Autostop
Der älteste aller menschlichen Kriegszustände ist der Klassenkampf. Sklaven wollen sich von ihren Herren befreien und die Herren sich von ihren Frauen. Monarchen bekämpfen die Kirche, Mieter die Untermieter, das Naphtalin die Motten. Aber keiner dieser Lebenskämpfe wurde mit so viel Vehemenz ausgefochten wie der zwischen dem Autostopper und seinem Erzfeind hinter dem Lenkrad.
Früher einmal gehörte ich selbst zur ersten Gruppe, und ich entsinne mich noch der vielen leeren Konservenbüchsen und Steine, die ich den Autofahrern nachwarf, die mich nicht mitnehmen wollten. Angeblich aus Angst, ich würde die Polstersitze verdrecken, ihre Aufmerksamkeit vom Steuer ablenken oder aus ähnlichen, stichhaltigen Gründen, die nichts anderes sind als lächerliche Ausreden.
Inzwischen sind etliche Jahre vergangen. Ich habe mich ins Feindeslager geschlagen und werde seither von fürchterlichen Gewissensbissen geplagt.
Wann immer ich eine dieser trostlosen Figuren am Straßenrand sehe, die verzweifelt mit dem Daumen winken, erinnere ich mich meiner eigenen Jugend, und mein Herz fließt vor brüderlichem Mitgefühl über.
Manchmal weine ich sogar.
Dies allerdings ändert nichts an der Tatsache, daß mir Autostopper gegen den Strich gehen, weil sie
a) die Polstersitze verdrecken,
b) meine Aufmerksamkeit vom Steuer ablenken und
c) aus ähnlichen, stichhaltigen Gründen.
Das löst natürlich einen tiefen Zwiespalt in meinem Inneren aus. Es kostet mich wirklich enorme Überwindung, an den armen Daumendrehern vorbeizuflitzen. Deshalb habe ich mich mit der Zeit zu einer höchst humanen Lösung durchgerungen: Ich halte an, öffne das Fenster und lasse den Autostopper in knappen, aber freundlichen Worten wissen, daß ich leider nur bis zur nächsten Ecke fahre. Ich wünsche ihm alles denkbare Glück für seine Reise, ich verabschiede mich aufs herzlichste – und erst dann bringe ich es über mich, guten Mutes nach Jerusalem zu fahren.
Es ist eine Art Zwangshandlung, die mir erstaunlicherweise eine tiefe innere Befriedigung verschafft. Warum, verstehe ich eigentlich selber nicht. Denn im Grunde kommt es mir ziemlich schäbig vor, diese hoffnungslosen Sozialfälle derart kaltblütig anzulügen. Ich nenne mich manchmal unter zwei Augen sogar einen widerwärtigen, verräterischen, niederträchtigen Schuft . . .
Aber, damit hat es sich auch schon.
Was mir diesen Konflikt – den Autostopper nicht persönlich zu verletzen, ihn aber unter keinen Umständen mitzunehmen – besonders erschwert, sind die vielen jungen Leute, die hartnäckig die Küstenstraße säumen.
Sie führen einen richtigen psychologischen Krieg, diese Rotznasen. Sie schwärmen um die Mittagszeit von der Schule aus, verteilen sich längs der Straße und heben verzweifelt ihre zarten Daumen. Manche schwenken sogar kleine Tafeln mit dem Bestimmungsort wie »Herzliah!«, »Zahala!«, »Ramat Aviv!« Jeden Tag, wenn ich an ihnen vorbeifahre, mache ich mir die größten Vorwürfe. Aber schließlich kann ich nicht bei jedem dieser Lümmel stehenbleiben und mich entschuldigen, oder?
Daher habe ich vorige Woche auf meiner Windschutzscheibe eine Gegentafel angebracht: »Tut mir leid, biege nach zwei Häuserblocks ab.«
Natürlich biege ich nicht ab. Ich versuche nur, wie oben erwähnt, mir die Autostopper auf menschlichkultivierte Weise vom Leib zu halten.
Vor einiger Zeit fuhr ich wieder an einem Schülerschwarm vorbei. Da sprang mir plötzlich einer entgegen und fuchtelte mit einer Tafel vor meinem Scheibenwischer herum. Darauf stand kurz und bündig:
»Lügner!«
Das war natürlich ein Tief schlag. Aber ich bin ja keiner von der Sorte, die so leicht kapituliert. Auge um Auge. Am folgenden Tag schlug ich zurück. In großen Buchstaben schrieb ich auf meine Tafel:
»Dichter im Dienst!«
Zur Sicherheit fahre ich jedoch seither einen anderen Weg. Ich kann Kinder nicht leiden sehen.