Emanzipation
Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß ein Funktionär unseres olympischen Teams aus nicht näher erläuterten Gründen abberufen wurde. Als ich ihm kurz danach begegnete, bot er ein Bild des Jammers.
»Die Geschichte ist zu peinlich«, gestand er. »Ich kann nur hoffen, daß wir sie irgendwie vertuschen werden.«
»Mir können Sie vertrauen, erzählen Sie ruhig alles«, versicherte ich ihm. »Ich verspreche Ihnen, die Geschichte bestimmt nicht in meinem nächsten Buch ›Abraham kann nichts dafür‹ zu verwenden.«
»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte der Funktionär. »Ich würde vor Scham sterben, wenn das jemals an die Öffentlichkeit käme. Ich beginne am besten von vorn: es war uns natürlich von Anfang an klar, wie aussichtslos ein olympischer Sieg für unsere Mannschaft sein würde. Wir sagten uns aber, wir können es uns einfach nicht leisten, in jeder Disziplin den letzten Platz zu belegen. Also was tun?«
»Ja, was denn?«
»Kennen Sie Eli Rubin?«
»Den Diskuswerfer?«
»Ja. Er hält seit 24 Jahren den israelischen Rekord. Natürlich wußten wir, daß das nicht genügen würde, um bei der Olympiade irgendeine Medaille zu gewinnen. Aber, so überlegten wir, wenn Rubin die Chance hätte, gegen Frauen anzutreten . . .«
»Was?«
»Glauben Sie mir, wir haben es in bester Absicht getan. Für Gott und Vaterland, wie man so sagt. Wir wollten zumindest ein bißchen Eindruck hinterlassen. Damit die anderen Nationen sehen, was unsere wackere Jugend noch alles leisten kann. Rubin hat zunächst abgelehnt. Wir schilderten ihm in den leuchtendsten Farben seinen Triumph auf dem Siegerpodest, das Publikum, wie es sich zu unserer Nationalhymne erhebt, den tosenden Applaus, die im Sonnenschein glitzernde Goldmedaille. Aber Rubin war nicht zu erweichen. Erst als er kapierte, daß ihm vierzehn lange Tage im Damenlager winkten, willigte er ein, der gute Eli. Wir taten unser Bestes, um ihn für seine Sondermission vorzubereiten. Aber ich möchte hier nicht ins Detail gehen.«
»Ich verstehe.«
»Zugegeben, er sah ein bißchen seltsam aus, unser umgebauter Sportsmann, aber wir waren überzeugt, das würde nicht weiter auffallen. Die meisten Sportlerinnen sind ja nicht gerade der Inbegriff weiblicher Schönheit. Zum Schluß änderten wir noch seinen Vornamen von Eli auf Eliana, und, um auf Nummer Sicher zu gehen, seinen Zunamen auf Rubinowa. Wir dachten an alles. Die Geheimaktion war geplant bis zur letzten Falte in seinem Rock, und es konnte nach menschlichem Ermessen einfach nichts schiefgehen.«
»Das war ein Genieblitz.«
»O ja, so haben wir uns auch gefühlt. Eliana Rubinowa fuhr also nach Los Angeles, wurde planmäßig ins Frauenlager gesteckt und trainierte Tag für Tag mit den anderen Mädchen. Niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht. Endlich kam der große Tag. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie ergreifend es war, als unser Favorit voll Anmut das Stadion betrat und den Diskus in seine Hände nahm. Unsere Herzen schlugen bis zum Hals. Und dann geschah es . . .«
»Was geschah?«
»Sie wurde letzter.«