Kapitel 1
Männer wollen uns verstehen, aber nur auf eine überaus abstrakte Weise. Sie glauben, unsere wechselnden Stimmungen machen uns zu Lebewesen, die zu verstehen schlicht viel zu schwierig ist. Bis zu einem gewissen Punkt stimme ich ihnen darin zu. Männer bestreiten ihr Leben auf überaus geradlinige Weise. Das könnt Ihr zu Euren Gunsten nutzen, wenn Ihr Euch zur rechten Zeit daran erinnert.
Frauen aber verstehen einander sehr gut.
Aus dem Kapitel »Ihre Realität im Vergleich mit unseren Illusionen«
 
Die Nachmittagssonne fiel durch die hohen Fenster und schien auf den reich gemusterten Teppich. Die Fenstertüren zum Garten standen offen, und der Geruch blühender Rosen erfüllte die Luft. Brianna gegenüber saß Rebecca Marston, die in diesem Moment eine Augenbraue hob und argwöhnisch bemerkte: »Du siehst eigenartig aus, Bri. Hörst du unserer Unterhaltung überhaupt zu?«
»Ich stimme dir zu«, warf Arabella Smythe, die Countess of Bonham, ein. Hübsch und zierlich saß sie auf der Kante eines herrlich bestickten Stuhls. Ihr ebenholzschwarzes Haar schmiegte sich sittsam in ihren Nacken, und ihre hübschen, dunklen Augen blickten ebenso fragend drein. »Du wirkst irgendwie abgelenkt.«
»Ist das so?« Es war ihr unmöglich, die Unschuldige zu spielen. Brianna lachte. Sie saßen in Arabellas privatem Salon, tranken Tee und plauderten. Ihre Freundinnen hatten recht; sie hatte das Hin und Her ihrer Unterhaltung über die neueste Mode bereits vor einigen Minuten aus den Augen verloren. Der gestrige Abend war für sie schlicht und ergreifend ein … Triumph gewesen. Sie könnte es auch als Offenbarung bezeichnen. Wie um alles in der Welt sollte sie beim Gedanken daran nicht lächeln?
Also, das war wirklich unmöglich.
»Ja. Du siehst aus wie die Katze, die in den Sahnetopf gefallen ist.« Rebecca richtete sich auf dem Brokatsofa auf. Sie war eine große, gertenschlanke Dunkelhaarige mit weiblichen Gesichtszügen und einer beneidenswert guten Figur. Es war für die Gentlemen der besseren Gesellschaft durchaus angesagt, von sich zu behaupten, in sie verliebt zu sein, aber sie hatte bisher noch nicht den passenden Mann gefunden, obwohl ihr Vater darauf bestand, dass sie sich bald vermählte. Da sie gerade ihre zweite Saison bestritt, stellte sie für die jungen Männer des haut ton eine Herausforderung dar. »Was ist passiert?«, verlangte sie zu wissen.
Die drei jungen Frauen waren seit der Kindheit miteinander befreundet, und obwohl Brianna versuchte, ausdruckslos die Blicke ihrer Freundinnen zu erwidern, gelang es ihr nicht. »Was lässt euch glauben, es sei etwas passiert?«
Die beiden wechselten einen Blick. Ironisch bemerkte Arabella: »Nenn es eine wohlbegründete Vermutung. Wir kennen dich. Ich habe diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen. Er erinnert mich an die Zeiten, als wir nachts die Ruine der alten Abtei erkundeten und gehofft haben, um Mitternacht den einen oder anderen Geist zu sehen. Als wir heimkamen und selbst diejenigen waren, die ertappt wurden, hast du meiner Gouvernante eine sehr unglaubwürdige Geschichte erzählt, die sie aus unerfindlichen Gründen geglaubt hat. Wir kannten aber die Wahrheit«, fügte sie hinzu, »schließlich hatten wir die Regeln gebrochen.«
Amüsiert erinnerte sich Brianna an diese Episode. Sie nahm ihre Teetasse und bemerkte: »Ja, ich habe uns eine Bestrafung erspart, nicht wahr?«
»Du warst sehr wortgewandt«, bemerkte Rebecca. »Aber probier das nicht bei uns. Also los, warum starrst du mit diesem selbstzufriedenen Lächeln aus dem Fenster?«
Brianna war sich nicht sicher, ob sie ihnen die Wahrheit sagen sollte. Es war ein unglaublich schockierendes Geheimnis. Andererseits vertraute sie ihren beiden Freundinnen mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt.
