Linzertorte
Linz ist eine wohlbekannte österreichische Stadt – soviel ich weiß, die drittgrößte des Landes –, und sie übertrifft alle übrigen Städte Österreichs vor allem dadurch, daß sie Linz heißt und nicht anders.
Linz besteht aus etlichen Straßen, Plätzen, Häusern, Geschäften und was man eben sonst noch in einer außerordentlich sympathischen Stadt dieser Größe anzutreffen erwartet.
Außerdem besitzt Linz mindestens eine eigene Zeitung, und da liegt der Hund begraben.
Vor einiger Zeit wurde ich nämlich eingeladen, in Linzer Kulturkreisen einen Vortrag über Israel zu halten, über die schöne Landschaft, die heiligen Stätten und über die traditionsreiche israelische Inflation.
Etwa eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn tauchte ein junger Mann in meinem Hotel auf. Er stellte sich als Berichterstatter der bedeutendsten Linzer Gazette vor, präsentierte mir ein offizielles Schreiben seiner Heimatgemeinde sowie eine erschreckend lange Liste vorbereiteter Stichwörter.
»Ist das Ihr erster Besuch in Linz?« begann er das Interview.
»Ja.«
»Warum?«
Ich stockte. Ich war noch nicht dazu gekommen, mich mit dieser Problematik richtig
auseinanderzusetzen. Man konnte fast sagen, daß ich auf die Frage nicht genügend vorbereitet war. »Nun ja«, murmelte ich schließlich, »ich muß zugeben, daß ich noch nie in Linz war. Aber jetzt bin ich
sehr froh, sagen zu dürfen, daß ich hier bin.«
»Werden Sie Linz wieder besuchen?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Mein junger Mann war sichtlich sehr erbaut, dies zu hören, denn, so versicherte er mir, Linz wäre eine
der schönsten Städte der Welt. In diesem Zusammenhang wollte er wissen, was ich von Linz halte.
»Linz ist schön«, versicherte ich ihm.
Dem leicht beleidigten Gesichtsausdruck des jungen Redakteurs konnte ich entnehmen, daß ihn die
Antwort nicht restlos befriedigte.
»Linz«, fuhr ich rasch fort, »ist sicherlich eine der schönsten Städte der Welt.«
»Darf ich Sie zitieren?«
»Natürlich.«
Mein erster Kontakt mit Linz hatte eigentlich erst spät am Abend zuvor stattgefunden. Was ich also bis dato von Linz wahrnehmen konnte, war eine Reihe funktionstüchtiger Straßenverkehrsampeln, ein verschlafener Hotelportier sowie einige jugoslawische Zimmermädchen. Aber warum sollte ich die Gefühle eines vielversprechenden jungen Reporters verletzen? Vielleicht ist Linz tatsächlich eine hübsche Stadt, wer kann das schon wissen?
»Was sind Ihre nächsten Zukunftspläne?« fragte mich der junge Berichterstatter originellerweise.
»Ich habe die Absicht, eine Komödie zu schreiben.«
»Über Linz?«
»Ich fürchte, nicht.«
»Warum nicht?«
Ich stockte zum zweiten Mal. Man sollte wirklich ohne Vorbereitung keine Interviews geben.
»Darf ich Sie fragen«, erkundigte sich der Reporter, »ob Sie schon unsere Industrieanlagen besichtigt
haben?«
»Noch nicht.«
»Die müssen Sie unbedingt sehen. Der Anblick ist überwältigend. Sie werden begeistert sein, außerdem
wäre das ein faszinierender Hintergrund für Ihr neues Stück.« »Ohne Zweifel.«
»Wo beabsichtigen Sie Ihr Stück über Linz zu schreiben?« »Ich habe mich noch nicht entschieden.« »Hier in Linz?« »Vielleicht. Lassen wir das vorläufig offen.« »Bitte sehr. Sie werden sowieso keinen geeigneteren Ort finden. Sehen Sie sich doch nur einmal unsere wunderschönen Hauptstraßen an. Haben Sie schon einmal Hauptstraßen gesehen, die gerader sind?«
Meine Lage wurde zusehends heikler.
