Kapitel 17
Betrug kann viele Gestalten annehmen. Gelegentlich kann es vernünftig sein, die Wahrheit zu verschleiern. Aber es kann auch die Totenglocke für eine Verbindung bedeuten, deren Vertrauen sich erst langsam entwickelt. Wenn Ihr Euren Liebhaber betrügt, geht behutsam vor.
Aus dem Kapitel »Was er wissen muss«
 
Lea winkte ab. »Wir werden klingeln, wenn wir noch etwas brauchen, Mrs. Judson.«
»Sehr wohl, Madam. Euer Gnaden.« Die ältere Frau neigte den Kopf und verließ das Zimmer.
»Normalerweise huscht sie ständig herum und erteilt jedem Befehle, als wäre sie die Herrin des Hauses«, informierte ihre Schwester Brianna lachend. »Nicht, dass es mir etwas ausmacht, denn sie ist tüchtig, und die Kinder lieben sie. Erst, wenn du bei uns vorsprichst, erinnert sie sich plötzlich wieder daran, dass ich die Schwester einer Duchess bin.«
Brianna zwang sich zu einem abwesenden Lächeln. »Was für ein Glück, dass du sie hast. Erzähl, wie geht es den Kindern?«
Das war eine Frage, die immer eine wahre Litanei an Beschreibungen ihrer verschiedenen Heldentaten hervorrief, aber Brianna vergötterte ihre Nichten und ihren Neffen, darum hörte sie den unterhaltsamen Geschichten gern zu. Aber an diesem besonderen Morgen musste sie zugeben, dass sie abgelenkt war.
»… fand es unter dem Bett. Ausgerechnet! Bri, hörst du mir überhaupt zu?«
»Natürlich«, erwiderte sie automatisch, aber unter Leas prüfendem Blick fügte sie mit einem Seufzen hinzu: »Wahrscheinlich nicht so aufmerksam, wie ich sollte.Verzeih.«
Sie saßen im »offiziellen« Salon ihrer Schwester, doch war der Raum mit den mit Chintz bezogenen Sesseln und bestickten Kissen äußerst gemütlich eingerichtet. An den Wänden hingen einige Aquarelle, die ihre Schwester kürzlich gemalt hatte. Lea stellte ihre Teetasse beiseite. »Ist etwas nicht in Ordnung? Du hast gesagt, die Hausparty in Rolthven war ein Erfolg. Wenn man von den Kommentaren in der Zeitung ausgeht, scheint dir darin jeder zuzustimmen. Ich wünschte, Henry und ich hätten dabei sein können.«
»Es war schön. Ich glaube wirklich, die Gäste haben es genossen. Sogar Colton hat sich entspannt.« Brianna betrachtete schlecht gelaunt den Boden ihrer Teetasse. »Wenigstens war das der Eindruck, den ich hatte. Jetzt verhält er sich allerdings vollkommen anders.«
Das stimmte. Seit ihrer Rückkehr hatte er sich mehr in seine Arbeit vertieft als zuvor. Rückblickend war es ein Fehler gewesen, ihm ihre wahren Gefühle zu offenbaren. Sie hätte ihm nie sagen dürfen, dass sie ihn liebte. Damit hatte sich alles verändert, obwohl sie hätte schwören können, die einfachen Worte hätten ihn in jenem Augenblick bewegt. Sicher, der Kuss, den sie danach teilten, war lang und hart gewesen, und sein Liebesspiel gleichermaßen zärtlich und eindringlich. Aber vielleicht hatte sie körperliches Begehren als eine emotionale Antwort missverstanden.
»Definiere ›anders‹.« Lea runzelte besorgt die Stirn. »Ich kann jedenfalls sehen, wie sehr du dich sorgst.«
»Es ist schwer zu beschreiben. Er ist … distanziert.«
»Mehr als sonst?«
Das ließ sie ironisch lächeln. Ja, die förmliche Fassade, die Colton der Welt präsentierte, vermittelte tatsächlich den Eindruck von herzoglicher Würde und nicht von gelassener Wärme. Aber sie wusste aus erster Hand, dass er zu beidem fähig war. »Ja. Definitiv mehr als sonst. Es kann auch sein, dass er einfach mehr zu tun hat, nachdem er die paar Tage, zu denen ich ihn gezwungen hatte, auf dem Land war. Aber er ist seitdem nicht …«
Sie verstummte, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Unerwartet stiegen Tränen in ihre Augen, und sie blickte aus dem von Regentropfen überzogenen Fenster.
