »Mit
meinem Gehör ist alles in Ordnung. Dein Vater würde nicht
zustimmen, und der fragliche Mann ist nicht an der Ehe
interessiert, richtig? Nichts davon ist ein unüberwindliches
Hindernis.«
Rebecca lehnte eine Schulter an den
Fensterrahmen und starrte ihre Freundin an. »Das ist so, als
würdest du behaupten, die Alpen wären nur ein paar Felsbrocken.«
Sie war sich nicht sicher, welche der beiden Hürden
furchteinflößender war.
»Ach, bitte. Du bist so schön, Beck, und auch
sonst einfach wunderbar. Jeder Mann wäre an dir interessiert. Was
deinen Vater betrifft, so liebt er dich, und ich wette, wenn es um
dein Glück geht und dieser junge Mann aus einer guten Familie
stammt, wird deinVater zu sich kommen und anders reagieren, als du
glaubst.«
Zu behaupten, sie hätte in diesem Fall
berechtigte Zweifel, wäre eine Untertreibung. Rebecca machte sich
nicht die Mühe, diese Bedenken auszusprechen. »Der Mann, über den
wir reden, hat eindeutig kein Interesse, um irgendeine Frau zu
werben, Bri.«
»Vielleicht kannst du seine Meinung ändern. Wenn
dieser geheimnisvolle Mann dich fragen würde, ob du ihn heiratest,
was würdest du dann sagen?«
Die Frage ließ wieder den Traum in ihr
aufsteigen, den sie allzu oft hatte: Robert Northfield, der vor ihr
kniete, ihre Hand umfasste und ihr seine ewige Liebe gestand. Aber
sie hatte immer gewusst, dass diese romantische Vorstellung nicht
mehr als
eine unrealistische Träumerei war. Rebecca schüttelte den Kopf.
»Er würde mich nie fragen.«
»Aber wenn er es täte?«
»Bri!«, rief sie verzweifelt.
»Ich leihe dir das Buch jederzeit, wenn du
willst. Ich bin fast durch damit.«
»Ich kann nicht.« Rebecca seufzte. Es war etwas
anderes, wenn Brianna das Buch las – immerhin war sie eine
verheiratete Frau. Aber das unerhörte Buch klang trotzdem
faszinierend, musste Rebecca zugeben. Nicht, dass sie glaubte, es
könne tatsächlich funktionieren, aber sie konnte ihre Neugier über
die verbotenen Geständnisse, die Lady Rothburg zu bieten hatte,
kaum verhehlen.
»Es ist sehr erhellend.« Brianna lächelte
verschmitzt, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Aber warum muss
Intimität überhaupt so ein Geheimnis sein? Die Männer wissen alles,
und wir wissen nichts. Es ist nicht gerecht, die jungen Frauen über
einen so natürlichen Teil ihres Lebens im Ungewissen zu
lassen.«
Nun, das stimmte. Rebecca murmelte: »Wer hat
gesagt, das Leben sei gerecht?«
»Das Buch mal beiseitegelassen – ich hoffe, du
wirst teilnehmen.«
Teilnehmen. An der
Hausparty. Bei der zweifellos auch Robert zugegen sein würde.
Rebecca spürte das verräterische Rasen ihres
Pulses, obwohl es unvernünftig war, sich quälen zu wollen, indem
sie hinging. »Meine Eltern müssten zustimmen. Ich bin nicht sicher,
ob sie das tun. Du bist eine verheiratete Dame und Duchess, aber du
bist dennoch einige Monate jünger als ich. Ebenso Arabella. Sie
könnten euch für nicht angemessene Anstandsdamen halten.«
»Coltons Großmutter wird dort sein. Kannst du
dir eine respektablere Person denken als die Herzoginwitwe von
Rolthven? Sicher ist sie gut geeignet. Außerdem will ich, dass du
einige deiner Musikstücke zum Besten gibst.«
Die Möglichkeit, ihre eigene Musik vor Publikum
zu spielen? Rebeccas Kehle wurde eng. »Du weißt, ich kann nicht.
Meine Mutter würde in Ohnmacht fallen, wenn sie davon
erfährt.«
Brianna hob die Brauen. »Ich habe nicht gesagt,
du sollst die Musik als deine eigene ausgeben. Du bist eine begabte
Pianistin. Spiel einfach für uns. Wenn es den Zuhörern gefällt –
und ich weiß, es wird ihnen gefallen – und sie nach dem Namen des
Komponisten fragen, gibst du es zu. Es ist eine Chance für dich,
dein Genie unter Beweis zu stellen, ohne dich der Kritik
auszusetzen. Und du kannst das Lob aus erster Hand hören, genau so,
wie es sein sollte. Wir werden etwas zur Unterhaltung
brauchen.«
Jetzt war sie verloren. Robert, und dann auch
noch ihre andere Leidenschaft, die Musik? Sie konnte nicht länger
widerstehen. »Ich würde liebend gern kommen.« Und wenn sie schon
dumm genug war, sich direkt auf den Pfad zu begeben, auf dem ihr
vielleicht das Herz gebrochen wurde, konnte sie den Verrücktheiten
noch eine hinzufügen. »Und ich werde dein Angebot, mir das Buch zu
leihen, überdenken.«