Ehrlichkeit

Ein seltsames Faktum ist: die meisten Menschen, denen man so in meiner Umgebung begegnet erweisen sich früher oder später als ausgesprochen ehrliche Wesen. Eines Morgens zum Beispiel, als ich die Hauptstraße entlangging, erhaschte ich im Schaufenster eines Schuhgeschäftes, das voll rosaroter Sandalen war, mein Spiegelbild. Der flüchtige Blick belehrte mich, daß meine Frisur etwas verwahrlost war. Ich ging rasch weiter, und zwar genauso lang, bis ich eines schicken Friseurladens ansichtig wurde. Ich trat ein, ließ mich in einen freien Dentistenstuhl fallen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Es kam ein diensteifriger Mann, der in einen Operationsmantel gehüllt war. Er richtete an mich die Frage:

»Haare schneiden?«

»Nein«, erwiderte ich, »nur fassonieren.«

Was immer »fassonieren« im deutschen Sprachraum bedeuten mag, im mediterranen Friseurjargon ist damit Folgendes gemeint: »Bitte schneiden Sie vorne und oben nichts weg, es genügt, wenn Sie an den Seiten und unten ein bißchen stutzen.«

Ich bevorzuge dieses System, denn a) beginnen die weiblichen Bewohner meines Haushalts immer zu kichern, wenn ich mir die Haare schneiden lasse, da b) ich mit kurzen Haaren wie ein schwachsinniges Schaf wirke.

Der Friseur nahm seine Schere zur Hand und verkündete:

»Fassonieren wird nicht genügen, mein Herr. Was Sie brauchen, ist ein richtiger Haarschnitt. Überlassen Sie das ruhig mir.«

»Hören Sie zu«, sagte ich in strengem Ton, »kann sein, daß ich einen richtigen Haarschnitt brauche, aber ich will ihn nicht! Mir genügt fassonieren. Ist das klar?«

»Mag sein, mein Herr, aber fassonieren genügt mir nicht.«

»Also gut«, schnappte ich zurück, »dann werden Sie mich eben fassonieren, und ich bezahle einen Haarschnitt.«

Worauf der Friseur sich wortlos in mein Haar vertiefte.

Ich blickte erst von meinem Herrenmagazin auf, als er mir einen kleinen Handspiegel vor den Hinterkopf hielt. Das mag eine Art von Ritual bei Friseuren sein, vielleicht ist es aber auch nur ein Aberglaube. Was ich im großen Spiegel erblickte, war allerdings eine derartig fundamentale Veränderung meiner Person, das die Herrschaften Jekyll und Hyde neben mir erblassen mußten.

»Zum Teufel«, brüllte ich, »Sie haben mir kaum ein Haar auf dem Kopf gelassen!«

»Mäßigen Sie sich, mein Herr«, wies mich der Haarkünstler zurecht. »Erwarten Sie von einem ehrlichen Friseur, daß er Ihr Geld für einen kompletten Haarschnitt nimmt und Sie dann nur fassoniert?«

Verstehen Sie jetzt, was ich meine?

Der hochstehenden Moral eines ehrenvollen Handwerkers habe ich es nun zu verdanken, daß ich a) wie ein schwachsinniges Schaf aussehe und b) die Weiber in meinem Haushalt kichern wie beschwipste Enten.

In Zukunft werde ich mich nur noch von Friseuren mit niedriger Berufsethik bedienen lassen.

Abraham Kann Nichts Dafür. 66 Neue Satiren.
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