»Bri?«, fragte Rebecca.
»Ich bin zurückgegangen und habe es gekauft«, gestand sie.
Beide Freundinnen blickten sie verblüfft an.
»Ich bin zurück in diesen winzigen Buchladen gegangen und habe Lady Rothburgs Ratschläge gekauft«, ergänzte sie.
Arabellas Mund öffnete sich schockiert.Von Rebecca war ein erstickter Laut zu hören.
Brianna hob flehend ihre Hand. »Bevor ihr darüber urteilt, möchte ich euch sagen, dass es funktioniert. Die Ratschläge in ihrem Buch sind von unschätzbarem Wert. Ich habe das erste Kapitel gelesen, und es war sehr erhellend. Ihr hättet Colton sehen sollen. Ich glaube, er hat gestern Abend nach der Hälfte der Vorstellung den Versuch aufgegeben, auf die Bühne zu schauen, und mich einfach nur noch angestarrt. Also, auf einen bestimmten Teil von mir, um genau zu sein.«
»Welchen Teil? Um Himmels willen, Bri, was um alles in der Welt tust du?« Arabella widmete ihrer Tasse so wenig Aufmerksamkeit, dass sie sich gefährlich neigte und drohte, den Inhalt zu verschütten. »Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie empört mein Mann wäre, wenn ich dieses Buch besitzen würde? Und entschuldige, wenn ich das so sage, aber ich glaube, Andrew kann mehr verzeihen als Northfield.«
Der unbekümmerte Mann ihrer Freundin war vermutlich toleranter, doch Brianna musste unwillkürlich wieder an Coltons ungebremste Leidenschaft denken, die er in der Kutsche gezeigt hatte. Ihr drängte sich der Verdacht auf, dass er nicht anders konnte, als sie hemmungslos zu lieben. Und das war genau der Effekt, den sie sich erhofft hatte.
»Er war zunächst überrascht, aber dann schien er sich damit zu … arrangieren.«
»Womit hat er sich arrangiert?«, wollte Rebecca wissen. Ihre blaugrünen Augen funkelten. »Hör auf, so verflixt geheimnisvoll zu tun, und sag uns einfach, was passiert ist.«
Brianna ordnete züchtig ihre Röcke. »Also gut. Im ersten Kapitel schrieb sie, wenn man sich angemessen kleiden will, um zum Gottesdienst oder zu einem geselligen Treffen bei der Großtante zu gehen, ist ein schlichtes Auftreten schön und gut. Doch wenn man die Blicke des eigenen Mannes auf sich ziehen will, sollte man ein bisschen kühner sein.«
»Wie kühn?«, fragte Arabella.
»Ziemlich.« Brianna spürte, wie sie errötete. »Mein Dekolleté war gewagt, das muss ich zugeben. Aber auch wenn Colton sich ob meines skandalösen Auftretens empörte, kann ich behaupten, dass er auch fasziniert war. Dieser Verdacht erhärtete sich angesichts der späteren Ereignisse. Zunächst war er außer sich vor Wut, aber es war zu spät, um mich heimzubringen; wir wären das Gespräch des Abends gewesen. Ihr wisst, wie sehr er so etwas hasst. Ich muss jedoch sagen … Er hat sich für diese Art von Kleidungsstück später etwas erwärmt, denn es bot recht leichten Zugang.«
»Du beliebst zu scherzen. Der Duke ist doch immer so anständig und hat sich unter Kontrolle. Wenn die Leute über Rolthven sprechen – und das machen sie schließlich oft genug, weil wir alle wissen, dass dein Gemahl ein wichtiger Mann ist -, dann reden sie immer mit dem größten Respekt von ihm.«
»Nun, gestern Nacht hat er einmal die Kontrolle verloren.« Brianna senkte ihre Stimme und fügte hinzu: »Auf dem Weg nach Hause wurde ich in der Kutsche von ihm genommen, und ich habe jeden einzelnen Augenblick genossen. Obwohl ich zugeben muss, dass es ein wenig peinlich war, danach so derangiert auszusteigen.« Bei der Erinnerung daran, dass ihr Mann kaum genug Zeit gehabt hatte, die Hose wieder zu schließen und ihr zu helfen, ihr Kleid zu ordnen, ehe einer der Lakaien den Schlag öffnete, röteten sich ihre Wangen. Ihr Haar hatte sich gelöst, und sein Mantel lag noch auf dem Boden. Es konnte also kein Zweifel daran bestehen, was sie getan hatten.
