Kapitel 14
Sobald Ihr und Euer Liebhaber mit den Wünschen
und Bedürfnissen des anderen vertraut geworden seid, ist es an der
Zeit, dass Ihr ihn überrascht, ihn verwirrt und ihm bewusst macht,
dass er seine Frau nur teilweise kennt. Jedes Mal, wenn Ihr etwas
Neues ausprobiert, werdet Ihr vielleicht seine tiefsten, geheimen
Wünsche zutage bringen oder eine besondere Fantasie erfüllen. Denn
Männer haben solche Fantasien und Wünsche, noch viel mehr als wir
Frauen.
Aus dem Kapitel »Geheimnisse zu Eurem Vorteil
nutzen«
Das Schicksal schien Vergnügen daran zu finden,
ihn zu verspotten, dachte Robert grimmig. Er hatte diese zynische
Bemerkung über ungeschickte junge Ladys gemacht, die das Pianoforte
nur mittelmäßig beherrschten, und nun saß er wieder hier und
lauschte einer der vortrefflichsten Vorstellungen, die er je gehört
hatte. Und sie wurde gespielt von einer sehr schönen, hoch
talentierten jungen Lady.
Er konnte den Blick nicht von Rebecca abwenden,
während sie sich mit heiterer Miene über die Tasten des Pianofortes
beugte. Weil er im Publikum saß, hatte er die perfekte Ausrede, die
anmutige Haltung ihres wohlgeformten Körpers zu studieren, ihr
ebenmäßiges Profil, den Glanz ihres dunklen, schimmernden
Haares.
Verdammt.
Bemerkenswert war das
Wort, das er ihrer Mutter gegenüber benutzt hatte. Jetzt erst, da
er Rebecca zum zweiten Mal spielen hörte, merkte er, was für eine
Untertreibung das war. Ihr Talent
war eine seltene Gabe, eine einzigartige Fähigkeit, die ihre
Zuhörer so sehr fesselte, dass er fast das Gefühl hatte, jeder im
Raum, sogar der unmusikalischste Banause, habe aufgehört zu atmen.
Niemand hüstelte, räusperte sich oder rutschte auf seinem Sitz
herum.
So gut war sie.
Dann rief er sich zur Ordnung. Sie würde mit
einem sehr glücklichen Mann vermählt werden, und obwohl ihr hin und
wieder vielleicht gestattet werden würde, für ein kleines Publikum
wie dieses spielen zu dürfen, würde die Welt doch nie in den Genuss
kommen, ihr Genie auskosten zu dürfen.
Eine verdammte Schande, wenn es nach Robert
ging. Aber andererseits hatte ihn niemand um seine Meinung
gefragt.
An diesem Abend hatte er alle Stücke, die sie
spielte, erkannt. Bis auf die letzten beiden. Sie spielte keine
Musik, sie zelebrierte sie, und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich
von ruhig zu nachdenklich, während diese schlanken Hände sich über
die Tasten bewegten, als liebkoste sie einen Liebhaber.
Das Bild, das dieser
Vergleich in ihm hervorrief, musste er augenblicklich niederringen,
sagte er sich verzweifelt, als er sich nach dem frenetischen
Applaus erhob und blind der neben ihm stehenden Dame den Arm
bot.
Es war ausgerechnet Mrs. Newman, die ihn unter
ihren Wimpern provozierend anblickte. Sie legte die Hand auf seinen
Ärmel. »Das war recht hübsch, findet Ihr nicht?«
»Es war brillant«, erwiderte er
wahrheitsgemäß.
»Ihr wart offenbar sehr in ihre Vorstellung
vertieft.«
Sogar während sie sprachen, musste Robert zu
seinem Leidwesen feststellen, dass er beobachtete, wie Lord
Knightly Rebecca zu Tisch führte. Der verdammte Kerl sagte
irgendetwas, das
sie zum Lachen brachte. Nur mit Mühe erinnerte er sich daran, was
die Frau an seiner Seite gerade gesagt hatte, die sich ihrerseits
an seinen Arm klammerte. Er zwang sich zu einem, wie er hoffte,
ungezwungenen Lächeln, während sie das Speisezimmer betraten. »Ich
glaube, das waren wir alle.«
»Nicht mit dem hohen Maß an Aufmerksamkeit, das
Ihr ihr gewidmet habt.« Sie sprach leise, aber ihre Augen hatten
sich ein wenig verengt. »Wie ein Kind, das durch das Schaufenster
eines Süßwarenladens blickt.«
Er hatte bisher so selten sein Interesse an
einer Frau verbergen müssen – nun, eigentlich noch nie -, dass er offensichtlich nicht besonders gut
darin war. »Miss Marston ist von ungewöhnlicher Schönheit. Ich bin
sicher, jeder Mann im Raum hat das bemerkt.«
Ja, dessen war er sicher. Und es störte ihn
gewaltig.
»Vielleicht ist das so.« Sie hob ihre Brauen nur
eine Winzigkeit und betrachtete ihn aufmerksam, als sie an den
Tisch traten. Zu seiner Überraschung bemerkte Loretta Newman mit
mehr Einsicht, als er erwartet hätte: »Ihr werdet eine Wahl treffen
müssen. Ich bin neugierig zu sehen, wie Ihr Euch
entscheidet.«
Warum sollte er da noch versuchen, es zu
leugnen? Er zog einen Stuhl für sie vor und murmelte: »Ja, ich bin
auch neugierig.«
Zum Dinner waren die auf den Tellern
angerichteten Speisen noch großzügiger als gewöhnlich, da heute
Abend ja Coltons Geburtstag gefeiert wurde. Das Essen war
vorzüglich, ohne überladen zu sein, und wenn Robert in der
richtigen Stimmung gewesen wäre, hätte er diesen Genuss noch mehr
zu schätzen gewusst. Da er aber nur wenig aß, mehr dem Wein
zusprach und unruhig wartete, dass die Veranstaltung endlich vorbei
war, blieb ihm der wahre Genuss verwehrt. Sobald die Ladys sich
entschuldigten
und der Portwein serviert wurde, entspannte er sich ein wenig. Die
Anspannung, die er die ganze Zeit verspürt hatte, weil Rebecca auf
der anderen Seite des Tisches gesessen hatte – zu seinem Missfallen
direkt gegenüber -, hatte ihm die Mahlzeit endlos erscheinen
lassen.
