Kapitel 16
Statt den Versuch zu unternehmen, die Hindernisse zu umgehen, die sich Euch in den Weg stellen, ist es hin und wieder notwendig, direkt darauf zu stoßen. Mit der Liebe ist es dasselbe.
Aus dem Kapitel »Über die Philosophie der Liebe«
 
»Ich habe gehört, Lord Robert ist heute früh aufgebrochen.«
Rebecca blickte auf. Sie war nicht sicher, wie sie Loretta Newmans Bemerkung verstehen sollte. Oder ob es da überhaupt etwas zu verstehen gab. Vielleicht versuchte die Frau nur, Konversation zu machen.
»Ist er?« Rebecca hob das Stück Toast von ihrem Teller und nahm einen kleinen Bissen.
»Schon bei Tagesanbruch. Es ist ein ungemütlicher Tag, um zu reisen, findet Ihr nicht?« Mrs. Newman blickte aus dem Fenster, an dem außen die Regentropfen herabrannen. Der Morgen war trostlos und grau, aber wenigstens traf dieser Umstand mit dem Ende der Party zusammen und nicht mit dem Beginn. Als Rebecca aufgestanden und zum Frühstück in das riesige Speisezimmer gegangen war, hatte sie entdeckt, dass Robert Wort gehalten hatte. Er war schon vor Stunden nach London aufgebrochen. Und das, obwohl der Nieselregen beständig aus den niedrig hängenden Wolken fiel.
»Wenigstens hatten wir viel Sonnenschein während unseres Aufenthalts.« Das war eine banale Bemerkung. Sie hoffte, die hübsche Witwe machte einfach nur höfliche Konversation, aber ihre Themenwahl ließ Rebecca skeptisch werden. Sie saßen relativ ungestört am Ende des langen Tischs und waren zwei der letzten Gäste, die für das Frühstück heruntergekommen waren. Rebecca war sich ziemlich sicher, dass sie nicht mehr als eine Stunde geschlafen hatte. Sie war verunsichert. War dieser herrliche Kuss etwas, das sie feiern durfte? Oder war er dazu bestimmt, eine bittersüße Erinnerung zu werden?
Loretta nahm von der Marmelade. »Ihr habt recht, das Wetter war herrlich. Die Gesellschaft war so entzückend. Die Duchess hat etwas Bewundernswertes geschafft für jemanden, der so jung und für den diese Verantwortung noch neu ist. Es ist einfach eine illustre Familie, in die man da einheiraten könnte. Ich bin sicher, Ihr stimmt mir darin zu, da Ihr ja auch plant, in naher Zukunft zu heiraten.«
Was sie auch erwartet hatte, war auf jeden Fall kein so freimütiger Kommentar. Rebecca nahm einen Löffel von ihrem gekochten Ei, um ihre Sprachlosigkeit zu kaschieren. Dann betupfte sie ihre Lippen mit der Serviette und murmelte: »Lord Damien würde einen hübschen Ehemann abgeben.«
»Nein.« Mrs. Newman schüttelte den Kopf. Ein hinterhältiges Lächeln umspielte ihren Mund. »Er würde nach Meinung Eurer Eltern einen feinen Ehemann abgeben. Lasst uns ehrlich miteinander sein. Robert ist derjenige, zu dem Ihr Euch hingezogen fühlt.«
Sie durfte also der Liste der Leute, die ihr Interesse am jüngsten Northfield-Bruder bemerkt hatten, einen Namen hinzufügen. Ihr Vater. Damien. Und jetzt Mrs. Newman.Wie viele noch? Brianna hatte nichts gesagt. Aber sie war ja auch damit beschäftigt, ihren Duke zu verführen.
»Ich bin sicher, Ihr versteht, warum«, erwiderte Rebecca. Sie hoffte, gelassen zu klingen, denn sie war durcheinander und irritiert, weil Loretta dieses Gespräch begonnen hatte. »Schließlich fühlt Ihr Euch auch zu ihm hingezogen.«
»Ich sehe, dass wir jetzt ein Gespräch von Frau zu Frau führen.«
»Offensichtlich.«
Es entstand eine kleine Pause, in der Loretta an ihrem Tee nippte. Dann stellte sie die Tasse bewusst beiseite. »Ihr seid nicht so anspruchslos, wie ich zunächst gedacht habe. Und da wir nun so offen miteinander sprechen, wünsche ich Euch Glück. Ich muss zugeben, dass ich, als wir hier vor einigen Tagen eintrafen, glaubte, Lord Robert stelle eine sehr … amüsante Ablenkung dar. Aber dann habe ich allmählich erkannt, dass sein Interesse woanders liegt. Ich persönlich glaube, dass es Hoffnung gibt und Ihr Erfolg haben könntet, ihn zu einer richtigen Entscheidung zu bringen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt? Ich glaube, meine Kutsche sollte jetzt für meine Abreise bereit sein.«
Mehr als nur etwas verblüfft beobachtete Rebecca, wie sie den Raum verließ.
