Genekologie
Wie das Leben nun einmal so spielt, habe ich eine gewisse Schwäche für Kalbshaxen in Sülze. Hier ist allerdings der guten Ordnung halber hinzuzufügen, daß bei mir eine Sülze wirklich gesülzt sein muß und unter keinen Umständen diese undefinierbare, stinkende Soße sein darf, die wir jedesmal wegwerfen müssen, wenn unsere geliebte Tochter Renana die Tür des Kühlschrankes wieder einmal offenstehen ließ.
»Ephraim«, sagt die beste Ehefrau von allen, »unsere entzückende Tochter ist ja auch zu einem Drittel deine Tochter, also walte deines Vateramtes und sprich mit dem kleinen Biest.«
Und Ephraim waltet, geht energisch auf seine Tochter zu und sagt zum dritten Mal in ebenso vielen Tagen:
»Wie oft muß ich dir noch sagen, verflixt noch mal, daß du die Kühlschranktür schließen sollst?« Worauf Renana mit allem Respekt antwortet: »Uff.«
Sie ist im Nahen Osten geboren, meine kleine Tochter, eine »Sabre«, wie die ortsübliche Bezeichnung lautet. Eine echte, süße Levantinerin, unkontrolliert und unkontrollierbar, von einem bewundernswerten Gleichmut ihrer Umwelt gegenüber.
Montag abend ließ sie natürlich die Tür wieder offen, und ich machte mich sofort daran, dem kleinen Ungeheuer die Leviten zu lesen. Aber statt des üblichen »Uff« bekam ich diesmal folgendes zu hören:
»Was willst du eigentlich von mir? Schließlich habe ich doch deine Gene geerbt.«
Nun, ich hätte es voraussehen müssen. Kürzlich hatte ich sie nämlich bei der Lektüre eines Aufklärungswerkes mit dem mörderischen Titel »Tante Ella gibt Auskunft« ertappt. Und vorige Woche fragte mich Renana wie aus heiterem Himmel, ob ich wohl wüßte, wieviel Flüssigkeit mein Körper enthalte.
»Ein bis zwei Kaffeetassen«, sagte ich auf gut Glück.
»Falsch«, ihr Triumph war unüberhörbar, »zwei Drittel deines Körpers sind flüssig.«
Ich erwiderte, daß ich nichts dagegen einzuwenden hätte. Schließlich war ich nicht bereit, wegen einiger Tassen lauwarmen Wassers unser Familienglück aufs Spiel zu setzen.
Einige Tage danach verlangte unsere Tochter, daß ihre Nahrung mehr Kalzium enthalten solle, und kurz darauf informierte sie uns, daß sie in Erfahrung gebracht hätte, wie man ein Baby nicht bekommt.
Und dann kam die Sache mit den Genen.
Mit anderen Worten, meine Tochter offenbarte mir, daß sie in keiner Weise für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden könne, weil ich – ihr eigener Vater – ihren schlampigen Charakter mit meinen ebenso verschlampten Genen verformt hätte.
»Ich wurde eigenhändig von dir gezeugt«, war ihre nicht ganz exakt formulierte Feststellung. »Du kannst also niemandem, außer deinen eigenen Genen, Vorwürfe machen.«
»Willst du damit sagen, kleines Fräulein, daß ich über Gene verfüge, die darauf programmiert sind, Kühlschranktüren offenzulassen?«
»Natürlich«, sagte Renana, »aber zu deiner Entlastung könntest du geltend machen, daß du deinerseits diese Gene von deinen Vorfahren geerbt hast.«
So ist das also. Einer meiner zahllosen Ahnen dürfte im Jahre 1500 vor unserer Zeitrechnung, irgendwo auf der Sinai-Halbinsel, eine Kühlschranktüre offengelassen haben, und seither werden in meiner Familie die für verfaulte Sülze verantwortlichen Gene in ungebrochener Kette über Generationen weitergereicht.
Wahrlich, ein interessanter Gedanke.
