Kapitel 20
Wenn es zu gesellschaftlichen Intrigen kommt, dürft Ihr die Männer nicht unterschätzen. Sie behaupten zwar gern, wir Frauen entwickeln ein zu großes Interesse am Leben anderer. Aber Männer können genauso aufmerksam beobachten, sie können ebenso interessiert sein – und sie können auch zur Einmischung neigen. Vertraut mir in diesem Punkt.
Aus dem Kapitel »Gerüchte, Klatsch und Anspielungen: wie sie für Euch arbeiten«
 
Robert war Damiens Rat nicht gefolgt und tanzte nicht mit Rebecca. Es war eine gefährliche Idee, sie zu berühren, auch wenn es auf diese gesellschaftlich akzeptierte Weise passierte.
Darum hatte er vollends den Verstand verloren und tanzte stattdessen mit ihrer Mutter.
»Ich liebe diese neue Melodie. Findet Ihr nicht auch, Mylord?« Lady Marston lächelte ihn höflich an, als wäre sie sich nicht bewusst, dass der Anblick des verrufenen Robert Northfield, der mit einer verheirateten Frau mittleren Alters tanzte, mehr als eine Zunge in Bewegung versetzte. Nicht dass Robert nicht pflichtbewusst hin und wieder eine der Witwen zum Tanz aufforderte, aber meist waren sie irgendwie mit ihm verwandt oder die Gastgeberin des Abends. Lady Marston war keins von beidem.
Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, sie zu fragen, denn er musste tapfer die Reihen der Matronen durchdringen, die sich gewöhnlich in einer abgeschotteten Gruppe zusammenfanden und tratschten, während sie ein scharfes Auge auf ihre Töchter, Nichten oder Schutzbefohlenen warfen. Sein Auftauchen ließ mehr als ein Gespräch verstummen, und als er sich über Lady Marstons Hand beugte und sie um den nächsten Tanz bat, blieb so mancher Mund vor Erstaunen offen.
Es war auf jeden Fall ein verwirrender Moment. Doch hier war er nun.
»Es ist eine hübsche Melodie, finde ich, aber sie ist bei Weitem nicht so beeindruckend wie die Musik, die wir in Rolthven haben hören dürfen.«
»Ja.« Die Antwort war neutral. »Ihr habt einige Male erwähnt, wie sehr Ihr Rebeccas Spiel genossen habt.«
»Sie ist so talentiert wie schön.Was wahrhaftig ein großes Lob ist.«
Lady Marston blickte zu ihm auf. Ihre Lippen waren geschürzt. »Ich bin mir durchaus des Interesses bewusst, das meine Tochter für Euch entwickelt hat. Und ich bin sicher, mit Eurer Erfahrung und Weltgewandtheit wird es auch Euch aufgefallen sein.«
Obwohl er versuchte, nicht seine Motive zu hinterfragen, warum er Lady Marston zum Tanz aufgefordert hatte, wollte er vermutlich doch herausfinden, was sie nach seinem gestrigen Besuch über ihn dachte. Er war nicht sicher, ob Damiens teuflisches Eingreifen hilfreich gewesen war oder die schlimmstmögliche Idee. In seinem aktuellen Zustand der Unruhe konnte er weder schlafen noch sich auf selbst alltägliche Aufgaben konzentrieren.
Was wäre, wenn ich um sie werben würde?
»Ich bin gleichermaßen geschmeichelt und in Verlegenheit«, gab er zerknirscht zu. »Und ich bin sicher, auch Ihr seid erfahren genug, Mylady, um den Grund dafür zu verstehen.«
»Bei meiner Tochter stehen Euch nicht die üblichen Möglichkeiten offen.« Sie fügte ironisch hinzu: »Das ist zugleich eine Beobachtung und eine Warnung, Mylord.«
»Habe ich denn irgendeine Möglichkeit?«, fragte er unverblümt. »Das habe ich mich gefragt.«
»Ich nehme an, es kommt darauf an, wie entschlossen Ihr seid. Als Ihr letztens zu uns kamt und ich bemerkte, dass es sich nicht nur um einen zufälligen Besuch handelte, wie Euer Bruder gern den Anschein erwecken wollte, muss ich gestehen, ich war überrascht.«
Ihre geringe Begeisterung hatte er durchaus bemerkt, obwohl er zu höflich war, das in diesem Moment zu erwähnen.