Sie musste einfach mit Damien reden. Hastig erhob sie sich und verließ das Speisezimmer, die Reste ihres Frühstücks unberührt zurücklassend.
Lord Damien, erklärte ihr der sehr förmliche Butler, befand sich mit dem Duke in dessen Arbeitszimmer.
Ihr Mut sank. Es überstieg ihr Vorstellungsvermögen, an die Tür zum Arbeitszimmer des Duke of Rolthven zu hämmern und unbekümmert darum zu bitten, mit seinem Bruder reden zu dürfen. Rebecca war sich ziemlich sicher, dass nicht einmal Brianna ihren Mann störte, wenn er sich zurückzog und arbeitete. Es war außerdem durchaus möglich, dass Robert nichts von dem Kuss erzählt hatte. Vielleicht hatte er bloß seiner Verärgerung über Damiens umtriebige Kuppelversuche Luft gemacht und die Sache darüber hinaus auf sich beruhen lassen.
Was sollte sie jetzt bloß tun?
… Ihr seid nicht wie die anderen …
Nein, das war sie nicht. Sie hatte nichts mit den erfahrenen Schönheiten gemein, die der notorische Liebhaber Robert Northfield normalerweise verfolgte. Dennoch fühlte er sich zu ihr hingezogen. So sehr, dass er sie geküsst hatte, und das auf eine Weise, die die Fantasien jeder jungen Frau erfüllt hätte. Sie würde sich bis zu ihrem letzten Atemzug an die Berührung seines Mundes erinnern, der sich sanft und warm auf ihren legte. Es war kein feuriger oder leidenschaftlicher Kuss gewesen, kein Kuss, der sie davongetragen oder überwältigt hätte. Nein, stattdessen war er perfekt gewesen. Wenn sie keine völlig vernarrte Idiotin war – und sie war nicht sicher, ob diese Beschreibung nicht doch passte -, dann glaubte sie, dass es auch für ihn anders gewesen war. Eine gewisse Ehrfurcht hatte in der leisen Berührung seiner Hand gelegen, die sich an ihre Taille schmiegte, und sie hätte schwören können, die Gefühle, die sich in seiner Miene abzeichneten, waren echt.
Kurz gesagt glaubte sie, dass er unter Umständen ebenso verwirrt war wie sie. Und bei einem erfahrenen Lebemann war das vielsagend.
Rebecca straffte die Schultern. »Wäre es wohl möglich, die Duchess zu sehen?«
Der stattliche Butler der Northfields neigte sein weißhaariges Haupt. »Ich glaube, sie ist in der Eingangshalle und verabschiedet sich von einigen Gästen, Mylady.«
Dort war sie tatsächlich, stellte Rebecca wenige Minuten später fest. Das Ticken der Uhr hallte in ihrer Seele wider. Als Lord Emerson sich verbeugte und den Raum verließ, wartete sie, bis ein Lakai die Tür hinter dem Gentleman schloss. Erst dann sagte sie mit derselben zwanglosen Eile, die sie benutzt hatten, als sie noch jünger waren: »Ich möchte dich um etwas bitten, Bri.«
Brianna bemerkte die Dringlichkeit in ihrem Tonfall. »Natürlich«, sagte sie einfach. »Was es auch ist.«
Das war wirklich gewagt, aber Rebecca war darüber hinaus, sich um solche Dinge zu sorgen. »Würde es dir etwas ausmachen, deinen Mann und Damien zu stören, die im Arbeitszimmer beisammensitzen? Ich habe nicht den Mut, einfach an die Tür zu klopfen und selbst zu fragen. Aber ich muss ihn wirklich dringend sprechen.«
Der Mund ihrer Freundin öffnete sich erstaunt. »Sicher werde ich das tun, wenn du es wünschst.Welchen von beiden möchtest du denn sprechen?«
Rebecca erstickte ein nervöses Lachen. »Es tut mir leid, ich rede vermutlich ziemlich viel Unsinn. Aber meine Eltern kommen gleich herunter, damit wir uns auf den Weg machen können. Aber ich muss Lord Damien für einen Moment sprechen, wenn es möglich ist.«
Ein leises Zögern lag in Briannas Augen, als überlegte sie, Rebecca nach dem Grund zu fragen. Doch sie erwies sich als wahre Freundin und nickte bloß. »Das kleine Wohnzimmer sollte zurzeit verwaist sein. Coltons Großmutter nutzt es nur, um ihre Korrespondenz zu beantworten.Wäre das passend?«
»Perfekt, ich danke dir.« Dankbarkeit beschrieb nicht annähernd, was Rebecca empfand, weil sie noch nie in ihrem Leben so außer Fassung gewesen war.
