Notruf
Als ich kürzlich spätabends nach Hause kam, sah ich unseren Nachbarn Felix Selig vor dem Haustor mit einem maskierten Fremdling auf Tod und Leben kämpfen. Hier will ich der Ordnung halber vermerken, daß die rechte Hand des Maskierten ein Fleischmesser umklammerte, von dem sich mein Nachbar Felix nicht ganz zu Unrecht bedroht fühlte.
Wie von einem Nachbarn meiner Güteklasse nicht anders zu erwarten, wußte ich natürlich, was ich zu tun hatte: unverzüglich die nächste Polizeistelle zu benachrichtigen.
Ich stieg über die beiden hinweg, stürzte ins Haus, sprintete die Treppen hinauf, eilte grußlos an meiner Familie vorbei, ergriff das Telefon und wählte Eins-Null-Null. Am anderen Ende war sofort eine beruhigende, sonore Stimme zu vernehmen:
»Polizei.«
Ich brüllte in den Hörer, daß mein Nachbar Felix von einem Gangster bedroht werde, der mit einem
riesigen Messer . . .
»Einen Augenblick«, unterbrach mich Eins-Null-Null, »wer spricht dort?«
Ich sagte ihm, daß ich es wäre, worauf er nach meinem Namen fragte. Ich gab ihm meinen Namen durch.
Er verstand ihn nicht. »K wie Kamel«, brüllte ich, »I wie Ipsilon, S wie Sicherheit, H wie Höhenluft, O wie Oma und N wie
Napoleon.«
»Wie was?«
»Wie Napoleon. Napoleon!«
»Welcher Napoleon?«
»Den französischen Kaiser meine ich.«
»Also K wie Kaiser.«
»Nein, Napoleon, mit N.«
»Entscheiden Sie sich, bitte.«
»Nena.«
»Ist sie Französin?«
»Nein.«
»Aber Sie haben vorhin einen französischen Kaiser erwähnt.«
»Vergessen Sie's.«
»Meinten Sie vielleicht Napoleon Bonaparte?«
»Ja, genau den.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist tot. Aber mein Nachbar noch nicht. Hoffentlich. Er wird von einem Gangster mit einem Messer bedroht.«
»Moment. Wie ist Ihr Vorname?«
Ich nannte meinen Vornamen.
»Die Polizei muß in diesen Dingen sehr genau sein«, erklärte mein Gesprächspartner. »Nur so ist es möglich, einen Anrufer später zu identifizieren, falls er die Polizei irregeführt hat.«
Ich versicherte ihm, ich hegte die ehrenhaftesten Absichten.
Dann erkundigte sich Eins-Null-Null nach meinem Beruf. Und dann nach meiner Adresse.
»Ramat Gan«, sagte ich, »Reuvenistraße 64, Block 3, Tür 7.«
»Wo ist das?«
»Das ist sehr einfach«, erklärte ich ihm. »Sie fahren mit dem Autobus Nr. 21 bis zum Friedhof, dort steigen Sie aus, biegen nicht die erste, nicht die zweite, aber die dritte Straße nach rechts ab, dann noch einmal nach rechts, dann gehen Sie geradeaus, bis Sie die großen weißen Häuser mit den hellgrünen Rolläden sehen. Das ist die Reuvenistraße.«
»Ja, ich kenne die Gegend. Warum erzählen Sie mir das eigentlich alles?«
»Lassen Sie mich einen Moment überlegen«, ich dachte nach. »Leider fällt es mir im Augenblick nicht ein. Ich habe es irgendwie vergessen. Bitte, entschuldigen Sie die Störung.«
»Nicht der Rede wert.«
In der Nacht, die auf Seligs Trauerfeier folgte, hatte ich einen Alptraum: Ich jagte mit einem Bluthund die Polizei. Vergeblich. Der Bluthund hieß Napoleon. Mit Z wie Polizei.