»Was ist er nicht?«
Schluchzen verengte ihre Kehle, und sie würgte mühsam hervor: »In mein Bett gekommen.«
»Ich … verstehe.« Lea wirkte verblüfft. »Ich nehme an, das ist ziemlich außergewöhnlich.«
»Allerdings.« Brianna blinzelte einige Male und verfluchte sich innerlich für ihre vollkommen überzogene Reaktion. Schließlich straffte sie sich. »Wenn Henry sich so verhalten würde, was würdest du dann tun?«
»Ihn frei heraus fragen, natürlich. Aber mein Henry ist nicht dein Duke, Liebes. Ich bezweifle, dass Northfield daran gewöhnt ist, wenn die Leute seine Handlungen hinterfragen, und das gilt auch für seine Frau.« Lea fuhr mit dem Finger über die Armlehne ihres Sessels. Sie wirkte nachdenklich. »Das muss keine Bedeutung haben, außer vielleicht die, dass du zu empfindlich bist. Auch Männer haben ihre Launen, und jede Ehe macht Jahreszeiten durch, wie die Natur.«
»Oder er könnte eine Mätresse haben«, sprach Brianna ihre schlimmste Befürchtung aus. »Ich habe alles getan, um das zu verhindern, aber …«
Als sie leise aufschluchzte, blickte Lea sie mit offener Neugier an. »Was hast du getan?«
»Ach, egal.« Brianna stand auf und stellte ihre Teetasse mit lautem Klirren beiseite. So war sie doch sonst nie, so weinerlich und grundlos emotional. Lady Rothburgs Ratgeber hatte doch funktioniert – das hätte sie schwören können. »Ich sollte vielleicht einfach meine Besorgungen machen.«
 
Die Rückkehr zu seiner Arbeit hätte das sein sollen, was er brauchte, doch Colton stellte fest, dass er sich bewusst entspannen musste, damit er nicht mehr die Zähne zusammenbiss. Die Kutsche ratterte über die nasse Straße. Plötzlich war sein Leben alles andere als geordnet.
Er und Brianna waren seit einer Woche von der Landpartie zurück, und obwohl die Geburtstagsfeier von allen als ein durchschlagender Erfolg betrachtet wurde, hatte sich in seiner Ehe eine Entwicklung ergeben, die seit jenem erotischen Abend seines Geburtstags stetig abwärtsführte.
Seine schöne Frau verbarg etwas vor ihm. Rückblickend hatte er das Gefühl, es ginge schon seit einer ganzen Weile so.
Das würde sie nicht tun, versicherte er sich. Doch er versank immer tiefer in der sich ausbreitenden mürrischen Stimmung und rutschte auf der Bank nach unten. Brianna war nicht hinterlistig, zumindest glaubte er das nicht. Ganz im Gegenteil, sie war liebevoll, intelligent, fesselnd und sehr, sehr schön.
Letzteres bereitete ihm einige Sorge.
Er war wohl kaum der einzige Mann, dem das auffiel. Sie zog die Aufmerksamkeit auf sich, wohin sie auch ging, und obwohl sie in seiner Gegenwart nie auch nur im Entferntesten einem anderen Mann gegenüber kokett wurde, war da etwas grundsätzlich Sinnliches an seiner jungen Frau, das wohl kaum zu übersehen war.
Es war verdammt schwierig, sich das bewusst zu machen. Aber wenn ein Mann eine Frau heiratete, die so attraktiv wie Brianna war, war er vielleicht dazu verdammt, das widerliche Gefühl der intensiven Eifersucht zu ertragen. Colton hatte es bis vor Kurzem nicht in diesem Licht betrachtet, aber auch nur, weil ihm nie in den Sinn gekommen war, er müsse sich darum sorgen.
Die Kutsche kam mit einem Ruck zum Stehen. Er stieg aus und stellte fest, dass die Gegend weder elegant noch heruntergekommen war, sondern zum Großteil aus ansehnlichen Häusern und Geschäften bestand. Das kleine Schild des Etablissements, nach dem er suchte, war diskret und sauber bemalt. Es gab keinen Hinweis auf die Art der Dienstleistung, die hier angeboten wurde. Genauso wünschte er es.