Er hörte den Unterhaltungen, die sich um ihn
entspannen, kaum zu, sondern trank seinen Portwein mit unbedachter
Eile. Vielleicht käme der Abend schneller zum Ende, wenn er sich
ordentlich betäubte. Ja, er würde sich am nächsten Morgen wohl
nicht besonders gut fühlen, aber zum Teufel, jetzt war auch nicht
alles eitel Sonnenschein.
Als es an der Zeit war, sich in den Salon zu
begeben und sich wieder zu den Damen zu gesellen, lehnte er ab.
»Ich werde mich lieber zur Ruhe begeben und noch ein wenig
lesen.«
»Lesen?«, fragte Damien ungläubig lachend.
Selbst Colton blickte ihn zweifelnd an. Lord Bonham hob überrascht
eine Braue.
Robert murmelte: »Zur Hölle, so, wie ihr mich
anschaut, könnte man meinen, ihr habt noch nie von diesem
Zeitvertreib gehört. Ich bin müde und wünsche, mich mit einem guten
Buch zur Ruhe zu begeben. Ist denn daran etwas
Verwerfliches?«
»Überhaupt nicht.« Damien grinste. »Vielleicht
steht irgendwo in den Regalen ein hübscher Liebesroman. Etwas
Dunkles, Melodramatisches und Gruseliges, das zu deiner finsteren
Miene passt.«
Robert hielt es sich zugute, dass er darauf
verzichtete, seinem Bruder die geballte Faust gegen das Kinn zu
schmettern. Stattdessen wandte er sich auf dem Stiefelabsatz um und
marschierte aus dem Speisezimmer. Gott sei Dank hatte Rebeccas
Vater den Raum bereits verlassen und die Auseinandersetzung
verpasst.
Robert hatte das ungute Gefühl, dass auch ihr Vater vielleicht
gemerkt hatte, wie sehr er von Rebecca eingenommen war, wenn Damien
und Loretta es bemerkten. Da er und Sir Benedict die
unausgesprochene Vereinbarung hatten, einander aus dem Weg zu
gehen, hatte er nichts gesagt. Aber an jenem Abend auf der Terrasse
hatte Robert die deutliche Botschaft vernommen, nach der Rebecca
für ihn außer Reichweite war.
Damien folgte ihm und spazierte nur wenige
Augenblicke nach ihm in die Bibliothek. Sein Blick war zweifelnd,
als er sah, dass Robert auf direktem Weg die Brandykaraffe
angesteuert hatte und nicht die Buchregale. »Wenn du dich
betrinkst, wird dich das nicht aus der Klemme befreien.«
»Sitze ich denn in der Klemme?« Robert goss
einen großzügigen Schluck in ein Kristallglas. »Und wenn es so
wäre: Ginge dich das etwas an?«
Sein älterer Bruder schloss die Tür hinter sich.
»Nein. Ich glaube, es geht mich nichts an.« Damien stellte sich vor
das Bücherregal und ließ einen Finger über die staubigen Buchrücken
gleiten. »Vielleicht solltest du eine dieser griechischen Tragödien
lesen. Oder ein Stück von Shakespeare. Weiß Gott, du verhältst dich
wie einer dieser dramatischen, liebestollen Charaktere, die er
beschreibt.«
»Ich habe bereits die meisten gelesen, vielen
Dank. Ich glaube, auch du warst in Eton. Und ich fürchte, ich habe
keine Ahnung, worüber du sprichst.«
»Ja, sie haben die Klassiker in unsere
Dickschädel geprügelt, nicht wahr?«
Robert schnaubte verhalten. Er war doch bloß ein
wenig verwirrt, das stimmte. Zwei ordentliche Brandys sollten ihm
wieder den gebührenden Abstand verschaffen.
»Robbie, warum wirbst du nicht einfach um sie?«
Damien drehte sich um. Er schüttelte den Kopf und verschränkte die
Arme vor der Brust. »Du hast bestimmt schon mal von Brautwerbung
gehört? Blumen, nachmittägliche Besuche, ein Ausritt im Hyde Park
mit einer Anstandsdame, vielleicht ein bedächtig geschriebenes
Gedicht, das eloquent die herrliche Farbe ihrer Augen beschreibt
…«
»Hättest du die Güte, mir zu sagen, worauf du
anspielst?«
Damien bedachte ihn mit einem bedauernden Blick.
»Wenn du mich anfährst, wird das nichts ändern. Und wir wissen
beide, von wem ich rede, verdammt noch mal.«
Das stimmte. Robert atmete zitternd aus. Mit der
freien Hand fuhr er übers Gesicht und klammerte sich mit der
anderen Hand an das Brandyglas wie an einen Rettungsanker. Er sagte
schwermütig: »Ich wünsche aber nicht, um
jemanden zu werben.«
»Die Geschichte stützt diese Aussage, darum
glaube ich dir.« Damien entschied sich für einen der gemütlichen
Sessel nahe des Kamins. Er setzte sich hin und kreuzte die Füße.