So gesehen, sind wir eigentlich für gar nichts persönlich verantwortlich. Wenn einer zufällig die Gene der Frau Lot geerbt haben sollte, dann geht er eben durch sein Leben mit einem nach hinten gedrehten Kopf oder verwandelt sich langsam in eine Salzsäule. Das alles steht nicht in den Sternen, sondern in den Chromosomen, die ihrerseits diese Gene enthalten, und diese wiederum stehen in Renanas klugem Buch, das auf Tante Ellas Mist gewachsen ist.
»Du spinnst, mein Engel«, erklärte ich.
»Möglich«, sagte sie. »Darf ich das als deine persönliche Selbstkritik auffassen?«
Am Samstag fand die nächste genetische Auseinandersetzung statt. Der Kellner in unserem Stammlokal,
der eben dabei war, unsere Rechnung zu erstellen, fragte Renana, was sie getrunken habe.
»Ein Glas Wasser«, sagte das kleine Biest mit verführerischem Lächeln.
»Was soll das heißen?« protestierte ich lauthals, »du hast zwei ganze Flaschen Orangensaft getrunken.«
»Hör mal, Paps«, zischte mir Renana zu, »zu wem hältst du eigentlich, zu mir oder zum Kellner?«
»Du solltest dich schämen«, wies ich sie zurecht, als wir das Lokal verließen, »das war doch glatter Betrug.«
Natürlich nahm sie wieder den kriminologischen Zweig der Geschichte zu Hilfe und zitierte mir alle einschlägigen Passagen aus Tante Ella.
Aber das Ärgste stand mir noch bevor, denn der Genentick wurde auch von ihrem Bruder übernommen. Nachdem Amir neulich meinen Wagen in eine freie Telefonzelle geparkt hatte, warf er mir einen niederschmetternden Blick zu, der zu fragen schien: »O Paps, hättest du mir nicht Gene mit etwas mehr Geistesgegenwart vererben können?«
Ich war völlig ratlos und überflog im Geiste meine ganze genetische Ahnengalerie. Sie sind offensichtlich nicht nur geistesabwesend, meine auf Telefonzellen prallenden Gene, sondern für drei Monate auch ohne Führerschein.
Dann aber gab Renana unserer schwelenden Gen-Affäre eine völlig überraschende Wendung. Zum größten Erstaunen aller Beteiligten, besonders ihrer Lehrerin, erhielt sie in einer Mathematikarbeit die Bestnote. Allgemein sprach man von einem Wunder.
Ein Wunder? Daß ich nicht lache.
Natürlich hatte die kleine Hexe ihre Schularbeit vom Mathematikgenie ihrer Klasse abgeschrieben. Aber um eventuelle Verdachtsmomente von vornherein zu entkräften, schmuggelte sie einen Fehler hinein und korrigierte dabei, ohne es zu ahnen, den einzigen Fehler des besagten Genies und wurde zur Heldin des Tages.
»Oho«, triumphierte ich, »es scheint, daß die Gene deines Vaters doch klüger sind, als sie aussehen.«
»Lächerlich«, erwiderte Renana mit eiskalter Überlegenheit, »das sind natürlich Mamis Gene.«
Weibervolk!
Die beste Ehefrau von allen fühlt sich natürlich bemüßigt, ins selbe Horn zu blasen, und bekräftigt ihr Töchterlein bereitwilligst in der Schnapsidee, daß sie von ihrer Seite nur Gene der allerbesten Exportqualität geliefert habe.
»Was deinen Vater betrifft«, äußerte sich die beste Ehefrau von allen, »so kann man seine Chromosomen an einer Hand abzählen.«
In meiner Ratlosigkeit schlug ich ihr vor, daß die elf Besten ihrer Gene gegen entsprechende Anzahl und Qualität der meinigen ein freundschaftliches Fußballmatch austragen sollten, um den Fall ein für allemal zu klären. Aber wie immer, wenn ich etwas äußerst Geistreiches vorschlage, bedeutete sie mir, daß man sie mit infantilen Ideen in Ruhe lassen solle.
Heute kam Renana in Tränen aufgelöst von der Schule nach Hause, weil sie bei der Geschichtsprüfung durchgefallen war. Ihre Mutter blickte sie traurig an und seufzte: »Hätte das arme Kind doch ein paar Gene von Henry Kissinger geerbt . . .«
Ich resigniere.