Arabellas Tasse klapperte, als sie sie abrupt auf die Untertasse stellte. Ihre Augen waren geweitet. »In der Kutsche? Mit dem Duke? Ach du lieber Gott!«
»Es war wunderbar«, gab Brianna ehrlich zu. »Er wirkt immer so schwerfällig und würdevoll, aber das ist nicht seine wahre Persönlichkeit. Ich glaube, Colton hat gedacht, es würde mich erschrecken, wenn er mir seine leidenschaftliche Natur offenbart. Außerdem bin ich mir dessen bewusst, dass er in dem Wissen aufgezogen wurde, eines Tages Duke zu werden, und daher entwickelte er den für seine hohe Stellung gebührenden Anstand. Als er um mich warb, hat er kaum mehr versucht, als mir ein paar keusche Küsse zu stehlen, obwohl ich weiß, dass er viel, viel mehr wollte.« Sie senkte leicht ihre Wimpern und fuhr fort: »Es gibt einige Dinge, die ein Mann in diesen Zeiten, da es Mode ist, eng anliegende Hosen zu tragen, nicht verbergen kann.«
Arabella seufzte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und zupfte am Ärmel ihres hellblauen Tageskleids. »Andrew würde so etwas nie tun. Er würde mich nie in unserer Kutsche lieben.«
»Glaub mir, das hätte Colton auch nicht getan, wenn ich ihn nicht dazu getrieben hätte.« Brianna beugte sich vor. »Aber es ist gut zu wissen, dass ich ihn so weit bringen kann. Meiner Meinung nach steht in Lady Rothburgs Buch viel Wahres. Was Frauen fühlen, ist die Romantik. Männer definieren dieselbe Situation vollkommen anders. Colton ist sehr pflichtbewusst, er schenkt mir Schmuck und Blumen und dergleichen, aber ich bin sicher, er wäre verblüfft, wenn er wüsste, dass ich ein warmes Lächeln oder einen zärtlichen Kuss mehr zu schätzen weiß als irgendwelchen diamantfunkelnden Tand. Er denkt einfach nicht so.«
»Als diejenige unter uns, die noch nicht verheiratet ist, finde ich das faszinierend. Du erziehst ihn, habe ich das richtig verstanden?« Rebecca hob eine Braue. »Ich habe noch keinen Mann, aber ich beginne zu verstehen, wie es funktioniert. Wir sind alle Gegner, die im selben Militärlager leben und zugleich gezwungen sind, als Verbündete zu handeln.«
»Das kommt der Sache nahe«, bestätigte Brianna mit einem hellen Lachen. »Lass es mich so ausdrücken – es geht um die Gemeinsamkeiten. Ich arbeite daran, dass Colton und ich diese entdecken. Wenn für die Männer – wie es im Buch steht – Romantik bedeutet, dass sie den geschlechtlichen Akt vollziehen, dann werde ich dafür sorgen, dass er mich sehr romantisch findet. Ich weigere mich, meinen Mann anderswo nach sexuellen Vergnügungen Ausschau halten zu lassen, weil er mich im Bett lustlos findet.«
»Du bist hoffnungslos idealistisch. Männer wie Rolthven fallen nicht auf die Knie und erklären einer Frau ihre große Liebe.« Arabella schüttelte den Kopf. »Das müssen sie nämlich nicht, Bri.«
Die privilegierte Herkunft ihres Mannes war in diesem Zusammenhang ein Problem, hatte sie festgestellt. Darum hatte sie heimlich das Buch gekauft.
