Kapitel 11
Wenn die Jagd beginnt, denkt daran, dass Ihr der
Preis seid, den es zu erringen gilt. Wenn Ihr die Macht aufgebt,
wird er sie mit Freuden wieder an sich reißen. Wenn Ihr beschließt,
sie zu behalten, wozu ich Euch auf jeden Fall raten würde, tut es
auf höchst subtile und lustvolle Art.
Aus dem Kapitel »Dinge, die jede Frau wissen
sollte«
Die komische Jagd entsprach nicht Coltons
Vorstellung von einer angenehmen Vormittagsbeschäftigung. Außerdem
war es keine
besonders würdevolle Angelegenheit. Aber er hatte einer Teilnahme
zugestimmt, weil Brianna ihn auf eine Art gefragt hatte, dass es
ungehobelt gewesen wäre abzulehnen. Die anderen Gäste schienen sich
dem Geist dieser Veranstaltung mit Hingabe zu widmen, und es war
wirklich unterhaltsamer, als den ganzen Morgen mit seinem Sekretär
im Arbeitszimmer sitzend zu verbringen.
Besonders in Augenblicken wie diesen, befand er,
während er hinter seiner Frau herspazierte und einen Blick auf ihre
wohlgeformten Fußknöchel erhaschte, als sie sich nach vorne beugte
und triumphierend einen Preis unter einem Zierbusch hervorholte.
Brianna richtete sich auf und streckte ihm ihre Hand hin. »Sieh
nur. Ich finde, das hier sieht recht hübsch aus.«
»Es ist bloß ein Stein«, erwiderte er möglichst
behutsam.
»Aber ein hübscher, findest du nicht?«
»Ich muss gestehen, dass ich mir nicht besonders
oft Gedanken über die ästhetischen Eigenschaften von Steinen
mache.«
Brianna warf ihm einen gespielt empörten Blick
zu. »Euer Gnaden, wollt Ihr diesen Wettbewerb nicht gewinnen? Ich
hätte geglaubt, dass jemand in Eurer herausragenden Stellung etwas
mehr Wettbewerbssinn an den Tag legen würde. Wir sollen doch den
interessantesten Stein finden. Wenn dieser hier Euch nicht
beeindruckt, sollten wir weitersuchen, bis wir auf einen stoßen,
der Euch zusagt.«
Auch wenn er dieses Spiel absurd fand, musste er
bewundern, wie die Sonne ihr helles Haar zum Strahlen brachte.
Heute Morgen sah sie so gesund und munter aus in ihrem
cremefarbenen Musselinkleid, das von einem blassgrünen Satinband um
ihre Taille gerafft wurde. Die leichten Puffärmel betonten ihre
schlanken Arme, und ein ebenso blassgrünes Satinband hielt ihr
helles Haar zurück. Brianna war die personifizierte,
jugendlichweibliche Schönheit und passte gut in die ländliche
Umgebung, die Park und Garten schufen. Alles war gesund, jung,
lebendig und … fruchtbar?
Er fragte sich das manchmal. Es war noch zu
früh, sie zu diesem Thema zu befragen, aber er war sich ziemlich
sicher, dass ihre Regelblutung um mindestens einige Wochen zu spät
war. Nicht, dass er einen Kalender führte, aber er bemerkte es
natürlich, wenn er nicht ihr Bett teilen konnte. Es war eine Weile
her, seit sie ihm gestanden hatte, es sei ein unangemessener
Zeitpunkt, dass er ihr beiwohne. Sie waren noch nicht lange genug
verheiratet, um zu wissen, ob Unregelmäßigkeiten im Zyklus bei ihr
ungewöhnlich waren. Aber es stand außer Frage, dass der sexuelle
Teil ihrer Beziehung höchst befriedigend war und er seine Rechte
sehr oft ausübte. Es würde ihn nicht erstaunen, wenn sie bereits
schwanger wäre.
Ein Kind.
