Eßstreik
Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber irgendwann muß die bittere Wahrheit heraus: ich habe noch nie in meinem Leben an einem Streik teilgenommen. Wirklich nicht. Ehrenwort. Fragen Sie mich nicht, warum, ich fühle mich ohnehin schon schuldig genug. Ich bin ein Bürger der alten Schule und sowohl psychisch als auch physisch gesund, ich arbeite genausowenig wie jeder andere, und trotzdem habe ich noch nie gestreikt. Nicht einmal für eine halbe Stunde. Es ist soweit gekommen, daß die Leute hinter meinem Rücken abfällige Bemerkungen machen, als ob ich nicht alle meine fünf Sinne beisammen hätte.
Natürlich schäme ich mich, das können Sie mir glauben. Ich fühle mich wie ein Ausgestoßener. Wie ein Trottel. Ein Gastarbeitsloser. Die Schuster haben schon gestreikt, die Briefkasten- und Müllkübelleerer, der gesamte Lehrkörper, die Räuber und die Gendarmen, die Friseure, die Masseure und die Chauffeure, die Docker und die Rocker, die Gas-, Licht-, Wasser- und Bankkassierer, die Fischer und die Fische, die Fliegen und die Fänger, kurz gesagt, jedermann und sein Schwager.
Nur ich stehe da, ohne je gestreikt zu haben.
Das grenzt an einen Skandal. Ich habe daher beschlossen, diese Schmach fortan nicht länger zu ertragen. Nächste Woche, in aller Herrgottsfrühe, begebe ich mich nach Jerusalem, beziehe vor dem Amt des Premierministers Posten und erkläre meinen Streik. Und weil handelsübliche Streiks von keinem Menschen mehr beachtet werden – schließlich hat es sie ja schon in sämtlichen Variationen gegeben, als Sitz- und Liegestreik, als Hungerstreik, als Lucky Strike –, habe ich die Absicht, eine neue Form des Streiks zu erfinden.
Einen Eßstreik.
Genauer gesagt, ich werde mich vor den Augen der politischen Funktionäre mit Leckerbissen aller Art vollstopfen. Ich werde ungarische Salami und böhmische Leberwurst zu mir nehmen, Beefsteak und Gänsebraten, Cremeschnitten, Apfelstrudel und Bienenstich. So lange, bis die Papiertiger im Regierungsgebäude vor Neid zerplatzen und sich bereit erklären, meine Bedingungen bedingungslos anzunehmen – wenn ich nur das Fressen einstelle.
Und dann werde ich diesen Koryphäen mitteilen, daß ich nicht aufhören kann, denn im Unterschied zu allen anderen ist mein Streik gleichzeitig der Zweck meines Streikes. Und das wird meine Rache sein.
Sollte irgendeiner meiner Leser sich ebenso frustriert fühlen, ist er herzlichst eingeladen, möglichst mit Kalbsmedaillons in zartpikanter Sauce (Preiselbeeren erwünscht) ausgerüstet, an meinem Streik teilzunehmen.
Wie hat doch Genosse Lenin so schön gesagt: »Wir haben nichts zu verlieren, außer unseren Appetit.«