»Meine Schwester und ihr Mann sind so glücklich verheiratet«, sagte Brianna und hoffte, sie klang nicht sentimental. »Ihr solltet sie zusammen sehen. Manchmal lächeln sie sich nur an, aber auch in diesen Blicken ist ihre Zuneigung offensichtlich. Henry vergöttert sie, und Lea hat ihn trotz der Tatsache geheiratet, dass er nicht mehr als ein Rechtsanwalt ist. Meine Eltern haben die Verbindung missbilligt und ihr sogar gedroht, sie zu verstoßen. Aber meine Schwester hatte sich verliebt. Und ehrlich gesagt, ist ihr bescheidenes Zuhause einer der liebsten Orte, die ich aufsuche. Ich wünschte mir, mein Haus würde dieselbe Wärme ausstrahlen.«
Es war eine ziemliche Dehnung des Begriffs »Haus«, wenn sie Coltons Londoner Anwesen so bezeichnete. Es war eher eine palastartige Residenz denn ein Haus … Rolthven, der Landsitz der Familie, war sogar noch größer.
Vielleicht war sie tatsächlich eine Idealistin.
»Was schreibt Lady Rothburg sonst noch?« Rebecca schien nicht bloß ein bisschen interessiert.
»Nichts, das eine von uns überhaupt lesen, geschweige denn aussprechen sollte. Dieses Buch«, erklärte Arabella, »ist etwas, von dem ich bezweifle, dass dein stattlicher – und hoch angesehener – Mann wollen würde, dass es in deinen Besitz gelangt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass du es in diesem schäbigen, kleinen Laden gefunden hast. Geschweige denn, dass du es gekauft hast.«
Es stimmte, Lady Rothburgs Werk war verboten worden, als es vor über einem Jahrzehnt erstmals veröffentlicht worden war. Das abgegriffene Buch hatte Brianna fasziniert, und nachdem sie einen Blick hineingeworfen hatte, wusste sie, dass der heimliche Kauf eine gute Entscheidung gewesen war.
Heiter erwiderte Brianna: »Es ist überaus erleuchtend und trägt einzig zum Wohl unserer Ehe bei. Warum sollte es ihm etwas ausmachen, wenn ich es lese?«
»Weil es anstößig ist und es darin nur um Verführung und zügelloses Verhalten geht. Außerdem wurde es von einer berüchtigten Kurtisane geschrieben«, sagte ihre Freundin steif.
Ein berechtigter Einwand. Colton wäre tatsächlich außer sich, wenn er wüsste, dass sie dieses Buch besaß. Zweifellos würde er ihr sofort befehlen, es zu vernichten.
Unbeeindruckt nahm Brianna sich noch ein Stück vom Zitronenkuchen, der auf einem kleinen Teller auf dem Teewagen stand. »Vielleicht ist es so, aber mir scheint, ihm hat der Ratschlag im ersten Kapitel gefallen.« Sie nahm einen kleinen Bissen, kaute anmutig und schluckte, ehe sie hinzufügte: »Und ihr solltet sehen, was sie in Kapitel zwei vorschlägt.« Das White’s war überfüllt, aber wenn er es recht bedachte, war das immer so. Colton reichte dem Kellner seinen Paletot und bahnte sich einen Weg zu seinem bevorzugten Tisch, an dem sein jüngster Bruder Robert bereits saß. Mit einem Glas Brandy in der Hand hatte er sich bequem in seinem Sessel ausgestreckt. Seine Zeitung lag gefaltet neben der Brandykaraffe. Er grinste, als Colton auftauchte, und tippte mit einem Finger auf die Zeitung. Ohne Umschweife bemerkte Robert: »Deine schöne Duchess hat die eine oder andere Spalte auf der Gesellschaftsseite gefüllt, wie ich gelesen habe.«
Colton verzog das Gesicht. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und griff nach einem Glas und der Brandykaraffe. »Ich habe davon gehört.«
»Noch dazu an prominenter Stelle«, fügte Robert hinzu.