Ihm gefiel der Gedanke – und nicht nur, weil es
auch seine verdammte Pflicht war, für einen Erben zu sorgen. Es
überraschte ihn, weil er den Gedanken an Kinder immer als abwegig
betrachtet hatte. Ja, man heiratete, und dann war es der natürliche
Lauf der Dinge, dass Nachkommen gezeugt wurden. Aber der Gedanke,
dass Brianna sein Baby, ihr gemeinsames
Kind unter dem Herzen trug, war für ihn ungewöhnlich
bewegend.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Colton?« Seine Frau
neigte den Kopf zur Seite. Ein leichtes Stirnrunzeln grub sich
zwischen ihre zarten Brauen. »Du hast so einen merkwürdigen
Gesichtsausdruck. Ich weiß, du hast für Spiele dieser Art nicht
besonders viel übrig, aber...«
»Spiele sind im Grunde nicht mein üblicher
Zeitvertreib, aber
es macht mir nichts aus.« Er lächelte. »Und ich finde, das ist
wirklich ein hübscher Stein. Quarz, wenn ich nicht irre.«
»Ja?« Sie sah auf ihre Hand, und ihre Miene
hellte sich auf. »Ziemlich schön, wenn ich das sagen darf.«
»Umwerfend«, bestätigte er und schaute dabei sie
an und nicht diesen dummen Stein.
Seine hübsche Frau errötete. Sie begriff die
Anspielung und die Richtung, in die er blickte. »Du wirst nicht bei
dieser kleinen Jagd mitmachen, stimmt’s?«
»Ich könnte den Stein tragen. Wie wäre
das?«
Eine dunkelgoldene Augenbraue hob sich leicht,
als wollte sie ihn herausfordern. »Wie wäre es denn mit der
Raupe?«
»Wie bitte?«
»Die Liste steckt in deiner Jackentasche. Ich
glaube, wir sollen auch eine Raupe suchen. Ich würde es bevorzugen,
wenn du sie aufhebst.«
»Die Liste oder die Raupe?«
»Auf jeden Fall Letzteres. Und jetzt hör auf,
mich zu necken. Was sollen wir noch finden?«
Er neckte sie? Nun, vermutlich tat er das.
Seltsam. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Amüsiert zog Colton
gehorsam das Pergament heraus und studierte die Liste. »Eine rote
Blume. Einen bewundernswerten Stock – wie zum Teufel kann ein Stock
denn überhaupt bewundernswert sein?«
»Woher soll ich das wissen? Deine Großmutter hat
die Liste zusammengestellt, und es sind ihre Worte.« Brianna
lachte. »Ich weiß nur, dass es ein herrlicher Tag ist. Die Sonne
scheint, und unsere Gäste kriechen überall herum und versuchen, uns
zu besiegen, indem sie die geforderten Gegenstände finden. Wollen
wir weitermachen, nachdem wir ja die Angelegenheit mit dem
Stein erledigt haben? Es wird uns kaum etwas bringen, wenn wir als
Letzte kommen.«
Der Begriff »kommen« nahm eine völlig neue
Bedeutung an, wenn er von seiner sinnlichen Frau ausgesprochen
wurde. Aber die erotische Anspielung war für den Augenblick wohl
kaum angebracht, und sie hatte eindeutig keine Ahnung, dass sie mit
ihren Worten ein erotisches Bild in seinem Kopf zum Leben erweckte.
Colton nahm das Stück Quarz, steckte es in seine Jackentasche und
folgte ihr über den Rasen. Sie schafften es, alle Gegenstände auf
der Liste zu sammeln. Auch eine glücklose, grellgrüne Raupe fanden
sie, die er in der Hand barg und so daran hindern musste, über ihn
hinwegzukriechen. Als sie schließlich zur Terrasse zurückkehrten,
saß seine Großmutter mit all ihrer Würde dort und führte den
Vorsitz bei der Schnitzeljagd. Sie zeigte mehr Begeisterung, als
Colton bei ihr seit Jahren erlebt hatte, und sie hatte sogar ihren
Gehstock beiseitegelegt.
Robert, der mit einer der Campbell-Schwestern
auf die Jagd gegangen war – Colton konnte die beiden nicht
auseinanderhalten -, hielt auch einen flauschigen Wurm. Der
resignierte Ausdruck auf seinem Gesicht ließ vermuten, dass auch er
das Spiel lächerlich fand.