In diesem Augenblick verstummte die Musik. Robert hatte keine andere Wahl, als ihre Hand loszulassen und sich zu verbeugen. Sie erwiderte seine Verbeugung mit einem anmutigen Kopfnicken und einem undurchdringlichen Blick. »Ich glaube, was als Nächstes passiert, hängt von Euch ab. Wägt die Intensität Eures Interesses ab, und wenn es Euch ernst ist, werde ich Euch zum Wohl meiner Tochter mit Benedict helfen.«
Sie drehte sich um und ließ ihn mit einem, wie er vermutete, sehr überraschten Gesichtsausdruck stehen. Weil er gierige Blicke auf sich ruhen spürte, setzte er eine gleichgültige Miene auf und verließ die Tanzfläche.
Wägt die Intensität Eures Interesses ab.
Er ging in eines der Spielzimmer und spielte ein paar Partien Karten. Seine Unaufmerksamkeit war jedoch allzu offensichtlich, und als er seine letzte Hand gewann, musste der neben ihm sitzende Gentleman ihn darauf aufmerksam machen, damit er seinen Gewinn einstrich. Verdammt, er sollte sich am besten der Wahrheit stellen, dachte er, als er vom Tisch aufstand und sich verabschiedete. Er konnte sich auf nichts anderes konzentrieren. Es war schwer zu glauben, aber er hatte sich sogar gerade vorgestellt, wie es wäre, in seinem Haus den Korridor entlangzugehen und zu hören, wie im Hintergrund jemand gekonnt Pianoforte spielte.
Das Ergebnis seiner brütenden Überlegungen schien unausweichlich.
Er wollte vielleicht um niemanden werben, er wünschte vielleicht nicht, zu heiraten. Aber er konnte sich Rebecca Marston einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Er wollte sie. Wollte ihre Lippen wieder schmecken, wollte ihren warmen und willigen Körper in seinen Armen spüren. Aber das war nicht alles, was er wollte.
Er entschuldigte sich und verließ rasch das Fest. Er machte sich auf den Weg zu einem Ort, der ihn nicht an die Frau erinnern würde, die ihn zuletzt so sehr abgelenkt hatte.
 
Fünfzehn Minuten später sprang Robert aus seiner Kutsche. Er bemerkte die Lichter, die das Haus vor ihm hell erleuchteten, und er grinste einen der anderen Ankömmlinge an. »Palmer. Wie geht es Euch?«
Lord Palmer kam leicht schwankend und offensichtlich bereits angetrunken den Bürgersteig entlang. »Mir geht’s verteufelt gut, Northfield. Danke. Klingt nach einer famosen Party, was? Hab gehört, Betty schickt heute ein paar ihrer besten Mädchen her.«
Robert versuchte, sich unverbindlich zu geben. Jetzt, da er hier war, hatte er zu seinem Missfallen tatsächlich kein Interesse mehr an einer Horde Dirnen. »Klingt abwechslungsreich.«
Abwechslung war genau das, was er verzweifelt suchte.
»Ach, es gibt doch nichts Schöneres als Spiel und Weiber, um einen Mann zu unterhalten, oder?« Palmer versetzte Robert einen ungeschickten Rippenstoß mit dem Ellbogen, als sie die Treppe hinaufgingen. »Ich weiß doch, Ihr stimmt mir darin zu.«
Vielleicht hätte er früher zugestimmt. Der einzige Grund, warum er den Ball verlassen hatte, um diesem bestimmten Ereignis beizuwohnen, war der, dass es der einzige Ort war, an dem er unmöglich Rebecca in die Arme laufen konnte. Wenn er heimging und den Rest des Abends allein mit seinen Gedanken verbrachte, würde ihn das in den Wahnsinn treiben. Ein Abend der unbekümmerten Ausschweifungen klang nach dem Patentrezept. Er hatte Junggesellenabende wie diesen schon oft besucht. Der Champagner floss immer in Strömen, es gab die gekauften Zärtlichkeiten williger Frauen und unzüchtigen Zeitvertreib.
»Ja«, murmelte er bloß, ehe er vor Lord Palmer durch die Tür eintrat, die ein livrierter Diener ihnen aufhielt.
Die nächste Stunde verging mit quälender Langsamkeit, während er versuchte, sich zu vergnügen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.
Es war eine abscheuliche Übung. Er wollte nicht daheim sitzen und grübeln. Er konnte keiner seiner gewohnten Vergnügungen nachgehen, aus Furcht, Rebecca zu begegnen. Hier wollte er aber offensichtlich auch nicht sein.
Eine betrunkene Stimme rief, die Mädchen seien eingetroffen, und ein erregtes Summen erfüllte den Raum.
Es war vermutlich das Beste, wenn er jetzt ging, beschloss Robert, da er in so unruhiger Gemütsverfassung war. Er war wirklich nicht in Stimmung, halb nackten Frauen dabei zuzusehen, wie sie sich über einen Haufen betrunkener Idioten warfen.Was hatte ihn in der Vergangenheit bloß glauben lassen, es sei ein Vergnügen? Er bat einen Diener, seinen Mantel zu holen, und während er wartete, unterdrückte er den Drang, ungeduldig mit dem Fuß zu klopfen.