All die Gedanken, die sie während der vergangenen Nacht gehegt hatte, hatten sie zu einigen sehr überraschenden Überzeugungen gebracht.
Der Verlockendste von allen war, dass sie nur aus Liebe zu heiraten gedachte.
Und der Schluss, den sie daraus zog? Wenn der gestrige Zwischenfall das einzige Mal in ihrem Leben war, dass Robert sie küsste, würde sie auf ewig verdammt sein.
Sie folgte dem Diener, den Brianna angewiesen hatte, sie ins Wohnzimmer zu führen, einen kleinen, hübschen Raum. Ein Schreibtisch stand unter einem Fenster, und der Anblick der verregneten Gärten, die sich vor den nassen Scheiben erstreckten, wurde durch blassgelbe Wände aufgehellt. Sie ging zum Fenster und starrte nach draußen. Sie fragte sich, was sie ihn fragen sollte.
Als Damien wenige Augenblicke später hereinkam, stand sie noch immer da und starrte hinaus auf die tropfenden Hecken und verblühten Rosenbüsche, die ihre Zweige hängen ließen. In seiner Stimme schwang etwas Kühles, aber eindeutig Amüsiertes mit. »Euch ist hoffentlich bewusst, dass Eure Mutter beginnen wird, Eure Hochzeit zu planen, wenn sie hört, dass Ihr mich vor Eurer Abreise ungestört sprechen wolltet.«
Rebecca drehte sich um. Ein reumütiges Lächeln umspielte ihren Mund. »Ich habe mich tatsächlich gerade gefragt, was um alles in der Welt ich sagen soll.«
Er betrat den Raum.Auf seinem attraktiven Gesicht zeichnete sich wieder dieses ganz besondere Lächeln ab. »Ahhh, das ist das Schöne, wenn man es mit einem Meisterspion zu tun hat. Wir wissen, was Ihr denkt, bevor Ihr es selbst wisst.«
Rebecca hob ihre Augenbrauen. »Seid Ihr denn ein Meisterspion? Ich dachte, Ihr wärt ein taktischer Berater oder so etwas.«
»Ich bin vielseitig.« Er wies einladend auf einen Sessel. »Setzt Euch, und dann reden wir darüber, was wir im Falle meines dickköpfigen Bruders unternehmen.«
Sie setzte sich, ihre Beine auch dann wie Gummi. Damien ließ sich auf einem mit Schmetterlingen bestickten Sofa nieder. Seine unverhohlene Männlichkeit stand in scharfem Gegensatz zu der weiblichen Ausstattung des Wohnzimmers. Er hob eine Braue auf die so markante Art, die sie schon häufiger an ihm beobachtet hatte. »Also gut«, sagte er gedehnt. »Wenn ich bedenke, wie mürrisch Robert zuletzt gestimmt war, würde ich sagen, es ist gestern Abend recht gut gelaufen.«
»Definiert ›gut‹.« Rebecca zupfte an ihrem Kleid. »Er ist nicht an einer Eheschließung interessiert. Das hat er sehr deutlich gemacht.«
»Meine liebe Miss Marston, ich hasse es, Euch das sagen zu müssen, aber die wenigsten Männer wachen eines Morgens auf und beschließen, dass sie mehr als alles andere auf der Welt für immer an eine Frau gebunden sein wollen. Ich würde sogar so weit gehen, dass Männer wie Robert – der im Grunde keinen Erben braucht, über eigenes Vermögen verfügt und den die meisten Frauen einfach unwiderstehlich finden – vor diesem Wunsch besonders geschützt sind. Aktuell tut er das, was ihm gefällt, und er glaubt, damit glücklich zu sein.«
Damien hatte recht. Sie wusste es, und es war ziemlich genau das, was Robert ihr gesagt hatte.
»Ist er denn glücklich?«, fragte sie und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu kaschieren.
