Antiquitäten
Wie jedermann weiß, sind wir das Volk der Bibel. Kein Wunder also, daß Seligs Reise nach Sodom in unserer Nachbarschaft große Begeisterung ausgelöst hat.
Mein Nachbar Felix Selig hatte seine ganze Familie mitgenommen, und kam tief ergriffen von Sodoms historischer Größe zurück. Ja, mehr noch, einen Teil dieser historischen Bedeutung brachte er in einem Plastiksack nach Hause. Es waren dies einige Steine aus den Bergen von Sodom. Am Tag nach seiner Rückkehr lud Felix die gesamte Nachbarschaft zu einer improvisierten Vernissage ein.
»Hier seht ihr ein Stück antiken Schwefel«, erklärte er, während er einen schwarzen Stein in die Höhe hielt. »Ein biblischer Markstein, wenn ich mal so sagen darf. Und das hier ist der Splitter eines versteinerten Minerals aus dem Toten Meer. Hier habe ich einen vorzeitlichen Mangankristall, da einen Silikonquarz und ein Gestein von Pottaschekarbonat. All diese Herrlichkeiten sind Zeugen unserer gewaltigen biblischen Vergangenheit.«
Wir starrten wie gebannt auf die wundersamen Steine und berührten sie mit ehrfürchtigen Fingern. In meinem tiefsten Inneren fühlte ich den stillen Drang, meinen Nachbarn Felix Selig um die Ecke zu bringen und mir seine Schätze anzueignen. Auch in den glühenden Augen der übrigen Nachbarn vermeinte ich das gleiche, neidische Glitzern zu sehen. Seligs Steine waren nicht nur heilig, nein, sie waren überdies auch noch atemberaubend schön . . .
Nicht schwer zu erraten, was sich danach in unserer Straße abgespielt hat. Ganze Menschentrauben pilgerten nach Sodom und schleppten Unmengen geschichtsträchtiger Steine und biblischer Mineralien nach Hause. Sodom war endgültig ›in‹. Der Apotheker von gegenüber wollte sie alle übertreffen und schwor bei seinem Seelenheil von einem riesigen, weißen Brocken, daß er ein Teil von Lots versteinertem Weibe wäre. Er forderte uns auf, den Salzgehalt des Steines zu überprüfen, und erlaubte uns eine kurze Leckprobe. Tatsächlich, wir mußten zugeben, daß der Stein deutlich nach Salzhering schmeckte.
Ich wollte in dem allgemeinen heiligen Eifer natürlich nicht zurückstehen. Um die Achtung meiner Nachbarn nicht zu verlieren, schlich ich in der folgenden Nacht zur nächsten aufgerissenen Straßenkreuzung, füllte dort einen Sack mit Kies voll und dekorierte damit unsere Terrasse.
Die Kieselsteine glitzerten in der aufgehenden Morgensonne wie König Salomons Gallensteine.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, eröffnete ich mit bewegter Stimme die Kunstausstellung. »Verneigen Sie sich in tiefster Ehrfurcht. Diese kostbaren Steine sind aus Gomorrha.«
Begeisterte Zustimmung schlug mir entgegen, und ich war überzeugt, daß niemand es schaffen würde, mich zu übertrumpfen.
Es sei denn, Felix holt einen Ziegelstein des Turmes zu Babel von der nächsten Baustelle.