Dann öffnete sich tatsächlich die Tür, und eine Gruppe kichernder, junger Damen betrat das Stadthaus. Betty Benson führte das exklusivste Bordell in London, und ihre Beschäftigten waren immer sauber, frei von Krankheiten und umwerfend hübsch. Diese Gruppe bildete keine Ausnahme. Blondinen, Brünette und mindestens zwei herrliche Rotschöpfe strömten durch die Tür. Sofort wurde ihnen Champagner angeboten. Der Lärm der Party erreichte neue Höhen, als die Männer begannen, die Gefährtinnen für den Abend auszuwählen. Robert beobachtete verbittert das Geschehen, während er weiter auf seinen Mantel wartete. Alle anwesenden Männer waren, bis auf ein paar Ausnahmen, unverheiratet, und die Mädchen wurden gut behandelt und ordentlich bezahlt. Also wann zum Teufel hatte er die Moralvorstellungen eines Bischofs entwickelt?
Plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung, gerade als ihm ein Diener seinen Mantel reichte. Er war nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Das letzte Mädchen, das den anderen durch die Tür folgte, war nicht im Geringsten auf anzügliche Weise gekleidet. Ihr Kleid wurde sittsam von einem dunkelblauen Mantel bedeckt, und ihr dunkles Haar war einer Lady geziemend hochgesteckt. Er hätte am liebsten die Haarnadeln herausgezogen und die Wärme ihres Haars gespürt, während es über seine Finger floss.
Was zum Teufel hatte Rebecca hier zu suchen?
Und warum war sie mit einer Schar Prostituierten gekommen?
Er war entsetzt. Was um alles in der Welt hatte sie vor?
Sobald seine Muskeln ihm wieder gehorchten, griff er nach seinem Mantel, rannte durch das Foyer und packte ihren Arm mit mehr Kraft als beabsichtigt. »Ihr könnt es mir später erklären. Inzwischen werde ich Euch hier rausschaffen. Ich schwöre Euch, wenn Ihr mir eine Szene macht, werde ich Euch über meine Schulter werfen und wie einen Sack Kartoffeln nach draußen tragen.«
 
Rebecca unterdrückte ein Keuchen. Roberts Hand umfasste ihren Arm so fest, dass es schmerzte. Er zerrte sie die Treppe hinab in die kalte Nacht.
An seinen Gesichtsausdruck bei ihrer Ankunft würde sie sich für den Rest ihres Lebens erinnern.
Er war entsetzt gewesen. Eine Mischung aus Überraschung und Missbilligung war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben gewesen. Nicht gerade sehr schmeichelhaft, wenn sie bedachte, wie viele Probleme es ihr bereitet hatte, dorthin zu gelangen.
Aber warum?
Weil sie allein gekommen war? Nun, das war sie eigentlich nicht. Eine Kutsche hatte direkt vor der Mietdroschke gehalten, die sie sich genommen hatte, und einige junge Frauen waren ausgestiegen. Sie hatte sich schon gefragt, wie sie überhaupt ohne Einladung in das Stadthaus gelangen sollte. Aber es war leicht gewesen, den Frauen ins Innere zu folgen.
»Mylord …«, begann sie.
Er schnitt ihr grob das Wort ab. »Ich habe keine Ahnung, warum Ihr hier seid. Aber bis wir in Sicherheit sind, sagt Ihr kein Wort mehr. Und um Himmels willen, zieht Eure Kapuze über den Kopf.«
Sie hatte von vornherein einen Verweis und den Unmut ihrer Eltern riskiert, als sie sich vom Ball fortstahl, um ihn zu suchen. Wenn sie nicht das verzweifelte Verlangen verspürt hätte, mit ihm zu sprechen, hätte sie es nicht getan.
Er warf sie geradezu in die Kutsche, hämmerte kurz gegen die Decke, nachdem er eingestiegen war, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Er starrte sie von der anderen Seite des beengten Raums an. Seine Brauen waren wütend zusammengezogen. »Würde es Euch etwas ausmachen, mir zu erklären«, sagte er durch zusammengebissene Zähne, »was in Euch gefahren ist, einfach bei Housemans Party aufzutauchen? Ich weiß ganz sicher, dass Ihr nicht eingeladen wart. Wart Ihr nicht wohlbehalten mit Euren Eltern bei den Tallers?«
Rebecca öffnete den Mund, um ihm eine Antwort zu geben, doch er schnitt ihr das Wort ab.