Er betrat Hudson and Sons, und augenblicklich sprang ein junger Mann hinter einem Schreibtisch auf und verbeugte sich. »Euer Gnaden. Mein Vater erwartet Euch. Hier entlang.«
»Danke«, sagte er grimmig.
Wenige Augenblicke später saß er in dem unordentlichen Büro einem dunkelhaarigen Mann mit feuersteindunklen Augen und einem kleinen Spitzbart gegenüber. Colton räusperte sich. Er fragte sich, ob es einem menschlichen Wesen elender zumute sein konnte als ihm in diesem Moment. Aber Mr. Hudson kam ihm zuvor und bemerkte mit überraschendem Einfühlungsvermögen: »Eure Nachricht kam auf den Punkt, Euer Gnaden. Es gibt keinen Grund, noch einmal alles zu besprechen. Ihr wünscht, uns zu engagieren, damit wir Eurer Frau folgen, richtig?«
»Ich wünsche nicht, Sie für irgendetwas zu engagieren, aber ja, im Grunde haben Sie recht.«
»Ihr könnt sicher sein, dass wir in diesen Dingen sehr gut sind und Euer Vertrauen niemals von uns gefährdet wird.«
»Das sollte es auch besser nicht.« Colton nutzte seine Stellung nur selten, um jemanden einzuschüchtern, aber in diesem Fall war es ihm wichtig. »Madame de la Duchesse darf nie davon erfahren. Wenn das ein Problem ist, werde ich die Sache persönlich übernehmen.«
»Ich verstehe.« Hudson neigte den Kopf. »Bitte vergegenwärtigt Euch, dass wir in diesen Dingen erfahren sind.«
»Ich dagegen überhaupt nicht«, erwiderte Colton. Abwesend glitt sein Blick über die Wand hinter dem Schreibtisch, an der eine detaillierte Karte von London hing. »Ich verabscheue es, Sie anzuheuern, um ehrlich zu sein.«
»Nur wenige Leute wünschen sich, durch unsere Tür zu treten, Euer Gnaden.«
»Das stimmt vermutlich.Wie oft erhalte ich Berichte?«
»So oft Ihr wünscht. Ich schlage vor, einmal pro Woche, solange wir nichts Außergewöhnliches beobachten. Wenn jemand eine Affäre hat, entdecken wir dies oft sehr rasch.«
»Ich glaube nicht einen Augenblick lang, dass meine Frau tatsächlich eine Affäre hat.«
Hudson hob seine Brauen, als wollte er fragen: »Warum seid Ihr dann hier?«
Seine Würde möge verdammt sein. Ruhig fügte Colton hinzu: »Ich bete, dass sie keine hat. Mein Sekretär wird Ihnen für Ihre Auslagen einen Bankwechsel schicken.«
»Ich brauche eine Beschreibung und einige Details über die täglichen Routinen Eurer Frau. Wie verbringt sie ihre Zeit?«
»Ich bin mir nicht sicher, was den genauen Tagesablauf der Duchess betrifft. Die üblichen Dinge, die eine Frau wohl tut, vermute ich.« Das stimmte. Er hatte keine Übersicht, wohin sich seine Frau im Laufe des Tages begab; ganz im Gegenteil. Seit nicht nur das Auskommen seiner Familie, sondern auch vieler anderer Menschen von ihm abhing, konzentrierte Colton einen Großteil seiner Aufmerksamkeit auf die Arbeit. Brianna war oft unterwegs, sie kaufte ein oder besuchte Freunde, und sie betrieb zudem einige Wohltätigkeitsarbeit in diversen Waisenhäusern, für die er ihr zusätzliches Geld zur Verfügung stellte. Der Tag gehörte ihr, und die einzige Zeit, die ihnen gemeinsam blieb, waren die Abende. Auch dann verbrachte er oft genug seine Zeit im Club. Es war ein absolut normales Arrangement für ein Paar ihres Stands.
Kein Wunder, dass so viele Männer und Frauen die Gelegenheit für unverbindliche Affären fanden.
»Ich verstehe. Es wäre hilfreich, aber es ist keine Bedingung. Mein Mann wird schon bald die Gewohnheiten Ihrer Gnaden herausfinden.« Hudson kritzelte etwas auf ein Blatt Papier. Seine Miene war ausdruckslos.