»Wenn ich das glauben würde, hätte ich mich dann in der lächerlichen Position befunden, eine junge Lady durch ein Bibliotheksfenster zu heben?«
Ein Punkt für ihn. Ein Lachen sprudelte in ihr hoch, das halb von Verzweiflung, halb von Freude genährt wurde, weil er so sarkastisch klang. »Ich vermute, nicht«, räumte sie ein. »Sogar Mrs. Newman hat mir heute früh gesagt, sie glaube, er sei ernstlich an mir interessiert.«
»Hat sie? Ich vermute, das überrascht mich nicht, denn jeder, der aufmerksam zusieht, würde das bemerken. Vielleicht sollten wir jetzt, da sein ernstes Interesse bewiesen ist, einen Plan entwerfen.«
»Einen Plan?« Ihr Magen zog sich schmerzlich zusammen.
»Oder wie auch immer Ihr es nennt, wenn wir ihn dazu bringen wollen, seine Bedenken beiseitezuschieben und der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich würde es hassen, wenn ich einen sturen Dummkopf als Bruder hätte. Es entspricht kaum der Tradition meiner Familie.«
Es war ein indirektes Kompliment, wenn sie es so sehen wollte, und obwohl sie bereits von anderen Gentlemen mehr als genug mit blumigen Worten überschüttet worden war, die für ein Leben reichten, hatten die Worte Rebecca nie so bewegt wie diese. »Ich danke Euch«, wisperte sie.
Er winkte mit einer täuschend trägen Bewegung ab, aber in diesen dunklen Augen schimmerte etwas auf. »Dankt mir noch nicht. Es gibt bisher keine Strategie. Ich werde darüber nachdenken müssen. Es ist eine Herausforderung, die Franzosen zu besiegen, aber einen eingefleischten Junggesellen auf die Knie zu zwingen, könnte mehr Arbeit mit sich bringen. Bisher habe ich gefürchtet, ich könnte mich nach meiner Abreise zu Tode langweilen. Endlich gibt es eine Heldentat, die es zu vollbringen gilt.«
Ein breites Grinsen überzog Rebeccas Gesicht. »Robert hat gesagt, er habe Mitleid mit Bonaparte, wenn Ihr gegen ihn arbeitet.«
Damiens Gesicht blieb ausdruckslos. »Das sollte er auch. Stellt Euch nur die Gefahr vor, in der mein Bruder schwebt. Ich kann den Sieg bereits schmecken.«
 
Dieser Kuss war ein verdammter Fehler gewesen. Aber er würde ihn um nichts in der Welt eintauschen.
Und das war in etwa die dümmste Gefühlsregung, die ein Mann überhaupt haben konnte. Robert hieb seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Das regnerische Wetter hatte seinen Mantel und sein Haar durchnässt, und in der Luft hing der Geruch fruchtbarer Vegetation. Der Herbst hielt Einzug, trotz der Sonne und der zarten Brise, die in den letzten Tagen vorgeherrscht hatten, zeigte er endlich seine Ankunft.
Als er Stunden später in London eintraf, war er bis auf die Haut durchnässt, missgelaunt und von einer großen Unruhe erfasst, die er nicht mehr erlebt hatte, seit sein Vater starb. Er wollte nichts, außer ein wärmendes Bad nehmen und die ganze Episode vergessen.
Nun, außer Rebeccas bewegender Vorstellung am Pianoforte. Niemand, der sich für einen wahren Musiker hielt, konnte diese Erinnerungen aus seinem Gedächtnis verbannen.
Noch konnte er sie vergessen. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass sie nicht länger ein Mädchen war, doch ebenso wenig war sie bereits eine Frau. Nicht, bis sie ihre Hand irgendeinem glücklichen Mistkerl zur Vermählung reichte, der diesen herrlichen Körper berühren und ihren süßen Mund schmecken durfte. Ein Mistkerl, der die Leidenschaft in ihren Armen erleben durfte …
Wenn nicht dieses erbitterte Missverständnis zwischen ihm und ihrem Vater bestünde, würde er dann in Erwägung ziehen, dieser glückliche Mann zu werden?
Vielleicht.
Diese Erkenntnis war beängstigend genug, sodass er sich auf direktem Weg in seinen Club begab, sobald er sich trockene Kleidung angezogen hatte. Die Erinnerung an ihre weichen Lippen, die sich zu einer unschuldigen Einladung öffneten, waren zu viel für ihn. Seit wann übten unerfahrene, junge Ladys auf ihn so eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus?