Für seine Großmutter aber, und für ihre
begeisterte Miene, hätte Colton ein Dutzend solcher Kreaturen
gesammelt und sie herumgetragen.
Damien gesellte sich zu ihnen. Kaum hörbar
murmelte er: »Wie unhöflich wäre es wohl, wenn wir uns auf einen
Brandy in dein Arbeitszimmer zurückziehen würden, Colt?«
»Es ist noch nicht einmal Mittag.«
»Ach ja? Hältst du nicht ein Insekt in deinen
Händen? Wie oft passiert so etwas vor der Mittagsstunde – oder
anders gefragt:
Wann passiert das je? Ich für meinen Teil brauche einen
Drink.«
Sein Bruder hatte nicht ganz unrecht. Colton
bemerkte streng: »Ich glaube nicht, dass man es tatsächlich als
Insekt klassifizieren kann. Müssen Insekten nicht sechs Beine
haben? Das hier hat auf jeden Fall einige mehr.«
»Das ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um
über Bagatellen zu debattieren.« Damiens Raupe war jedenfalls die
kleinste und unansehnlichste, denn sie war fleckig und hatte
Borsten.
Schließlich kamen sie doch noch zu ihrem Brandy,
indem sie Zuflucht in seinem Arbeitszimmer suchten. Colton entließ
Mills mit einem diskreten Winken und der Bitte, das zu beenden, was
sie bereits besprochen hatten, und am nächsten Morgen Bericht zu
erstatten. Sein Sekretär schien erstaunt, dass Colton sich den Rest
des Nachmittags von der Arbeit freinehmen wollte.
Vielleicht unterwarf er sich ein bisschen zu
sehr den Anforderungen seiner Arbeit. Nicht alles bedurfte seiner
persönlichen Überwachung. In ihm schlummerte noch immer der
verunsicherte, junge Mann, dem die Verantwortung über ein Herzogtum
und die Familie aufgeladen worden war. Und er war nicht sicher, wie
er den Impuls unterdrücken sollte, dass er alles und jeden
überprüfen musste. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn sein
Vater erkrankt und langsam dahingesiecht wäre. Er wäre besser
darauf vorbereitet gewesen. Den einen Tag war sein Vater noch da
gewesen, rüstig und herzlich wie immer. Und dann war er plötzlich
fort.
Sein Tod hatte Coltons Welt in den Grundfesten
erschüttert.
Er nahm einen kräftigen Schluck Brandy und
konzentrierte sich wieder auf die laufende Unterhaltung. So eine
Innenschau beunruhigte ihn eher.
»… musste aber auch verflucht noch eins die
beste rote Blume sein.« Robert grollte noch immer seiner Partnerin
bei der Schnitzeljagd. »Ich schwöre euch, sie hat jede einzelne
Rose auf dem Anwesen in Augenschein genommen. Dann haben wir
trotzdem gegen Lord Emerson und seine Partnerin verloren.«
»Großmutter hatte einen Heidenspaß daran, die
Gewinner auszuwählen«, merkte Damien an. »Obwohl ich glaube, ihre
Wahl hat mehr mit Kuppelei zu tun denn mit Farben oder Duft, wie
sie behauptet hat. Emerson und das ältere Campbell-Mädchen schienen
diesen besonderen, starren Blick zu haben, der mich ja
schnurstracks zurück nach Spanien treiben würde, wenn er mich
träfe.«
»Ziemlich schwierige Sache«, gab der Earl of
Bonham zu, der sich zu ihnen gesellt hatte. Ein leichtes Lächeln
erhellte seine Miene. »Immerhin befindet sich ja ein ganzer Ozean
zwischen dort und hier.«
»Dann werde ich eben beim Versuch, dorthin zu
gelangen, ertrinken«, konterte Damien grinsend. Er lehnte sich
entspannt in seinem Sessel zurück und hob die Hand. »Und nein, ich
brauche keine Vorträge über die Wirkung einer lebenslangen Bindung
an eine Frau. Oder darüber, wie schön die Ehefreuden sind. Die
Franzosen sind für mich Herausforderung genug.«
»Freuden?« Bonham grinste. »Nun, von Zeit zu
Zeit passt dieser Begriff. Das Schlafzimmer käme mir da als Ort der
Wonnen in den Sinn.«
»Ein Mann kann dieselbe Wonne genießen, ohne
sich ein Leben lang an eine Frau zu binden«, warf Robert ein.