»Ich bin nicht mal sicher, ob sie Gewohnheiten hat«, verteidigte Colton seine Frau, obwohl er, wenn man es genau nahm, ihr Ankläger in dieser Sache war. »Jedenfalls nicht solche wie die, auf die Ihr anspielt. Es gab nur hier und da Situationen, in denen ich von ihren Handlungen überrascht war. Das ist alles.«
»Überrascht? In welchem Sinne?«
Ja, überrascht. Er musste sich den unwiderlegbaren Tatsachen stellen. Da er von Natur aus methodisch veranlagt war, hatte er sich sogar hingesetzt und eine Reihe Gründe niedergeschrieben, warum er begonnen hatte, sich zu sorgen.
Es hatte mit diesem teuflisch provozierenden Kleid begonnen, das sie in der Oper getragen hatte. Das war der Anfang der Veränderungen ihres Verhaltens gewesen, hatte er rückblickend festgestellt. Sie hatte im Schlafzimmer ein erstaunlich schnell wachsendes Selbstbewusstsein entwickelt und Dinge gemacht, von denen er sich nicht hatte vorstellen können, dass eine wohlerzogene junge Lady sie sich ausdenken konnte.Verdammt, sie hatte ihn ans Bett gefesselt und mit der Hand zum Höhepunkt gebracht, und dann hatte sie sich auf ihn gesetzt und ihn geritten, als wüsste sie genau, was sie tat.
Er hätte sie bestimmt nie in dieser Stellung geliebt. Oder vorgeschlagen, dass sie ihren Mund auf seinen Schwanz legte. Dann noch die anzügliche Unterwäsche, die für eine anfangs so unschuldige junge Frau, die behütet aufgewachsen war, so völlig untypisch war. Er sollte verdammt sein, aber es war eine Qual, mit ihr in der Öffentlichkeit zu sein, wenn er wusste, dass sie diese zarten, verlockenden Kleidungsstückchen unter ihren Roben trug.
In den ersten wenigen Monaten ihrer Ehe war sie genau so gewesen, wie er es erwartet hatte. Im Bett schüchtern, unsicher und am nächsten Tag fast immer ein bisschen verlegen.
Etwas hatte sich seitdem verändert. Er musste sich den Tatsachen stellen. Seine Frau liebte ihn jetzt wie eine Kurtisane, und sie war in diesen Fähigkeiten bestimmt nicht von ihm unterwiesen worden.
Männer bemerkten sie. Wollten sie. Sie war schön und besaß diese gewisse Lebendigkeit, die nicht unbeachtet blieb.
Hatte sie es deshalb bisher vermieden, ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen? Bisher hatte sie noch nicht mal von der Möglichkeit einer Schwangerschaft gesprochen.
Vielleicht war das Kind nicht seins.
Lieber Gott, wie sehr der Gedanke ihn folterte. Es hatte nichts mit der Abstammungslinie seiner Familie zu tun, nichts mit seinem verfluchten Geld oder seinem verdammten Titel. Die Vorstellung, wie sie in den Armen eines anderen Mannes lag … Er konnte es nicht ertragen. Konnte sie ihm auf so liebevolle Art eine Liebeserklärung machen und ihn zugleich dennoch betrügen?
Nein, das glaubte er wirklich nicht. Aber er musste es einfach wissen.
Doch das würde er Mr. Hudson von Hudson and Sons, Recherchedienst, kaum erzählen. Nicht, um seinen eigenen Stolz zu schützen, sondern weil er um nichts in der Welt Brianna in Verlegenheit bringen wollte. »Das ist privat«, erwiderte er kurz und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet.
Wenn Mr. Hudson den Eindruck hatte, Colton würde die Ermittlungen behindern, war er zu diplomatisch, es auszusprechen. »Kaum. Eine Beschreibung ihres Aussehens wäre hilfreich, zumal Euer Haushalt von beträchtlicher Größe ist und sicher ein ständiges Kommen und Gehen herrscht.«
Ihr Aussehen zu beschreiben war leicht, da er jeden einzelnen Zentimeter ihres herrlichen Körpers vom Scheitel ihres schimmernden Haars bis zu den Zehen kannte.
»Hilft Ihnen das?« Er reichte ihm eine kleine Miniatur, die erst kürzlich gemalt worden war. Schon in dem Moment, als er das Medaillon losließ, hatte er das Gefühl, einen Verlust zu erleiden.