»Sehr verlockend, diese Hauptstraßen, aber, um die Wahrheit zu sagen, ich möchte ganz gern nach Hause zu meiner Familie«, sagte ich dem jungen Mann, der, so schien es mir, ein echter Linzer war. »Warum bringen Sie dann Ihre Familie nicht hierher?« fragte der Lokalreporter. »Linz ist weltberühmt für seine Gastfreundschaft. Wann kommt Ihre Familie nach Linz?«
Ich senkte meinen Blick.
»Das steht noch nicht endgültig fest. Meine Söhne sind noch in der israelischen Armee, wenn Sie wissen,
was ich meine, und ich glaube nicht, daß man ihnen für einen Linz-Besuch Urlaub geben würde.«
»Ich bin da völlig sicher«, gab der Reporter seiner Meinung Ausdruck, »Sie müssen dem Armeekommandanten nur erzählen, was Linz für eine großartige Stadt ist, mit diesen vielen Häusern, Straßen und den anderen Sehenswürdigkeiten. Sie werden sehen, daß er nachgeben wird. Schließlich kommen Menschen aus der ganzen Welt nach Linz und bleiben ihr Leben lang hier. Manche sogar noch länger.«
Ich blickte auf meine Uhr.
Der junge Mann sah inzwischen die Liste seiner Stichwörter durch, um sicherzugehen, daß er keine
Fragen ausließ.
»Was«, fragte er mich sodann, »was hat Ihnen an Linz bisher am besten gefallen?«
»Alles«, erwiderte ich. »Linz ist Linz.«
»Inwiefern?«
»Nun ja«, riß ich mich zusammen, »erstens bin ich begeistert von diesen schnurgeraden Hauptstraßen.
Dann kann ich nicht leugnen, daß mich Ihre grandiosen Industrieanlagen überwältigt haben. Und vollends hingerissen bin ich von der weltberühmten Linzer Gastfreundschaft.«
Der Berichterstatter strahlte übers ganze Gesicht. »Danke«, stieß er errötend hervor. »Darf ich das zitieren?«
»Bedienen Sie sich.«
Der junge Mann kramte seine Notizen zusammen. »Es scheint mir«, sagte er, »daß Sie sehr viel in der Welt herumgekommen sind. Darf ich Ihnen in diesem Zusammenhang eine ganz persönliche Frage stellen?«
»Bitteschön.«
»Welche von den vielen Städten, die Sie bisher besuchten, hat auf Sie den allerstärksten Eindruck
gemacht?«
»Eine interessante Frage«, gab ich zu, »lassen Sie mich einmal nachdenken.«
»Bitte nehmen Sie sich Zeit«, flüsterte der junge Reporter aus Linz in atemloser Spannung. »Welche Stadt . . . ist also . . . die großartigste . . .«
»Meiner persönlichen Meinung nach«, äußerte ich mich, »so gibt es, was Städte betrifft, sicherlich eine Stadt, die alle anderen Städte der Welt übertrifft, was das essentiell Städtische betrifft.«
»Wie . . . heißt . . . diese Stadt?«
»Linz.«
Der junge Mann atmete hörbar erleichtert auf, schneuzte sich gerührt, dankte mir überschwenglich und stolperte zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um und sagte mit bebender Stimme:
»Ich habe es geahnt. Natürlich, Linz! Gott sei mein Zeuge, ich habe es geahnt . . .« Tags darauf, nachdem ich meinen Vortrag über die Schönheiten Jerusalems, des Berges Carmel und der Inflation Tel Avivs abgeliefert hatte, flog ich heim.
Auf meinem Schreibtisch erwartete mich ein Telegramm aus Linzer Kulturkreisen.
»Bezugnehmend auf Zeitungsinterview sind entzückt über Liebe und Bewunderung unserer herrlichen Linzerstadt Stop Dankedanke Stop Erwarten umgehend Besuch zwecks Verleihung von Medaille.«
«Es gibt viele Städte auf der Welt«, kabelte ich zurück, »aber nur ein Linz.«
»Erwarten ehebaldigst Ankunft«, kam postwendend die Antwort, »womöglich mit Familie.«
So ist es also. Wahre Liebe hat ihre eigenen Gesetze. »Linz, Linz nur du allein«, sagte auch der Dichter, wenn ich mich nicht irre. Auf jeden Fall werde ich eventuell in Zukunft weniger Interviews geben.