Colton verabscheute die Klatschspalten, aber er wusste, dass Briannas gewagtes Dekolleté nicht unbemerkt geblieben sein konnte. »Ich wage kaum zu fragen, aber was schreiben sie denn?«
Roberts Haar war eine Schattierung heller als das seines drei Jahre älteren Bruders. Eher von einem satten, dunklen Gold statt Braun, harmonierte es doch gut mit den himmelblauen Augen, die den Männern der Familie Northfield gemein waren. Jetzt las Colton in diesen Augen offene, lebhafte Erheiterung. »So schlimm ist es nicht, Colt. Sie erwähnen bloß … ähm … ihre weiblichen Reize wurden augenfällig präsentiert. Das ist alles. Ach ja, und es wird darüber spekuliert, ob sie damit wohl eine neue Mode unter den jüngeren Frauen des ton begründet.«
»Sie wird nichts dergleichen tun«, murmelte Colton und schenkte sich großzügig Brandy ein. »Der einzige Grund, warum sie dieses Kleid in der Öffentlichkeit trug, war meine Unaufmerksamkeit. Ich habe es erst bemerkt, als wir bereits in der Oper waren und der Schaden angerichtet war.«
»Wie konntest du das nicht vorher bemerken?« Robert lehnte sich zurück und grinste schief. »Es tut mir leid, wenn ich frage, aber um ehrlich zu sein, klingt ihre Kleidung so, als könne man sie nicht übersehen.«
Das war eine gute Frage. Colton hatte sie sich rückblickend auch bereits gestellt, während er sich zudem fragte, ob er deswegen auf dem Heimweg in der Kutsche so voreilig gehandelt hatte. Er war beinahe im wahrsten Sinne des Wortes mit heruntergelassenen Hosen von seinem Lakaien überrascht worden und sich ziemlich sicher, dass seine komplette Dienerschaft wusste, was zwischen ihm und seiner verwirrend schönen, jungen Frau passiert war. Er konnte ja noch dankbar sein, dass dieser Teil des Debakels nicht in ganz London verbreitet wurde.
»Sie war spät dran und hatte bereits ihren Mantel übergeworfen, als sie am Fuß der Treppe zu mir stieß. Dann fuhren wir sofort los«, erzählte er seinem Bruder. »Anderenfalls wäre es mir aufgefallen, das kannst du mir glauben.«
Kurzum: Er war ziemlich sicher, dass sie es mit Absicht getan hatte, damit er sie nicht zum Umziehen zurückschickte. Ihr Verhalten war rätselhaft, weil er hätte schwören können, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die versuchten, ihn irgendwie auszutricksen. Den Gegenbeweis hatte sie überaus geschickt erbracht.
»Brianna ist noch jung«, bemerkte Robert. Seine schlanken Finger umspielten den Stiel seines Brandyglases. »Ich bin sicher, sie wusste nicht …«
»Doch, sie wusste ganz genau, was sie tat«, unterbrach Colton ihn knapp. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie errötend zu ihm aufblickte, als er zum ersten Mal ihr Kleid richtig wahrnahm. »Aber sei versichert, dass derlei nicht noch einmal passieren wird. Schließlich zahle ich ihre Schneiderrechnungen.«
Sein Bruder hob erstaunt eine Braue. »Ich bin wohl kaum ein Experte in Fragen der Ehe, aber ich kenne die Frauen. Sich als despotischer Ehemann aufzuspielen, scheint mir keine weise Entscheidung.«
An einem Tisch am anderen Ende des Raums brachen einige Männer in Gelächter aus, aber zum Glück saßen sie weit genug entfernt, dass Colton sicher sein konnte, dass ihr Heiterkeitsausbruch keine Reaktion auf Roberts Bemerkung war. Mit leiser Stimme verteidigte er sich: »Was soll ich denn tun? Zulassen, dass sie sich regelmäßig so gekleidet in der Öffentlichkeit zeigt? Wohl kaum. Sie ist die Duchess of Rolthven. Ich bin mir noch nicht sicher, was sie dazu trieb, aber sie besteht darauf, dieses verfluchte Ding getragen zu haben, weil sie dachte, es könne mir gefallen.«