»Das hilft sehr. Mein Kompliment. Die Duchess ist sehr hübsch. Sagt, gibt es jemanden, den Ihr besonders verdächtigt, Euer Gnaden?« Hudsons Finger spielten gedankenverloren mit dem winzigen Porträt von Brianna. »Ein Freund, ein Kollege oder ein Verwandter? In den seltensten Fällen ist es ein Fremder, der Euch hintergeht.«
Einen Moment lang war Colton so betrübt, dass er darüber nachdachte, aufzustehen und die Nachforschung aufzugeben. Dann schüttelte er das Gefühl ab.Wenn seine Frau ohne Schuld war, würde alles gut gehen. Wenn sie es nicht war … nun, er war nicht sicher, was er dann tun würde, außer zu zerspringen. In tausend winzige Splitter.
»Nein.« Er stand auf und beendete damit die schmerzliche Befragung. Nie in seinem Leben war er so froh gewesen, eine Verabredung hinter sich gebracht zu haben.
Schon bald würde er es wissen, dachte er verdrießlich, als er wieder in die Kutsche kletterte.
Er hoffte bloß, die Enthüllung würde ihn nicht auf direktem Wege in die Hölle bringen.
 
»Du weigerst dich, es mir zu sagen?« Brianna blickte anklagend zu ihrem Schwager auf. Endlich hatte sie ihn im Korridor abgepasst, von dem die einzelnen Apartments der Familie im oberen Stockwerk des Stadthauses in Mayfair abgingen. Es hatte sie einigen Aufwand gekostet, ihn zu stellen. Jetzt wusste sie, warum er für Lord Wellington von so unschätzbarem Wert war. Damien war gewitzt. Es war fast, als hätte er gespürt, dass sie mit ihm reden wollte, und war ihr daher geschickt aus dem Weg gegangen.
»Meine liebe Brianna, ich würde dir nie etwas abschlagen.« Er lächelte sie auf diese ihm eigene hintergründige Weise an, und wenn sie ihn nicht in die Ecke getrieben und daran gehindert hätte, seine Räume zu verlassen, ohne sie beiseitezuschieben, wäre er mit dieser unbefriedigenden Antwort unter Umständen einfach fortgegangen.
»Damien«, sagte sie, seinen Namen bewusst betonend. »Ich mag dich sehr, aber ich könnte zu Gewalttätigkeit gezwungen werden, wenn du mir nicht sagst, was in diesem Haus vor sich geht. Robert war zuletzt abends so kurz angebunden und abgelenkt, ich habe ja fast geglaubt, er würde an seinem Essen ersticken, wenn man ihn aufforderte, sich an einem höflichen Gespräch zu beteiligen. Colton verhält sich auch merkwürdig. Ich bin die einzige Frau der Familie, die hier wohnt, und ich habe das seltsame Gefühl, dass etwas vor sich geht, und ihr Männer haltet es allesamt bewusst von mir fern.«
Und da passierte es schon wieder. Es gab keine Vorwarnung außer dem Zusammenkrampfen ihres Magens. Die Übelkeit stieg so rasch in ihr hoch, dass sie nach Luft schnappte und die Hand auf ihren Mund legte, weil sie fürchtete, sie könne sich über die Schuhe ihres Schwagers erbrechen und sich damit vollends blamieren. Zu ihrem Ärger zog er einfach sein Taschentuch hervor, reichte es ihr und sagte eindringlich: »Hier, nimm das, ich laufe schnell und hole die Waschschüssel.«
Augenblicke später fand sie sich halb liegend auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer wieder, und Damien reichte ihr ein kühles, nasses Tuch für ihre Stirn. Das einzig Erlösende an diesem absolut peinlichen Vorfall war nur, dass sie tatsächlich nicht ihr Frühstück von sich gegeben hatte. Als sie endlich wieder sprechen konnte, flüsterte sie: »Entschuldige bitte. Es kam so schnell.«
Damien hockte sich lächelnd neben sie. »Das ist nicht überraschend, wie ich gehört habe. Obwohl ich kein Arzt bin, kommt man in der Armee doch nicht umhin, Erfahrungen in diesen Dingen zu sammeln. Wo Soldaten sind, sind auch Marketenderinnen, und damit auch die unausweichlichen Folgen. Meine Glückwünsche.«
Sie starrte ihn verwirrt an. »Wovon um alles in der Welt redest du?«
Er runzelte die Stirn. Nach einem kurzen Moment des Schweigens fragte er: »Wie oft passiert dir das hier?«
In letzter Zeit zu oft, obwohl sie sich nur selten übergeben musste. Hin und wieder fühlte sie sich einfach mulmig, und sie hatte in den letzten Wochen schwere Soßen und mächtige Nachspeisen gemieden. »Hin und wieder«, erklärte sie ihm. Sie setzte sich auf und schluckte schwer. »Es geht vorbei. Bitte versetze Colton nicht in Sorge, indem du es ihm erzählst. Ich bin sicher, es geht mir gut.«
»Ich glaube, es geht dir hervorragend«, stimmte Damien lächelnd zu. »Aber du solltest vielleicht über ein paar Dinge nachdenken. Wenn Colton sich merkwürdig verhält, hat er den Grund für dein Unwohlsein vielleicht bereits erkannt.«
»Den Grund?« Brianna sehnte sich inbrünstig nach einer Tasse schwachen Tee, der anscheinend immer gegen die Übelkeit half. Sie versuchte, das trockene Gefühl in ihrem Mund herunterzuschlucken.