Sein jüngerer Bruder musste es ja wissen, dachte
Colton.Wenn es einen Mann gab, der von den Freuden kostete, die ihm
Englands bekannteste Schönheiten boten, war es Robert. »Ich glaube,
wir haben alle gemerkt, dass du dich dieser Philosophie
verschrieben hast, Robert.«
»Aber wer weiß?«, wandte Damien ein. »Ob sich
das nicht vielleicht ändern könnte? Vielleicht schon bald.«
Coltons Interesse war geweckt. Hatte er etwas
verpasst? Wenn Damien in diesem unbeteiligten Tonfall sprach, dann
war es durchaus geboten, aufmerksam zu lauschen. Sein jüngerer
Bruder verschwendete selten Worte. Viel interessanter war
allerdings, dass ein Schatten über Roberts Gesicht huschte, den man
durchaus als einen Ausdruck der Betroffenheit deuten konnte.
»Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«, fragte
Colton frei heraus. Er war unheimlich neugierig. Es geschah nicht
oft, dass sein jüngster Bruder, aus welchem Grund auch immer, sich
verwirrt zeigte.
»Nein, weiß er nicht.« Robert stellte sein Glas
ab und erhob sich. »Ich glaube, Damien ist so sehr daran gewöhnt,
den Spion zu spielen, dass er meint, überall kryptische Bemerkungen
fallen lassen zu müssen, um nicht aus der Übung zu kommen. Bitte
entschuldigt mich, Gentlemen. Ich wurde gezwungen, heute Abend bei
der Musikaufführung mitzuwirken, und ich möchte mich vergewissern,
dass ich nicht vergessen habe, wie man einen Bogen führt.«
»Du hast dich einverstanden erklärt zu spielen?«
Diese kleine Hausparty wurde augenblicklich interessanter. Robert
war auffallend zurückhaltend, wenn es um seine Liebe zur Musik
ging.
»Deine Frau hat mich gefragt. Wie konnte ich das
ablehnen? Ich finde, sie gibt ihr Bestes, um diese Veranstaltung zu
einem durchschlagenden Erfolg zu machen.« Robert hob eine
Augenbraue. »Ich glaube, wir haben gerade erst darüber diskutiert,
wie
schwierig ich es finde, einer schönen Lady eine Bitte
abzuschlagen.«
Nachdem er verschwunden war, blickte Colton zu
Damien hinüber. Auch Bonham war neugierig. »Was zum Teufel geht da
vor sich?«
Sein Bruder lachte auf seine stille Art. »Sagen
wir einfach, ich habe eine interessante Theorie. Wir sollten es
vorerst dabei belassen, findet ihr nicht?«
Brianna verabscheute Partys, bei denen der ganze
Tag minutiös verplant war. Darum hielt sie den Nachmittag für die
Gäste zur freien Verfügung und überließ ihnen die Wahl, ob sie
lange Spaziergänge über das Anwesen machen, ausreiten, Entspannung
in der Bibliothek suchen oder in eines der nahegelegenen Dörfer
fahren wollten, um dort ein paar Einkäufe zu erledigen. Sie hätte
nicht einmal die Schnitzeljagd am Vormittag angesetzt, aber Coltons
Großmutter hatte darauf bestanden. Und inzwischen war Brianna froh,
dass sie zugestimmt hatte. Alle schienen von fröhlicher
Leichtigkeit erfüllt zu sein, und sie hatte während des Tags einige
Zeit mit ihrem Mann verbringen dürfen. Das war eine
Seltenheit.