»Du wünschst es nicht. Gut. Wenigstens gibst du zu, dass dir der
Gedanke gekommen ist. Das ist ein guter Anfang. Setz dich hin und
lass uns darüber reden.«
»Gibt es irgendeinen Grund, warum wir darüber
reden sollten?« Seinen Worten zum Trotz sank Robert in einen
Sessel. Seine mürrische Miene war anklagend. »Für den Fall, dass es
deiner Aufmerksamkeit entgangen ist, aber Rebeccas Eltern würden
ohnmächtig werden, falls ich auch nur den Hauch von Interesse
zeigen würde. Besonders ihr Vater.«
»Aha! Du kannst ihren Namen also laut
aussprechen und deine Faszination in Worte kleiden. Das ist ein
Fortschritt.«
Wenn Blicke töten könnten, würde Damien sich
jetzt vor
Schmerzen winden.Aber offensichtlich war diese Methode nicht
besonders effektiv. Robert bemerkte bitter: »Wer hätte gedacht,
dass du heute noch genauso ätzend sein kannst wie früher, als ich
zehn war?«
»Ich war damals elf, und im Laufe der Jahre habe
ich meine Technik verbessert.«
»Es gibt einige Dinge, die man nicht verbessern
sollte.«
Damien grinste. »Das gebe ich zu.Also erzähl
mal.Was ist zwischen dir und Sir Benedict vorgefallen? Schließlich
bist du, auch wenn du nicht gerade einen makellosen Ruf hast, immer
noch ein Northfield und der jüngste Bruder eines Herzogs. Außerdem
hast du ein eigenes Einkommen. Sie könnte es sicher schlechter
treffen. Es wäre eine prestigeträchtige Verbindung.«
»Ich will keine Verbindung«, wandte Robert
gereizt ein. Er reckte trotzig das Kinn vor.
»Aber du willst sie.
Darin liegt das zuvor von mir angesprochene Dilemma, in dem du
steckst.« Damien hob eine Hand und streckte ihm die Handfläche hin.
»Um dieser Auseinandersetzung willen, lass uns einfach mal den
Gedanken weiterdenken, dass du dir ernsthaft wünschst, die schöne
Rebecca zu umwerben. Das würde natürlich bedeuten, dass du die
Erlaubnis ihres Vaters bräuchtest.«
»Er würde sie mir nicht erteilen, glaub mir.«
Robert betrachtete finster seine Stiefelspitzen. Er seufzte. Tief.
»Vor einigen Jahren hielt ich mich in einem alles andere als
respektablen Etablissement auf, in dem viele junge, heißblütige
Kerle sich betranken und spielten. Sir Benedicts Neffe war auch
dort. Er war jung, betrunken und schon nüchtern nicht der Klügste.
Er verlor in der Nacht ein Vermögen, und das meine ich wörtlich.
Einige von uns warnten ihn, sich aus dem Spiel zurückzuziehen, weil
wir sehen konnten, dass er seine Urteilsfähigkeit verloren hatte.
Aber er war ein streitlustiger Dummkopf und lehnte es ab. Je tiefer
er in den Sumpf geriet, umso mehr war er gewillt, sich selbst
daraus zu befreien. Ich fürchte, er hat es nicht geschafft. An
jenem desaströsen Abend endete er in den Armen einer
Prostituierten, bei der er sich zu allem Überfluss die Pocken
einfing.« Robert blickte auf und verzog den Mund. »Sir Benedict
verwaltete natürlich das Erbe seines Neffen, das an diesem Abend um
einen Großteil schrumpfte. Der junge Bennie, der nach seinem Onkel
benannt war, konnte sich natürlich nicht daran erinnern, welche
Gentlemen in das Spiel verwickelt waren, außer an mich und Herbert
Haversham. Wir beide erhielten bitterböse Briefe, in denen wir des
Betrugs beschuldigt wurden, und dass wir den jungen Mann zu
Ausschweifungen verführt hätten. Und obwohl ich mir die Zeit nahm,
darauf zu antworten und ihm die Wahrheit zu erklären, wurde die
Nachricht ungeöffnet an mich zurückgesandt.«
Damien murmelte: »Ich verstehe.«
»Bis zu einem gewissen Punkt kann ich es
Rebeccas Vater nicht verdenken, denn er wurde mit dem Problem
konfrontiert, entweder der Geschichte zu glauben, die Bennie ihm
auftischte, oder sich der Tatsache zu stellen, dass sein Neffe sich
nicht nur wie ein Idiot verhalten, sondern auch seinen Teil dazu
beigetragen und ihn belogen hatte. Es war so viel einfacher, uns
die Schuld in die Schuhe zu schieben. Weder Herbert noch ich
behielten das Geld, das wir von ihm gewannen, sondern gaben es ihm
zurück, ehe wir an jenem Abend gingen. Wir sprachen noch eine
Warnung aus, aber die traf wohl auf taube, von Trunkenheit
benebelte Ohren. Bennie hat es einfach im nächsten Spiel gesetzt
und verloren. Ich frage mich, ob er sich nur deshalb an uns
erinnert hat, weil wir diejenigen waren, die ihm sein Geld
zurückgaben.«
»Könnte sein. Gut … ich glaube, ich sehe jetzt
deutlicher. Neben deinem Ruf als Lebemann hält er dich jetzt auch
noch für einen schlechten Einfluss, und außerdem hast du für ihn
keine Ehre im Leib. Ist das korrekt?« Damien trug seine gewohnt
undurchdringliche Miene zur Schau.