»Ich habe Euch den ganzen Abend beobachtet.« Seine blauen Augen glitzerten. »Ihr müsst ja mit jedem anwesenden Gentleman getanzt haben.«
»Ihr habt mich ja nicht gefragt.« Ihre Stimme war leise.
»Natürlich nicht.«
Natürlich nicht. Diese zwei Worte taten ihr weh, und sie hob ihr Kinn.
Aber er hatte mit ihrer Mutter getanzt. Bestimmt bedeutete das etwas. Das allein hatte ihr den Mut gegeben, ihm zu folgen.
Robert sprach weiter. Er kam jedem ihrer Einwände zuvor, obwohl sie nicht sicher war, ob sie wusste, was sie überhaupt erwidern sollte. »Und was Eure Ankunft in dem Haus vor einigen Minuten betrifft – falls Ihr es nicht bemerkt habt, beschreiten die anderen anwesenden Ladys einen etwas anderen Lebensweg als Ihr. Lasst uns einfach nur beten, dass Euch niemand gesehen hat.«
Es stimmte, sie hatte keine der Frauen erkannt, aber sie hatten kostbare Kleider getragen, und …
Oh. Nein.
Jetzt dämmerte es ihr.
»Ja, genau.« Er interpretierte ihren erschrockenen Gesichtsausdruck und ihr unwillkürliches Schnappen nach Luft richtig. »Das ist genau das, was ich meine. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt auf gewisse Weise, und sie wurden engagiert, um … Nun, ich brauche nicht mehr zu sagen, denke ich. Rebecca, warum wart Ihr bloß dort?«
Sie presste die Hände in ihrem Schoß so fest zusammen, dass ihre Knochen schmerzten. »Ich habe gehört, wie einige Gentlemen von dieser Party sprachen. Sie erwähnten Euren Namen, weil auch Ihr zu den geladenen Gästen gehörtet, und dass die Party wohl Euer Ziel gewesen sei, als Ihr so plötzlich verschwandet. Ich wusste ja nicht …« Sie zögerte.
Seine Miene war so steinern wie die einer Marmorstatue.
»Ich wollte so gern mit Euch reden«, fügte sie hinzu. Auch in ihren Ohren hörte sich die Entschuldigung kläglich an.
»Wolltet Ihr das so sehr, dass Ihr unter Umständen Euren Ruf irreparabel ruiniert hättet?«, fragte er säuerlich. Er schüttelte den Kopf und wandte sich von ihr ab. Einen Moment lang starrte er auf die Seitenwand der Kutsche. »Das hier«, sagte er schließlich mit wohlüberlegtem Nachdruck, »ist schlicht eine Katastrophe.«
Sie fürchtete, er könne recht haben, aber sie richtete sich kerzengerade auf. »Alles, was ich weiß, ist, dass es eine Party war, zu der meine Eltern nicht gehen wollten. Ich habe geglaubt, ich bekäme wenigstens die Gelegenheit, mit Euch zu sprechen, wenn ich mich hineinschleiche. Ich hatte wirklich keine Ahnung …«
»Was glauben sie, wo Ihr seid?« Wieder unterbrach er sie fast unhöflich. Rebecca bekam langsam einen ziemlich genauen Eindruck davon, was ihre rücksichtslose Idee sie kosten könnte. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde.
»Ich habe ihnen gesagt, ich würde mit Arabella und ihrem Mann zu einer anderen Veranstaltung gehen.«
»Mit anderen Worten, Ihr habt Eure Eltern getäuscht.«
Ja, das hatte sie, obwohl sie sich damit entschuldigt hatte, dass es mehr eine Notwendigkeit und keine Lüge war. Sie nickte.
Er flüsterte ein Wort, das sie noch nie gehört hatte, aber er sprach nicht leise genug, und sie fragte sich, was es bedeutete. Es schien ihr aber nicht der richtige Zeitpunkt, ihn danach zu fragen.
»Ich glaube, niemand hat gesehen, wie ich entwischt bin und die Droschke genommen habe«, verteidigte sie sich. »Arabella weiß natürlich davon, aber sonst niemand.«
Er ließ seinen Blick wieder über ihr Gesicht gleiten. »Was ist, wenn Euch irgendwer gesehen hat?«
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern konnte.
»Sie werden mir die Schuld daran geben.« Er fuhr mit der Hand durch sein Gesicht. »Eure Eltern werden mich dafür verantwortlich machen. Und Gott allein weiß, die ganze Welt wird ihnen glauben.«
»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass es ein … ein…« Ihr fiel kein anständiges Wort ein, um die Party zu beschreiben, an der sie gerade fast teilgenommen hätte.