»Hat es dir denn gefallen?«
Colton warf seinem Bruder einen sarkastischen Blick zu. »Wenn sie es nur für mich tragen würde, vielleicht.«
»Vielleicht?«
»Also gut, ich fand es kleidsam, aber nur vom männlichen Standpunkt aus betrachtet. Als meine Frau sollte sie so etwas nicht tragen.«
»Aha.«
»Was zum Teufel meinst du damit?«
Sein Bruder versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, was gründlich misslang. »Sie hat den sittsamen und anständigen Duke in dir ordentlich wachgerüttelt, denke ich. Das ist gut für sie.«
Als sittsam bezeichnet zu werden, ging ihm auf die Nerven. In ihm stiegen dann Bilder von weißhaarigen, alten Damen auf, die missbilligend den Kopf schüttelten. Oder mürrische, presbyterianische Geistliche. Er war weder das eine noch das andere. Ja, Colton glaubte zumindest an ein gewisses Maß an Anstand, aber schließlich war er auch ein Angehöriger des Hochadels, und seine gesellschaftliche Stellung verlangte von ihm ein gewisses Betragen. »Nicht jeder bevorzugt es, ein berüchtigter Lebemann zu sein, Robbie«, bemerkte er und gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verhehlen. »Noch kann jeder vom Bett der einen hübschen Dame in das der nächsten hüpfen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich nehme meine Verantwortung ernst, und das gilt auch für meine Ehe.«
Robert, der den Ruf eines Lebemanns erster Güte hatte und berüchtigt für seine selten auf Dauerhaftigkeit ausgelegten Affären war, wirkte kaum einsichtig, sondern grinste nur spitzbübisch. »Ich bin sicher, dass du die Ehe ernst nimmst. Alles, was du anpackst, ob das nun die Belange unseres Familienanwesens oder dein Sitz im House of Lords ist, behandelst du mit derselben Effizienz und viel Sachverstand. Aber sieh der Wahrheit ins Gesicht, Colt: Du bist noch nie einem menschlichen Wesen entgegengetreten. Nicht bloß irgendeiner Person, sondern sogar einer Frau. Sie wird sich nicht nach deinen Wünschen verhalten, nur weil du es so willst. Sie wird vielleicht auch dann nicht so handeln, wie du willst, wenn du es ihr befiehlst. Brianna ist nicht nur schön, sie ist auch intelligent und – da bin ich mir sicher – durchaus in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.«
Getroffen erwiderte Colton: »Das weiß ich. Wer wüsste es besser? Ich hatte kein Interesse daran, ein hohlköpfiges Püppchen zu heiraten. Ich bewundere ihren Geist und ihren Verstand.«
»Dann möchte ich dir empfehlen, mit dieser Angelegenheit etwas subtiler umzugehen, als ihrer Schneiderin zu sagen, dass du ihre Kleider in Zukunft genehmigen willst. Das könnte Brianna verletzen, und da du es verabscheust, wenn man über dich klatscht, wärst du schlecht beraten, so zu verfahren. Es ist der Beweis, dass du ihr Kleid missbilligst, und wird nur dazu führen, dass alle wieder darüber reden. Du kannst nicht darauf zählen, dass die Modistin deine Instruktionen für sich behalten wird.«
Es war ärgerlich, aber er musste zugeben, dass sein jüngerer Bruder ihm einen guten Rat gab. Noch dazu in Ehefragen, dabei hatte Robert sich für dieses Thema bisher kaum interessiert. Andererseits kannte er die Frauen – oder sollte sie zumindest kennen, da er dem Zauber vieler Damen erlegen war.