»Ich würde es so sagen. Der Mann kann sich kaum
dazu durchringen, mich höflich zu grüßen, wenn wir einander
begegnen.« Sir Benedicts grollende Miene, als er Robert mit seiner
schönen Tochter ertappte, kam ihm wieder in den Sinn. »Zu
behaupten, dass er keinen Blick für mich übrig hat, ist eine
Untertreibung. Auch wenn ich nie vorgegeben habe, ein Engel zu
sein, bin ich in dieser Sache doch vollkommen unschuldig.«
»Ich stimme dir zu. Also, wie sieht dein Plan
aus?«
»Wovon zur Hölle redest du? Ich habe keinen
Plan, Dame.«
»Keinen Plan, um das Objekt deiner Begierde für
dich zu gewinnen?« Sein Bruder hob respektlos die Brauen. »Ich gebe
zu, das wird nicht einfach. Du wirst dein Verhalten merklich ändern
müssen. Dies ist eine junge Frau, die du nicht einfach in dein Bett
locken kannst. Tatsächlich habe ich den Eindruck, du könntest sie in dein Bett locken. Aber auch wenn du
alles andere als perfekt bist, glaube ich nicht, dass du sie
entehren würdest, wie du auch einen betrunkenen Mann nicht um sein
Geld bringen würdest.«
»Was für ein großes Lob«, knurrte Robert
sarkastisch. »Ich habe das Gefühl, es steigt mir gleich zu
Kopf.«
Sein Bruder ignorierte ihn und sprach weiter,
als brüte er über einem seiner verdammten strategischen Probleme.
»Du wirst dich also dieses Mal auf etwas anderes verlassen müssen
als dein
hübsches Gesicht und die Fassade aus seichtem Charme. Zum Glück
habt ihr zwei eine sehr wichtige Sache gemein, mal abgesehen von
der gegenseitigen, körperlichen Anziehung.«
Das Problem war nur, dass Robert fürchtete,
Damien könne mit seiner Vermutung richtigliegen. Er war erfahren
genug, um zu wissen, wann eine Frau an ihm interessiert war. Und
Rebecca war zu unerfahren, um ihr Interesse an ihm zu verbergen.
Mehr als einmal hatte er sie dabei ertappt, wie sie ihn
beobachtete. Wenn sie seinen Blick bemerkte, wandte sie rasch den
Kopf ab, und rote Flecken überzogen ihre Wangen.
Er hätte es amüsant finden sollen. Aber so war
es nicht. Besonders nicht, weil der einzige Grund, warum er sie
dabei überraschte, dass sie ihn beobachtete, der war, dass er sie
seinerseits nicht aus den Augen ließ.
»Meine eigenen Vorbehalte mal beiseitegelassen,
aber: Es ist unmöglich. Das wissen wir beide.«
»Überhaupt nicht.« Damien lächelte. »Es ist
sicher eine Herausforderung, aber unmöglich? Nichts ist unmöglich.
Wenn Badajoz eingenommen werden konnte, ist das hier bloß ein
Geplänkel. Obwohl ich zugeben muss, dass der schwarze Fleck auf
deiner Weste nicht gerade geeignet ist, eine erfolgreiche
Brautwerbung zu fördern.«
Wenn Robert überhaupt um jemanden werben
wollte.
»Wir haben keine Gemeinsamkeiten«, erklärte er.
»Sie ist eine unschuldige, junge Frau im heiratsfähigen Alter, und
ich kann mich nicht einmal erinnern, was genau unschuldig
bedeutet.«
»Dich und Rebecca verbindet die tiefe Liebe zur
Musik.« Damien rieb sein Kinn. »Verdammt soll ich sein, wenn ich
nicht neidisch bin. Denk dir nur, wie viele Abende ihr damit
verbringen könntet, darüber zu reden und gemeinsam zu
spielen...«
»Wir werden keine Abende verbringen«, knurrte
Robert. Gegen seinen Willen klang er wie ein trotziges Kind. Er
mäßigte seinen Tonfall und sagte vernünftig: »Sieh mal, dieses
unglückliche Interesse wird vergehen. Es ist, als würde man sich
verkühlen. Ich lege keinen Wert auf eine Erkältung, aber sie nimmt
ihren Lauf, und dann geht das Leben weiter.«
»Ist es denn wie die anderen Erkältungen, die dich bisher ereilt haben?«
Das war es nicht. Aber andererseits war er auch
noch nie an jemandem wie Rebecca interessiert gewesen. All die
anderen Male hatte er nur aus Leidenschaft gespielt – und auch
mit der Leidenschaft gespielt, obwohl er so
noch nie darüber nachgedacht hatte. Es gab keine Versprechungen,
keine Erwartungen, die über das Übliche hinausgingen. Diese
Liaisons waren einfach. Das hier war alles andere als simpel. Er
bemerkte knapp: »Ich sehe keinen Grund, warum wir weiter darüber
reden sollten.«
»Ich schon.« Sein Bruder stand auf. »Warte hier.
Ich komme sofort zurück.«
Rebecca blickte überrascht auf. Damien
Northfields Angebot kam völlig unerwartet.
»Nur ein kleiner Spaziergang«, sagte er auf
seine sanfte Art. »Eure Mutter kann uns begleiten, wenn sie möchte.
Ich konnte Euch heute Abend nicht zu Tisch begleiten, und ich
bekäme gern eine zweite Gelegenheit, wenn ich darf.«
Ihre Mutter lächelte hoch erfreut und winkte ab.
»Ein kleiner Spaziergang allein wäre natürlich schön.«
Natürlich. Ihre Mutter würde es nur zu gern
sehen, wenn sie allein fortgingen. Der Gedanke an eine sich
entwickelnde Romanze war fest in ihrem Kopf verankert. Aber die
Frage, die
Rebecca wirklich beschäftigte, war, warum Damien diese Vorstellung
noch befeuerte. Bisher schien er nur amüsiert über die
Kuppelversuche zu sein, obwohl er es vielleicht nicht so lustig
fände, wenn er nicht längst ihre Verliebtheit in seinen Bruder
erraten hätte. So konnte er sich sicher fühlen.