Kurz nach neun betrat er seinen Club, fest entschlossen, sich eine warme Mahlzeit und einen Drink zu gönnen. Aber es stellte sich schon bald heraus, dass er für ein gepflegtes Gespräch zu unruhig war. Daher entschuldigte er sich, nachdem er nur die Hälfte seiner Mahlzeit gegessen hatte, während seine Freunde sich noch über die im Herbst anstehenden Pferderennen unterhielten. Sie blickten überrascht auf, als er ging.
Er würde sein merkwürdiges Verhalten ein anderes Mal erklären. Oder vielleicht auch nicht. Verdammt, er würde auf keinen Fall Rebecca Marstons Namen erwähnen.
Weil er zu rastlos war, um einfach heimzufahren und etwas bitter nötigen Schlaf nachzuholen, fand er sich auf der Curzon Street wieder. Da es noch früh war, beschloss er, bei einem alten Freund vorzusprechen. Er klopfte an die Tür und stellte erfreut fest, dass Sir John tatsächlich daheim war. Robert reichte dem Butler seine geprägte Visitenkarte, ehe er in den privaten Salon geführt wurde, der mit allerlei Merkwürdigkeiten vollgestopft war, inklusive einem geschnitzten Totemkopf, der von einem amerikanischen Indianerstamm stammte, und den John Traverston von einer seiner Reisen in die Kolonien mitgebracht hatte. Auf bizarre Weise passte das Totem zu dem mit italienischem Marmor eingefassten Kamin, zu den alten Seidentapeten, auf denen St. Georg mit dem legendären Drachen abgebildet war, und zu all den anderen verschiedenen Dingen, die man in einem typischen Londoner Stadthaus nicht erwartete.
»Der junge Robert!« Mit noch nicht ganz sechzig Jahren zeigte sein Gesicht die Furchen, die von der Zeit zeugten, die er im Laufe seiner Reisen unter freiem Himmel verbracht hatte. Sir John erhob sich aus einem abgenutzten Sessel, in dem er gelesen hatte. Sein dichtes Haar, das sich langsam von Grau zu Weiß verfärbte, war so zerzaust wie immer, und er hatte sich noch nicht für die Nacht umgezogen, sondern trug zerknitterte Hosen und ein einfaches, weißes Hemd. Der Geruch von Tabak hing in der Luft, und eine schmauchende Pfeife lag neben ihm auf einem Tischchen im Ständer. »Das ist aber eine hübsche Überraschung. Ich habe dich seit Monaten nicht gesehen. Komm rein, setz dich. Wie wär’s mit einem Drink?«
Robert hatte noch immer leichte Kopfschmerzen vom Vorabend, und er hatte schon einmal den Fehler gemacht, von Sir Johns importiertem Likör zu probieren. »Ja, aber bitte nicht dieses ekelhafte Gebräu, das von verwirrten Mönchen gebraut wird, das du mir letztes Mal aufgetischt hast.«
John kicherte. »Es stammt tatsächlich aus einem Kloster, das in einer verlassenen Gegend von Portugal versteckt liegt, und man hält diesen Likör für einen seltenen Fund. Verstehe ich richtig, dass du beeindruckt warst? Nun gut, wie wäre es dann lieber mit einem einfachen Glas Claret?«
»Das wäre in Ordnung, danke.«
»Für einen jungen Kerl, der in manchen Dingen so abenteuerlustig ist, hast du einen schlichten Gaumen – aber meinetwegen. « Sein Gastgeber stand auf und wählte aus einer Sammlung Gläser, die allesamt nicht zueinanderpassten und die auf einem Tisch aus Bambus standen, eines aus. Einige Stücke waren vermutlich unersetzlich und stammten Gott weiß woher. Sir John war sein Leben lang der Freund seines Vaters gewesen, und er liebte es, alle Winkel der Erde zu bereisen und mit einer Sammlung eigenartiger Schätze von jedem dieser Abenteuer zurückzukehren. Das widerliche Getränk hatte einst auch dazugehört.
Robert nahm das Glas, das Sir John ihm reichte, und setzte sich. Er war nicht sicher, was ihn dazu gebracht hatte, seinen alten Vertrauten aufzusuchen.
Nein, das stimmte nicht. Er musste mit jemandem reden. Mit jemandem, der älter und auf jeden Fall klüger war als er. Colton war inzwischen das Oberhaupt der Familie, und Robert respektierte und liebte seinen Bruder auf jede nur erdenkliche Weise. Aber der Altersunterschied von drei Jahren machte ihn kaum zu einer Vaterfigur, ob er nun die Herzogswürde innehatte oder nicht. Solange Robert denken konnte, war John Traverston Teil seines Lebens gewesen, wie ein exzentrischer Onkel. Jetzt repräsentierte er das, was Robert in der schicksalhaften Nacht verloren hatte, in der sein Vater verstarb. John war damals Gott sei Dank in England gewesen, und er hatte einer schockierten Witwe und ihren jungen, verunsicherten Söhnen seine einfühlsame Unterstützung geboten.