Robert rutschte etwas tiefer in die Polster seiner Sitzbank. Ein ironisches Lächeln verzog seinen Mund »Die verdorbene, ausschweifende Zusammenkunft von Männern? Meine Liebe, habt Ihr Euch nicht gewundert, warum Ihr und Eure Eltern nicht eingeladen wart? Ihr steht auf den Listen aller angesehenen Gastgeber dieser Stadt. Und im Übrigen: Wenn ein Gestrauchelter wie Gerald Houseman eine Party gibt, ist es für die Männer bloß eine Entschuldigung, um zusammenzukommen und sich weit weniger höflich zu betragen, wie wir es üblicherweise tun, wenn Ladys zugegen sind.«
»Wart Ihr deshalb dort?«, fragte sie. »Damit Ihr Euch unhöflich betragen könnt?«
»Ich glaube, das war der ursprüngliche Gedanke.« Er zögerte, dann fügte er knapp hinzu: »Aber wie Ihr gesehen habt, wollte ich gerade gehen.«
»Warum?«, fragte sie leise.
Seine Hand verkrampfte sich auf seinem Knie. »Ich war nicht in Stimmung, wie ich feststellen durfte.«
»Damien hat erzählt, Ihr habt zuletzt viel Zeit daheim verbracht.«
»Ist denn daran etwas verkehrt? Entgegen der öffentlichen Meinung, laut der ich mich jede Nacht in London herumtreibe, bleibe ich tatsächlich regelmäßig zu Hause. Im Übrigen tun meine Aktivitäten hier nichts zur Sache, da ich keinen Ruf zu verlieren habe. Ihr schon. Wir werden uns etwas überlegen müssen, um Euch sicher und diskret nach Hause zurückzubringen.«
Wenn man all die Schwierigkeiten bedachte, in die sie geraten war, und die mögliche Katastrophe, die ihr zudem drohte, war sie nicht gewillt, sich einfach von ihm daheim absetzen zu lassen, ohne ihm wenigstens sagen zu dürfen, warum sie so viel aufs Spiel gesetzt hatte. »Da der Schaden nun angerichtet ist, wird es keine Rolle spielen, wenn ich noch länger fortbleibe. Könntet Ihr Euren Kutscher anweisen, uns ein wenig herumzufahren, damit wir darüber reden können?«
Ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es nie eine gute Idee ist, zu viel mit einer Frau zu reden. Und obwohl ich es hasse, diese Frage zu stellen, aber könnt Ihr definieren, was darüber ist?«
Sie zögerte. Sie wusste, ihre nächsten Worte konnten über ihre Zukunft entscheiden. Rebecca atmete tief durch. »Über uns.«
Robert murmelte erneut dieses unbekannte Wort. Sein großer Körper auf der gegenüberliegenden Bank bewegte sich unruhig. »Rebecca …«
»Können wir nicht verhandeln?«
»Verhandeln?« Er starrte sie an, und seine Augen verengten sich. »Wie soll das gehen?«
Sie schluckte die Nervosität herunter, die ihr die Kehle verengte. Mit, wie sie hoffte, ruhiger Stimme fuhr sie ihrem heftig klopfenden Herzen zum Trotz fort: »Bitte versteht doch. Ich bin so ziemlich das Gegenteil von Euch.«
Zum ersten Mal, seit er beobachtet hatte, wie sie die Eingangshalle betrat, tauchte in seiner Miene ein Hauch seines gewohnt rücksichtslosen Charmes auf. »Unglücklicherweise habe ich das bemerkt, Miss Marston.«
Ihr Lachen war eine Mischung aus Anspannung und der Erleichterung über seine dringend benötigte Leichtfertigkeit. »Ich meine doch nur, dass ich erkannt habe, wie wenig es Euch behagt, Eure Freiheit aufzugeben. Also gut. Als jemand, die keine nennenswerten Freiheiten hat, glaube ich, ich kann ermessen, warum Ihr dieses Gut so hoch schätzt. Vielleicht können wir die Sache zu unser beider Zufriedenheit regeln. Einen Handel schließen, wenn Ihr so wollt. Das Einzige, worum ich Euch bitte, ist, mir eine Chance zu geben.«
Er rührte sich nicht.
Wollte sie das wirklich tun? Wollte sie diese ungeheuerliche Sache vorschlagen, die nur auf einem Buch beruhte, das von einer gefallenen Frau verfasst worden war? Wollte sie ihr Glück an den Rat einer Hure binden?
Doch, das wollte sie. Denn auch wenn Damien sein Bestes tat, um ihr zu helfen, würde er schon bald wieder nach Spanien abreisen. Im Übrigen war dies ein Frauenproblem, das eine weibliche Lösung erforderte.
Sogar ihre Mutter hatte es gesagt. Wir wissen besser als sie, was sie wollen.