Letztlich neigte Rebecca gehorsam den Kopf und
folgte ihm, mehr aus Neugier als aus anderen Gründen. Sie musste
ihn ohnehin um einen Gefallen bitten. Die Gelegenheit war also
günstig.
Er hatte etwas vor. Langsam merkte sie, dass er
immer etwas im Schilde führte. In dem
Moment, als sie aus der Tür des Salons traten, holte sie tief Luft,
um ihre Bitte vorzutragen, von der sie hoffte, er würde sie ihr
erfüllen. Aber er drehte sich um und legte behutsam seine
Fingerspitzen auf ihre Lippen. Mit leiser Stimme sagte er: »Keine
Fragen. Noch nicht. Kommt einfach mit.«
Verwirrt ließ Rebecca sich von ihm von der
Terrasse und zum Seitenflügel des Hauses führen. »Lord Damien …«,
begann sie, als sie um die Ecke gingen. Es war dunkel, das Haus
erstrahlte in der Finsternis, und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft
roch die Luft nach Regen.
»Hier.« Er blieb stehen und wandte sich ihr zu.
»Der Busch ist lästig, aber kein unüberwindliches Hindernis. Ich
werde Euch darüberheben.«
»Wie bitte?« Rebecca starrte ihn an. Sie war
nicht sicher, was um alles in der Welt er plante. Die Abendbrise
umspielte ihr Haar.
»Ich helfe Euch.«
Er wies auf ein hohes Fenster, wie sie erst
jetzt merkte, das trotz des kühlen Abends geöffnet war; die
Vorhänge bewegten sich leise im Wind. »Mylord, ich bin nicht
sicher, was Ihr damit bezweckt.«
Er blickte sie an. Das Licht, das aus dem
Fenster strömte, schmeichelte seinen harten Gesichtszügen. »Miss
Marston, lasst mich Euch durch das Fenster heben. Dann werde ich
draußen stehen und eine Weile ungezwungen wirken, ehe ich Euch
auffordere, sich wieder zu mir zu gesellen. Das ist alles, was ich
in dieser Sache zu sagen habe, bis ich Euch sicher zurück in den
Salon geleitet habe.Was in der Zwischenzeit geschieht, ist allein
Eure Sache.«
»Ich …«
»Ihr verschwendet Eure Zeit. Redet mit
ihm.«
Er nahm ihren Arm und schob sie zu dem offenen
Fenster, stellte sich in den Busch, drehte sich zu ihr um und
umfasste ihre Taille. Dann hob er sie hoch und setzte sie auf dem
Fenstersims ab. Da er so wild entschlossen war, schwang Rebecca
gehorsam die Beine über den Sims und hielt dabei ihre Röcke sittsam
fest, ehe sie in den Raum glitt.
Und ihn sah.
Robert saß entspannt in einem Sessel am Feuer.
Er hielt ein Glas Brandy in der Hand und starrte sie an, als wäre
sie eine Erscheinung. Er murmelte eine Verwünschung, die sie nicht
verstand, und stellte das Glas auf einen kleinen, polierten Tisch.
Das Klacken ließ sie zusammenzucken. Er stand abrupt auf. »Ist das
die Art Kriegsführung, der sich Bonaparte ausgesetzt sieht? Ich
habe echtes Mitleid mit dem kleinen Korsen.Wirklich.«
Der Raum war in Dämmerlicht getaucht. Und leer,
abgesehen von ihnen beiden. Kurz gesagt: Sie waren allein. Das war
genau das, worum sie Damien ursprünglich hatte bitten wollen.
Euphorie und Panik machten sich gleichermaßen in ihr breit. Es war
schön und gut, wenn Lady Rothburg ihr sagte, dass sie auf eine List
zurückgreifen sollte, um Robert zu verführen. Aber es
war etwas völlig anderes, wenn man unmittelbar mit der
beängstigenden Aufgabe konfrontiert wurde. Außerdem blickte er sie
finster an. Kaum ein gutes Zeichen.
»Wir … wir sind spazieren gegangen«, stammelte
Rebecca. In seiner Gegenwart war sie immer alles andere als
wortgewandt. »Euer Bruder hat dann darauf bestanden, mich durchs
Fenster zu heben.«
»Nun, ich bestehe darauf, Euch wieder nach
draußen zu helfen.« Robert kam auf sie zu. Sein hübsches Gesicht
war hart und wirkte angespannt. »Nach all der Einmischung, dem
Aufdrängen … also, mir fehlen die Worte. Damien ist schlimmer als
eine wohlmeinende, matronenhafte Tante.«
Damien war eher wie eine gütige, wohlwollende
Patentante – auf eine völlig männliche Art und Weise, natürlich -,
und Rebecca musste sich zusammenreißen und das Beste aus seinem
Geschenk machen.
Es war, als hielte die Zeit an, und nur diese
Situation kristallisierte sich heraus. Plötzlich wurde ihr alles
klar.
Das war sie. Ihre Chance. Ihre gemeinsame
Chance.
Ihr wisst, was er will …
Robert wäre nicht so wütend, wenn ihn die
Situation nicht ebenso wie sie aus dem Gleichgewicht bringen würde.
Wenn er keine Gefühle für sie hätte, dann wäre er bloß verwirrt und
amüsiert, weil sein älterer Bruder eine junge Frau durch ein
Bibliotheksfenster schleuste, dachte sie. Im Übrigen bedeutete das,
was er soeben gesagt hatte, dass er genau wusste, warum Damien sich
einmischte. Und das hieß folgerichtig, dass sie darüber
sprachen.
Dass sie über sie
sprachen.