Colton trank seinen Brandy aus und schenkte sich nach. Er rieb sein Kinn und warf seinem Bruder einen kritischen Blick zu. »Nun, dann lass uns mal davon ausgehen, dass ich dir im Prinzip zustimme. Ich bevorzuge es natürlich, diplomatisch vorzugehen und nicht autoritär, aber ich wünsche auch nicht, dass ihr Name regelmäßig von den Klatschbasen geführt wird.«
Roberts hübsches Gesicht verzog sich, als er nachdenklich die Stirn runzelte. »Ich würde sagen, wenn du sie von deinen Ansichten überzeugst, ist das allemal besser, als ihr etwas vorzuschreiben. Wenn sie sich wieder entschließt, ein so gewagtes Kleid zu tragen, solltest du in letzter Minute deine Meinung ändern und nicht mit ihr ausgehen. Du hast vorhin gesagt, du würdest den Anblick lieber allein genießen. Zeig ihr, wie sehr es dir gefällt. So bleibt ihr jedes Mal daheim, wenn ihre Kleidung zu extravagant ist, um sich in London zu zeigen. Sie wird die Botschaft sofort verstehen. Wenn sie mit dir ausgehen will, wird sie sich dezenter kleiden. Wenn du das große Glück hast, dass sie zu Hause bleiben möchte, vermute ich, wird das sogar noch vergnüglicher für euch. Soweit ich es sehe, kannst du so nichts verlieren.«
Zu Coltons Überraschung war Roberts Rat sehr sinnvoll. Zumindest würde er so nicht mehr in Versuchung geraten, seine Frau überhastet in einer fahrenden Kutsche zu lieben, sondern könnte sie anständig nach oben führen und die Schlafzimmertür hinter ihnen schließen. Es war ja nicht so, dass dieses kleine Intermezzo nicht unglaublich lustvoll gewesen war, aber es hatte ihm wirklich nicht gefallen, dabei fast auf frischer Tat ertappt zu werden. Er zog es vor, sich Zeit zu nehmen. Besonders bei einer Frau, die so verführerisch war wie Brianna.
Er starrte seinen Bruder über den Rand seines Brandyglases an. Der Geruch des exquisiten Getränks reizte seine Geschmacksknospen. »Das klingt wirklich nach einer möglichen Lösung.«
Robert spreizte seine Hände in einer bescheidenen Geste. Ein unverschämtes Grinsen überzog sein Gesicht. »Es macht mir viel mehr Spaß, über dieses Thema zu reden, statt endlose, trockene Diskussionen über Politik zu führen, die normalerweise deine Aufmerksamkeit fesseln. Oder schlimmer: Geschichten über das letzte Treffen mit deinen Anwälten, bei dem es um irgendwelche finanziellen Angelegenheiten ging. Was kann schon faszinierender sein als ein Gespräch über Frauen?«
So konnte nur ein wahrer Lebemann reden. Colton war nun mal der Luxus verwehrt, den ganzen Tag herumzusitzen und sich, wie sein jüngerer Bruder, in Tagträumen zu ergehen, wie er seine neueste Eroberung befriedigen konnte. Aber Robert hatte ihm gerade so erhellende Einblicke in seine Gedankenwelt gewährt, dass Colton ihn vielleicht auch in Zukunft um Rat fragen würde.
»Ich vermute, darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber ich verfüge nicht über deine Freiheiten«, murmelte er und leerte sein Glas.
»Das stimmt wohl«, stimmte Robert fröhlich zu und griff nach der Karaffe. »Es klingt in meinen Ohren schrecklich langweilig, der Duke zu sein. Ich ziehe es vor, an dritter Stelle der Erbfolge zu stehen. Wenn du einen Erben bekommst, werde ich nicht mal mehr dort sein.«
Hin und wieder war es wirklich langweilig, die Bürde von Titel und Verantwortung zu tragen, auch wenn damit ein großer Einfluss verbunden war. Aber die Verantwortung gehörte natürlich immer mit zum Leben. Sein leichtherziger jüngerer Bruder hatte diese Wahrheit allerdings noch nicht begriffen.
»Eines Tages«, sinnierte Colton, und sein Mund verzog sich bei der Vorstellung zu einem Lächeln, »wird der Moment kommen, in dem eine junge Dame dich dazu bringt, vor ihr auf die Knie zu sinken. Und ich werde diesen Augenblick sehr genießen.«
»Vielleicht.« Robert wirkte unbekümmert und mehr als nur ein bisschen selbstgefällig. »Aber bis das geschieht – und ich bin noch nicht überzeugt, ob es überhaupt passieren wird -, werde ich in der Nähe sein, wenn du mal wieder darüber reden willst, wie du deine hübsche Frau anfassen sollst.«