Sie hatte dieses verruchte Buch vollständig gelesen, und erleuchtend beschrieb nicht annähernd die Enthüllungen, die es bot. Oh ja, sie war von den recht freizügigen Beschreibungen ziemlich schockiert gewesen, aber auch fasziniert. Und vielleicht war sie wirklich die richtige Frau für Robert Northfield.
Was sie tatsächlich wollte, war, all diese verbotenen Sachen mit ihm zu machen.
Darum sprach sie weiter. Es war schlicht unmöglich. Sie konnte es selbst nicht glauben, aber sie tat es.
»Willst du mich heiraten?«
Sein Mund öffnete sich und zeigte seine unverhüllte Überraschung. Der verblüffte Ausdruck auf seinem Gesicht hätte komisch wirken können, wenn sie nicht so fürchterlich nervös gewesen wäre und das Gefühl gehabt hätte, dies sei der wichtigste Moment in ihrem Leben.
»Wenn wir verheiratet sind«, erklärte Rebecca und hörte das Beben ihrer Stimme, »und wenn ich dich nicht auf jede nur erdenkliche Weise befriedige, dann steht es dir frei, dein Leben weiter zu leben wie bisher. Wenn du rastlos wirst, weil ich dich nicht halten kann, wirst du von mir keine Klagen hören, weil du kein Interesse an mir zeigst.« Rebecca zögerte. Sie schenkte ihm ein berechnendes Lächeln, ehe sie leise hinzufügte: »Um jedoch deinen Sportsgeist zu wecken, sei gewarnt. Ich habe die Absicht, diejenige zu sein, die dir alles bietet, was du brauchst.«
 
Robert blickte sie ungläubig an. Seit er siebzehn war, hatte ihm niemand mehr ein so unmissverständliches Angebot gemacht. Elise war zwölf Jahre älter gewesen. Eine Schauspielerin, deren Absichten rein wollüstiger Natur waren. Eines schwülen Sommerabends hatte sie ihn nach einer Vorstellung, die er ausgerechnet mit seiner Familie besucht hatte, aufgesucht. Sie flüsterte ihm ins Ohr, was sie mit ihm tun wollte. Sie begehrte attraktive, junge Männer, hatte sie ihm mit ihrer markanten, heiseren Stimme erklärt. Ihr Lächeln war unmissverständlich und sehr sinnlich.
Damals war er nicht nur neugierig, sondern hatte sich auch geschmeichelt gefühlt. Natürlich gelang es ihm, einen Weg in das Zimmer besagter Dame zu finden. Jene erste Affäre hatte seinen schlechten Ruf begründet, und seitdem waren ihm in den darauf folgenden Jahren vielfältig sexuelle Angebote unterbreitet worden – von vielen, unterschiedlichen Frauen.
Das hier war etwas vollkommen anderes.
Vielleicht hatte er eine Halluzination. Vielleicht hatte ihm nicht gerade eine sehr unschuldige, junge Frau mit einfachen Worten erklärt, dass sie sein erotisches Interesse fesseln wollte. Irgendwie hatte sie ihrer Unerfahrenheit zum Trotz das Selbstvertrauen, sie könnte ihn an sich binden.
Wenn er sie heiratete.
Robert schloss den Mund. Er suchte nach den richtigen Worten, um eine passende, kluge Antwort zu geben.
Ihm fiel nichts ein.
So wahr ihm Gott helfe, er war noch mehr von ihr fasziniert als zuvor. Sie war sich vermutlich gar nicht bewusst, was sie ihm da versprach, aber die Vorstellung, sie im Liebesspiel zu unterweisen, war extrem verlockend.
Er würde den Blick nicht von ihr lösen können, und wenn er deshalb Todesqualen erleiden musste. Hatte sie ihm tatsächlich gerade einen Antrag gemacht?
Ihre leuchtend blaugrünen Augen betrachteten ihn von der anderen Seite der engen Kutsche, während sie durch die Straßen rollten. Er war so erschüttert gewesen, als er sie durch die Tür hatte kommen sehen, dass er seinem Kutscher keine Anweisung gegeben hatte, wohin er fahren sollte. Ihre Bitte um mehr Zeit war daher bereits gewährt, auch wenn es ihr nicht bewusst war. George würde warten, bis er ihm sagte, zu welcher Adresse er fahren sollte. Er hatte zweifellos gesehen, wie die junge Frau mit ihm die Kutsche bestieg.
Das war noch so ein Punkt. Ob sie nun ihren Mantel trug oder nicht, man hätte sie dennoch erkannt haben können. Robert hatte ihr die Wahrheit gesagt. Wenn es die Runde machte, dass sie bei so einem Ereignis wie Housemans Party anwesend gewesen war, würde das zu einem riesigen Skandal führen.