»Nun, du bist eine verheiratete Frau.«
Sie blinzelte, weil sie nicht sicher war, was sie darauf erwidern sollte. Natürlich war sie verheiratet.
Damien fluchte leise. »Dieser Hang der englischen Aristokratie, unsere jungen Frauen vor der Hochzeit nicht in praktischen Dingen zu unterweisen, hat mich schon immer erstaunt. Ich habe zu lange an einem Ort gelebt, wo der Tod den Menschen geläufiger ist als das Wunder des Lebens, darum will ich offen sein. Brianna, könnte die Möglichkeit bestehen, dass du ein Kind unter dem Herzen trägst?«
Dass sie was?
Ein kleines, unbeabsichtigtes Keuchen entrang sich ihren Lippen. Hieß das etwa …
Ihr Schwager lehnte sich ein wenig zurück. Er wirkte vergnügt. »Das ist dir noch nicht in den Sinn gekommen?«
Es dauerte einen Moment, aber dann schüttelte sie den Kopf und leckte ihre trockenen Lippen. »Bis jetzt nicht«, gab sie zu. »Das macht einen krank?«
»Bei manchen Frauen passiert das zunächst. Sie schlafen auch mehr, glaube ich, denn es kostet einige Kraft, wenn ein neues Menschenwesen in ihnen heranwächst. Und natürlich ist das deutlichste Zeichen von allen das Ausbleiben deiner monatlichen Blutung.«
Er sagte das so sachlich, aber sie errötete dennoch. Eine sehr lebhafte Röte, wenn sie seine Reaktion richtig verstand. Ihr Gesicht brannte.
Sie fühlte sich wie eine Närrin. Das war schlimmer als das Gespräch mit ihrer Mutter, die ihr erklärt hatte, sie müsse das, was in der Hochzeitsnacht passierte, ohne Klagen hinnehmen. Dass ein junger, unverheirateter Mann wie Damien mehr als sie über dieses Thema wusste, war demütigend, und seine Schlussfolgerung, dass Colton es vielleicht auch schon erraten hatte, war irgendwie sogar noch schlimmer.
Warum hatte ihr Mann denn nichts gesagt? Ihr gelang ein zittriges Nicken. »Ich vermute, das ist durchaus möglich.«
»Ich halte es für sehr wahrscheinlich.« Damiens Mund zuckte. »Mein älterer Bruder ist etwas reserviert, aber er ist immer noch ein Mann. Darf ich dich anflehen, einem Jungen das Leben zu schenken und mich von der Fessel zu befreien, der Erbe eines Herzogtums zu sein? In Spanien ist es keine so große Angelegenheit, aber der Krieg wird nicht ewig dauern. Ich hasse es, mir vorzustellen, dass ich gezwungen werde, meine Rückkehr nach England nach hinten zu verschieben, nur um der gezielten Jagd ambitionierter junger Ladys zu entkommen.«
»Es käme dir nicht ungelegen, wenn deine Pflichten für die Krone weitergingen.« Brianna setzte sich auf, dankbar, dass die Übelkeit abebbte. »Und was den Erben betrifft, werde ich mein Bestes geben.«
Damien stand auf. »Colton wird hocherfreut sein.«
»Ich vermute, die meisten Männer wären das.« Es bereitete ihr dennoch Sorgen.Wenn ihr Mann dachte, dass sie unter Umständen schwanger war, hätte er es bestimmt erwähnt. Jetzt, da sie zu dieser Erkenntnis gelangt war, merkte sie erst, dass ihre Blutung sich um mindestens einige Wochen verspätet hatte. Sie erinnerte sich, wie er in Rolthven von ihrem Unwohlsein erfahren hatte. Seine Aufmerksamkeit bekam nun eine völlig neue Bedeutung.