Wenn Robert je kluge, unvoreingenommene Ratschläge gebraucht hatte, dann jetzt.
»Wie war Coltons Geburtstagsfeier?« John nahm eine Flasche aus dunkelgrünem Glas und goss eine braune Flüssigkeit in sein Glas. »Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe zu kommen. Aber ehrlich gesagt, Hauspartys sind doch etwas für junge Leute. Es ist das Privileg des Alters, sich gewissen Veranstaltungen verweigern zu dürfen. Kannst du dir vorstellen, wie ich nach dem Dinner an einer Scharade teilnehme?«
Es war der perfekte Übergang.Aber noch immer zögerte Robert. Er war nicht einmal sicher, ob er wirklich hergekommen war, um über die verführerische Rebecca zu sprechen. »Es war recht amüsant«, bemerkte er kurz angebunden. Er musste jedoch feststellen, dass das nicht besonders effektiv war, um vom Thema abzukommen.
»Ach?« Johns weiße Augenbrauen hoben sich. Er trank etwas von der Flüssigkeit in seinem Glas. Robert versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen. Er erinnerte sich daran, wie er beinahe gewürgt und den widerlichen Stoff fast auf den Teppich gespuckt hatte, als er ihm einmal serviert worden war.
»Brianna hat ihre Sache hervorragend gemacht, wenn man bedenkt, dass es ihr erster Ausflug auf das Feld der Gastgeberin war. Großmutter hat ihr geholfen, und ich glaube, sie hat es auch sehr genossen. Sie tut ja immer so ernst, aber ich konnte die ganze Zeit das Funkeln in ihren Augen sehen.«
»Deine Großmutter war schon immer die perfekte Matriarchin: majestätisch und doch herzlich. Ich erinnere mich noch, als dein Vater und ich Jungen waren, wie sie uns mit nur einem scharfen Blick ängstigen konnte. Aber wenn wir Dummheiten machten, war sie die Erste, die uns verteidigte. Sogar dein Großvater hat sich ihr gefügt. Sie haben eine gute Ehe geführt, und das empfinde ich in einer Gesellschaft, die allzu oft ihr Augenmerk mehr auf Abstammung und Vermögen statt auf Anziehungskraft legt, sehr erfrischend.«
Ehe.
Das Wort schien ihn zu verfolgen. Robert nickte und starrte in sein Glas. »Ja, ich weiß.«
»Deine Eltern hatten in der Hinsicht auch Glück. Es war eine arrangierte Verbindung, die erblüht ist. Aber das brauche ich dir ja nicht zu erzählen.«
Robert rutschte in seinem Sessel hin und her. »Ich erinnere mich. Und jetzt scheinen Colton und seine Frau dasselbe …«
Ihm fiel kein passendes Wort ein, um diesen Satz zu vollenden. Nicht, dass es zwischen seinem Bruder und seiner schönen Frau nicht hin und wieder zu Missverständnissen kam, aber wenn sie zusammen waren, gab es eine unübersehbare Verbindung zwischen ihnen.
Und genau dort lag das Problem. Robert war nicht sicher, ob er bereit war, eine so innige Bindung einzugehen. Das brachte schließlich eine große Verantwortung mit sich.
»Dasselbe …?«, hakte Sir John behutsam nach.
Schweigen.Verdammt noch mal.
»Wenn es dir gefällt, mir den wahren Grund deines Besuchs mitzuteilen, kannst du gern frei sprechen. Ich habe keine Pläne, die ich nicht ändern könnte.« John nippte an seinem abscheulichen Getränk und saß einfach da. Auf seinem wettergegerbten Gesicht zeichnete sich ein argloser Ausdruck ab.
Ach verdammt, dachte Robert. Er tadelte sich spöttisch, dass er es doch genauso gut einfach aussprechen konnte. »Es gibt da jemanden. Eine junge Frau.«
»Meine Güte, Robbie. Ich bin nicht überrascht. Bei dir geht es immer um eine Frau.«
»Nein«, erwiderte Robert knapp. »Nicht um Frauen wie sie.«
»Das habe ich schon begriffen. Verzeih die spöttische Bemerkung. Sprich weiter.Was ist mit dieser jungen Lady?«
»Sie ist unverheiratet.«
»Ich verstehe.« John wirkte ein wenig amüsiert. »Manche von ihnen sind unverheiratet.«
Das war einfach närrisch. Warum dachte er überhaupt noch an sie? An Rebecca Marston, deren Vater ihn am Ohr aus seinem Haus schleifen würde, nachdem ihre Mutter in Ohnmacht gefallen war, weil er auf ihrer Treppe auftauchte? »Sehr unverheiratet«, protestierte er und rieb sich am Kinn.