Der Hoffnungsschimmer, der in ihr aufglomm, ließ
sie verharren. Ihr Herz schlug plötzlich in einem langsamen,
beständigen
Rhythmus. »Ich habe Euch heute Abend vermisst«, sagte sie. Ihre
Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Das ließ ihn nur wenige Schritte von ihr
entfernt verharren. Es war, als hätte ihm jemand einen Schlag
versetzt. Ein rätselhafter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Nach
kurzem Schweigen erwiderte er: »Vermisst? Mich?«
»Ich meine... Ich wünschte, Ihr hättet noch
einmal mit mir gespielt. Ihr seid sehr gut darin.« Ihre Stimme war
nur ein Hauch.
Er machte ein leises Geräusch, das wie etwas
zwischen Stöhnen und Keuchen klang.
Spielt die erotische Frau. Sogar die
unerfahrenste Frau kann es, denn nichts verlockt einen Mann mehr
als eine Frau, die ihn so begehrt, wie er sie begehrt.
Lady Rothburg ermutigte zu einer gewissen
Dreistigkeit, aber das war leichter gesagt als getan.
»Wünscht Ihr, Ihr wärt bei mir gewesen?« Sie
konnte eine gewisse Schüchternheit nicht aus ihrer Stimme
heraushalten. Aber zum ersten Mal, seit sie ihn vor über einem Jahr
in dem überfüllten Ballsaal erblickt hatte, wurde ihr bewusst –
nein, sie wusste es -, dass die Dinge nicht
so hoffnungslos standen, wie sie bisher geglaubt hatte.
Zumindest, wenn sie sich gestattete, für einen
kurzen, befreienden Moment die Ressentiments ihres Vaters zu
vergessen.
»Das hier ist keine gute Idee, Rebecca.« Robert
schüttelte den Kopf. Aber sein Blick blieb angespannt.
»Das hier?«
Die hilflose Geste war nicht die Bewegung eines
vollendeten Wüstlings, sondern die eines frustrierten, jungen
Mannes. »Ihr hier bei mir.Wir. Das
hier.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Ihre Knie
fühlten sich etwas wacklig an, als ob sie vielleicht im nächsten
Moment entschieden, ihr Gewicht nicht länger zu tragen. »Warum
nicht?«
»Es würde etwas Bedeutsames unterstellen. Und
Ihr könnt es nicht brauchen, ausgerechnet mit mir in Verbindung
gebracht zu werden.« Er seufzte und fuhr sich mit beiden Händen
durchs Haar. Er zerzauste die dicken Locken auf eine Weise, die sie
sich seit Langem heimlich wünschte.
»Was ist denn, wenn ich mir diese Verbindung
wünsche?« Diese Worte waren über die Maßen dreist. Lady Rothburg
würde das sicher bestätigen.
»Sagt das nicht.« Diese Aussage wäre wohl
wirksamer gewesen, wenn er nicht zugleich einen Schritt nach hinten
gemacht hätte, als wolle er mit dieser zusätzlichen Distanz seine
Worte unterstreichen. »Mein fehlgeleiteter Bruder scheint zu dem
Schluss gekommen zu sein, dass wir ein gewisses Interesse
aneinander haben.Wir müssen uns nicht entsprechend
verhalten.«
Rebecca beobachtete ihn schweigend. Er kämpfte.
Er stritt nicht mit ihr, sondern rang mit sich.
»Wenn die Sache etwas anders läge«, fuhr er
fort. Seine azurblauen Augen funkelten. »Dann, gestehe ich, könnte
er recht haben, zumindest, soweit es mich betrifft. Ich glaube, Ihr
seid ein sehr hübsches Mädchen, und Ihr habt ein herausragendes
Talent.«
»Ich bin kein Mädchen.« Sie sprach die Worte
vorsichtig aus. Nicht kämpferisch, sondern eher betont, damit er
begriff, dass er in ihr nur eine Frau sehen durfte. »Ich bin fast
einundzwanzig. Alt genug, um mir meine eigene Meinung zu bilden«,
fügte sie leise hinzu.
Robert schienen die Worte zu fehlen. Nach kurzem
Schweigen
räusperte er sich. »Natürlich. Entschuldigt, wenn ich Euch
verletzt habe.«
»Ihr habt mich nicht verletzt. Ich wollte nur
meine Position deutlich machen. Ist mir das gelungen?«
»Etwas zu sehr für meinen Geschmack.« Er atmete
hörbar aus, und es klang, als machte er damit seiner Frustration
Luft. »Tut das nicht mit mir. Ich versuche, der Verlockung zu
widerstehen. Und das ist im Übrigen eine völlig neue Übung für
mich. Was hat Damien Euch erzählt?«
Rebecca lächelte. Es kostete sie einige Kraft,
gelassen zu wirken, während sie innerlich so sehr zitterte. Aber
sie gab ihr Bestes. »Dass ich mit Euch reden sollte. Sagt mir, wie
anders müsste die Sache liegen?«
»Wie bitte?«
»Ihr sagtet vorhin, ›wenn die Sache anders
läge‹, hätte Euer Bruder recht. Was kann ich tun, damit es so
ist?«
»Nichts.« Er starrte sie an und kniff den Mund
zusammen. »Ich kann Euch nichts bieten. Ob Damien recht hat oder
nicht, zählt nicht. Euer Vater hat eine falsche Vorstellung davon,
wer ich bin.« Er sprach etwas zu hastig, als versuche er, sich von
etwas Unangenehmem zu überzeugen. »Und das hat noch nicht einmal
etwas zu bedeuten«, fuhr er fort. »Ich will wirklich nicht
heiraten. Mit meinen sechsundzwanzig Jahren bin ich noch nicht dazu
bereit. Ich mag mein Leben, wie es ist.«
So viel also zum flüchtigen Triumphgefühl, das
sie erfasst hatte. Plötzlich verengte sich ihre Kehle. »Ich
verstehe. Ihr macht Eure Position sehr deutlich, Sir.«
Seine Augen funkelten, und seine Stimme klang
heiser. »Rebecca. Ihr musstet durch ein Fenster klettern, um
wenigstens ein paar Minuten lang mit mir allein sein zu dürfen. Was
glaubt
Ihr denn, wie Eure Eltern reagieren würden, wenn ich mit dem Hut
in der Hand auf ihrer Schwelle stünde und bei Euch vorsprechen
würde? Im Übrigen werde ich das nicht tun, nicht so, wie Ihr es
Euch vielleicht vorstellt. Ihr seid überhaupt nicht so wie …«
Als er zögerte, weil ihm offenbar die Worte
fehlten, fügte sie taktvoll hinzu: »Nicht wie all die anderen
Frauen?«
Sie hätte schwören können, dass sie trotz des
schwachen Lichts einer einzelnen Lampe, die die Bibliothek von
Rolthven beleuchtete, sehen konnte, wie er errötete. »Ich hätte es
nicht so formuliert, aber ja. Gewöhnlich jage ich keinen jungen,
heiratsfähigen Ladys nach. Und zwar aus genau den Gründen, die ich
Euch gerade nannte.«
Vielleicht nicht, aber er hatte gerade auch zum
ersten Mal von Heirat gesprochen, auch wenn er sagte, er wünsche
nicht, eine feste Bindung einzugehen. Und die Art, wie er sie
anschaute, war überaus beredt. Besonders, nachdem sie das Buch
gelesen hatte. Verlangen war eine große Macht, ja, aber es gab noch
mehr zwischen ihnen. In ihr herrschte nicht der Aufruhr, der ihn
bewegte. Sie wusste, was sie wollte.