Vielleicht musste er sie heiraten.
Vielleicht wünsche ich mir, sie zu heiraten.
Tat er das? Damien würde zweifellos anmerken, Robert sei nur nicht sicher, ob er sie nicht heiraten wollte. Ganz sicher war er sich jedenfalls, dass er sie nicht mit einem anderen verheiratet wissen wollte.
»Dein Vater wird nicht zustimmen.« Heiser stieß er die Worte hervor.
Wenn ich dich nicht auf jede nur erdenkliche Weise befriedige …
»Das könnte sein. Aber meine Mutter mag dich. Sie ist einer Verbindung zwischen uns nicht gerade zugeneigt, aber auch nicht abgeneigt. Ich glaube, dieses Ränkespiel gefällt ihr.« Rebecca hob eine Braue. »Es war wirklich ein Geniestreich, mit ihr zu tanzen.«
»Ich habe nicht versucht, ein Genie zu sein«, murmelte er. »Ich wollte bloß …«
Sie schaute ihn erwartungsvoll an.
Er hatte keine Ahnung, was er gerade hatte sagen wollen.Warum hatte er tatsächlich mit Lady Marston getanzt? Schließlich brachte er hervor: »Rebecca, du brauchst nicht so selbstlos zu sein. Du bist wunderschön, begabt. Eine reiche Erbin. Wie wir beide wissen, liegt dir jeder heiratsfähige Mann Londons zu Füßen.«
»Gut, denn das gilt auch für dich. Meine Eltern drängen mich, schon bald einen Mann zu wählen. Ich habe dich gewählt. Kann ich dem entnehmen, du nimmst mein Angebot an?«
»Es ist doch wohl kaum so einfach.«
»Sag mir, warum. Du bist ein passender Kandidat, oder?« Ihr Lächeln war träge und verführerisch. »Es sei denn, du hast eine heimliche Ehefrau, von der niemand weiß.«
Verdammt, sie wusste genau, dass sie gewann. Nein, schlimmer noch: Sie wusste, dass sie längst gewonnen hatte.
Es war an der Zeit, wieder die Oberhand zu gewinnen.
Wenigstens konnte er ihr ein überraschtes Keuchen entlocken, als er plötzlich die Arme nach ihr ausstreckte, sie um die Taille fasste und auf seinen Schoß zog. Robert ließ seinen Mund über ihre Schläfe gleiten. »Warum tust du mir das an?«
»Ich habe mir dieselbe Frage, warum du diese Wirkung auf mich hast, viele Male gestellt.« Sie lachte atemlos. »Ich fürchte, es gibt keine einfache Erklärung.«
Seine Lippen glitten über die seidige Rundung ihrer Wange. Es war fast so wie an jenem ersten Abend im Garten. Er knabberte an ihrem Mundwinkel, als wollte er jenen Moment wieder heraufbeschwören, als er sie in die Hecke drückte, weil sie Lord Watts aus dem Weg gehen wollte. »Also gut. Ich stimme deinen Bedingungen zu, solange du meinen zustimmst.«
Ihre Arme legten sich um seinen Hals. »Ich bezweifle, ob ich irgendetwas von dem, was du sagen wirst, ablehnen kann.«
Sein Lächeln war bewusst verrucht. »Wenn ich dich nicht auf jede erdenkliche Weise befriedige, steht es dir frei, anderswo Erfüllung zu suchen. Aber sei gewarnt, ich habe vor, dein Interesse an mir zu schüren.«
Sie erbebte, dicht an ihn gedrückt.
Dann küsste er sie. Nicht mit derselben Zurückhaltung wie beim ersten Mal, sondern wie ein Liebhaber. Ein heißer, harter, langer Kuss. Es war ein Versprechen und ein stummer Schwur. Er raubte ihr diesen Kuss, doch zugleich ließ er sie seinen Hunger spüren, wie auch seine Zurückhaltung.
Tatsächlich hatte er, als er seinen Kopf hob und sein Mund sich von ihrem löste, keine Ahnung, in welchem Teil Londons die Kutsche sich wohl befinden mochte. Aber ein innerer Frieden hatte von ihm Besitz ergriffen, von dem er nicht gedacht hatte, er könne nach einer so schwerwiegenden Entscheidung eintreten. Den Mund an ihre Lippen gepresst, murmelte Robert: »Wir sollten schon bald heiraten.«
»Um meinen Ruf zu wahren, falls mich jemand heute Abend erkannt hat?« Rebecca lachte. Sie lag warm und weich in seinen Armen.