»Ich wusste ja nicht, dass es für diesen Zustand Abstufungen gibt. Aber mach nur weiter. Da draußen gibt es also eine sehr unverheiratete junge Lady. Warum bringt sie dich an diesem düsteren Abend in mein Wohnzimmer?«
»Ich weiß nicht, warum ich hier bin.«
»Ich verstehe. Darf ich dann eine Vermutung anstellen?«
Robert lachte. Es war ein erstickter Laut der Zustimmung, und John runzelte die Stirn. »Ich würde sagen, diese junge Lady hat dein Interesse geweckt, und du kannst sie dir einfach nicht aus dem Kopf schlagen, obwohl du ja durchaus gewillt bist, diese Gefühle zu ignorieren. Und da eine unverbindliche Verführung nicht zur Debatte steht – denn wenn es so wäre, würden wir dieses Gespräch nicht führen -, bist du zum ersten Mal in deinem Leben gezwungen, dich zu fragen, ob eine dauerhafte Bindung wirklich so beängstigend ist, wie du immer gedacht hast.«
Robert erwiderte schärfer als beabsichtigt: »Beängstigend? Entschuldige, wenn ich dir deine Wortwahl verüble. Ich glaube nicht, dass ich ein Feigling bin.«
»Ah, Robbie, mein Junge, die Ängste des Einzelnen verschwinden nicht einfach, sobald er zum Mann wird.« John betrachtete nachdenklich die abgestoßene Spitze seines stumpfen, unpolierten Stiefels. »Wir werden von unseren Gefühlen unser ganzes Leben lang herausgefordert. Ich glaube, nur wenige Leute, die dich gut kennen, sind sich nicht deiner Skepsis bewusst, die jede emotionale Bindung mit sich bringt. Du warst jung, als dein Vater diese Welt so völlig unerwartet verließ. Die Blicke aller konzentrierten sich auf Colton, weil er sich mit der Pracht und Verantwortung seines Titels herumschlagen musste. Er hatte das Bedürfnis, schon bald ein respektables Verhalten an den Tag zu legen, vielleicht sogar in einem Maße, das für einen Mann von nur zwanzig Jahren nicht notwendig war. Damien wurde zudem der direkte Erbe des Herzogtums. Er lernte, damit umzugehen, indem er sich in die Ränke des Kriegs stürzte, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Du allerdings hast entschieden, dein Leben zu genießen, ob es nun Frauen, Wein oder ein kleines Würfelspiel war. Ihr seid nur alle drei dem einst gewählten Weg etwas zu gehorsam gefolgt.«
Die Einschätzung war nicht gerade schmeichelhaft, aber durchaus aufschlussreich. Robert verschluckte sich fast am Wein. »Ist das so?«
»Du bist hergekommen, um meine Meinung zu hören, stimmt’s?« In Johns Augen blitzte ein wohlwollendes Vergnügen auf. »Warum erzählst du mir nicht, wer diese junge Dame ist, die endlich an deinem sonst so ungerührten Herz rührt?«
Lieber Himmel, es widerstrebte ihm, davon zu erzählen. Aber in Robert war auch die wachsende Angst erwacht, er könnte sich für den Rest seines Lebens daran erinnern, wie sich ihre Lippen anfühlten, als sie sich unter seinen öffneten. Wie sie so vielsagend nach Luft schnappte.
Ich habe Euretwegen nicht geheiratet …
Mehr als alles andere wünschte er, sie hätte ihm das nie erzählt. Vielleicht hätte er dann einfach gehen können.
Aber dafür war es nun zu spät. Er wusste es, und überdies wusste sie, dass er es wusste.