»Meine Eltern verschließen sich nicht völlig
meinen Wünschen, obwohl sie zuletzt mit jedem neuen Tag immer
weniger Verständnis aufbrachten. Sie wollen, dass ich glücklich
werde. Bestimmt spricht das für uns.«
Er erstarrte. »Die Schlussfolgerung, ich könnte
irgendetwas mit Eurem Glück zu tun haben, ist lächerlich.«
Wie wenig er doch wusste … Da sie aber nun mal
so ehrlich waren, sollte sie ihm vielleicht einfach alles erzählen.
Was hatte sie schon zu verlieren? Ruhig erwiderte sie: »An dem Tag,
als Brianna Colton kennenlernte, traf ich Euch.«
Dieses Mal war er es, der einen Schritt auf sie
zu machte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er auf sie
herunter. »Das war vor Monaten. Letztes Jahr, wenn ich mich recht
entsinne. Wir wurden einander vorgestellt, mehr nicht. Rebecca,
sagt mir nicht, dass Ihr … Ich meine, dass Ihr die ganze Zeit
…«
»Das habe ich aber.« Ihre Stimme zitterte, als
sie ihn unterbrach. Er war ihr jetzt so nah, dass sie den Hauch
seines Parfüms und das saubere Leinen riechen konnte. »Ich habe
nicht geheiratet … wegen meiner Gefühle für Euch.«
Schweigen. Schließlich krächzte er: »Ich werde
meinen Bruder erwürgen.«
Er würde sie erst küssen. Dann würde Robert seinen Bruder erdrosseln, der sich
ständig einmischte.
Aber zuerst kam der Kuss. Jener Kuss, den er ihr
schon an jenem Abend im Garten hätte stehlen sollen. Der Kuss, für
den er in diesem Moment dem Teufel seine Seele verkaufen
würde.
Sie wusste es auch. Frauen hatten unfehlbare
Instinkte, wenn es um besitzergreifende Männer ging. Robert
erkannte es daran, wie sich ihre Augen weiteten und ihre Atmung
sich beschleunigte, als er näher trat. Seine Hand berührte ihre
Taille. Sie legte den Kopf in den Nacken, und ihre Wimpern senkten
sich bis zu diesem bedeutungsvollen Maß, das gleichermaßen
Willigkeit und Verlangen signalisierte. Es war ein Zeichen, das er
leicht erkannte, auch wenn sie sich nicht bewusst war, dass sie es
ausstrahlte.
Oder wusste sie es vielleicht? Er würde
allerdings sein letztes Geld verwetten, dass sie noch nicht
besonders oft geküsst worden war. Wenn überhaupt.
Verlangen. Es rauschte in seinem Blut,
blockierte seinen Verstand,
denn ganz sicher provozierte ihn etwas, sodass es zu dieser
überstürzten Reaktion kam und er Miss Rebecca Marston küssen
wollte.
Robert senkte seinen Kopf so, wie er es bereits
vor einigen Wochen im Garten getan hatte. Dieses Mal strich er
nicht bloß kaum über ihre Lippen, sondern legte seinen Mund mit
leichtem Druck auf ihren. Vorsichtig, behutsam, verlockend.
Es war so völlig anders als jeder Kuss, den er
je gegeben oder bekommen hatte. Für sie war es ein jungfräulicher
Kuss – obwohl er am weitesten davon entfernt war, unschuldig zu
sein. Wie er es sich vorgestellt hatte, fühlte sie sich himmlisch
an. Sie schmeckte nach Unverdorbenheit, und sie lag herrlich in
seinen Armen.
Rebeccas Hände ruhten auf seinen Schultern. Ihre
Berührung war so leicht und zart, wie sie wohl sein mochte, wenn
sie sich über das Pianoforte beugte, und er unterdrückte ein leises
Stöhnen, weil er sich denselben, verträumten Gesichtsausdruck
vorstellte. Er konnte spüren, wie das Blut in seinen Unterleib
schoss, die aufwallende Erregung, das unvermeidliche Anschwellen
seines Penis, der sich gegen den Stoff seiner Hose presste.
