Telefonvorrang

»Ein hartnäckiges, schwieriges Volk«, notierte Moses in seinen Tagebüchern, und weiß Gott, er wußte, wovon er sprach.

Er sprach von mir.

Ich werde versuchen, mich verständlich zu machen.

Es geht um die zermürbende Situation, die Ihnen, lieber Leser, sicher nicht fremd ist. Oder haben Sie etwa noch nie im Büro eines Beamten vorgesprochen? Na eben. Sie warteten also vorschriftsgemäß in der Menschenschlange vor seiner Tür, bis Sie endlich Stunden später in das Allerheiligste eingelassen wurden, und zwar zu Berkowicz persönlich.

Berkowicz blickte Sie prüfend an und sagte: »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Sie befolgten seine Aufforderung, während er die letzten Bissen seines belegten Brotes verschlang. Dann hob er seinen Blick und fragte:

»Was kann ich für Sie tun?«

Und genau in diesem Moment, in dem Ihr alter Wunschtraum endlich in Erfüllung zu gehen schien, die Erledigung Ihrer Angelegenheiten, um die Sie sich seit Jahren bemühten, endlich in Berkowiczens bewährten Händen ruhen sollte – just in diesem schicksalhaften Augenblick läutete das Telefon auf seinem Schreibtisch.

Wer da anrief?

Ich, lieber Leser. Ich war es, der mit Berkowicz sprechen wollte.

Ich weiß, es war rücksichtslos von mir, ich weiß, es war unfair, und es gibt überhaupt keine Worte, die mein Betragen rechtfertigen. Aber wir alle leben in dieser Welt wie Wölfe unter Wölfen, jeder für sich und keiner für alle.

Mich hat es schließlich ein volles Leben gekostet, den berkowiczschen Lehrsatz des Telefonvorranges zu entdecken, zu begreifen und anzuwenden. Er lautet: »Geh unangemeldet zu einem Beamten, und er wird dir die Türe weisen. Unterbrich ein Gespräch eines Beamten, und er wird dich die Treppe hinunterwerfen. Aber störe ihn mitten im Satz per Telefon – und er wird sich geduldig deines Problems annehmen.«

Warum? Das weiß nur Berkowicz. Es ist einfach so. In all den leidvollen Jahren, die ich mich genötigt sah, mit Berufsbeamten zu verkehren, hat mir noch kein einziger am Telefon gesagt: »Wer hat Ihnen erlaubt, mich mitten in der Arbeit zu stören? Sie werden gefälligst warten müssen, so wie jeder andere auch, bis Sie an der Reihe sind!« Demzufolge denke ich heuer nicht mehr daran, zu warten, bis ich an die Reihe komme. Wenn ich mit Berkowicz zu reden habe und mein Instinkt sagt mir, daß er beschäftigt ist, gehe ich einfach in den Nebenraum, und dort – aus einer Distanz von knapp fünf Metern, nur durch eine dünne Wand getrennt – unterhalte ich mich mit ihm in aller Ruhe. Mit eben jenem Berkowicz, der mich die Treppe hinuntergeworfen hätte, wenn ich dasselbe fünf Meter näher, ohne Telefonhörer in der Hand, versucht hätte ...

Die Moral von der Geschichte: Amerikaner wählen Reagan, Deutsche wählen Kohl, ich wähle Berkowicz, Apparat 537.

Abraham Kann Nichts Dafür. 66 Neue Satiren.
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