Es war eher so, als spionierte er hinter ihr her.
Damien bestand darauf, sie zurück in die herzoglichen Gemächer zu geleiten. Nachdem er sie allein gelassen hatte, klingelte Brianna nach ihrer Zofe. Als Molly auftauchte, fragte Brianna sie in neutralem Tonfall: »Hat der Duke dich zuletzt über mich ausgefragt?«
Ehrerbietig blickte die junge Frau zu ihr auf. Sie schien sich plötzlich unwohl zu fühlen, und leise sagte sie: »Was meint Ihr, Euer Gnaden?«
»Sei versichert, dass ich nicht ärgerlich bin. Nur neugierig. Hat er dich über meinen Gesundheitszustand ausgefragt?« Brianna saß auf der Bettkante und versuchte, ihre Hände nicht zu sehr ineinander zu verkrampfen.
Molly kräuselte die Lippen und nickte zögernd. »Als Ihr während unseres Aufenthalts in Essex ziemlich lange geschlafen habt, hat er mich gefragt, ob Ihr zuletzt müder wärt als sonst, Euer Gnaden. Es ist in Eurem Zustand absolut natürlich. Wir alle freuen uns sehr für Euch beide. Es is’ ein Segen.«
Wir? Oh, wunderbar. Jeder im Haushalt schien zu wissen, dass sie ein Kind empfangen hatte. Außer ihr. Brianna war überwältigt. Sprachlos. Schließlich sagte sie: »Danke.«
»Möchtet Ihr vielleicht gern einen leichten Tee trinken, damit Ihr Euch beruhigt?«
Sie brachte ein Nicken zustande.
Nachdem Molly verschwunden war, saß Brianna da, die Hände im Schoß gefaltet. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken im Rhythmus der Purzelbäume, die ihr Magen schlug.
Würde sie wirklich Coltons Baby bekommen? In ihrer Kehle ballte sich ein Knoten. Sie war so glücklich. Warum sollte sie weinen?
Er war nicht mehr zu ihr ins Bett gekommen, nachdem sie Rolthven verlassen hatten. War das der Grund? Sie hatte sich von seinem Verhalten in den letzten Tagen so verletzt und alleingelassen gefühlt. Auch deswegen hatte sie versucht, mit Damien zu reden.
Das war auch wirklich von Erfolg gekrönt gewesen. Damien war geschickt jeder ihrer Fragen ausgewichen. Letztlich war sie es gewesen, die ihm persönliche Fragen beantwortete.
Brianna saß verlassen auf der Kante ihres großen Betts. Sie wusste noch immer nicht, was mit Robert los war. Und obwohl Coltons Zerstreutheit durchaus der Tatsache geschuldet sein konnte, dass er sich auf ihr Kind freute, hatte sie das Gefühl, keine befriedigende Entschuldigung für die Distanziertheit gefunden zu haben, die er zuletzt an den Tag legte.
Es zerriss ihr das Herz, sich einzugestehen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wie sie mit dieser Entwicklung umgehen sollte.
Was würde Lady Rothburg tun?, fragte Brianna sich. Sie straffte die Schultern und schüttelte bewusst die Melancholie ab. Ihre Gedanken schweiften zurück zum Buch.
So sehr der durchschnittliche Mann auch die Frau erzürnen kann, hat er gewöhnlich einen guten Grund für seine Handlungen. Kein Grund, den wir notwendigerweise verstünden, aber für ihn ist er berechtigt und bestimmt sein Verhalten. Es ist nötig, eine gewisse Diskretion walten zu lassen, denn kein Mann mag eine Frau, die in seinem Leben herumschnüffelt. Aber es ist nur zu Eurem Vorteil, wenn Ihr wisst, was ihn zwingt, sich auf diese besondere Weise zu verhalten.
Es ist kein Klischee, wenn man sagt, Wissen sei Macht. Es ist die schlichte Wahrheit.
Das ergab Sinn. Eins nach dem anderen: Zuerst musste sie herausfinden, ob sie wirklich ein Kind unter dem Herzen trug, ehe sie Colton mit seiner plötzlichen Distanziertheit konfrontierte.