»Rebecca Marston«, gestand er schweren Herzens. »Die Tochter von Sir Benedict Marston.«
Der alte Freund seines Vaters lehnte sich zurück, das Glas vergessen in seiner Hand. Nach kurzem Schweigen bemerkte er: »Ich glaube, jetzt verstehe ich dein Problem. Ich kenne ihn ziemlich gut. Benedict ist kein sonderlich flexibler Mann, und ich weiß, dass er schlecht von dir denkt.«
»Glaub nicht, ich sei mir dessen nicht bewusst«, erwiderte Robert. In seiner Stimme schwang Bitterkeit mit. »Es gibt nahezu nichts, was für mich spricht. Ob es stimmt oder nicht, er verachtet mich, weil er mich für einen Betrüger hält, mein Ruf ist alles andere als makellos, und obwohl meine Finanzen auf soliden Füßen stehen, könnte seine hochbegabte Tochter jeden anderen haben. Er braucht mein Geld nicht, ich besitze nichts außer einem Ehrentitel, und nicht mal der Name Northfield genügt, um die Situation zu erleichtern.«
»Bist du sicher? Du hast mit Sir Benedict gesprochen?«
»Nein. Diese demütigende Lektion reizt mich nicht. Nimm mich beim Wort, er wird mich nie in die Nähe seiner jungfräulichen Tochter lassen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Colton verfügt über beträchtlichen Einfluss, und Sir Benedict ist ein Mann mit Ambitionen.«
»Wenn man meinen Ruf bedenkt, bin ich nicht sicher, ob meine gute Abstammung einen Unterschied macht.« Robert rieb sich die Schläfe. »Verdammt noch mal, wenn ich es dem Mann wenigstens vorwerfen könnte, John. Wenn die Geschichte, von dessen Verlauf er überzeugt ist, sich tatsächlich so ereignet hätte, dann wäre ich wirklich kaum geeignet, ihre Hand auch nur zu berühren. Ich glaube im Übrigen auch so nicht, dass ich es bin. Bis jetzt habe ich nie über die Auswirkungen nachgedacht, die es haben kann, wenn man einen gewissen schlechten Ruf hat.«
»Unsere Vergangenheit hat die unbequeme Angewohnheit, sich immer an unsere Fersen zu heften. Warte nur, bis du in meinem Alter bist.« John betrachtete ihn mit leicht gehobenen Brauen. »Sag mir, was denkt sie?«
»Rebecca kennt nicht die ganze Geschichte, aber sie ist sich der Abneigung ihres Vaters mir gegenüber bewusst.«
»Aha, du hast also schon mit der jungen Lady gesprochen.«
Ein blaugrünes Augenpaar, Haar, das so seidig glänzt wie der mondbeschienene Nachthimmel, verführer ische Lippen, so weich, warm und willig …
»Wir haben geredet«, erwiderte Robert knapp, weil er nicht gewillt war, über den Kuss zu sprechen. »Sie hat mir erklärt, sie habe letzte Saison nicht geheiratet, weil … wegen ihrer absurden Verliebtheit, die sie für mich hegt.«
Er hatte gerade gestammelt. Robert Northfield stammelte nie.
»Ist sie so absurd?« Johns buschige Braue zuckte nach oben. »Wenn es gegenseitig ist, meine ich.«
Robert warf ihm einen finsteren Blick zu. »Es könnte auch einfach Lust sein. Sie ist ziemlich hübsch.«
»Aber du weißt ganz genau, wann es Lust ist, Robert. Wenn diese junge Lady dich so gut im Griff hat, ist es vielleicht diesmal anders.«
»Man ändert sein Leben nicht wegen eines Vielleichts.« Robert konnte keinen Moment länger sitzen bleiben. Er sprang auf, ging hinüber zum Totem und starrte in eine der grinsenden Fratzen. »Was ist denn, wenn es nicht in mir steckt, ihr treu zu bleiben? Ich würde sie verletzen, und …«
»Und du könntest es nicht ertragen, sie zu verletzen«, vollendete John seinen Satz, als er zögerte. »Das sagt schon eine Menge aus. Deine Gedanken gehen zumindest in die richtige Richtung. Hat er in Bezug auf eure Romanze Verdacht geschöpft?«
Mit »Er« meinte er Sir Benedict. Robert dachte an Loretta Newmans Kommentar und Damiens Einmischung. Diesen finsteren Blick, mit dem er ihn an jenem Abend, als er mit ihr auf der Terrasse spazieren gegangen war, bedacht hatte, konnte man kaum als subtil bezeichnen. »Andere haben es vermutet, und Sir Benedict ist ein aufmerksamer Beobachter. Ich würde also denken, er weiß davon. Obwohl ich nicht sicher bin, ob ich hier von einer Romanze sprechen würde.«
»Verzeih mir«, sagte John ernst, doch in seiner Stimme schwang ein Lachen mit. »Aber ich glaube, das tust du. Und ich für meinen Teil habe auf diesen Moment schon seit einiger Zeit gewartet.«