Sie hatte sich mit Arabella und Rebecca in ihren
Salon zurückgezogen. Der Raum war wenigstens nicht völlig mit
Spitzenvolants überladen, sondern entsprach vom Stil eher einem
eleganten Salon zur Zeit von Louis Quatorze. Antike, französische
Möbel standen vor mit Seidentapeten bespannten Wänden. Die
Farbpalette reichte von Zitronengelb bis zu Cremefarben und wirkte
beruhigend. Sie hatte bereits beschlossen, dieselben Farben auch
auf ihr Schlafzimmer auszuweiten. Auch wenn sie sicher war, dass
Colton darauf bestand, dass sie nach
London reisten, sobald der letzte Gast sich verabschiedet hatte,
wollte sie diese neue Ausrichtung auf jeden Fall durchführen
lassen. Mrs. Finnegan könnte zweifellos die Renovierungsarbeiten
überwachen, dachte sie seufzend, obwohl sie es lieber selbst getan
hätte.
»Du hättest dir wirklich kein besseres Wetter
für diese Party wünschen können, Bri.« Arabella, die in ihrem Kleid
aus gefälteltem Musselin bezaubernd anzusehen war, hielt ihr
Sherryglas anmutig mit einer Hand. »Jeder hat sich positiv darüber
geäußert.«
»Es hält sich zum Glück, ja.« Sie nickte. »Wie
schrecklich es doch wäre, wenn wir die ganze Zeit im Haus gefangen
wären.«
»Und Lord Emerson und Belinda Campbell haben
eindeutig eine Neigung füreinander entwickelt. Das ist für jede
Gastgeberin ein großer Erfolg.« Rebecca lächelte. Ihre Worte
klangen neckend, aber etwas daran, wie sie ihre Schultern hielt,
verriet, dass es sie Kraft kostete, so zu reden.
Brianna konnte nur allzu leicht erraten, woran
ihre Freundin wohl dachte. »Ich habe wirklich nicht im Traum daran
gedacht, dass deine Mutter entscheiden könnte, dass du und Damien
zusammenpasst, Beck. Nicht, dass er kein toller Fang wäre, aber du
fühlst dich sichtlich unwohl. Ich werde mein Bestes tun, damit du
nicht ständig mit ihm zusammen sein musst.«
»Ich mag ihn – das ist nicht das Problem.«
Rebecca verzog das Gesicht. »Es ist nur so demütigend, ihm ständig
unter die Nase gehalten zu werden.«
»Geht er nicht ohnehin bald zurück nach
Spanien?«, fragte Arabella mitfühlend. »Es wäre schrecklich, wenn
du eine Bindung zu ihm aufbaust und er dann in den Krieg
zurückkehrt.«
»Ich glaube nicht, dass meine Eltern mehr sehen,
außer seinem
Vermögen und seiner bevorstehenden Erhebung in den Ritterstand.«
Rebecca wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. Etwas
Sehnsüchtiges zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Meine Gefühle
zählen mit jedem verstreichenden Tag immer weniger.«
Das Geständnis, das Rebecca ihr vor Kurzem im
Musikzimmer der Marstons gemacht hatte, kam Brianna wieder in den
Sinn.
Ich bin verliebt … aber er ist nicht angemessen
…
Impulsiv stieß Brianna hervor: »Können Bella und
ich dir nicht irgendwie helfen? Du siehst manchmal so unerträglich
elend aus. Ich glaube, du solltest ihr erzählen, was du mir
anvertraut hast. Es ist doch so, dass wir drei keine Geheimnisse
voreinander haben. Vielleicht macht es die Angelegenheit leichter,
wenn du darüber sprichst.«
»Was soll sie mir erzählen?« Arabella zog
verblüfft die Brauen zusammen.
Rebecca wandte sich wieder ihrer Freundin zu und
lächelte sie resigniert an. »Ich habe ein unglückliches Leiden. Es
muss eine Krankheit sein, oder nicht? Sich in den vollkommen
falschen Mann zu verlieben?«
»Du bist verliebt?« Arabella erstarrte. Sie
wiederholte die Worte, als hätte sie noch nie von der Liebe gehört.
»Ach, Liebes. Das ist doch wunderbar … Oder auch nicht, vermute
ich. Warum ist er der falsche Mann?«
»Sie behauptet, ihre Eltern würden nicht
zustimmen«, warf Brianna ein.