Er sollte das hier nicht tun. Sollte ihren Mund
nicht bedrängen, sich für seine Zunge zu öffnen, damit er sie
erkunden konnte. Er sollte nicht an ihren weichen Lippen knabbern
und sich nicht vorstellen, wie sie sich warm und nackt im Bett
unter ihm bewegte.
Es ging weiter. Der zarte Austausch ihres Atems,
der Tanz von Zunge gegen Zunge, die Bewegung, als ihre Körper
einander immer näher kamen … Sein Arm lag nun vollständig um ihren
Körper, und bestimmt konnte sie seine erregte Reaktion spüren, doch
statt sich mädchenhaft entsetzt zu geben, klammerte
sie sich mit ungebrochener Leidenschaft an ihn, die Arme um seinen
Hals gelegt.
Das Klopfen an die Fensterscheibe riss ihn aus
seinem Wahnsinn. Damien rief: »Ich glaube, der Spaziergang, den
Miss Marston und ich gemacht haben, sollte allmählich vorbei sein,
oder? Wenn wir zu lange fortbleiben, wird ihre Mutter mich
zurückerwarten und verlangen, dass ich ein ernstes Gespräch mit Sir
Benedict führe.«
Robert riss seinen Mund von ihrem los. Er
blickte in die Augen der Frau, die sich noch immer an ihn drückte.
Er fragte sich, ob er ausgesprochen dumm oder ob er einfach in die
Fänge der Lust geraten war.
Obwohl sein Körper protestierend aufschrie,
schaffte er es irgendwie, sie gehen zu lassen. Er verbeugte sich.
»Euer Bauernbursche wartet.«
Sie stand vor ihm. Ihr Mund war feucht von
seinen Aufmerksamkeiten, und ihre Brust hob und senkte sich rasch.
»Wir reisen morgen ab.«
»Ich weiß.« Verdammt noch mal, er war hart und
begehrte sie, und sein körperliches Unbehagen hallte in seiner
inneren Zerrissenheit wider. Er wollte, dass diese Party sofort zu
Ende war und dass seine Verwirrung nachließ.Wenn er sich bloß von
ihrer ablenkenden Gegenwart losreißen könnte, ginge es ihm
besser.
Dessen war er absolut sicher.
Also, beinahe.
Verdammt.
»Was passiert als Nächstes?«, flüsterte sie. Das
unschuldige Verlangen, das er auf ihrem Gesicht las, war wie ein
Messer, das durch seine Seele schnitt. »Vielleicht können wir uns
später heute Nacht erneut treffen. Sobald alle schlafen.«
Es war ein wahnwitziger Vorschlag in einer
Situation, die jetzt schon äußerst unvernünftig war. »Nein«,
brachte er zu scharf hervor, weil ihr Vorschlag Bilder entfachte,
wie sie sich mit gelöstem Haar in sein Schlafzimmer stahl. »Das ist
vollkommen ausgeschlossen.«
»Warum?«
»Zum Ersten: Falls Euer Vater uns dabei erwischt
– und ich würde vermuten, wenn Damien schon unsere …«
»Unsere?«, wiederholte sie, als er nach den
richtigen Worten suchte. Sie wirkte unschuldig und verführerisch
zugleich. In den Tiefen ihrer schönen Augen breitete sich ein
unmissverständliches, weibliches Triumphgefühl aus.
Er half ihr nicht, indem er die Definition
dessen aussprach, von dem er nicht glaubte, dass man es irgendwie
in richtige Worte kleiden konnte. Stattdessen fuhr er sie an: »Wenn
Damien etwas bemerkt hat, wird es wahrscheinlich auch Eurem Vater
aufgefallen sein. Ich habe nicht den Wunsch, mich im Morgengrauen
mit ihm auf dem Feld zu treffen. Es würde einen Schatten auf Euren
Ruf werfen und Euch nur unnötige Probleme bereiten. Ich möchte
Euren Vater auf keinen Fall verletzen, und die Alternative ist für
mich auch alles andere als ansprechend.« Abrupt fügte er hinzu:
»Ich werde wahrscheinlich morgen in aller Früh nach London
aufbrechen.«
Gott, ja. Er musste von ihr fort.
Schweigend sah sie ihn an. Dann erwiderte sie
tonlos: »Ich vermute, Damien hat recht. Ich sollte gehen. Meine
Mutter wird sich schon Gedanken über mein Hochzeitskleid machen,
wenn wir noch länger warten.«
Hochzeitskleid.
Sie hätte kein besseres Wort wählen können, um
ihn wieder in
die unbequeme Wirklichkeit zurückzuversetzen. Robert neigte den
Kopf. »Wer könnte es ihr verdenken? Schließlich ist mein Bruder ein
hervorragender Fang«, sagte er ironisch. »In den Augen Eures Vaters
jedenfalls, das kann ich Euch versichern, gehöre ich nicht zu
dieser Kategorie Mann.«
»Mein Vater hat mir gesagt, ich solle mich von
Euch fernhalten«, gestand sie. »Ich verstehe nur nicht …«
Er machte eine Bewegung mit der Hand, die mehr
sagte, als er hätte aussprechen können. »Es war eine Sache, die vor
einigen Jahren passiert ist. Ich werde nicht ins Detail gehen, aber
es sollte Euch genügen, wenn ich sage, dass er einen falschen
Eindruck von mir bekommen hat. Seitdem verachtet er mich. Selbst
wenn ich mir ausdrücklich wünschte, um Euch zu werben, könnte ich
es nicht.«
»Robert«, flüsterte sie mit zitternden
Lippen.
Ihr zögerliches Aussprechen seines Vornamens war
das Letzte, was er brauchte. So ruhig wie möglich sagte er:
»Rebecca. Geh.«
Zu seiner Erleichterung wandte sie sich ab und
ging.