»Weil ich nicht länger warten kann. Vielleicht spürst du es.« Er rückte sie auf seinem Schoß zurecht, damit sie seine Erektion wahrnahm, die gegen ihre Hüfte drückte.
»Oh.«
Er lachte, weil in dem Ausruf eine gewisse Unsicherheit mitschwang. Er war froh, jetzt wieder die Oberhand zu haben. »Ich habe einen gewissen Ruf, wie du weißt.«
Aber dann wendete sie das Blatt wieder. Ihre Hand glitt von seiner Schulter nach unten, über sein Jackett, bis sie auf seinem Oberschenkel ruhte. Und dann berührte sie ihn. Durch die Hose zwar, aber er sog dennoch scharf die Luft ein, als sie die Handfläche gegen die Länge seines Schwanzes presste. »Warum müssen wir überhaupt warten?«, flüsterte sie sinnlich. »Wir sind verlobt, und wir haben uns gerade auf eine rasche Hochzeit geeinigt.«
Sie schockierte ihn über die Maßen. Nicht nur der Vorschlag, sondern auch der feste Druck ihrer Hand. Es war für eine unschuldige Jungfrau ein ziemlich abenteuerlustiges Vorgehen.
»Lieber Himmel, sag das nicht.« Robert verlagerte sein Gewicht, aber sie schmiegte sich gegen ihn, sodass er den herrlichen Druck ihrer Brüste spürte. Verlangen durchzuckte ihn. »Vertrau mir, es bedarf dieser Versuchung nicht.«
»Dein Haus ist ganz in der Nähe.« Ihre dichten Wimpern senkten sich. »Nimm mich dorthin mit. Meine Eltern erwarten mich in den nächsten Stunden nicht zurück.«
Nimm mich …
Er sollte das nicht tun. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er sich einverstanden erklärt, ein respektabler, verheirateter Mann zu werden, der seine Frau mit Treueschwüren ehrte. »Rebecca … nein. Ich kann warten.«
»Was ist, wenn ich nicht warten kann?« Sie klang atemlos. »Vergiss nicht, ich habe seit über einem Jahr von diesem Moment geträumt. Seit ich dich das erste Mal sah. Ich will dich.« Eine schmale Hand zupfte an seiner Krawatte und lockerte sie. »Ich habe meinen Eltern zu verstehen gegeben, ich wäre bei Arabella. Das habe ich schon häufiger getan. Wir haben die ganze Nacht. Wenn ich nicht nach Hause zurückkomme, werden meine Eltern nicht besorgt sein.«
Sie hatte ja keine Ahnung, was sie da sagte. Was sie ihm anbot. Robert packte ihr Handgelenk. »Dein Vater könnte noch immer ablehnen. Wenn ich mich jetzt unehrenhaft verhalte …«
»Hast du etwa vor, ihm davon zu erzählen? Ich nicht.« Sie befreite ihre Hand und küsste ihn erneut. Sie war ungeübt, aber durchaus wissbegierig. Das lockende Streicheln ihrer Zunge in seinem Mund ließ ihn unterdrückt aufstöhnen. Die ganze Zeit waren ihre Hände beschäftigt, lösten seine Krawatte und fingerten an den Verschlüssen seines Hemds. Eine kleine Hand kroch unter den Stoff und legte sich auf seine nackte Brust. Sie fühlte sich kühl auf seiner erhitzten Haut an.
Verwirrt, erregt und unentschlossen unterbrach Robert mühsam den erhitzten Kuss und versuchte, seine Ehre hochzuhalten. »Ich muss dich zurück zum Haus deiner Eltern bringen.«
»Mach dir keine Sorgen um meinen Vater. Ich werde dich sowieso heiraten, ob er es erlaubt oder nicht. Er wird sich vermutlich weigern, den Ehevertrag zu unterz…«
»Ich interessiere mich nicht für sein Geld«, unterbrach Robert sie scharf. »Ich will es nicht mal dann, wenn er uns seinen Segen erteilt. Ich will dich
Es war eine kluge Entscheidung, Rebecca wieder auf die Polsterbank auf der anderen Seite der Kutsche zu setzen.Aber es half nicht. Sie war ein wenig zerzaust – auf unwiderstehliche Art zerzaust, wohlgemerkt -, und ihr Mund glänzte rosig. Ihre Wangen waren gerötet. Das Blau ihrer Augen funkelte. »Bitte.«
Sein Entschluss wankte mit diesem einen, kleinen Wort. Ihre Anziehungskraft war so groß, dass er seine Hände zu Fäusten ballen musste, um nicht sofort wieder die Arme nach ihr auszustrecken. Robert fluchte in Gedanken, aber dann klopfte er laut gegen die Decke, um seinem Kutscher Bescheid zu geben.