»Warum nicht? Wenn er kein Stalljunge ist … oh,
er ist aber keiner, oder?« Arabella wirkte ebenso ratlos, wie
Brianna sich gefühlt hatte, als sie das erste Mal von dem Problem
hörte.
Rebecca schüttelte den Kopf. »Ihr beiden seid
meine liebsten Freundinnen, aber ich kann euch nicht sagen, wer er
ist.«
Brianna und Arabella schauten sich an.Wenn
Rebecca nicht in diesem Moment mit einer verstohlenen Bewegung eine
verirrte Träne aus dem Augenwinkel gewischt hätte, dann hätte
Brianna das Thema vielleicht ruhen lassen. Doch nun sagte sie fest:
»Wir werden immer deine Privatsphäre respektieren, Beck. Das weißt
du. Vertrau uns. Vielleicht ist die Situation nicht so schrecklich,
wie du glaubst.«
»Vertrauen ist nicht das Problem. Bei Weitem
nicht. Aber es ist kompliziert.« Sie seufzte und hob ihre schlanke
Hand, um eine Locke von ihrer Wange zu streifen, die sich dorthin
verirrt hatte. »Kompliziert und einfach zugleich. Meine Eltern sind
unerbittlich; ich soll diese Saison verheiratet werden. Und wer
kann es ihnen verdenken? Ich halte ihnen zugute, dass sie keine
Ahnung haben, was wirklich vor sich geht. Sie glauben einfach, dass
ich in dieser Frage stur bin. Ich vermute, ich hätte dem Marquess
letztes Jahr mein Jawort geben sollen. Er wäre jedenfalls …
akzeptabel gewesen.«
Akzeptabel. Brianna dachte daran, wie intensiv
ihre Gefühle für Colton waren.Wer wollte schon einen akzeptablen Ehemann, vor allem, wenn man wie
verrückt in einen anderen verliebt war? »Dieser geheimnisvolle Mann
… Erwidert er dein Interesse überhaupt?«
»Ich glaube, es ist durchaus möglich, dass das
Interesse auf Gegenseitigkeit beruht.Aber mein gesunder
Menschenverstand sagt mir, dass es das Höchste ist, was ich
erwarten darf. Ich bin vermutlich eine vorübergehende Laune, wenn
überhaupt.«
»Vielleicht kann Lady Rothburg dir helfen«,
sagte Brianna. »Ich habe es dir schon einmal vorgeschlagen.«
Arabella lachte ungläubig auf. »Lieber Himmel,
Bri. Sag mir nicht, dass sich dieses skandalöse Buch noch immer in
deinem Besitz befindet?«
»Natürlich besitze ich es noch.« Brianna
lächelte ohne Reue. »Ich versichere dir, dass es faszinierend ist.
Ich habe es von vorne bis hinten gelesen.«
»Und ich versichere dir,
dass keine respektable Frau überhaupt einen Blick darauf werfen
sollte.«
»Es ist recht vergnüglich, hin und wieder
nicht so respektabel zu sein.« Sie dachte
daran, wie viel leidenschaftlicher ihr Mann inzwischen geworden
war. Seine Leidenschaft wurde nicht länger eingeschränkt, und beim
letzten Mal, als er sie in ihrem Bett besuchte, hatte sie nichts
getan, um ihn zu provozieren. Er hatte nicht nur sein übliches
Ritual versäumt, bei dem er das Licht dimmte, sondern hatte sie
auch hochgehoben und geradezu aufs Bett geworfen, als könne er es
nicht erwarten.
Genau das wollte sie. Dieses gesteigerte,
sexuelle Wissen, dass sie eine Frau war, und nicht bloß seine
Ehefrau. Eine Frau, die ihm Lust schenken konnte und wollte.
Und sie begann zu erkennen, dass auch sie es
genoss. Das gesteigerte Lustempfinden beanspruchte nicht nur Colton
für sich. Sie warf Arabella einen Seitenblick zu, die ebenfalls
erst seit Kurzem verheiratet war. »Weißt du, du könntest auch von
diesem Buch profitieren. Es ist wirklich erhellend. Ich wünschte,
ich hätte es gelesen, bevor … Also, du weißt schon. Bevor.«
Arabellas Wangen überzog ein rosiger Hauch, weil
sie auf die Hochzeitsnacht anspielte. »Hätte es denn geholfen? Ich
meine nicht, dass es schrecklich oder etwas in der Art war. Andrew
war sehr verständnisvoll und zärtlich. Aber ich war so schrecklich
nervös. Jetzt ist alles in Ordnung.«
»Das ist aber der springende Punkt.« Brianna
hatte das Gefühl, ebenfalls leicht zu erröten. »Es kann so viel
besser sein als nur in Ordnung.« Sie schaute Rebecca an. »Das Buch
handelt nicht bloß von intimen Dingen, Beck. Lady R hat ein ganzes
Kapitel dem Thema gewidmet, wie man einen zaudernden Mann dazu
bringt, seine Grenzen zu überschreiten. Als verheiratete Frau
brauchte ich das ja nun nicht zu lesen, aber das ganze Buch ist so
faszinierend, dass ich es nicht ausgelassen habe. Lady R hat selbst
die Erfahrung gemacht, wie sie die Aufmerksamkeit jedes Gentlemans
fesselte, den sie begehrte. Sie behauptet, dass sie ihr Ziel mit
gewissen Techniken immer erreicht hat.«
»Ich habe tatsächlich gehofft, dass du mir jetzt
doch das Buch leihst.« In Rebeccas Stimme schwang ein leises Beben
mit. »Vielleicht, wenn ich es versuche... Meine Eltern wären
entsetzt, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich, wenn ich
nicht bald etwas tue, gezwungen werde, den Heiratsantrag eines
Mannes anzunehmen, den sie für mich
auswählen und nicht ich.«
»Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Idee.Wie
ihr beide wisst, glaube ich fest an die Methoden der Lady R.«
Brianna stand auf. »Das Buch ist in meinem Zimmer. Ich hole
es.«
Sie ging in ihr Schlafzimmer, nahm den kleinen,
goldenen Schlüssel aus ihrem Frisiertisch und holte die kunstvoll
verzierte, antike Schatulle aus den Tiefen ihres Kleiderschranks
hervor. Die Schatulle hatte einst ihrer Großmutter gehört, die
vermutlich über die Maßen empört wäre, wenn sie wüsste, was sich im
Moment darin befand. Das Buch lag auf dem fadenscheinigen Samt, als
wäre es ein wertvoller Edelstein, und zumindest für Brianna war der
verbotene Besitz von großem Wert. Der Buchdeckel war aus
unscheinbarem Leder, auf das scharlachrote Buchstaben geprägt
waren, und die Seiten waren abgenutzt. Brianna hatte
sich mehr als einmal gefragt, wer der oder die Vorbesitzer gewesen
waren. Sie hatte das bestimmte Gefühl, dass Lady Rothburg vor ihr
bereits vielen Frauen geholfen hatte. Sonst wäre das Buch sicher
längst vernichtet worden, statt seinen Weg in diesen verstaubten,
kleinen Buchladen zu finden.
Brianna kehrte zurück und händigte Rebecca das
Buch aus. »Versuch vor allem das Kapitel ›Vergesst nie, dass Ihr
besser wisst, was er will‹.«
Rebecca starrte die Vorderseite an und richtete
sich kerzengerade auf. »Ich wünschte, ich wüsste, was er will. Ich weiß auf jeden Fall, was mein Vater
nicht will, aber ich habe hin und her überlegt, warum...
Tatsächlich habe ich zuletzt kaum über etwas anderes nachgedacht.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde entschlossen. »Ich bin zu dem Schluss
gekommen, dass es auch irgendwie zählen sollte, was ich will. Schließlich ist es mein Leben und mein
Glück, das auf dem Spiel steht.«
Brianna verstand diesen Gedanken nur zu gut. Aus
diesem Grund hatte sie das Buch damals erworben. Sie sagte fest:
»Ich warne dich: Die Ratschläge kommen dir vielleicht eigenwillig
vor. Aber vertrau Lady R. Sie wird dir helfen.«